Marina Zwetajewa: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Marina Zwetajewa: Gedichte

Zwetajewa-Gedichte

DU GEHST, so ging ich auch
mit Augen, die nach unten sehn,
ich schlug sie nieder, auch.
Der du vorübergehst, bleib stehn.

Sumpfdotterblumen und Mohn
zum Strauß zusammenlies
und lies wie alt ich war
und daß ich Marina hieß.

Denk nicht, hier sei ein Grab,
und daß ich dir drohend erscheine
ich lachte selbst zu gerne
wenn es verboten war.

Auch mein Haar fiel in Locken
auch ich wurde rot.
Auch ich ging vorüber.
Jetzt bin ich tot.

Pflücke den Stengel
und dann pflücke die Beere,
ist keine größer und süßer
als die wilde Friedhofserdbeere.

Nur steh nicht so verfinstert,
das Kinn der Brust aufgesessen,
du sollst leicht an mich denken
und sollst mich leicht vergessen.

Der Strahl, der dich beleuchtet
hüllt dich ganz in goldenen Staub.
Es soll dich nicht verwirren
meine Stimme unter dem Laub.

 

 

 

Nachwort

„Ich glaube, daß die Zwetajewa größte Rechtfertigung und höchste Anerkennung erwarten“ – die Sicherheit, mit der Boris Pasternak 1956 dieses Urteil fällte, wundert denjenigen nicht, der sich näher mit dem Werk Marina Zwetajewas beschäftigt; so wenig wie die bewundernden Verse und Worte der Zeitgenossen Anna Achmatowa, Andrej Belyj, Ilja Ehrenburg, Wjatscheslaw Iwanow, Ossip Mandelstam und Rainer Maria Rilke. Verwunderlich mag nur sein, daß die „höchste Anerkennung“ der Poesie der Zwetajewa (die in der Sowjetunion – nach fast vierzigjährigem Schweigen – mit den beiden 1961 und 1965 erschienenen Bänden begonnen hat) auf sich warten läßt in der Welt. Daß bisher so wenig übersetzt wurde; daß erst 1966 die erste umfassende Monographie über Leben und Werk Marina Zwetajewas erschien [Simon Karlinsky, Marina Cvetaeva, Her Life and Art. University of California Press].
Alle an dieser ersten deutschen Ausgabe Beteiligten – vor allem Christa Reinig, aber auch die slawistischen Mithelfer Elisabeth Schleicher und Katia Wolff – wissen nach drei Jahren Arbeit und Skrupel, welche Schwierigkeiten jener „höchsten Anerkennung“ entgegenstehen: Die formalen Eigenarten, derentwegen Marina Zwetajewa neben Chlebnikow, Majakowski und Pasternak zu den großen Erneuerern der russischen Poesie gezählt wird, sind derart bestimmend, daß sie eine Übertragung respektieren muß. Viele Gedichte, besonders die kurzzeiligen, sind deswegen unübersetzbar, weil sich formale und inhaltliche Treue nicht in Übereinstimmung bringen lassen; wir hoffen, daß die hier vorgelegte, chronologisch geordnete Auswahl dennoch annähernd repräsentativ geblieben ist.
Die Biographie und, damit verknüpft, die Inhalte der Poesie Marina Zwetajewas bilden die zweite Schwierigkeit für eine weltweite Verbreitung und Würdigung: Die Zwetajewa vermochte zeitlebens nicht, sich für eine der beiden Ideologien, die kommunistische oder die kapitalistische, zu entscheiden. „Erwarte keine Gnade! In dieser allerchristlichsten der Welten sind die Dichter Juden!“ schrieb sie und hat mit einem fürchterlichen Leben dafür bezahlt. So mag es angemessen sein, von diesem Leben zu berichten, auch wenn ein Satz der Zwetajewa das abzuweisen scheint:

Mit Ausnahme der Schmarotzer aller Spielarten sind alle wichtiger als wir [die Schriftsteller].

Iwan Wladimirowitsch Zwetajew, der Vater Marina Zwetajewas, Sohn eines Popen aus dem Gouvernement Wladimir, studierte in St. Petersburg italische Dialekte und Geschichte der antiken Kunst. 1877 übersiedelte er nach Moskau und lehrte an der dortigen Universität lateinische Literatur und Kunstgeschichte. Sein Lebenswerk war die Konstituierung eines Museumsfonds für die Antikensammlung der Universität und der Bau des Museums der Schönen Künste (heute: Puschkin-Museum), das 1912, ein Jahr vor dem Tode Professor I. Zwetajews, eröffnet wurde. Iwan Zwetajew war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit der Tochter des (selbst für damalige Verhältnisse) reaktionären Historikers D.I. Ilowajskij, in zweiter Ehe mit Maria Alexandrowna Meyn, der Tochter eines vermögenden Deutschbalten und einer Polin. Maria Alexandrowna, die Mutter Marina Zwetajewas, war Schülerin Anton Rubinsteins. Ihr Vater erlaubte ihr aber nicht mehr als einen öffentlichen Auftritt als Konzertpianistin; 1890 heiratete sie den angesehenen, 22 Jahre älteren Professor Zwetajew.
Marina Iwanowna Zwetajewa wurde am 9. Oktober (oder, nach dem alten Kalender: 26. September) 1892 geboren, „Sonnabend wars / Evangelist Johann“. Marinas Kindheit war voller Widersprüche: Das Kindermädchen aus Riga lehrte sie deutsche Gedichte, die Stiefschwester Valerija Puschkin und Gogol; die Mutter, kühl und ungeliebt, versuchte, ihrer Tochter gewaltsam zu der musikalischen Karriere zu verhelfen, die ihr selbst verboten worden war; die langerwarteten Besuche des Großvaters Meyn, der stets Geschenke mitbrachte, wechselten mit den gefürchteten des Stiefgroßvaters Ilowajskij, der lediglich selbstverfertigte antisemitische Pamphlete hinterließ. Gegenüber ihrer jüngeren Schwester Anastasija und ihren Stiefgeschwistern Valerija und Andrej war Marina – dick, unbeholfen und verschlossen – das klassische häßliche Entlein.
1902 erkrankte die Mutter an Tuberkulose, die Kinder begleiteten sie vorerst auf Erholungsreisen an die Riviera, in den Schwarzwald und nach Jalta. Die Jahre 190213 verbrachten Marina und ihre Schwester in einem Lausanner Internat, 1905/6 in einem Internat in Freiburg im Breisgau – Marinas lebenslange Bewunderung deutscher Literatur und Musik nahm hier ihren Anfang. In diesen Jahren entstanden auch die ersten Gedichte, in russisch und deutsch. Nach dem Tod der Mutter, 1906, kehrte Marina nach Moskau zurück, wechselte immerfort die ihr verhaßten Gymnasien, reiste 1908 allein nach Paris, begann nach der Rückkehr zu rauchen, trug kurzes Haar und hohe Schuhe, was offenbar Professor Zwetajew derart beunruhigte, daß er sie und ihre Schwester 1910 der Obhut einer Dresdener Pastorenfamilie anvertraute, um sie Kochen und gesittetes Benehmen zu lehren, beides vergeblich.
In diesen Jahren entsprach der literarische Geschmack Marina Zwetajewas dem der Zeit: Dumas, Fouqué, Goethe, Heine Puschkin, Rostand. Erst 1909 machte ein Schulkollege, Wladimir Nilander, sie mit der neueren russischen Poesie bekannt: Alexander Blok, Andrej Belyj, Michail Kusmin. Nach einem niemals geklärten Skandal um Nilander (er war des Diebstahls im Museum des Vaters bezichtigt worden, was zur Amtsenthebung Professor Zwetajews führte) wurde ihr der Umgang mit Nilander untersagt. Sie sammelte die in den letzten drei Jahren entstandenen Gedichte, einschließlich einiger Briefe an Nilander, und ließ sie auf eigene Kosten drucken. Die fünfhundert Exemplare dieses 1910, kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag erschienenen Gedichtbandes Abend-Album übergab sie einer Buchhandlung. Der nirgends angezeigte Erstling eines Schulmädchens fand dennoch einige wohlwollende Rezensenten, darunter Maximilian Woloschin, der sie mit anderen Autoren bekanntmachte und 1911 in die Datscha seiner Mutter in Koktebel auf der Krim einlud, einem der berühmtesten Treffpunkte für Schriftsteller und Maler. Dort lernte Marina Zwetajewa Sergej Efron kennen, den Sohn einer jüdischen Verlegerfamilie, die besonders durch die Publikation der Efron-Brockhaus-Enzyklopädie bekannt geworden war. Anfang 1912 heiratete sie Sergej Efron; die Hochzeit war für den Vater, der ein Jahr später starb, ein schwerer Schock – nicht nur wegen des Alters der Braut (19 Jahre), sondern auch wegen der Herkunft des Bräutigams: Die Heirat mit einem Juden galt im Moskauer Besitzbürgerturn als unglaubliche Mesalliance.
Diese geradezu anarchistische Unabhängigkeit von der Umwelt bewahrte sich Marina Zwetajewa ihr Leben lang – „ich lachte selbst zu gerne / wenn es verboten war.“ Inmitten der Heldenverehrung im Weltkrieg schrieb sie vom Tod, nach der Ermordung der Zarenfamilie über die Zarenfamilie, im bolschewistischen Moskau über die Weiße Armee, in der Prager Emigration über Proleten, in der Pariser Emigration über Majakowski. „Der ist mein Gott… / der mir das eine gibt: / Stille der vier Wände“, schrieb sie 1926; der Wunsch wurde ihr nie erfüllt. Während des ersten Weltkriegs wurde ihr Mann Offizier und schloß sich nach 1917 der Weißen Armee an. Fünf Jahre lang, bis 1922, lebte Marina Zwetajewa in Moskau, ohne Nachricht von ihrem Mann, allein mit den beiden Töchtern Alja (geboren 1913) und Irina (geboren 1917). Kurzsichtig, hoffnungslos unpraktisch und so arm, daß es, nach einer verbürgten Begebenheit, selbst einen Einbrecher rührte, der sich anbot, ihr Geld zu leihen, als sie nichts anderes als eine Tasse Tee anzubieten hatte. Sie arbeitete in einer Registratur und mußte die jüngste Tochter in ein staatliches Kinderheim geben, wo sie an Unterernährung starb. Erst 1921 erhielt sie durch die Fürsprache eines Sowjetfunktionärs eine der begehrten täglichen Rationen. Ihre Haltung gegenüber dem neuen Sowjetstaat war kritisch, freilich weniger aus ideologischen Gründen (sie nahm durchaus Partei für die Ausgebeuteten), als vielmehr aus Entsetzen vor der allgemeinen Dehumanisierung jener Jahre. 1922 erschien ihr letztes in Rußland gedrucktes Buch. Mitte 1921 hatte sie zum erstenmal, aus der Tschechoslowakei, Nachricht von ihrem Mann erhalten; sie beantragte eine Ausreisegenehmigung und fuhr im Frühjahr 1922 nach Berlin, wo sie einige Monate wohnte, in einer Pension am Prager Platz, dem Zentrum der russischen Emigration. In diesen Monaten förderten besonders Ilja Ehrenburg und Andrej Belyj die Verbreitung des Werkes: 1922/23 erschienen in Berlin fünf Bücher Marina Zwetajewas. Im Juli 1922 kam Sergej Efron, der in Prag studierte, nach Berlin; vom Herbst 1922 bis zum Herbst 1925 lebte die Familie in Prag, zuerst in der Umgebung, später in der Stadt.
Ende Oktober 1925, ein halbes Jahr nach der Geburt ihres dritten Kindes (Sergej), reiste Marina Zwetajewa, zu einer Lesung eingeladen, nach Paris, wohin inzwischen die meisten Emigrantenverlage übersiedelt waren. Die Lesung wurde sehr gut aufgenommen, Marina Zwetajewa entschloß sich, in Frankreich zu bleiben. Die Familie wohnte bis 1932 in Meudon, danach in Clamart, ab 1935 in Vanves. Eine Freundin beschreibt Marinas damalige Erscheinung so:

Marina war weder elegant noch hübsch: mager, bleich, fast abgezehrt; das Oval des Gesichts war schmal, streng, das kurzgeschnittene Haar noch blond, aber schon vermischt mit Grau. Insgesamt war sie nicht schön, sondern statuengleich… Sie antwortete den Gästen, wollte ernsthaft mit ihnen ins Gespräch kommen, aber sie wußte nicht wie, wagte es vielleicht nicht…

Zu Beginn der Pariser Zeit hatte Marina Zwetajewa viele Publikationsmöglichkeiten in Zeitschriften und Zeitungen, freilich erschien nur ein einziges Buch (1928), das letzte zu Lebzeiten. 1933 schrieb sie in einem Brief:

Hier bin ich ohne Leser, in Rußland ohne Bücher.

