Masha Qrella: Woanders

Mashup von Juliane Duda zu der CD von Masha Qrella: Woanders

Qrella-Woanders

MASCHINEN

Nach der Arbeit an den Maschinen
träumen die Leute von den Maschinen
Wovon träumen die Maschinen
nach der Arbeit an den Leuten?

Thomas Brasch

 

 

 

 

Wummernde Geister im Stadtschloss

– Die Berliner Musikerin Masha Qrella hat Texte des Ost-Schriftstellers Thomas Brasch in beglückende Popmusik über die gesamtdeutsche Identitätssuche verwandelt – Woanders ist unser Album der Woche. –

Wenn Popkünstler sich an Literatur versuchen, kommt leider oft allzu Kunstsinniges dabei heraus. Insofern ist Masha Qrellas neues Album Woanders schon in sich eine erfüllte Utopie. Die Berliner Musikerin macht aus der Lyrik des Ost-Schriftstellers Thomas Brasch nicht krampfhaft Intellektuelles oder anstrengend Prätentiöses, sondern umwerfenden, beglückenden, puren Pop: melancholische, aber doch leichtgängige, oft sogar tanzbare Hits, die nach jener idealen gesamtdeutschen Identität tasten, die auch nach 30 Jahren Einheit noch nicht greifbar scheint.
Zum Glück aber gibt es jetzt dieses wundersame, Generationen übergreifende Pop-Album. Auf dessen Sehnsucht nach dem Woanders, von dem keiner weiß, wo oder was es ist, sich – hoffentlich, ausnahmsweise – alle einigen können sollten, der Ex-DDRler ebenso wie der Wessi, der Zugezogene ebenso wie der internationale Expat, den es wegen genau dieser Unfertigkeit, dem unerfüllten Traum, nach Berlin verschlagen hat.
Masha Qrella, die eigentlich Mariana Kurella heißt und 1975 in Ost-Berlin geboren wurde, las vor einigen Jahren das Buch Ab jetzt ist Ruhe, das Marion Brasch 2012 über ihren 2001 verstorbenen Bruder veröffentlicht hatte. Brasch, Politikersohn, Schriftsteller und politischer Dissident, war ab Mitte der Siebzigerjahre nach seiner Ausreise aus der DDR zum gefeierten Theaterautor und Filmregisseur in der alten BRD geworden. Thema seiner Arbeiten, immer wieder: das Hadern mit der zerrissenen deutschen und eigenen Identität.
In Marion Braschs persönlichem Blick auf ihre Familienbiografie erkannte sie sich selbst, sagt Qrella im Begleittext zur Platte:

Ich erwachte wie aus einer Amnesie! Das war auch meine Geschichte: Meine Perspektive und meine Vergangenheit! Ich hatte ja sogar meinen Namen geändert, um nicht auf meine Ostidentität reduziert zu werden.

Also begann sie, Thomas Braschs Texte zu lesen, und die ließen sie nicht mehr los.
17 davon hat Qrella nun für Woanders ausgewählt und vertont; das Doppelalbum erscheint punktgenau an dem Tag, an dem Brasch 76 Jahre alt geworden wäre. Uraufgeführt hatte sie die Songs jedoch schon im Dezember 2019 an einem sagenumwobenen Abend im Berliner Theater Hebbel am Ufer, unterstützt von Musikern wie Andreas Spechtl (Ja, Panik), Dirk von Lowtzow (Tocotronic), der Band Tarwater, dem Schlagzeuger Chris Imler und dem Multiinstrumentalisten Andreas Bonkowski, die nun – neben Marion Brasch – auch auf dem Tonträger als Gäste dabei sind.
Woanders ist aber vor allem Qrellas Meisterstück. Vielleicht ergibt es Sinn, dass die Musikerin, die mit instrumentaler Post-Rockmusik in Bands wie Contriva und Mina bekannt wurde, noch immer auf der Suche nach der passenden Sprache für ihre Musik ist. Im Rückgriff auf Achtzigerjahre-Synthiepop – von New Order bis Laid Back – sowie den pulsierenden, verspielten Indietronic-Sound der frühen Nullerjahre fand sie bereits 2016 auf ihrem Album Keys zu einer musikalischen Klarheit, die Dirk von Lowtzow von einem „fast perfekten Pop-Kunstwerk“ jubeln ließ. Die Texte sang sie auf Englisch, dem internationalen Standard. Aber das war ein eher hinderlicher Artikulationsfilter, wie sich jetzt zeigt.
Auf ihrer EP Day After Day experimentierte sie 2019 bereits mit deutschen Text-Fragmenten von Heiner Müller und Einar Schleef, doch erst in der Prosa von Brasch, den sie als „David Bowie der deutschen Lyrik“ bezeichnet, fand sie den Text, der ihre zwiespältigen Gefühle zu Heimat und Entfremdung so adäquat abbildete, dass sie nun erstmals ganz selbstgewiss auf Deutsch singt, als hätten bisher nur die richtigen Worte gefehlt.
Qrella gießt sie in atmosphärische Chansons wie „Blaudunkel“, deren Kitschpotenzial sie durch grell verzerrte Gitarren in Schach hält:

