Wilhelm Buschs Gedicht „Die Liebe war nicht geringe“

WILHELM BUSCH

Die Liebe war nicht geringe

Die Liebe war nicht geringe.
Sie wurden ordentlich blaß;
Sie sagten sich tausend Dinge
Und wußten noch immer was.

Sie mußten sich lange quälen,
Doch schließlich kam’s dazu,
Daß sie sich konnten vermählen.
Jetzt haben die Seelen Ruh.

Bei eines Strumpfes Bereitung
Sitzt sie im Morgenhabit;
Er liest in der Kölnischen Zeitung
Und teilt ihr das Nötige mit.

1874

 

Konnotation

Als heiteren Hausgeist und boshaften Spaßmacher hat man den Dichter und Zeichner Wilhelm Busch (1832–1908) in die Literaturgeschichten aufgenommen – und ihn damit bis zur Unkenntlichkeit verharmlost. Denn Buschs Komik ist von äußerster Schwärze, ihr ist immer ein schadenfrohes Lachen, bitterböse Ironie und ein erbarmungsloser Sarkasmus beigemischt.
Buschs Gedicht über die Liebe, erstmals veröffentlicht in der 1874 erschienene Sammlung Kritik des Herzens, tarnt sich als harmonisches Ehe-Idyll, das den Liebenden die Seelenruhe gebracht hat. In den Volksliedstrophen klingt ebenso die Schattenseite der Liebe an: die Qual der ewig wiederholten Treueschwüre, das Stupide des Liebes-Alltags. Die letzte Strophe zeigt die Liebe als Abtötungsverfahren: Die Frau stopft Strümpfe, der Mann referiert Zeitungsmeldungen. Längst ist zwischen den Eheleuten das große Schweigen ausgebrochen: es wird nur noch „das Nötige mitgeteilt“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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