Und:

In der Emigration drucken sie mich zuerst besinnungslos, dann besinnen sie sich, stellen mich zurück, nachdem sie festgestellt haben, daß da etwas ist, was nicht ihnen gehört: es ist von dort. Der Inhalt mag ,unser‘ sein, doch die Stimme klingt nach ,drüben‘.

Zwetajewas Biograph Simon Karlinsky hat es sehr einleuchtend formuliert:

The romantic conservative in politics finally had to face the fact she was a revolutionary in poetry.

Die letzten zehn Jahre in Paris, 1929–1939, waren so voller Bedrängnis und Hunger wie die Jahre 1917–1921 in Moskau, eher schlimmer: durch ihr Eintreten für Majakowski verliert die Zwetajewa die meisten Publikationsmöglichkeiten, die Emigranten meiden sie immer mehr. 1933 wird die Familie gepfändet; Marina Zwetajewa schreibt einem Freund:

Mein Mann ist krank und kann nicht arbeiten. Meine Tochter verdient durch Mützenstricken fünf Francs pro Tag, das Geld muß für vier Personen reichen… Kein Leben – ein langsamer Hungertod.

Die ein Jahr später geschriebene Strophe war ein hilfloser Trostversuch:

Heimweh, jedesmal
entlarvte Illusion
Mir ist es ganz egal
wo ich allein bin.

Zu Beginn des Jahres 1937 kehrte die Tochter Alja in die Sowjetunion zurück, wenige Monate später folgt ihr Sergej Efron, in den Diensten einer sowjetischen Organisation. Isoliert, von den russischen Emigranten gehaßt, lebte Marina Zwetajewa noch zwei Jahre in Paris, im Sommer 1939 folgte sie ihrem Mann. In Moskau fand sie niemanden; ihr Mann war erschossen, ihre Tochter verbannt. Allein mit ihrem Sohn, der einige Jahre später als sowjetischer Soldat fiel, lebte sie in Moskau, auch hier gemieden. 1941 wurde sie vor den heranrückenden Nazitruppen evakuiert, nach Jelabuga (Tatarische Sowjetrepublik). Dort, am 31. August 1941, erhängte sich Marina Zwetajewa, 48 Jahre alt. Der Vorübergehende, an den sie sich mit ihrem Gedicht „Du gehst, so ging ich auch…“ wendet, wird ihr Grab nicht finden; es ist unbekannt. Zwei Jahre nach ihrem Selbstmord schrieb Boris Pasternak:

Im Schweigen deines Fortgehens
gibt es einen verborgenen Vorwurf.

Waren viele der ganz frühen Gedichte der Zwetajewa noch nicht frei von der eleganten und konventionellen Sprechweise der Moskauer Oberschicht, so finden bereits die Gedichte der Zwanzigjährigen zu dem sehr einfachen und direkten Vokabular, für das das Gedicht „Du gehst, so ging ich auch…“ das erste große Beispiel ist. Die kühle Neutralität des Tones wird umso auffälliger durch den Kontrast zu den Inhalten der Poesie dieser Jahre um 1915, dem beherrschenden Todes- und Abschiedsmotiv, das Rilke zu der Zeile veranlaßte:

Liebende dürften, Marina, dürfen soviel nicht
vom Untergang wissen.

In den folgenden Jahren treten dann die sprachlichen Archaismen (Kirchensprache, Poesie des achtzehnten Jahrhunderts) und die umgangssprachlichen Vokabeln und Wendungen hinzu. Zur gleichen Zeit beginnen jene formalen Experimente, die einen so bedeutenden Einfluß auf die neuere russische Poesie ausübten, bis heute. Die hauptsächliche grammatische Eigenart, die Ellipse, zeigt am deutlichsten die Abwendung von einem nach lateinischem oder deutschem Vorbild konstruierten Satzbau: ungewöhnlich häufige Anakoluthe, ungewöhnlich seltene Verbalkonstruktionen. Die großen Gedichte der zwanziger und dreißiger Jahre enthalten dann alle die für die Poesie der Zwetajewa so charakteristischen Details eines hohen Formalismus, von dem diese Ausgabe zumindest einen Eindruck zu vermitteln sucht: Choriambus, klangassoziative Fügungen, Worttrennung durch Bindestrich, Binnenreim, onomatopoetische Effekte, Enjambement innerhalb der Zeilen.
Es gehört zur Bescheidenheit der Zwetajewa, daß sie selbst private Erfindungen möglichst einfach zu erklären versuchte, so beispielsweise die Worttrennung durch Bindestrich mit dem Eindruck, den ihr unter Noten gesetzte Texte gemacht hätten. Und es gehört zum Selbstbewußtsein der Zwetajewa, wenn sie, in einem Brief aus dem Jahr 1923, alle technische Kunst förmlich wegwischt:

Die Wahl von Worten ist zuallererst die Wahl und Reinigung von Gefühlen.

„Unsichtbare, Doppelgänger, Spötter“ beginnt ein 1940 geschriebenes Gedicht Anna Achrnatowas an Marina Zwetajewa. Dieselbe Mischung aus Stolz und Bescheidenheit, Empfindsamkeit und Absonderung, die das Leben der Marina Zwetajewa kennzeichnete, kennzeichnet auch ihre Poesie.

Klaus Wagenbach, Nachwort

 

Die erste deutsche Ausgabe

der schon früh von Anna Achmatowa, Andrej Belyj, Ilja Ehrenburg, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke anerkannten großen russischen Autorin (1992 bis 1941). Mit biographischem Nachwort, Anmerkungen, Datierungen und Reproduktionen einiger Gedichte im Originaltext.
Die Übertragungen von Christa Reinig beachten auch die formalen Eigenarten, die den Ruhm der Zwetajewa begründeten und, bis heute, einen bedeutenden Einfluß auf die russische Poesie ausüben.

Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1968

 

„Jemanden zu haben, der die Frau in mir liebt…“

1922–1925

Wenige Wochen nachdem ihr Gatte nach Prag zurückgekehrt war, folgten ihm Marina und Alja, und im August 1922 begann ihr neues Leben in der Tschechoslowakei. Ihre ersten vierundzwanzig Stunden verbrachten sie als Gäste in einer Hütte, die zwei Studentinnen gehörte, mit denen Serjoscha befreundet war. Die Wirtin nahm es mit allen Dingen sehr genau, sogar mit den Zeiten für das Wasserkochen, so daß es ein Glück war, daß die Familie Efron bald in das Dorf Horní Mokropsy umziehen konnte, das durch den Fluß Berunka von Prag getrennt war.
Dort fanden sie ein Zimmer in einem Haus mit drei Räumen, in dem sieben weitere Personen, ein Hund und ein paar Küken hausten. Marina erhielt von den tschechischen Behörden ein kleines Stipendium, zusätzlich zu der Unterstützung, die Serjoscha für sein Studium erhielt; überall im Dorf wohnten andere russische Studenten, die ebenfalls von der großzügigen tschechischen Regierung unterstützt wurden. Der Unterschied zum kultivierten Café Prager Diele, wo Marina noch vor kurzem mit Bely, Ehrenburg und Helikon verkehrt hatte, konnte nicht größer sein.
Trotzdem war Marina glücklich. Die Familie Efron war endlich wieder zusammen, und obgleich man in einem Raum beengt zusammenlebte, gab es in der Umgebung Obstgärten, Kiefernwälder und Hügel mit Fliederbüschen. Verglichen mit ihrem Dasein während des Bürgerkrieges, lebten sie alle im Überfluß.
Marina und Alja fanden rasch zu einem geregelten Tagesablauf, der für Alja besonders anstrengend war. Beide standen gegen acht Uhr auf. Marina bereitete das Frühstück und Alja machte die Betten, reinigte die Tische und Fensterbänke und fegte aus. Dann ging sie Milch holen, trug die Spüleimer fort und holte Wasser aus dem nahen Brunnen. Nach dem Frühstück wusch sie ab, während Marina das Mittagessen vorbereitete und sich dann zum Schreiben niedersetzte. Nach dem Essen machte Alja einen Spaziergang, auf dem Marina sie zuweilen begleitete. Am Abend las und zeichnete Alja und ging früh zu Bett.
Serjoscha blieb gewöhnlich vier Tage in der Woche in einem Studentenheim in Prag, das Svobodárna genannt wurde, wo er angestrengt arbeitete und eine Universitätszeitung mit dem Titel Der eigene Weg herausgab. Während der übrigen Zeit wohnte er im Dorf, wo der Umgang mit ihm nicht leicht war. Oft machte er Marina zornig, wenn er sich weigerte zu frühstücken, obgleich sie ihm Kakao statt Tee aufdrängte und ihn zwang, sich Butter auf sein Brot zu streichen.
Er war noch immer sehr mager und erschöpft. Nach dem Frühstück saß er, von Büchern umgeben, auf seinem grauen Bett oder ging auf und ab und versuchte seine Notizen auswendig zu lernen.
Ungeachtet ihrer neuen Verantwortung, schrieb Marina weiterhin wie besessen. So wurde denn die erste Eintragung in ihrem Tschechischen Notizbuch (datiert 6. August 1922) lediglich ein paar Tage nach ihrer Ankunft gemacht. Das erste Gedicht im Notizbuch beginnt:

Sybille: ausgebrannt, Sybille. Ein Pfahl.
Alle Vögel sind tot. Doch der Gott erhob sich
.1

Es ist eine Meditation über das Verschwinden der Jugend, ihre grauen Haare und das dennoch unveränderliche prophetische Feuer der Dichtung. Sie zeichnete die Enttäuschung auf, die sie in ihrer Situation empfand, doch sie war glücklich über Aljas Treue, und sie war noch nicht entmutigt. Ende September mußte die Familie Efron ein zweites Mal umziehen, diesmal in ein hellgelbes, näher am Wald gelegenes Haus, das nur über einen schlüpfrigen, schlammigen Pfad zu erreichen war. Dieser eingeschränkte Zugang hatte zur Folge, daß Serjoscha sich ihren Hausrat auf den Rücken schnallen und sogar die zehnjährige Alja beim Transport helfen mußte. Trotz der Unannehmlichkeit und Feuchtigkeit hatten alle drei viel Spaß dabei; Marina setzte ihren Briefwechsel mit Pasternak fort.

Mokropsy, 19. neuer November 1922
Mein lieber Pasternak! 

Der mir liebste Umgang – ist ein unirdischer: der Traum, das Traumgesicht.
Und der zweitliebste – der Briefwechsel. Der Brief als spezielle Art unirdischen Umgangs ist, verglichen mit dem Traum, weniger vollkommen, doch seine Gesetze sind dieselben.
Weder der eine, noch der andere – kommt auf Befehl: wir träumen und schreiben nicht, wann wir es wollen, sondern: wenn der Brief es wünscht, geschrieben, der Traum – gesehen zu sein. (Meine Briefe wollen immer geschrieben sein.)
Deshalb – von vornherein: Machen Sie sich niemals Vorwürfe (auch nicht im mindesten!), wenn Sie nicht antworten, und reden Sie von keiner Dankbarkeit; jegliches große Gefühl ist Selbstzweck.
Ihren Brief erhielt ich heute, 6½ Uhr morgens, und in folgenden Traum gerieten Sie – ich schenke ihn Ihnen. – Ich gehe über irgendwelche schmalen Brücken. – Konstantinopel. – Hinter mir – ein kleines Mädchen in langem Kleid. Ich weiß, daß es nicht zurückbleibt, und daß – es diejenige ist, die führt. Aber weil es klein ist, kommt es nicht nach, und ich nehme es auf den Arm: über meinen linken Arm strömt streifig Seide: sein Kleid.
Ein Treppchen: wir steigen hinauf. (Ich bin, im Traum: ein gutes Omen, und das Mädchen ist ein wahres Wunder). Gestreifte Bettstellen auf Pfählen, unten – schwarzes Wasser. Die Augen des Mädchens blicken wahnsinnig, doch es tut mir nichts Böses. Es liebt mich, wiewohl nicht dazu ausgesandt. Und ich, im Traum: „Ich bändige es mit Sanftmut!“

Und – Ihr Brief. Mein Mann brachte ihn aus Svobodarna mit (dem russischen Studentenwohnheim in Prag). Sie feierten gestern den Jahrestag – die ganze Nacht hindurch – und mein Mann kam mit dem ersten Frühzug.
Auch jenen Brief erhielt ich so. Einmal – Zufall, zwei – gesetzesverdächtig. 

