Marie Luise Knott: Zu Rolf Bosserts Gedicht „Lied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Bosserts Gedicht „Lied“ aus Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds

 

 

 

 

ROLF BOSSERT

Lied

Wohin mich mein Weg heute führt:
Ich weiß es am Morgen noch nicht.
Am Abend dann, peinlich berührt:
Auf der Milchstraße wieder kein Licht!

Verbotsschilder sprechen für sich.
Und dennoch: Ich pfeif aufs Verbot!
Im Sternenwald füttere ich
Den Großen Bären mit Brot.

So treib ichs seit einiger Zeit.
Dem Herrgott begegne ich kaum,
Ein paarmal nur seh ich ihn weit
Verloren im krummen Raum.

Langsam kommt dann die Müdigkeit auf:
Ich habe das Trampen verlernt.
Ich schlage mein Himmelszelt auf,
Einen Steinwurf vom Weltall entfernt.

 

Einen Reim auf diese Welt

Am 24. September 1977 berichtete der damals 25-jährige Rolf Bossert in einem Prosagedicht, er lebe derzeit in Bukarest mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf knapp 20 Quadratmetern. Trotz zahlreicher Eingaben bei den Behörden sei ihm das dritte Zimmer der Wohnung bislang nicht zugewiesen worden. „Nun schreibe ich ein Gedicht“, endet der Text des Rumäniendeutschen.

Ich habe unbegrenztes Vertrauen in die Macht der Poesie.

Obwohl die Zeilen unveröffentlicht blieben, wurde ihm wenig später das dritte Zimmer zugewiesen, und so notierte er am 21. Dezember 1977:

womit bewiesen ist, daß auch unveröffentlichte Gedichte die Realität, aus der sie schöpfen, verändern können.

Ob ein auf Deutsch verfasstes Gedicht auf eine Umgebung einwirken kann, in der Rumänisch gesprochen wird?
Von Macht und Ohnmacht der Poesie handelt auch Bosserts „Lied“. Gleich im ersten Satz bricht das Lyrische Ich auf ins Ungewisse, das jedem Morgen seine Hoffnung verleiht. Das Tagwerk jedoch – das Dichten – bringt nicht die gewünschte Erhellung über das In-der-Welt-Sein:

Auf der Milchstraße wieder kein Licht.

Der Weg ist von Verboten verstellt. Keine Freiheit, nirgends. Schlimmer noch: Die Verbotsschilder stehen nicht etwa schweigend da, nein, sie sprechen – aber nur für sich; sie lassen nicht mit sich reden. Das lyrische Ich geht seinen Weg; es pfeift auf die Unterdrückung; bei dem Ort, zu dem hin das Ich unterwegs ist und an dem die Verbotsschilder keine Geltung haben, handelt es sich um die „Milchstraße“ der Dichterworte, von denen Goethe einst schrieb:

Wisset nur, daß Dichterworte
Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ewges Leben.

Statt sich also von den staatlichen Zwängen bestimmen zu lassen, treibt das Ich im „Lied“ salopp gesprochen sein eigenes Ding; es füttert seinen Großen Bären „mit Brot“ – mit dem biblischen Manna, das Überwindung des irdischen Daseins verheißt.
In Zeiten totaler Unterdrückung, denn um die geht es im Gedicht, bedarf es offensichtlich zahlreicher Luftwurzeln, will der Einzelne sich die Fähigkeit zum Dialog mit sich selbst erhalten. Gott, der einst Allmächtige, wacht längst nicht mehr über die Menschen vom Himmel herab, er ist ein alter Mann, der selbst – fern und einsam – im erdgekrümmten Himmelszelt lebt. Sein Reich wird nicht kommen. Es ist nurmehr von dieser Welt. Doch das Ich im Gedicht hat „das Trampen verlernt“; es wird sich von keinem fremdgesteuerten Vehikel mehr mitnehmen lassen, egal ob das Gefährt Partei, Proletariat, Weltfriede oder Sozialismus heißt.
Rolf Bossert, geboren 1952, war ein Dichter der Aktionsgruppe Banat. Wie Herta Müller, Richard Wagner oder Ernest Wichner ist er aufgewachsen mit dem veralteten Schwabendeutsch seiner Eltern. Sie alle brauchten das „Brot“, also die Dichterworte ihrer Freunde und anderer Dichter, lebensnotwendig; und so hallt in Rolf Bosserts „Lied“ neben Ingeborg Bachmanns „Anrufung des Großen Bären“ auch Trakls „Enkelkind, das Milch und Sterne trinkt“ und vor allem Nelly Sachs’ Prolog aus der „Sternverdunkelung“ nach. Darin beschwört die Dichterin den Erhalt des „Weltalls der Worte“, denn Worte könnten, wie es dort heißt, „die Horizonte in die wahren Himmel rücken“ und in der Finsternis der Nacht „die Sterne gebären helfen“. Bei Bossert behaust sich das Ich einen „Steinwurf“ entfernt von jenem Weltall, wo alles Weltliche einmal geborgen war.
Es macht die Zeitlosigkeit von Dichtung aus, dass der gelungene Vers eine Gefühlssaite anschlägt, die dann – einmal in der Welt – durch die Zeiten weiterschwingen kann. Das „Lied“, 1979 geschrieben, verströmt eine verzweifelte Heiterkeit, die sich nicht zuletzt der Form verdankt: Inmitten der finsteren Zeiten macht sich der Text einen klassischen Kreuzreim auf diese Welt, und das Versmaß sorgt für den nötigen Schwung, denn der Daktylus ist für den Versbau, was der Dreivierteltakt für den Tanz ist. So bleibt die Hoffnung mitten unter uns. Vielleicht. Für Rolf Bossert verfinsterten sich die Zeiten in Rumänien. 1985 gelang ihm mit seiner Familie die Ausreise in die Bundesrepublik. Am 17. Februar 1986 nahm er sich in Frankfurt am Main das Leben. Am 16. Dezember 2012 hätte der Dichter seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.

Marie Luise Knottaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenunddreißigster Band, Insel Verlag, 2014

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