Ins Blaue und ins Dunkle
Geht alles Lächeln einst
Ins Dunkel und ins Blau
Wenn du heut Worte weinst.

Existenzieller ist Braschs Poesie in „Straßen“, das Qrella mit hektischem Elektro-Jazz und synthetischen Handclaps untermalt:

Durch die großen Städte,
gehen wir durch das harte Licht
Sehen in tausende Gesichter
Unser eigenes sehen wir nicht.

Immer wieder drängt es die Protagonisten dieser Songs aus der ökonomischen Verwertungsmaschinerie der Stadt hinaus, ans Meer, die Verheißung grenzenloser Entfaltungsfreiheit: Hier leben? Nein, danke. Aber wo ist dieser Ort, dieser Zustand, der Frieden mit der eigenen, inneren Dissidenz verspricht:

Wo ist woanders, und wo ist man anders?

Am Strand? An der Post? Im Schnee? Am Dienstag? Oder vielleicht morgen früh? „Wie soll ich dir das beschreiben“, fragen Thomas Brasch und Masha Qrella in der elektronisch durchs unbehauste Stadtschloss wummernden Single Geister, „ich kann nicht tanzen, ich warte nur.“ Right here, right now. (9.0)

Andreas Borcholte, Der Spiegel, 19.2.2021

Ein Ort der Sehnsucht

– Die Berliner Musikerin Masha Qrella hat Lyrik von Thomas Brasch vertont. –

Am 19. Februar, pünktlich zum 76. Geburtstag des 2001 verstorbenen Autors Thomas Brasch, erschien Woanders. Der einzig bedauerliche Aspekt an diesem rundum gelungenen Album ist dieser hier: Brasch, der sich zeitlebens eine Vertonung seiner Texte gewünscht hatte, kann es nicht mehr hören.
Doch von vorn. Masha Qrella wurde 1975 in Ostberlin geboren, zu einer Zeit also, als es noch ein Ostberlin gab. Und ein Westberlin. Viele stellen es sich ja so vor, dass Ostberlin langsam von Westberlin überwuchert wurde. Doch das alte Westberlin ist genauso verschwunden wie der alte Osten der Stadt. Ostberlin war, nach DDR-Terminologie, „Berlin, Hauptstadt der DDR“, Westberlin war die Stadt „Westberlin“, eine Exklave des imperialistischen Westens. Und dieses Westberlin oder „Berlin (West)“ hatte aufgrund seines besonderen Status eine magische Anziehungskraft auf „Künstlertypen“ aus Westdeutschland, die hier den Wehrdienst umgehen konnten. Dieses Berlin gibt es auch schon lange nicht mehr. Masha Qrella (geboren als Mariana Kurella) hat all diese Veränderungen vor Ort miterlebt.
Ein Jahr nach Qrellas Geburt stellte der ostdeutsche Lyriker Thomas Brasch gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna seinen Ausreiseantrag. Brasch war einer der Mitunterzeichner der Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann und die DDR letztlich froh, den Querulanten loszuwerden. Brasch war bereits während seines Journalistikstudiums in Leipzig wegen „Verunglimpfung führender Persönlichkeiten der DDR“ aufgefallen, er wurde exmatrikuliert. Im Westen war er wohl ein geschätzter Autor, aber glücklich wurde er auch hier nicht. Er tat sich generell schwer, Regeln zu akzeptieren, die ihm nicht einleuchteten. 2001 starb er an Herzversagen.
Etwa zu der Zeit, als Brasch starb, begann Qrellas Karriere in den Berliner Postrock-Bands Mina und Contriva. Musik ohne Worte, die die Bands auf weltweite Touren führte. Aber Erfolg bedeutet auch in kapitalistischen Zusammenhängen noch lange keine Freiheit. Im Gegenteil: Je größer der Erfolg wurde, um so mehr Geld witterte die Branche, stellte Forderungen. Die Zwänge nahmen zu und nicht ab.
2012 fiel Masha Qrella der Roman Ab jetzt ist Ruhe in die Hände, den Marion Brasch, die Schwester von Thomas, geschrieben hatte. Es war für sie einer dieser glücklichen Momente, in denen die Kunst sich nahtlos ins eigene Leben fügt, in denen die Welt des Werkes sich deckungsgleich über die eigene legt. 2019 führte sie erstmals Songs zu Texten von Brasch auf. Begleitet wurde sie an diesem Abend im Theater Hebbel am Ufer von Chris Imler, Tarwater und Andreas Bonkowski, Gäste waren Dirk von Lowtzow, Andreas Spechtl und Marion Brasch. Und in genau dieser Besetzung wurde jetzt auch das Album eingespielt.
Qrella hat eine angemessene Form für die nüchterne Sehnsucht Braschs gefunden. Wo Lyrikvertonungen oft zur Theaterhaftigkeit, zum übertriebenen Pathos neigen, findet sie die Balance zwischen dem Gefühl der Verlorenheit und der Beobachtung der Verlorenheit. Es ist die nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeit, mit der Geistes- oder Seelenverwandte gemeinsam Welten bewohnen können. Nichts ist gekünstelt, übertrieben oder mit der Brechstange gewollt. Desillusionierung und Hoffnung, der Glaube an die Möglichkeit eines besseren Lebens spiegeln sich in Qrellas Gesang wie in der Musik, einem zeitgenössischen Elektropop mit der Betonung auf „Pop“.
Es ist die Sehnsucht nach dem „anderen Ort“, die das Album eindrucksvoll einfängt. Nach einem Ort, der vermutlich immer nur „woanders“ existieren kann, niemals dort, wo man ist. Ein Ort, der immer ein Ort der Sehnsucht bleiben muss.