… Jetzt hören Sie sehr gut zu: Ich kannte sehr viele Dichter traf sie, sprach mit ihnen, saß mit ihnen beisammen, und wenn wir uns trennten, wußte (erriet) ich mehr oder weniger – wie das Leben jedes von ihnen sein würde ohne mich: Einer schreibt, einer spaziert umher, einer läuft (in Moskau) nach der Lebensmittelration, einer (in Berlin) ins Café usw.
Bei Ihnen jedoch ist es merkwürdig: ich kann mir Ihren Tag nicht vorstellen. (Und wie viele davon haben Sie schon verlebt – und jeden gelebt, Stunde für Stunde!) Für mich
faßt das Leben Sie nicht, offenbar – verzeihen Sie meine Kühnheit! – leben Sie nicht in ihm. Man muß Sie anderswo suchen, beobachten. Und das nicht, weil Sie ein Dichter sind und „irreal“, und ein weißer Dichter, und ein weißer „Irrealer“ – nein: ob das nicht etwa damit zusammenhängt, daß Sie über die Deltas schreiben, über die Zerrissenheit Ihres Seins. Das ist offensichtlich derart stark, daß ich es unbewußt auf Ihr Alltagsdasein übertrug. Es ist, als schickten Sie statt Ihrer Ihren Schatten ins Leben und gäben ihm alle Vollmachten.

„Worte zum Schlaf“. Damals war Sommer, und ich hatte einen eigenen Balkon in Berlin. Der Stein, die Hitze, Ihr grünes Buch auf den Knien. (Ich saß auf dem Fußboden.) Zehn Tage lebte ich nur von ihm – wie auf dem hohen Kamm einer Welle: ich gab mich ihm hin (gehorchte), und ertrank nicht, der Atem reichte genau für jenen Achtzeiler, der – ich bin so glücklich – Ihnen gefiel.
Bei einer Zeile verliere ich noch immer den Mut.

Ich mag kein Begegnen im Leben: Stirn stößt auf Stirn. Zwei Mauern. So dringst du nicht durch. Das Begegnen muß ein Bogen sein: dann ist das Begegnen – darüber. – Zurückgeworfene Stirnen!
Jetzt freilich trennt man sich auf zu lange, deshalb – klipp und klar: für wie lange kommen, wann fahren Sie. Ich verhehle nicht, daß ich gern mit Ihnen irgendwo in einem gottvergessenen (– erinnerten) schäbigen Café, im Regen säße. Ellbogen und Stirn. – Auch Majakowski sähe ich gern. Er benimmt sich anscheinend fürchterlich – und ich käme in Berlin in Teufels Küche. – Vielleicht komme ich das auch.
Wie war Ihre Begegnung mit Ehrenburg? Das Verhältnis zwischen ihm und mir ist abgekühlt, doch ich liebe ihn zärtlich und, eingedenk seiner großen Zuneigung für Sie, wünschte ich mir, Ihr Zusammentreffen sei gut gewesen.
Meine besten Erinnerungen an das Leben in Berlin (zwei Monate) – sind Ihr Buch und Bely. Mit Bely freundete ich mich, wiewohl fast seit der Kindheit miteinander bekannt, erst in diesem Sommer richtig an. Er lebte wie ein Geist: aß Haferbrei, den seine Wirtin ihm vorsetzte, und streifte durch die Felder. Dort erzählte er mir einmal, bei Sonnenuntergang, wunderbar von Blok. – So ist mir das auch geblieben. – Übrigens wohnte er in einer
Siedlung von Sargtischlern, und, da er es nicht wußte, wunderte er sich ganz naiv: warum tragen alle Männer Zylinder, und alle Damen Kränze vor den Bäuchen und schwarze Handschuhe.

Ich wohne im Tschechischen (bei Prag), in Mokropsy, in einer Kate. Das letzte Haus im Dorf. Am Berg ist eine Quelle – ich schleppe Wasser. Ein Drittel des Tages brauche ich, um den riesigen Kachelofen zu heizen. Das Leben unterscheidet sich kaum von dem in Moskau, seine Umstände sind wohl sogar armseliger! – doch zu meinen Gedichten bekam ich noch: die Familie und die Natur. Monatelang sehe ich keinen Menschen. Den ganzen Morgen schreibe ich und gehe umher: hier sind wunderbare Berge.
Lassen Sie sich von Helikon (Wischnjak) die Gedichte geben, die ich der „Epopöe“ schickte, sie sind mein Leben.
Ihnen aber will ich zum Abschied mein Lieblingsgedicht, aufschreiben – auch ein neueres, im Tschechenland geschrieben:

Das Gold meiner Haare
Nun färbt es sich hell.
Kein Mitleid! im Lauf der Jahre
Hat der Brust sich alles erfüllt.

Erfüllt, wie die Weite ineinsfloß
Im Ächzen des Schlots am Stadtrand.
Gott! Der Seele ward ihr Los:
Meine Absicht, unterderhand.

Nichtbrennbares Salz
Meiner Gedanken – wird es vertan
Als Phönixasche, Höllenschmalz
Flüchtigen Größenwahns?

Silbern auch du
Mein Gefährte! Zu Lärm und Rauch
Dem jungen Grau der Sache –
Meiner Gedanken – leg graue Haare auf.

Stolzes Goldwurzstück
Prahl nicht mit deiner Pracht:
Dem jungen Grau des Unglücks
Stehen Lorbeer – und Eichenblatt.

Ich wäre glücklich, wenn Sie mir neue Gedichte schickten. Für mich sind alle – neu: ich kenne nur Meine Schwester, das Leben.
Und was Sie über gewisse Zusammentreffen schreiben, über Parallelen, Annahmen – Gott, dabei stößt doch nicht Stirn gegen Stirn. Meine Stirn war zurückgebogen, als ich über Sie schrieb – und natürlich sah ich Sie. 

M. Z.

Pasternak, ich habe eine Bitte an Sie: schenken Sie mir zu Weihnachten eine Bibel: eine deutsche, unbedingt mit gotischer Schrift, nicht groß, doch auch kein Taschenbuch: eine übliche. Und schreiben Sie mir eine Widmung rein. Helikon bitte ich nun schon vier Monate vergeblich!
Mein Lebtag werde ich sie mit mir herumschleppen!2

Die Gründe für den Bruch zwischen Marina und Ehrenburg waren zum Teil politischer Natur: Marina stand dem Sowjetregime nach wie vor total ablehnend gegenüber, obgleich sie lange genug in Rußland geblieben war, um die ersten Versuche mitanzusehen, wie die Lehren der Revolution in die Tat umgesetzt wurden; doch Ehrenburg sah sich 1922 veranlaßt, das meiste dessen, was er in seinen nach der Oktoberrevolution geschriebenen Gedichten verdammt hatte, zu rechtfertigen.3 Der Hauptgrund war allerdings persönlicher Ärger über seine Haltung ihr gegenüber.
In Ehrenburgs Roman Leben und Untergang des Nikolaj Kurbovs diente Marina als Vorbild für die Heldin, die als eine naive und irregeleitete Konterrevolutionärin bekannt ist. Ehrenburg war durch Marinas Mischung aus Arroganz und Weltfremdheit immer ein wenig abgestoßen worden; viele Jahre später würde er in Die Ersten Jahre der Revolution den Widerwillen beschreiben, den ihre in Tabakasche und Staub versunkene Moskauer Wohnung in ihm hervorgerufen hatte. Vielleicht ahnte sie seine Reaktion. Ohne ihren wirklichen Geist zu erkennen, sah er sie als jemanden, den man als eine „romantische Monarchistin“ verspotten konnte. Trotz seiner früheren Freundlichkeit, äußerte sie nicht den Wunsch, ihn wiederzusehen, als sie im Jahr darauf plante, nach Berlin zurückzukehren.
Bald hatte sich Marinas Leben vom häuslichen Bereich gelöst. Trotz Aljas rührender kindlicher Schilderungen des Zusammenlebens in der kleinen Hütte am Waldrand, wußte Marina, daß sie erst in Prag ihr eigenes Reich finden würde. Schon am 2. November 1922 gibt sie in einem Brief an Anna Tesková, der Präsidentin der Prager Tschechisch-Russischen Gesellschaft, ihre Zustimmung zu einer Lesung und fragt nach dem übrigen Programm. Sie hatte sich mit dem Kritiker Mark Slonim angefreundet und wurde als eine der bedeutendsten Dichterinnen angesehen, die ins Exil hatte gehen müssen.
Zuerst schloß Marina nur mit wenigen tschechischen Intellektuellen Freundschaft, doch sie lernte den wichtigen russischen Romancier Alexej Remisow kennen; und, wie Vladimir Nabokov in Andere Ufer erzählt machte sie im Frühjahr 1923 mit ihm eine mehrtätige Wanderung durch die Hügel um Prag.
Im Laufe des folgenden Jahres etablierte sie sich allmählich im Zentrum des Prager literarischen Lebens, bevor sie dort eine kleine Wohnung fand. Im November 1923 kamen der Dichter Wladislaw Chodassewitsch (den sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr kannte) und Nina Berberova (zwei weitere Besucher der Prager Diele in Berlin, die oft mit Marina am selben Tisch gesessen hatten) nach Prag. Ein Auszug aus Chodassewitschs Tagebuch vermittelt einen Eindruck von den vertrauten und häufigen intellektuellen Begegnungen zwischen Chodassewitsch, Marina, Roman Jakobson, Mark Slonim und anderen: 

9. November: R. Jakobson
10. November: Zwetajewa
13. November: R. Jakobson
14. November: bei der Zwetajewa
16. November: Zwetajewa
19. November: Zwetajewa
20. November: R. Jakobson
23. November: Zwetajewa und R. Jakobson
24. November: R. Jakobson
25. November: R. Jakobson, Zwetajewa
27. November: R. Jakobson
28. November: Zwetajewa
29. November: R. Jakobson, Zwetajewa
1. Dezember: R. Jakobson
5. Dezember: die Jakobsons
6. Dezember: Abfahrt nach Marienbad.4

