Martin Lüdke: Zu Paul Celans Gedicht „Keine Sandkunst mehr“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Keine Sandkunst mehr“ aus Paul Celan: Gedichte. 2 Bände. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Keine Sandkunst mehr

Keine Sandkunst mehr, kein Sandbuch, keine Meister.

Nichts erwürfelt. Wieviel
Stumme?
Siebenzehn.

Deine Frage – deine Antwort.
Dein Gesang, was weiß er?

Tiefimschnee,
aaaaaaaaaaaaaaaIefimnee,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaI – i – e.

 

Das Rätsel der Stummen

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor gut zwanzig Jahren auf dieses Gedicht gestoßen bin. Paul Celan, der dann im April 1970 in Paris Selbstmord beging (in der Seine), lebte noch. Sein Gedichtband Atemwende, unlängst erschienen, lag bei einem Freund auf dem Fensterbrett. Ich blätterte in dem Buch, bis ich hängenblieb: „Keine Sandkunst mehr“, dann am Ende „I – i – e“. Sogar ein Punkt, zum Abschluß. Die graphische Struktur dieses Gebildes, das regelrecht auszutropfen schien, irritierte mich einen Augenblick lang. Doch dann durchzuckte es mich: Das war das Gedicht, nach dem ich jahrelang schon gesucht hatte, Poe und Baudelaire im Hinterkopf, das Museum der modernen Poesie in der Jackentasche und auch Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik im Reisegepäck.
Hier hatte ich nun das Gedicht der Moderne überhaupt gefunden. „Keine Sandkunst“ mehr und erst recht „keine Meister“, der Fortschritt also als Prozeß, der einer Logik gehorcht, der Logik des Zerfalls, hier wörtlich zu nehmen und sinnbildlich zu sehen. Ein Gedicht, klar und rätselhaft, ebenso durchsichtig wie dunkel, das in sich, in seinem Fortgang, noch einmal den Verlauf der Moderne abbildet: ausgehend von den Verneinungen, von der Absage an die Tradition über die Absage an den Zufall, „nichts erwürfelt“, über den fast heiteren, achselzuckenden Zweifel, was wissen denn „Frage“, „Antwort“ und sogar „Gesang“, bis hin zum Versinken und Versickern, bis hin zum Zerfall, „Tiefimschnee“. Walter Benjamins Engel der Geschichte, dem eine Kette von Katastrophen, die wir einst Fortschritt nannten, ihre Trümmer vor die Füße schleudert, war hier, schien mir, beim Wort genommen. „I – i – e.“ Und dann: der Punkt.
Die erste Frage, die das Gedicht stellt, „Wieviel / Stumme?“, irritierte mich damals kaum. Nach all den Diskussionen um die Möglichkeit eines Gedichts nach Auschwitz, das war doch klar. Celan, mit der „Todesfuge“ in die Schulbücher eingegangen, stand damit für beides ein: für die Möglichkeit und für den Beweis des Gegenteils. Gedichte – nach dem Bild des Schweigens geformt. Eme Sprache, die nur noch ansetzt, um zu vers:ummen. Diese „Stummen“, so unterstellte ich damals emfach, mußten sein. Nur daß es eine derart exakt benannte Anzahl war, blieb verwunderlich und noch verwunderlicher die mir altertümlich erscheinende Schreibweise der Zahl: „siebenzehn“. Damals sah ich darin wohl einen Verweis auf die Logik des Zerfalls, die den Kern einer Geschichtsphilosophie nach Auschwitz ausmacht. So ließ sich das überzählige „en“ erklären. Nicht aber die Anzahl der ausgerechnet siebzehn Stummen.
Heute sage ich mir, daß diese Stummen wie auch die „Meister“, die nicht mehr sind, aus jener Landschaft kommen müssen aus der Paul Ancel, der sich erst später Celan nannte, zu uns herkam, aus der „Landschaft“ der „chassidischen Geschichten“, einer „Gegend“, in der „Menschen und Bücher lebten“, gleichsam eingeschrieben in die Heilige Schrift. Ob dieses Gedicht das Gedicht der Moderne ist , erscheint mir heute weniger wichtig. Unterdessen sind mir einige Gewißheiten, die ich damals in Celan hineingelesen habe, abhanden gekommen. Geblieben ist das Rätsel der Stummen.

Martin Lüdkeaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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