Wilhelm Klemms Gedicht „Abrüstung“

WILHELM KLEMM

Abrüstung

Das Essen wurde zuletzt so miserabel,
Daß mir die Eingeweide davonkrochen.
Die Luft roch wie der Atem eines Schellfisches.
Meine verpesteten Lungen drehten sich um ihre Stiele.

Unterdessen trieb die sogenannte Umgebung
Mit doppeltem Eifer ihren Mumpitz weiter.
Da erhob ich mich lärmend von meinem Platze.
Daß mein halbes Gesäß dran kleben blieb, was tut’s?

Einer von den Herren kam mir nachgestürzt
Mit vorwurfsvollen Augen: Es handle sich doch um das Dasein,
Und die Damen warteten doch und ob ich nicht bleiben wolle?
Ich schüttelte so heftig mit dem Kopfe, daß er abfiel.

1915

 

Konnotation

Der promovierte Mediziner, Verlagsbuchhändler und Dichter Wilhelm Klemm (1881–1968) war einer der wenigen Lyriker der expressionistischen Generation, der das große Schlachten des Ersten Weltkriegs überlebte. Von seinen lyrischen Zeitgenossen unterschied er sich durch die kalte Nüchternheit und die stenographische Akribie, mit denen er in seinen frühen Gedichten das Grauen des Kriegs aufzeichnete. Statt den politischen wie existenziellen Ausnahmezustand mit pathetischem Schwulst zu ornamentieren, beschreibt Klemm die Lage mit beiläufiger Lakonie.
Während seine ersten Gedichte, wie der 1915 erstveröffentlichte Befund zur „Abrüstung“, großen Anklang fanden, etwa bei Franz Pfemfert, dem Aktivisten der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion, stieß Klemm mit seinem distanzierten Stil bald auf Ablehnung. Seine weltanschauliche Indifferenz, seine kühle Registratur der destruktiven Verhältnisse seiner Zeil trieben ihn immer mehr in die literarische Isolation, so dass er nach 1922 literarisch fast gänzlich verstummte.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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