Mit dem ihr eigenen Scharfsinn hat Nina Berberova den Eindruck wiedergegeben, den Marina um diese Zeit auf sie machte. In Nina Berberovas Augen war Marina jemand, der freiwillig in die Rolle des Außenseiters geschlüpft war und nicht einsah, daß es ihre Schuld und nicht die der Umgebung war; und Marinas stolzen Mut empfand sie deshalb als Arroganz. Dabei war es kein romantisches Spiel, wenn Marina (in ihrem Gedicht „Lob den Reichen“) schrieb, daß sie unter dem „Lumpenpack der Welt“ ihren Platz hätte. Selbstachtung schöpfte sie nur aus ihrer Dichtung. Nina Berberova lehnte die damit einhergehende Beharrlichkeit, mit der Marina (in vielen Gedichten) deutlich machte, anders zu sein als die übrige Menschheit, ab. Und sie hatte kein Verständnis dafür, daß Marina sich bei schönen Frauen immer herausgefordert fühlte.
Nina Berberova war von außergewöhnlicher Schönheit, und wahrscheinlich war es so, daß Marina in ihrer Gegenwart deshalb besonders provokativ auftrat, weil sie ihr näherkommen wollte, und nicht, weil sie ihre Überlegenheit demonstrieren wollte. Bei einer der Prager Zusammenkünfte spürte Nina in Marinas herausforderndem und freimütigem Verhalten das unangenehme Gefühl von Gefahr. Als Marina auch noch den Stecker herauszog und die zögernde Nina in der Dunkelheit küßte und kitzelte, wurde das sexuelle Element dieser Werbung überdeutlich.
Im Gegensatz zu den Reichen und Schönen war Marina unscheinbar; und obgleich sie gut aussah, konnte man sie nicht hübsch im landläufigen Sinne nennen. Sie hatte eine gebogene Nase, und ihre rötlichen Augenbrauen wurden jetzt durch zwei tiefe Falten getrennt. Sie war längst nicht mehr rundlich, sondern hatte die Figur eines Zigeunerjungen mit schmaler Taille und einer insgesamt aristokratischen Magerkeit, wobei ihre Hand- und Fußgelenke besonders grazil waren. Ihr golden-kastanienbraunes Haar begann vorzeitig zu ergrauen, was die Blässe ihres Gesichts hervorhob und ihre grünen Augen noch eindrucksvoller machte.
Marinas Geringschätzung modischer Fragen war keine Heuchelei, wie viele ihrer Bekannten annahmen. Sie weigerte sich einfach, sich um eine Eleganz zu bemühen, die sie sich nicht leisten konnte. Sie trug Kleider aus zweiter Hand und gab wenig auf ihr Äußeres. Alles in allem war sie in ihren Gewohnheiten eher puritanisch, und ihre Einstellung zu Kleidungsfragen war Teil dieses Puritanismus. Sie ging spät zu Bett und stand früh auf. Zigaretten waren ihr einziger Luxus, und sie bevorzugte die starken Sorten. Wenn sie schrieb, brauchte sie bloß einen Becher schwarzen Kaffees und eine Zigarette. Sie hatte nie das Bedürfnis, aufzuspringen oder im Zimmer umherzugehen, sondern saß wie angenagelt an ihrem Tisch. Dort murmelte sie vor sich hin und probierte Wörter nach ihrem Klang aus; manchmal schrieb sie mit verblüffender Schnelligkeit; manchmal warf sie nacheinander zahlreiche Versentwürfe aufs Papier, ohne die nicht verwendeten je durchzustreichen. Sie benutzte immer einen einfachen hölzernen Federhalter und eine dünne Schulfelder, und wenn sie schrieb, grub sie die Spitze ihrer Feder buchstäblich in die Seiten ihrer Notizbücher, in die sie am liebsten schrieb.
Ihre echte Abneigung gegen die „besseren Häuser“ der Russen stammte aus ihrer Kindheit, und ihr Ekel vor den Zwängen des gewöhnlichen Alltagslebens war am heftigsten, wenn sie über die gefühllose Unterhaltungssucht derer nachdachte, die nichts zu tun hatten – daher das Paradox ihres großartigen Gedichtes „Lob den Reichen“, geschrieben 1922 (und in Serjoschas Zeitschrift veröffentlicht).
Auf der anderen Seite war Marina, wie sie in dem Gedicht einräumt, als ein Mitglied der privilegierten Klasse groß geworden. Ihre Ablehnung der reichen Leute, die sie umgaben, war von Bitterkeit gefärbt, denn Marinas Stolz machte deren Herablassung unannehmbar.

Nachdem ich – vorab – bereits zugab
Daß mir zu dir eine Meile fehlt!
Daß ich was vom Lumpenpack hab
Daß ehrlich mein Platz auf der Welt:

Kam unter gigantische Räder
Ein Tisch mit Krüppeln, Gezeichneten…
Demnach – so hört ihr mich krähen
Vom Kirchdach: ich
liebe die Reichen!

Ihren Abstamm, faul und marode
– Von Kindbett an grindiger Brand –
Wie ihre verstörten Marotten:
Taschaus, taschein fährt die Hand. 

Die hauchend geflüsterte Bitte
(Erfüllbar strikt, wie ein Anschrei)
Daß sie im Paradies nicht gelitten
Den ewigen Blick dichtvorbei.

Ihre Geheimnisse – stets per Kurier!
Ihre Leidenschaften – per Boten!
Ihre Nächte – erzwungene Kür
(Ihr Küssen und Trinken – pure Not!)

In ihren Depots, Langeweilen
Im Goldschnitt, im Gähnen, stets Gleichen
Mich. Frechling kauft man nicht ein –
Es bleibt: ich
liebe die Reichen!5

Marina sah in Serjoscha noch immer ihren Schutzbefohlenen und war anfangs einfach glücklich, die Familie wieder vereinigt zu sehen. Sie unterstützte all seine Projekte und verlangte nicht von ihm, daß er zum Unterhalt der Familie beitrug. Nichtsdestoweniger kam es schon 1923 erstmals zu Reibereien zwischen ihm und ihr. Während der Jahre ihrer Trennung hatte er sich verändert. Er war nicht mehr imstande, Marina jenes „ungeheure Vertrauen und Verständnis“ zu schenken, das sie brauchte. Ebensowenig hatte er den Wunsch, an ihrer inneren Welt teilzuhaben; ja er wurde zornig und verstand sie nicht, wenn sie ihn dazu einlud. Schlimmer noch: Marina mußte die Tatsache akzeptieren, daß er zu dem Schluß gekommen war, ihre natürliche Veranlagung sei der seinen vollkommen entgegengesetzt. Mochten sie auch denselben Lebensraum teilen, so zogen sie sich doch voneinander zurück.
Viele ihrer Einwände, die sie gegen Ehrenburg erhob (in einem Briefwechsel mit dem Berliner Kritiker Alexander Bachrach, den sie am 19. Juni 1923 eröffnete), verraten ihren zunehmenden Groll über die Art, mit der die meisten Männer die Frauen behandelten und ihnen gerade noch verziehen, daß sie eine „lebendige Seele“ hatten:

Da er sich die lebendige Seele verzieh, verzieh er sie auch mir. Aber ich wollte solch eine Verzeihung nicht. Wie es mit Frauen ist: Sie betrachten ihre Fehler mit Vergnügen und verzeihen ihnen: „Liebe Kinder!“ Ich wollte kein liebes Kind sein, kein romantischer Monarchist, kein monarchistischer Romantiker – ich wollte sein. Und er verzieh mir mein Sein!6

Serjoscha wünschte sich ein heiteres unkompliziertes Leben mit einem Schuß Leichtfertigkeit. Das Kaffeehaus-Dasein in Berlin, das Marina verachtete (wenn sie darin auch eine dominierende Rolle spielte) hätte ihm mehr zugesagt als ihre strenge Hingabe. So scharfsinnig sie ihren Mann Bachrach auch beschrieb, zollte sie seinem „fundamentalen Edelmut“ doch Anerkennung (wenngleich sie diese unzweifelhaft als eine Form von „kranker Güte“ ansah); und weil er ihr die Art von Zuneigung nicht mehr entgegenbringen konnte, die sie brauchte, begann sie, diese anderswo zu suchen.
Marina begann den Briefwechsel mit Bachrach, nachdem sie seine überaus schmeichelhafte Kritik über ihre Gedichte gelesen hatte. Anfangs schrieb sie mit Bedacht und formaler Eleganz, doch schon ihr erster Brief war eine ungewöhnliche Geste, denn Kritiken schenkte sie gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit. Aber schon beim zweiten Brief muß Marina gewußt haben, daß sie von Bachrach mehr wollte als einen literarischen Austausch. Sie kannte ihn persönlich nicht; aus diesem Grunde bedeutete er, wie sie andeutete, „Alle Möglichkeiten… jemand, von dem man alles erwartet. Es gibt ihn noch nicht
Gerade weil sie ihre eigenen zaghaften Gefühle beschrieb, rief Marina behutsam die neue Beziehung ins Leben. Als sie merkte, welch eine junge Stimme aus Bachrachs Briefen ertönte, schrieb sie:

Ihre Stimme ist jung, das rührt mich und macht mich mit einem Mal tausend Jahre alt.

Marina war dreißig – das heißt zehn Jahre älter als Bachrach –, doch diesen Altersunterschied wollte sie zweifellos ebenso eifrig vergessen machen wie er es tat. Er antwortete ihr ohne ein Zeichen von Verlegenheit, und Marina begann sich einzugestehen, daß sie Anspruch auf ihn erhob, wenn sie ihm auch versicherte, sie sei nicht besitzergreifend.
Bachrach schrieb ihr liebevoll zurück, angerührt durch die geheimen Gedanken, die sie ihm enthüllt hatte, und in diesem Zusammenhang offenbarte sie ihm, sie erwarte von ihm ein „Wunder an Vertrauen, ein Wunder an Verständnis“. Dieser Wunsch ermutigte Bachrach, und der Briefwechsel wurde vertraulicher. Als er Jahre danach über ihre Beziehung schrieb, beklagte sich Bachrach (wie andere auch), für Marina habe es ihn nur in ihrer Vorstellung gegeben. Die Briefe legen einen anderen Schluß nahe.
Marinas Interesse war nicht in erster Linie sexueller Art. Das macht sie in ihrem Brief vom 14. Juli 1923 ganz klar: 

Ich will, daß Sie mit Ihren zwanzig Jahren ein siebzigjähriger Greis sind – und gleichzeitig ein siebenjähriger Junge; ich will kein Alter, keine Rechnung, keinen Kampf, keine Barrieren. Ich weiß nicht, wer Sie sind, ich weiß nichts von Ihrem Leben, ich bin mit Ihnen vollkommen frei, ich spreche mit einem Geist.

Am 25. Juli legte sie dar:

Für die Liebe bin ich zu alt; das ist eine Kindersache. Zu alt nicht wegen meiner dreißig Jahre – ich war zwanzig,7 da sagte ich dasselbe zu Ihrem Lieblingsdichter Mandelstam.8

In diesem Brief weist Marina Bachrachs Liebe fürs erste zurück, klugerweise behauptet sie, er könne sie, was immer er auch glaube, unmöglich lieben, und weigert sich zuzulassen, daß er sich selbst betrüge. Bachrach hingegen fühlte sich durch die Aufmerksamkeit einer so bemerkenswerten Person geschmeichelt, und seine Briefe ermutigten Marina, seine Schwärmerei zu erwidern.
Überdies war es eine Einladung Bachrachs, die sie einen Besuch in Berlin ins Auge fassen ließ. Am 25. Juli erkundigt sie sich, ob er er ihr eine Genehmigung verschaffen könne, nach Berlin zu fahren, dort zu wohnen und wieviel die Genehmigung kosten würde. Sie wollte auch wissen, wo sie dort logieren könne, und verriet auf rührende Weise ihre Furcht, sich in großen Städten zu bewegen, in denen sie sich „blind, dumm und hilflos“ vorkomme. Es finden sich in diesem Brief auch Hinweise auf andere Hoffnungen, wenn sie nämlich erklärt, sie fürchte sich zwar vor großen Städten, nicht aber vor möglichen Weiterentwicklungen ihrer Beziehung:

Ich fürchte alles, was am Tage ist – und nichts, was nachts ist.9

Die unruhige politische Situation verhinderte Marinas Reise nach Berlin, doch hatte ihr Verzicht letztlich fraglos den Grund, sich Bachrach als ideale und entrückte Gestalt zu erhalten, über die sie phantasieren konnte. Jedesmal wenn Marina in diesen Briefen auf ihre Beziehung zu Mandelstam zu sprechen kommt, umschreibt sie genau die Art von Beziehung, die sie mit dem jungen Kritiker einzugehen wünschte.
Im folgenden Monat, August 1923, kam der Postverkehr zwischen Berlin und Prag zum Erliegen, und Marina fürchtete, Bachrach habe beschlossen, ihren Briefwechsel zu beenden. In ihrer Besorgnis schrieb sie ihm:

Ich habe Ihnen zweimal geschrieben und keine Antwort bekommen.10

Sie kehrte zu ihrem anfänglichen, formelleren Stil zurück, um mit Würde abzuwarten, ob die Briefe ihn überhaupt erreichten.
Im Laufe des Monats August, als Bachrach weiterhin nichts von sich hören ließ, erlitt Marina alle Qualen, die das Ende einer wirklichen Liebesaffäre begleiten. Ihr Tagebuch zeigt die Tiefe ihres Kummers zu dieser Zeit, verzeichnet Einsamkeit und ihre Langeweile ohne den Austausch von Briefen, von dem sie abhängig geworden war. Sie fühlte sich nervös und fiebrig, als habe man ihr eine Droge entzogen, und sie versuchte sich darüber klarzuwerden, was zwischen ihnen geschehen war. Und am 19. August notierte sie ironisch, als wolle sie vorhersagen, was man sehr oft von ihr behauptete:

Nicht genug damit, daß ich Sie niemals (mit den Augen) gesehen und (mit den Ohren) gehört habe, muß noch das sein, daß… die ungehörte Stimme verstummte! Und danach sagt man mir, daß ich mir Menschen ausdenke.11

Während des ganzen Monats August lechzte sie fortwährend nach Informationen von Leuten, die Bachrach in Berlin kannten und als sie jemanden traf, der ihn kannte, konnte sie nicht widerstehen, ihn nach Bachrachs Adresse zu fragen – nicht, weil sie diese brauchte, sondern einfach, um sich zu vergewissern, daß er wirklich existierte. Als sie sich allmählich an den Gedanken zu gewöhnen begann, daß er sich in eine andere Frau verliebt und deshalb ihre Korrespondenz abgebrochen habe, kam ein Brief, der klarmachte, daß der ganze Jammer auf ein Mißgeschick bei der Post zurückzuführen war.
Dieser August war in jeder Hinsicht ein schwieriger Monat. Die Familie Efron war übereingekommen, Alja ins mährische Trebova zu schicken, einer kleinen Stadt an der deutschen Grenze, wo es ein gutes russisches Gymnasium gab. Marina zögerte anfangs, sie gehen zu lassen, und es war schließlich Serjoscha, der darauf bestand. Die Trennung von ihrer Tochter war Marina nur möglich, weil diese sich aus einem frühreifen kleinen Mädchen, das seine Mutter in jeder Hinsicht nachahmte, in ein enttäuschenderweise „gewöhnliches kleines Mädchen“ verwandelt hatte. Alja (die dieses Ereignis in ihren Erinnerungen festhielt) nahm diese Beschreibung in keiner Weise übel. Es war Marina, der die Veränderung ihrer Tochter Schmerz bereitete; in einem ihrer Briefe an Bachrach schrieb sie:

Alja… spielt jetzt mit Puppen und ist mir gegenüber zutiefst gleichgültig… O, Gott will mich wirklich zu einem großen Dichter machen, sonst würde er mir nicht alles so nehmen.12

Dennoch war es schwierig, Alja in ihr Gymnasium zu schaffen. Serjoscha und Alja fuhren voraus, während Marina anfangs vorhatte, die Zeit von August an in Prag zu verbringen, wo sie sich auf dem Smichover Hügel ein Zimmer gemietet und begonnen hatte, an der neuen Freiheit Gefallen zu finden. Doch das Gefühl, Alja bei der Eingliederung in das neue Schulleben helfen zu müssen, überwog, obwohl sie der Verlust von zwei Wochen mit einer gewissen Ungeduld erfüllte; dazu litt sie immer noch an der vermeintlichen Brüskierung durch Bachrach. Paradoxerweise wollte sie gebraucht werden, aber nicht von ihrer Familie. Und noch weniger wünschte sie, eine schlichte Mutterrolle zu übernehmen.
In den Wäldern, welche die neue Schule ihrer Tochter umgaben, wurde Marina von abergläubischen Visionen ergriffen und meinte zu spüren, daß das Schicksal etwas Ungeheures und Schreckliches für sie bereithalte. Auf einem Spaziergang hörte sie die Stimme einer Frau und das Bellen eines Hundes, und als sie eine bucklige Bettlerin mit einem Sack auf der Schulter erblickte, identifizierte sie das alte Weib mit dem Schicksal. Dementsprechend bot sie der Bettlerin alles an, was sie bei sich hatte, darunter auch Aljas Sachen, ihre eigenen Schuhe, Brot und Kleider und stopfte sie ihr in den Sack. Die Frau küßte ihr wie wahnsinnig die Hände. Trotzdem mochte Marina nicht recht glauben, daß die Frau eine übernatürliche Erscheinung sei, und eine kurze Befragung ergab, daß das „Schicksal“ drei Kinder und einen Ehemann hatte. Desungeachtet spürte Marina, daß ein Ereignis von großer Tragweite bevorstand.
Es war nicht Bachrach, der die Liebesgeschichte in Briefen beendete. Sie löste sich auf, als Marina sich in eine andere, ganz und gar reale Person in Prag verliebte. Als das geschah, wußte sie, daß sie Bachrach schreiben und ihm ihre neue Beziehung eingestehen mußte. Das tat sie am 20. September 1923:

Nehmen Sie all Ihre Tapferkeit in beide Hände und hören Sie mich an. Etwas ist zuende. Jetzt ist das Schwerste getan. Hören Sie weiter. Ich liebe einen anderen.13

Aus Marinas nächstem Brief geht klar hervor, daß Bachrach ihr ziemlich gekränkt geantwortet haben muß, wenn sie schreibt:

Sie haben meinen Brief nicht verstanden; Sie haben ihn unaufmerksam gelesen. Sie haben weder meine Zärtlichkeit noch meine Sorge noch meinen menschlichen Schmerz um Sie gelesen.14

Es steht außer Frage, daß es nicht Bachrachs Gleichgültigkeit war, die zur Beendigung ihrer Beziehung führte. Ebensowenig scheint es, als habe einer von ihnen die Absicht gehabt, diese Beziehung lediglich als Gedankenspiel existieren zu lassen.
Trotz der Zärtlichkeit, die sie weiterhin für Serjoscha empfand, hatte Marinas leidenschaftliche Sexualität sich nur in der Liebesbeziehung zu Sophia Parnok entfalten können. Konstantin Rodzewitsch, der Mann, von dem sie Bachrach geschrieben hatte, erfüllte ihre Wünsche ganz und gar.
Im Prag des Jahres 1923 glaubten viele, er sei Offizier bei den Weißen gewesen. Tatsächlich hatte er jedoch eine Zeitlang in der Roten Marine gedient; doch in der (richtigen) Einschätzung, es werde sich in Emigrantenkreisen für ihn besser leben lassen, tat er alles, um den Eindruck zu erwecken, er habe auf Seiten der Weißen gekämpft. Obgleich sein Vater, Boris Kasimirowitsch, General in der zaristischen Armee gewesen war, diente er nach der Revolution auf einem Schiff der bolschewistischen Militärflotille auf dem Dnjepr. Nachdem er von der Weißen Armee gefangengenommen, zum Tode verurteilt und dann begnadigt worden war, entschloß er sich, sich mit den Weißen zu verbinden. Diese Art, aufs Geratewohl ein Bündnis einzugehen, war in mancher Hinsicht typisch für ihn.
Doch er vermittelte keineswegs den Eindruck von Schwäche. Er war ein Mann mit guten Manieren, großem Charme und legte eine fast antiquierte Höflichkeit an den Tag; gut gekleidet und geistreich im Gespräch, hatte er nichts „Seelenvolles“ an sich. Er war stolz, sowohl auf sein Äußeres wie auch auf seine Person, und wußte mit allen Frauen schmeichlerisch und mit Zartgefühl umzugehen, so daß er immer großen Erfolg bei ihnen hatte.
Alles das fand Marina unwiderstehlich attraktiv. Was sie am allermeisten bestrickte, war seine Art, sie nicht wie eine berühmte Dichterin, sondern als ein Objekt sexuellen Begehrens zu behandeln. So pflegte er mit allen Frauen umzugehen, doch für sie war diese Art etwas Neues. Gleich zu Beginn ihrer Beziehung fiel es ihm leicht, jene „großen Worte, wie es einfachere nicht gibt“,15 ohne jede Befangenheit auszusprechen, und Marina schrieb an Bachrach, es sei gewesen, als höre sie diese Worte der Liebe zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie war es gewöhnt, in die mütterliche, beschützende Rolle zu schlüpfen; vielleicht war ihr das einmal sicherer vorgekommen, vielleicht hatte sie gerade das bei Mandelstam gewollt. Jetzt ließ sie sich mit Rodzewitsch, der als ein Frauentyp bekannt war, auf eine vollkommen neue Art von Beziehung ein. Sie konnte dem nicht widerstehen, was sie in ihrem Brief an Bachrach vom 29. September als ein „Geschenk“ beschrieb:

Für den, der mich liebt, ist die Frau in mir ein Geschenk. Für den, der sie in mir liebt – für mich – ist sie eine nicht bezahlbare Schuld.16

Rodzewitsch, selbst ohne literarische Ambitionen, war sich Marinas Berühmtheit wohl bewußt. Sie schreckte ihn nicht. Er war gern mit starken Frauen zusammen. Sein zeichnerisches Talent nutzte er, um eine oder zwei Skizzen von Marina anzufertigen. Sie sind bemerkenswert gut getroffen, während ein Gemälde auf Holz aus derselben Zeit ein vollkommen idealisiertes, faltenloses Gesicht zeigt, das Haar ohne einen Schimmer von Grau. Marina fand die Schmeichelei nicht abstoßend. Im Gegenteil: Sie empfand die Aufmerksamkeit, die man ihrem Äußeren zuteil werden ließ, als wohltuend ungewohnt. Ursprünglich war Rodzewitsch ein Freund Serjoschas gewesen, den er in Prag auf der Universität kennengelernt hatte, wo sie beide studierten. Von Rodzewitschs Verhältnis mit Marina, das vom September 1923 bis zum 12. Dezember desselben Jahres dauerte, wußte er jedoch nichts, und sollte diese Freundschaft mit Marinas Mann Rodzewitsch Unbehagen bereitet haben, so verdrängte er sein Schuldgefühl. Die Liebesaffäre war, so lange sie dauerte, eine gegenseitige Leidenschaft, „un grand amour“, wie Rodzewitsch sie gern nannte.
Marina liebte Konstantin nicht nur, weil er gut aussah und charmant war, sondern auch wegen einer gewissen Seelengröße, die niemand ihm sonst zusprach. Rodzewitsch hatte keine derartigen Ambitionen, und als ihm bewußt wurde, daß er über Wert bewundert wurde, fühlte er sich überfordert. Er begann ihre Kraft als etwas „Überwältigendes“ zu empfinden. Nach seiner Ansicht war die Liebe dazu da, Vergnügen zu bereiten; Marinas verzehrendes Verlangen beunruhigte ihn:

Ich konnte die Anspannung nicht ertragen. Ich konnte der Heldenfigur nicht gerecht werden, zu der sie mich machte. Ich konnte dem Mythos nicht entsprechen.17

Die Liebesaffäre dauerte nur wenige Monate. In ihrem „Poem vom Berg“ beschreibt Marina, wie sie im Oktober 1923 gemeinsam auf einen Hügel in Prag stiegen und sich dort liebten. Ihre erste Begegnung vollzog sich mit der ganzen ungestümen Leidenschaft, die sie so beschreibt:

So fern vom Fibel-Eden:
Wir, im zugigsten Wind!
Der Berg warf uns auf den Rücken
Befahl uns: legt euch hin!
[footnote]M. Zwetajewa: „Poem vom Berg“. In: Izbrannye proizvedenija. (siehe Anm. 38) (übersetzt von Richard Pietraß)[/footnote]

Es war ein kalter Tag, doch das leidenschaftliche Liebespaar kümmerte sich nicht darum. Ironischerweise bezeichnete Marina den Berg als das auslösende Element und nicht Konstantin, doch mit ziemlicher Sicherheit war er, der weitaus erfahrenere Liebhaber, derjenige, von dem die Initiative ausging. Ein Stückchen vom Alltag ihrer Beziehung kommt in einem Gedicht aus dem langen Zyklus „Poem vom Ende“ zum Andruck, in dem sie ihr Lieblingscafé beschreibt, wo sie morgens oft eine Tasse Kaffee tranken und von der eingeweihten Kellnerin als Stammgäste betrachtet wurden. Es war eine Beziehung, die darauf angewiesen war, daß Marina in Prag eine zweite Bleibe hatte, doch diese war im Grunde ein Verschlag und nicht als Wohnung vorgesehen. Dort schrieb Marina so besessen wie immer. Ihre Liebesaffäre bedeutet keine Unterbrechung.
Auf dem Höhepunkt ihrer Liebe, im November 1923, erhielt Marina einen Brief, „einen brieflichen Schrei“, von Andrej Bely, der sie bat, in Prag eine Bleibe für ihn zu finden und sein Verlangen ausdrückte, ihr nahe zu sein. Beschäftigt wie sie war, antwortete Marina sofort und bot ihm ein Zimmer neben den ihren in Smichov an; sie teilte ihm mit, sie habe mit Slonim gesprochen, der ihr versichert habe, Bely werde ein tschechisches Stipendium von 800 Kronen monatlich erhalten. Ihr Brief war nicht nur praktisch, sondern liebevoll. Sie versprach Bely sie würden zusammen essen, er würde andere Freunde treffen, und er könne immer auf ihre liebende Fürsorge zählen.
Dennoch wurde das Zimmer, das sie besorgt hatte, nie bezogen. Auch Slonims Angebot eines Stipendiums wurde nicht wahrgenommen. Im November 1923 kehrte Bely in die Sowjetunion zurück. Er reiste ab, ohne auch nur eine Antwort auf seinen Brief an Marina abzuwarten, als habe er seinen impulsiven Hilferuf vergessen. Und das hatte er vermutlich wirklich.
Für das Zerbrechen der Beziehung zwischen Marina und Rodzewitsch gab es mancherlei Gründe, doch zweifellos geschah es auf sein Betreiben. Es sei ihm unerträglich, behauptete er, weiterhin seinen Freund Serjoscha zu betrügen. Außerdem gäbe es politische Gründe: Er sei im Begriff, sich aktiv politisch zu betätigen und müsse sich von ihr trennen, um sich eindeutig zu den Linken zu bekennen. Wie seine Motive auch beschaffen sein mochten, er verließ Marina anschließend, um Mussa Bulgakowa zu heiraten, die Tochter eines berühmten Theologen, die reich genug war, um ihm jenen bürgerlichen Komfort bieten zu können, den es bei Marina nicht gab. Daran dachte Marina, als sie in ihrem Gedichtzyklus „Poem vom Berg“ von ihm als von einem Mann sprach, der aus dem Taumel der Liebe unter den Kiefern zu den „sanften Wohltaten der Häuslichkeit“ zurückkehrt. In dieser Gedichtfolge verhöhnt sie die Schrecklichkeit des Vorstadtlebens, indem sie von Schrebergärten auf dem Berg schreibt, die von kleinbürgerlichen, verheirateten „Ladenbesitzern in den Ferien“ beackert werden.
In großer Trübsal wandte sie sich wieder Serjoscha zu, beichtete ihm ihre Affäre mit Rodzewitsch und hoffte auf emotionale Hilfe. Statt dessen verwundete ihn diese Neuigkeit tief und traf ihn wie ein schwerer Schock. Er dachte nicht daran, Marina zu helfen, sondern verkroch sich in sich selbst, und seine großen dunklen Augen blickten noch unglücklicher. Zu Beginn des Frühlings 1924 schrieb er an seine Schwester in Moskau:

In Prag geht es mir schlecht. Ich lebe hier wie unter einer Kapuze. Ich kenne sehr viele der hiesigen Russen, doch ich werde nur mit wenigen warm. Und dabei komme ich doch im allgemeinen mit Leuten gut aus! Ich habe schreckliche Sehnsucht nach Rußland. Wann wird es wohl möglich sein, daß ich zurückkehre? Nicht in dem Sinne – wann wird es wohl sicher sein, sondern wie rasch wird es moralisch möglich sein! Ich bin darauf vorbereitet, weitere drei Jahre zu warten. Ich fürchte, länger werden meine Kräfte nicht reichen.18

Zum ersten Mal in ihrer Beziehung dachte er über eine Trennung von Marina nach, und er sprach mit ihr darüber, noch bevor Rodzewitsch die Affäre von sich aus zu einem endgültigen Abschluß brachte.
Serjoschas Vorschlag versetzte Marina in solchen Schrecken, daß sie nicht schlafen konnte und abzumagern begann. Sie konnte sich ein Leben ohne Serjoscha nicht vorstellen, während es ihm unbehaglich war, Marina einem Mann in die Hände fallen zu lassen, in dem er nichts als einen Schmalspur-Casanova sah.
Serjoscha war zu dieser Zeit körperlich in schlechter Verfassung, und durch die Entdeckung von Marinas Betrug erschien ihm das Leben widerwärtig und seines Sinns beraubt. Obgleich sie sich auseinandergelebt hatten, war Marina immer die wichtige Figur in seinem Leben gewesen, deren Bedürfnisse er mit Freuden erfüllte und für die er glaubte, von Bedeutung gewesen zu sein. Das Ausmaß ihrer leidenschaftlichen Affäre mit Rodzewitsch machte es ihm unmöglich, sich länger als notwendige Stütze ihrer Existenz zu betrachten. Deshalb beschloß er im Winter, ständig außerhalb von Prag auf dem Dorf zu leben, wenn das auch bedeutete, daß er jeden Tag zwanzig Meilen fahren mußte.
Marina hingegen wandte sich im Januar 1924 wieder Bachrach zu, nicht nur, um zu erklären, daß ihre Affäre mit Rodzewitsch zu Ende war, sondern um sich selbst über das Ausmaß ihrer Verwundung klarzuwerden. Nicht zum ersten Mal dachte sie darüber nach, um wieviel leichter sie es gefunden hatte, selbst zu lieben, als geliebt zu werden. Für sie war das nur mit Kindern, Greisen, Dichtern und (wenn auch kurz) mit Rodzewitsch möglich gewesen.

Geliebte zu sein – das habe ich bis zu dieser Stunde nicht verstanden… Lieber Freund, ich bin sehr unglücklich. Ich habe mich von diesem getrennt, liebend und geliebt, auf dem vollen Höhepunkt der Liebe; ich habe mich nicht getrennt – ich habe mich losgerissen!… Selbst lieben kann ich nicht; denn ich liebe ihn, und ich will es nicht; denn ich liebe ihn. Ich will nichts als ihn, außer ihm, aber ihn wird es niemals mehr geben. Das ist solch eine erste Trennung fürs Leben, weil er, liebend, alles wollte: das Leben: das einfache, gemeinsame Leben, das, worauf niemals einer von denen, die mich liebten, ,gekommen‘ ist… Da ich zu lieben begann, seit ich die Augen öffnete, sage ich: Solch einem bin ich nicht begegnet. Mit ihm wäre ich glücklich gewesen. (Niemals habe ich daran gedacht!)19

Im selben Brief spricht sie mit Bitterkeit davon, wie sehnsüchtig sie sich einen Sohn von Rodzewitsch gewünscht hätte. Diesen leidenschaftlichen Wunsch habe Gott ihr abgeschlagen; nach dem Ende der Affäre war es ihr unmöglich, ein Baby zu sehen, ohne Schmerz über diesen unerfüllten Wunsch zu empfinden. Marinas Kummer ließ sie eine Zeitlang glauben, keine Zukunft mehr zu haben.
Sie mißbilligte es, daß Rodzewitschs Wahl auf Mussa Bulgakova gefallen war, die er im Lauf des Jahres heiratete, obgleich sie wußte, daß diese ihm ein schlichtes, geordnetes Heim bieten konnte. Sie war eine weniger attraktive Frau als Marina, emotional jedoch nicht so anspruchsvoll. Marina schmerzte der Gedanke, daß Rodzewitsch sie zurückgewiesen hatte, weil er ihr nicht gewachsen und ebenso wie Serjoscha nicht willens war, in ihrem Schatten zu leben. Es war für ihre Zukunft ein schlechtes Omen, wenn die wahre Größe ihrer Dichtung unweigerlich Einsamkeit und Zurückweisung im Gefolge hatte. Diese Vorahnung ihrer Isolation führte zu ihrer bitteren Gleichsetzung der Dichter mit den Juden.

Ghetto der Erwählten! Wall und Graben.
Um Gnade braucht man nicht rufen!

In der christlichsten aller Welten
Sind alle Dichter Juden!20

Währenddessen sah Serjoscha dem Jahr 1925 mit Bangen entgegen. Zwischen dem Wunsch, sein Studium fortzusetzen und der Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wurde er hin und her gerissen. Paris, das war ihm klar, bot mehr Möglichkeiten, Arbeit zu finden; andererseits zögerte er, nach Paris zu gehen, weil das eine Unterbrechung seines Studiums bedeutet hätte. Ein Gradmesser für Serjoschas düstere Stimmung in dieser Zeit war die Überlegung, ob nicht alle seine Bemühungen vergeblich gewesen seien, wie er sie in einem Brief an seine Schwester im Herbst zum Ausdruck brachte.
Freilich versank er nicht gänzlich in Selbstmitleid. Er dachte daran, Schriftsteller, die noch in Rußland waren, mit Exilanten zusammenzuführen, und wollte zu diesem Zweck eine kleine Zeitschrift gründen, in der ihre Texte nebeneinander erscheinen konnten. Durch Vermittlung seiner Schwester bemühte er sich um Artikel über das Wachtangow-Studio und den berühmten Schauspieler und Regisseur Wsewolod Emiljewitsch Meierhold. Er bat seine Schwestern auch, mit Woloschin und Antokolski zu sprechen und sie dazu zu bewegen, Gedichte für seine Zeitschrift zu schicken. Die Arbeit half ihm, aber dennoch hatte er weiterhin das Gefühl, in Moskau habe ihn jeder vergessen; und da er seine Sympathien für die Weißen nun bitter bereute, fürchtete er, sie könnten seine Heimkehr unmöglich machen.
Marina nahm ihre Genesung ungleich rascher in Angriff. Sie begann wieder zu arbeiten und gestaltete ihr Leid in zwei ihrer großartigsten Gedichtzyklen: „Poem vom Berg“ und „Poem vom Ende“. Im Juni 1924 notierte sie, das „Poem vom Ende“ sei vollendet, und obgleich sie hinzufügt: „Doch mein eigenes Ende – um wie vieles früher war es eingetreten!“, scheint sie geistig durchaus nicht am Ende gewesen zu sein, wenn sich in ihren Texten auch viel Leid findet. Sie muß gewußt haben, daß sie ihre bis dahin großartigste Lyrik geschrieben hatte.
Im „Poem vom Ende“ gibt Marina nicht nur eine äußerst bewegende Beschreibung ihres Schmerzes über die Beendigung der Affäre durch Rodzewitsch, sondern der gesamten Beziehung. Im ersten Gedicht wird Rodzewitsch eine beinahe elegante, fast unnatürliche Ritterlichkeit zugeschrieben:

Im Himmel, wie rostiges Eisen
Ein Säulenschaft.
So war die Stelle bezeichnet:
Schicksalshaft.

– Viertel vor. Gehts besser?
– Der Tod haßt Verzug.
Übertrieben lässig
Des Hutes Schwung.

In jeder Wimper – Aufreiz.
Der Mund: ein Strich.
Übertrieben weit
Verbeugt er sich.

– Viertel vor. Pünktlich?
Die Stimme: Qual.
Das Herz, besorgt: was ist ihm?
Das Hirn: Signal!

Ein Himmel schlechter Zeichen:
Rost und Blech.
Er stand wie alle Zeiten.
Es war um Sechs.

Dieser lautlose Kuß:
Die Lippen: verspannt.
So küßt man toten Damen
Die kalte Hand…

Der Menge Ellenbogen
Ins Kreuz gerammt.
Übertrieben gellte
Sirenendampf.

Gellte wie Hundeheulen
Lang und wund.
(Des Lebens Übertreibung
Zur Todesstunde.)

Was gestern zum Gürtel reichte
Nun reichts ins All.
(Übertrieben, ich meine:
Schluckt die Gestalt.)

Im Geiste: Lieber, Lieber.
– Wie spät? Sieben Uhr.
Wolln wir ins Kino, oder?
– „Nach Hause nur!“
21

Im vierten Gedicht skizziert sie die Gesellschaft, in der sie und Konstantin sich, fast unsichtbar, zusammen bewegen konnten: eine korrumpierte, geldgierige Gesellschaft, skrupellos und ausschweifend.
Im sechsten Gedicht klingen die Worte im Dialog der Liebenden so, als hätten sie sich unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben. Konstantin kann seiner Liebe zu Marina nicht widerstehen, doch er liebte sie „in Qualen“, „verzehrend und dem Tod nah“: 

– Ein letzter Wunsch.
– Ich höre. – Keinem ein Wort

Von uns… auch keinem nach mir…
(So reden Verwundete auf der Bahre
Wenn draußen – Frühling wird!)
– Auch ich bitte, Schweigen zu wahren.

– So darf ich einen Ring…?
– Nein. – Der offene Blick
Ist verhangen. (Ein Siegel
Schließt dein Herz, ein Ring

Die Hand… Ohne Szenen!
Nimm!) Listiger und leise:
– Ein Buch jedoch? – Wie jedem?
Verfassen Sie auch keine

Bücher…

Im großartigsten Stück des Zyklus (Gedicht 8) wird in der Beschreibung eines Spaziergangs am Fluß das ganze Ausmaß von Marinas Leid deutlich: 

Die letzte Brücke.
(Ich halt mich weiter fest!)
Die letzte Brücke.
Das letzte Brückenbrett.

Wasser und Fels.
Ich zähle meine Moneten.
Todesgeld:
Charons Lohn für die Lethe.

Münzenschatten
In der schattigen Hand.
Münzenstille.
Und im Dunkel der Hand

Münzenschatten.
Ohne Glanz und Klimpern.
Münzen – den Schatten.
Von den Toten Mohnkörner.

Brücke.

Du letzte Kraft
Der Liebhaber ohne Hoffnung:
Du Leidenschaft
Du beständige Kopplung.

Ich niste: warm
Und schmiege mich der Rippe.
Nicht  e i n, nicht  a n:
Der Vor-Sicht eine Lücke!

Nicht Arm, noch Bein.
Von meinen Knochen und Sehnen
Lebt nur der Teil
Mit dem ich an dir lehne.

Nur dieser lebt!
Er ist mein Ohr und Echo.
Als Dotter kleb
Am Eiweiß ich, als Eskimo

In meinem Pelz.
Ihr Siamesenzwillinge
Sagt, was hält
Euch, welche Schlinge?

Die einst dich trug
Als ob man euch verschlänge
Ins Tuch dich schlug:
Sie hielt dich nicht enger.

Versteh! Wir schmolzen
In eins! Die Wiege – die Brust!
Ich spring nicht vom Holz.
Versinken wär Verlust

Deiner Hand.
Ich presse und presse… Halte.
Bist Brücke, nicht Mann:
Geliebter – nicht zu halten!

Bist, Brücke, mit uns:
Wir füttern den Fluß mit Leibern!
Ich saug als Efeu
Als Zecke, auszureißen!

Wie Efeu! Wie Zecken!
Entmenscht! Ohne Gott!
Geworfener Krempel
Bin ich, in meiner Not.

Die nie ich pries
Ein Ding der hohlen Dingwelt!
Sag, daß ich schlief
Und Nacht war, die sich hellt

Ein Zug und Rom!
Granada? Hinweg das Laken
Aufgetürmt
Zu Mont Blanc und Himalaja!

Entblößte Tiefe:
Ich wärme mit letztem Blut.
Lausche der Hüfte!
Wahrer ist ihre Glut

Als Verse… Erwärmt?
Wem morgen hingebogen?
Nenns Fieberhirn!
Sag, der Brückenbogen

Endet nicht…
aaaaaaaaa– Das Ende
.22

Während Marina versuchte, den Schmerz über ihre Zurückweisung zu überwinden, waren Briefe von Pasternak weiterhin für sie von zentraler Bedeutung. Es tat ihr wohl, zu wissen, daß er froh darüber war, sie veranlaßt zu haben, ihm ihre Gedichte und alles, was ihr wichtig war, zu schicken. Und es war eine selige Freude, am 14. Juni 1924 einen Brief von ihm zu bekommen:

Welch außerordentliche Gedichte Sie schreiben Wie schmerzlich, daß Sie im Augenblick größer sind als ich Sie sind eine schändlich große Dichterin.23

Indes sollten Briefe nicht ihre einzige Hoffnung auf Glück sein. Etwa um die gleiche Zeit, da sie Pasternaks überschwengliches Lob empfing, begann sie sich weniger charakteristischen Tätigkeiten zu widmen: dem Stricken und anderen Handarbeiten; sie war darin nicht sehr geschickt, doch tat das ihrer Begeisterung keinen Abbruch. Marina war wieder schwanger. Gerüchte liefen um, Serjoscha sei nicht der Vater des Kindes – Marina trug es gewiß mit solcher Freude aus, als ob es das so ersehnte Kind von Konstantin wäre – doch es wurde dreizehneinhalb Monate nach dem Ende der Affäre geboren, und es ist unwahrscheinlich, daß ihr früherer Liebhaber es gewagt hatte, ihre Beziehung wiederaufzunehmen.
Wie schon ihre Mutter, hatte sich auch Marina immer danach gesehnt, einen Sohn zu haben, und jetzt war sie davon überzeugt, daß sie einen Sohn austrug. Sie spürte, daß dieser Schwangerschaft eine große Bedeutung zukam, und begann, sich auf die Geburt auf eine neue Weise vorzubereiten. Sie suchte Ärzte auf, beschaffte sich bei ihren Bekannten gebrauchte Kinderkleidung und erkundigte sich bei ihrer neuen Freundin, Anna Tesková, nach der besten Entbindungsklinik. Nachdem Rodzewitsch sie verlassen hatte, hatte sie ihr Zimmer in Prag aufgegeben; sie wollte sich jetzt durch Fahrten in die Stadt nicht ermüden, obgleich Horní Mokropsy sie zunehmend langweilte und das Gehen auf den schlammigen Dorfpfaden besonders anstrengend war.
Als Alja in den Sommerferien 1924 mit den Anzeichen einer tuberkulösen Schädigung der Lunge in Prag eintraf, reagierte Marina heftig auf die Krankheit ihrer Tochter, die, wie sie fürchtete, auf das Kind in ihrem Leib übergreifen könne. Sowohl diese Reaktion verletzte Alja, als auch Marinas Erklärung, die sie unbemerkt mitanhörte, höhere Schulbildung sei für Mädchen nicht von Nutzen. Dennoch richtete sich Alja von dieser Zeit an immer mehr nach den Bedürfnissen ihrer Mutter (und bald auch denen ihres jungen Bruders). Und obwohl sich ihr Gesundheitszustand von selbst besserte und sie imstande war, von jetzt an bis zu ihrer Abreise in die Sowjetunion 1937, unermüdlich für die ganze Familie zu arbeiten, schenkte man ihrer Erziehung in der Folgezeit sehr wenig Aufmerksamkeit. Immerhin lernte sie von Marina ein wenig Französisch.
Mit elf Jahren war Alja ein auffallend hübsches Kind mit klugen Augen in einem von vollem Haar gerahmten Gesicht. Ihre frühen Jahre hatten ganz und gar ihrer Mutter gehört. Allen Härten des Lebens hatten sie (mit den Worten des Dichters Konstantin Balmont) „wie zwei Schwestern“ getrotzt und einander Liebe und Zuversicht geschenkt. Nun sah sie sich zurückgestoßen, ohne befreit zu sein. Es ist erstaunlich, daß sie in späteren Jahren in der Lage war, sich ohne Bitterkeit an diesen Augenblick zu erinnern.
Zuerst wollte Marina das Kind, das sie erwartete, nach Pasternak benennen, dessen Liebe ihr während der Jahre in der Tschechoslowakei geholfen hatte, ihre Selbstachtung zu bewahren. Sie hatte eine weitere imaginäre, fast sagenhafte Gestalt erschaffen, die immer bei ihr war, fordernd, strapazierend, die sie dazu zwang, ihre Arbeit fortzusetzen – oder sie gelegentlich daran hinderte, wie sie 1923 (vor ihrer Affäre mit Rodzewitsch) geschrieben hatte:

Aber der zu schreiben mich hindert – sind Sie selbst. Als ob ein Damm gebrochen wäre – so kommen mir Gedichte an Sie. Und ich erfahre so seltsame Dinge in ihnen. Es schleudert mich von Wellen. Sie sind anstrengend in meinem Leben, der Kopf ermattet, wie oft lege ich mich tagsüber hin, wälze mich auf dem Bett, niedergeworfen von all dieser Dissonanz in Schädel und Brust: von Zeilen, Gefühlen, Erleuchtungen – ja und einfach von Lärm. Sie werden lesen – und es nachprüfen können. Etwas hat sich erhoben, hat sich ausgebreitet und will nicht enden – ich kann es nicht zur Ruhe bringen. Kann denn ein Mensch so etwas bewirken?24

Um 1924 begann Marinas Dichtung breite Anerkennung zu finden, sowohl in Emigrantenzeitschriften als auch in Moskau. Dennoch verbrachte sie den größten Teil des Jahres zurückgezogen vom literarischen Leben, denn die Vorbereitung auf die Geburt ihres Kindes ließ sie zögern, sich als Schwangere in die Prager Gesellschaft zu begeben. Als Anna Tesková sie zu einer Lesung nach Prag einlud, antwortete sie ihr am 5. Dezember 1924:

Ich weiß nicht, ob ich es für den 14. einrichten kann – Bahnreisen sind schwierig für mich und ich habe kein geeignetes Kleid.

Trotzdem vermißte sie die lebendige Atmosphäre Prags, wenn sie auch Menschenansammlungen mied, und so lud sie Anna ein, die Familie Efron in ihrer ländlichen Behausung zu besuchen:

Wir werden einen Spaziergang machen – die Umgebung hier ist wunderschön; falls es regnet oder schneit, werden wir im Haus bleiben und plaudern. Ich werde Ihnen Gedichte vorlesen. Außerdem werden Sie meinen Mann und meine Tochter kennenlernen.25

Am 1. Februar 1925, an einem Sonntag gegen Mittag, schenkte Marina in ihrem Haus einem Sohn das Leben. Es war eine unkomplizierte Geburt, wenn sie auch lange dauerte. Marina schrieb an Anna Tesková:

Sie sagten, ich hätte mich gut gehalten – jedenfalls ohne einen einzigen Schrei.

Die stille Genugtuung dieser Feststellung verrät keinen Stolz. Sie war glücklich, das Opfer der Schmerzen bringen zu dürfen, und wiederholte die Worte einer Freundin, die bei der Entbindung geholfen hatte:

Es sollte schmerzhaft sein.26

Sie war stolz, daß sie einen Sohn geboren hatte. Ihre ursprüngliche Absicht, ihn nach Pasternak Boris zu nennen, rief bei Serjoscha stürmische Ablehnung hervor. Eigentümlicherweise beharrte sie nicht auf ihrem Wunsch, als Serjoscha schließlich seufzend nachgab. So wurde das Kind denn Georgi genannt nach dem Schutzheiligen von Moskau, dessen Ruf, zugleich Beschützer der Wölfe und des Viehs zu sein, ihr besonders gefiel.
Serjoscha fand nicht, daß die Geburt eines Sohnes seinen eigenen Kummer erleichterte, und er zeigte an dem Baby wenig Interesse. Er fühlte sich unsicher und krank, und nur zehn Tage nach der Geburt brach er zu einem kurzen Besuch nach Paris auf, um Arbeit zu suchen.
Nach seiner Abreise erklärte Marina, sie sei so glücklich und so fasziniert von ihrem Sohn, daß sie sich kaum damit abgeben könne, auf ihre Gesundheit zu achten. Zu einer Zeit, in der alle Frauen der Oberklasse darin bestärkt wurden, wochenlang liegenzubleiben, um sich von der Geburt zu erholen, saß sie bald aufrecht im Bett, um den Kampf wieder aufzunehmen, obwohl sie bis jetzt noch kein Hausmädchen gefunden hatte und die Frau, die die Kohlen brachte, am Ende der Woche kündigte. Zwar war Serjoscha den ganzen Tag über gewöhnlich in der Bibliothek, doch scheint seine Abwesenheit sie nicht bedrückt zu haben. Die ganze Haushaltsführung oblag Alja. Die Tatsache, daß man daran dachte, ein Hausmädchen zu nehmen, bedeutete nicht, daß sich die finanzielle Lage der Familie Efron verbessert hätte. Marina mußte an Anna Tesková schreiben und sie bitten, ihr ein einfaches Waschkleid zu schicken:

Den ganzen Winter über habe ich das gleiche Wollkleid angehabt, das sich nun an den Säumen aufzulösen beginnt. Ich brauche kein gutes – es ist nicht für einen öffentlichen Auftritt gedacht – bloß etwas einfaches. Ich kann im Augenblick nicht daran denken, eines zu kaufen oder zu nähen; gestern mußte ich der Hebamme für drei Besuche 100 Kronen zahlen; ein paar Tage vorher gab ich dem Kohlenhändler 120 bis 150 Kronen für Kohle für zehn Tage, dann ist da noch die Medizin, die Gebühr für die Müllabfuhr! Es ist nicht der Zeitpunkt, an ein Kleid auch nur zu denken. Aber ich hätte so gern ein sauberes. Sogar eine Schlange muß gelegentlich ihre Haut wechseln. Wenn es zu groß ist, spielt das keine Rolle – es kann hier geändert werden.
Ich habe für 50 Kronen einen Kinderwagen gekauft – fast neu, wunderbar; zur selben Zeit kaufte ich ein Bett und einen riesigen Lehnstuhl – ein paar Russen verkauften die Sachen vor ihrer Abreise
.27

Dieser Brief wurde (wie so viele von Marinas Gedichten aus dieser Zeit) um halb vier Uhr morgens geschrieben, wenn alle anderen schliefen; es war die einzige Zeit, die sie zu ihrer Verfügung hatte.
Marina war mehrere Male zu Lesungen nach Prag eingeladen worden, schob sie aber immer wieder hinaus. Darum beschloß Anna Tesková, sie zu besuchen. Marina war überglücklich, sie zu sehen, und so entzückt, jemanden bei sich zu haben, mit dem sie über Literatur sprechen konnte, daß sie vergaß, ihrem Gast etwas zu essen und zu trinken vorzusetzen.
Die Erklärung für diesen uncharakteristischen Mangel an Gastfreundschaft liegt darin, daß sie sich völlig auf ihren Sohn konzentrierte. Kein Zweifel, daß Serjoscha, dem bereits schmerzlich bewußt war, weiter aus Marinas Leben hinausgedrängt zu werden, als er ertragen konnte, in eine trübe Stimmung geriet, als er diese neue Besessenheit bemerkte. Er erkrankte abermals an Tuberkulose, die bei ihm oft zurückkehrte, wenn sein Lebensmut nachließ. Im Juli 1925 war er völlig abgemagert, und seine riesigen traurigen Augen lagen tief in den Höhlen. Er hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen, und in seiner Niedergeschlagenheit sehnte er sich danach, nach Paris umzusiedeln.
Aber seine Krankheit machte es unbedingt erforderlich, daß er das Sanatorium in Sangorska aufsuchte, und es ging ihm viel zu schlecht, als daß er die Abreise der Familie nach Paris vorbereiten konnte. Seine Überzeugung, daß ein Umzug nach Paris für ihn die einzige Chance war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ließ im September 1925 die fürsorgliche Treue in Marina wieder erwachen.
Und so begann sie, Vorbereitungen zu treffen, die Tschechoslowakei und ihre Freunde zu verlassen und zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren in ein anderes Land zu gehen. Da Serjoscha zu krank war, um mit ihnen zusammen zu reisen, war es ihr und Alja unmöglich, all ihre Habseligkeiten mitzunehmen; darum ließ sie einen Teil davon in der Obhut von Anna Tesková. Marina war durchaus nicht davon überzeugt, daß dieser Umzug klug war, und es gefiel ihr, Dinge für eine mögliche Rückkehr nach Prag zurückzulassen.
Mark Slonim besorgte ihnen Pässe, und Marina gelang es, genügend Geld aufzutreiben, um für sich selbst, Alja und Georgi (der inzwischen zärtlich „Mur“ genannt wurde) die Fahrkarten kaufen zu können. Die Aussicht auf die Bahnreise erfüllte sie, größtenteils wegen ihres Babys, mit Entsetzen. Da selbst für das Notwendigste kein Geld mehr da war, wußte sie nicht, wie sie es bewerkstelligen sollte, ihn unterwegs zu füttern.
„In vierundzwanzig Stunden ißt er viermal, und alles muß aufgewärmt werden. Wie stellt man das an? Man kann doch keinen Spirituskocher anzünden“,28 schrieb sie an Anna Tesková. Nichtsdestotrotz schaffte sie es, so daß man kurz nach dem 20. Oktober 1925 aufbrechen konnte.
So sehr Marina die Reise, die vor ihr lag, auch fürchtete, so bedauerte sie es nicht, Všenory zu verlassen. Die letzten eineinhalb Jahre waren eine Zeit großer Isolation gewesen, wie sie in einem Brief an Boris Pasternak vom 19. Juli 1925 schreibt. Stilistisch weit weniger anspruchsvoll als die vorausgegangenen, erzählt dieser Brief im wesentlichen von ihrem einsamen Leben und dessen geistiger Armseligkeit, berichtet jedoch auch freimütig über ihre schwierige finanzielle Lage. Sogar in ihrer Einsamkeit hatte sie nach wie vor große Freude an ihrem Sohn Georgi und arbeitete besessen an ihrem Poem „Der Rattenfänger“, das sie allerdings erst in Paris beenden konnte. 

Všenory bei Prag, 19. Juli 1925
Boris, 

der erste menschliche Brief von Dir (die anderen sind Geistbriefe),29 und ich fühle mich geschmeichelt, beschenkt, belobigt. Du hast mich einfach Deines Entwurfs gewürdigt.
Und hier mein Entwurf – in Kürze: Seit 8 Jahren (1917–1925) schmore ich im Alltag, ich bin jener Ziegenbock, den man unablässig schlachtet und nicht abschlachtet, bin selbst der Fraß, der unaufhörlich (8 Jahre) auf meinem Primuskocher schmort. Mein Leben – ist ein Entwurf; verglichen mit dem – sähest du es! –
meine Entwürfe die feinste Stickerei sind. Ich verachte mich dafür, daß ich beim Ruf (1001 täglich!) des Alltags (NB! Alltag – deine Schuldverpflichtung bei anderen) mich von meinem Heftchen losreiße und NIEMALS zurückfinde. Ich habe ein protestantisches Pflichtgefühl – dagegen ist meine katholische – nein! – meine chlystische Liebe (zu Dir) ein Nichts.
Denk nicht, ich lebte „im Ausland“, ich leb im Dorf, mit Gänsen, mit Pumpen. Und denk nicht: das Dorf: eine Idylle: man hat die eigenen zwei Hände und keine einzige eigene Gebärde. Die Bäume seh ich nicht, der Baum erwartet Liebe (Zuwendung), und der Regen bedeutet mir insofern etwas, als die Wäsche trocken oder nicht trocken ist. Mein Tag: ich koche, wasche, schleppe Wasser, kümmere mich um Georgi (5½ Monate,
entzückend), übe mit Alja französisch; lies noch einmal Katerina Iwanowna aus Schuld und Sühne, das bin ich. Ich bin maßlos erbittert. Den ganzen Tag wirtschafte ich herum. Am Poem „Der Rattenfänger“ schreibe ich schon den vierten Monat, habe keine Zeit zu denken, die Feder denkt. Morgens 5 Minuten (mich hinzusetzen), tags 10 Minuten, die Nacht gehört mir, doch nachts kann ich nicht, bin ich unfähig, eine andere Art Aufmerksamkeit, das Leben strömt nicht herein, sondern hinaus, und keiner da, zuzuhören, nicht einmal Geräusche der Nacht, denn die Wirtsleute verschließen ab 8 Uhr abends die Ausgangstür (ach, alle meine Türen sind Eingänge, diese Sehnsucht nach einem Ausgang – verstehst du!?), und ich hab keinen Schlüssel, Boris, nun schon ein Jahr lebe ich faktisch hinter Schloß und Riegel. Du hast zwischen Zuhause und Redaktion, zwischen Redaktion und Redaktion wenigstens Bürgersteigstücke, ich aber wohne in einem Talkessel, gewürgt von Hügeln; das Dach, der Hügel, auf dem Hügel – Gewölk: ein ausgeweidetes Tier.
Freunde habe ich nicht – hier mag man keine Gedichte, doch losgelöst von – nicht den Gedichten, sondern dem, woraus sie sind – was bin ich? Ungastliche Hausfrau, junges Weib in alten Kleidern
30

Trotzdem flößte die Vorstellung, Prag zu verlassen, Marina Angst ein. Die Stadt bezauberte sie. Sie liebte die Sage vom Golem, jenem steinernen Ungeheuer aus dem siebzehnten Jahrhundert, von Rabbi Löw geschaffen, um die Prager Juden gegen ihre Feinde zu verteidigen,31 und besonders liebte sie das Standbild des Ritters auf der Karlsbrücke, der angeblich einen Jungen darstellte, der den Fluß bewachte. Für Marina war er ein Symbol der Treue – mehr noch, der Treue gegen sich selbst. Sie schrieb an Anna Tesková: 

Ich hätte rasend gern ein Bild von ihm. Wo kann ich eines bekommen? Es gibt nirgendwo eins. Ich wünsche mir einen Stich zur Erinnerung. Erzählen Sie mir alles, was Sie über ihn wissen.32

Selbst noch während der Vorbereitungen zu ihrer Abreise hegte Marina insgeheim den Gedanken, die Familie werde bald nach Prag zurückkehren; und sie ging so weit, im einzelnen zu planen, wo sie wohnen würden, dieses Mal entschlossen, eine Wohnung in der Vorstadt zu suchen, wo sie spazierengehen und mit ihrer Freundin Anna plaudern konnte. Sie beharrte darauf, daß sie Paris mehr als jede andere Stadt haßte, weil es bereits allzu sehr bewundert wurde. Als der Tag ihrer Abreise unaufhaltsam näherrückte, versuchte sie, sich mit dem Gedanken zu trösten, dort werde es leichter sein, die Familie zu unterhalten; und in optimistischen Augenblicken hoffte sie, dort neue Freunde zu finden. Gewiß hatte sie nur wenige Freunde im Dorf Všenory wo alle ihre Gefühle verkümmerten. Aber trotz all ihrer Verwirrung hatte sie in Wirklichkeit keine andere Wahl, als abzureisen.
Am 26. Oktober tauchte ein Problem auf, das Marina in neue Panik versetzte: Ihre Abreise war auf den 31. Oktober festgelegt, und Geld, das sie von Freunden aus Paris erwartete, war nicht eingetroffen. Die Wohnung in Všenory würde in Kürze von neuen Mietern belegt werden; Serjoscha war noch immer im Sanatorium, und niemand konnte helfen. Sie schrieb auf der Stelle an Anna Tesková, bat sie, bei einer gewissen Madame Jurchinová (das Pseudonym der tschechischen Schriftstellerin Anna Teveková) ein gutes Wort einzulegen und sie um ein Darlehen von 1.000 Kronen zu bitten, das sie bis zum 15. November zurückzuzahlen verspreche. Im selben Brief bot sie an, Alja in Teskovás Wohnung zu schicken, für den Fall, daß Anna eine andere Möglichkeit sehe, Geld aufzutreiben. Alles, was sie an Sicherheiten anzubieten hatte, war die monatliche Unterstützung, die sie von der tschechischen Regierung erhielt.
Am 28. Oktober kam ein Telegramm aus Paris, des Inhalts, daß bis zum Tag ihrer Abreise wohl kein Geld mehr eintreffen werde. So wurde Alja zu Anna Teskovás Wohnung geschickt und kehrte mit genügend Geld zurück, um die Reise zu ermöglichen. Marina schrieb voller Dankbarkeit, daß „das Geld uns alle retten wird“: Ohne Zweifel hatte alles auf des Messers Schneide gestanden.
Mit der Aussicht auf eine Reise zu leben, die stattfinden, aber ebensogut nicht stattfinden konnte, hieß, daß man in einen Zustand der Anspannung versetzt wurde, den Marina als besonders unerträglich empfand. Nachdem die Sache mit dem Darlehen geregelt war, brach sie, in einer Mischung aus Hoffnung und Furcht, die diese Reise so qualvoll machte, wie jede, die sie unternommen hatte, mit ihren beiden Kindern nach Paris auf; sie ließ die Stadt zurück, in der sie so intensiv gelebt hatte und die sie mehr liebte als jede andere Stadt außerhalb der Sowjetunion. 

(…)

Elaine Feinstein, aus Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie, Frankfurter Verlagsanstalt, 1990

 

 

Paul Celan an Marina Zwetajewa

Von
Wahr- und Voraus- und Vorüber-zu-dir-,
von
Hinaufgesagtem,
das dort bereitliegt, einem
der eigenen Herzsteine gleich, die man ausspie
mitsamt ihren un-
verwüstlichen Uhrwerk, hinaus
in Unland und Unzeit.

Von einem Brief, von ihm.
Vom Ein-Brief, vom Ost-Brief. Vom harten,
winzigen Worthaufen, vom
unbewaffneten Auge, das er
den drei
Gürtelsternen Orions – Jakobs-
stab, du,
abermals kommst du gegangen! –
zuführt auf der
Himmelskarte, die sich ihm aufschlug.
Vom Tisch, wo das geschah.
Von einem Wort, aus dem Haufen,
an dem er, der Tisch,
zur Ruderbank wurde, vom Oka-Fluß her
und den Wassern.

(aus dem Briefgedicht „Und mit dem Buch aus Tarussa“, 1962)

 

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

 

Zwiesprachen VI: Katharina Schultens spricht über Marina Zwetajewa am 24.1.2016 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Katharina Kohm: Die Begegnung an der Naht. Zu der Vortragsreihe Zwiesprachen VI: Katharina Schultens über Marina Zwetajewa am 25.1.2016 im Lyrik Kabinett
signaturen-magazin.de

Zum 70. Todestag der Autorin:

Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011

Zum 75. Todestag der Autorin:

Doris Liebermann: Vor 75 Jahren – Dichterin Marina Zwetajewa gestorben
Deutschlandfunk Kultur, 31.8.2016

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