Alexander Kasbohm, junge Welt, 24.2.2021

Immer den Leitfischen hinterher

– In Woanders vertont die Musikerin Masha Qrella Lyrik und andere Texte des widerständigen Schriftstellers Thomas Brasch. –

Mit einer Anekdote über Fische beginnt das Hörspiel Woanders. Aber es geht natürlich eigentlich um Menschen in diesem Prolog: Es gäbe Fische, die in Schwärmen aufs offene Meer hinausschwimmen, obwohl es auf dem Schelf genügend Nahrung gibt. Weil Fische nur zwei Richtungen kennen: in die Mitte des Schwarms, um nicht aufzufallen und geschützt zu sein vor Fressfeinden, zum Nachteil derer, die weiter außen schwimmen. Und nach vorne, den Leitfischen hinterher. Diese Alpha-Fische jedoch, die ohne Sinn und Vernunft aufs offene Meer hinausschwimmen, nur um des Anführens willen, würde man in einem menschlichen Organismus geistesgestört nennen.
Woanders basiert auf Lyrik und anderen Texten des widerständigen Schriftstellers Thomas Brasch. Der war in der DDR früh angeeckt, Mitte der Siebzigerjahre wurde seine Ausreise in die Bundesrepublik bewilligt. Der Westen war für ihn aber kein gelobtes Land, sondern „diese zweite Nachgeburt, bei der nur die Schminke etwas besser trägt“. Mit den Mitteln der Realität könne man Deutschland nicht beikommen, heißt es an einer Stelle.
Ein Lebensthema von Brasch, dessen Werk 20 Jahre nach seinem Tod in der literarischen Öffentlichkeit nur noch ein Nischendasein führt, ist der immerwährende Versuch, sich Vereinnahmungen zu entziehen. Ein zweites: die politische Dimension des Privaten. Die Musikerin Masha Qrella, die selbst eine Ostbiografie hat, begeistert sich für die Texte Braschs, ihren Inhalt, ihren Rhythmus. Dieser Tage hat sie ein Album veröffentlicht, ebenfalls Woanders betitelt, jeder Song darauf ist eine Brasch-Vertonung. Die bilden auch die Basis des Hörspiels, das sie gemeinsam mit Christina Runge und Diana Näcke realisiert hat. Eine Session, komponiert aus Interviews, Gedichten, Materialskizzen und Proberaum-Mitschnitten. Die Musik wird zu einem klug abgemessenen Resonanzraum für Braschs Positionen, im Zusammenspiel entsteht ein elektroakustisches Kunstwerk, das eine energiegeladene Neu- oder Wiederentdeckung dieses Autors ermöglicht – und die Relevanz seiner Argumente für unsere Gegenwart belegt.

Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung, 23.2.2021

Masha Qrella Woanders: Abschied von morgen

– Masha Qrella verwandelt auf ihrem Album Woanders die Lyrik von Thomas Brasch in veritable Popsongs. –

Um die tausend Seiten umfasst das – unbedingt der Wiederentdeckung werte – lyrische Werk von Thomas Brasch, entstanden über knapp vier Jahrzehnte hinweg. Auf ihrem Album Woanders ist es der Berliner Musikerin Masha Qrella gelungen, aus den Gedichten des 2001 mit nur 56 Jahren verstorbenen Schriftstellers veritable Popsongs zu machen. „Wie soll ich dir das beschreiben? / Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur / In einem Saal aus Stille / Hier treiben Geister ihren Tanz gegen die Uhr“, heißt es in „Geister“. Die traumwandlerische musikalische Leichtigkeit des Songs hier erinnert an die von Housebeats geprägten Songs des Berliner Duos Zweiraumwohnung. Mitnichten geht es um Unbeschwertheit, musikalisch eingängig indes sind die 17 Songs sämtlich.
Auf Thomas Braschs Lyrik aufmerksam wurde Masha Qrella über den 2012 erschienenen Roman Ab jetzt ist Ruhe, in dem Braschs Schwester Marion die Geschichte der Familie im Spannungsfeld zwischen Ost und West literarisch aufgearbeitet hat. Eine Familiengeschichte aus der Führungsschicht der DDR. „Ich erwachte wie aus einer Amnesie“, sagt Qrella, ,,das war auch meine Geschichte, meine Perspektive und meine Vergangenheit, die ich jahrelang ausgeblendet hatte. Ich hatte ja sogar meinen Namen geändert, um nicht auf meine Ost-Identität reduziert zu werden.“ Die Väter von Brasch und Qrella, Jahrgang 1975, kannten sich, sie waren beide hochrangige Kulturfunktionäre.
Der Songzyklus wurde 2019 als Konzertperformance am Berliner HAU – Hebbel am Ufer uraufgeführt. In den neunziger Jahren war Qrella mit den Bands Contriva und Mina eine zentrale Protagonistin der Berliner Postrockszene, 2002 veröffentlichte sie ihr erstes Soloalbum.
„Abschied von morgen / Ankunft gestern / Das ist der deutsche Traum“: Braschs Texte, für sich schon ausgeprägt rhythmisch, bringen das Existenzielle und das Politische zusammen. In der DDR war er Dissident, 1976 gehörte er zu den Unterzeichnern der Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, woraufhin er mit einem Publikationsverbot belegt wurde. Nach seinem Wechsel in den Westen Berlins war er ein gefeierter Autor, nicht zuletzt sind seine Stücke auf dem Theater viel gespielt worden. Nach dem Mauerfall hat er beinahe zehn Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, künstlerisch geschwiegen.
Den Texten ist ein Grundzug von Melancholie eigen, den die Musik mit Mitteln vom Postrock bis hin zu Anklängen von Industrial häufig milde konterkariert. Manche Songs, etwa „Maschinen“, vorgetragen im Duett mit Andreas Spechtl von der Band Ja, Panik, basieren auf Housebeats, in „Strand“ in Einheit mit einer gleißend crescendierenden E-Gitarre. „Ratten“ ist eine wunderschöne Folktronica-Ballade. Das abschließende „Nacht“, arrangiert mit Synthiestreichern, erinnert in einer eigenen Art an Hildegard Knef. Dirk von Lowtzow von Tocotronic singt im Duett mit Qrella in „Meer“; in „Märchen“ tritt Marion Brasch als Rezitatorin auf.
Einer Aussage der Schauspielerin und Regisseurin Katharina Thalbach zufolge, die über drei Jahrzehnte lang mit ihm zusammenlebte, soll Thomas Brasch immer davon geträumt haben, dass seine Texte vertont werden. Ein glücklicherer Fall als Masha Qrella, die Brasch im Übrigen zuschreibt, er sei der „David Bowie der deutschen Lyrik“, hätte sich dafür kaum finden können.

Stefan Michalzik, Frankfurter Rundschau, 5.3.2021

Ich kann nicht tanzen, ich warte nur

– Zwischen Geister-Techno und Neuem Geistlichem Lied: Die Sängerin Masha Qrella hat sich von Texten des Dichters Thomas Brasch zu ihrem großartigen Album Woanders inspirieren lassen. –

Angesichts der jetzigen Situation erinnert jegliche Tanzmusik an Kafkas „Wunsch, Indianer zu werden“: Erst ist da ein Bild des wilden Ritts, aber dann bröckelt es. Es gibt gar keine Zügel, es gibt gar keine Sporen, es gibt nicht mal ein Pferd. Erst ist da dieser Raum voller wild zuckender Leiber – aber dann gibt es gar keine Leiber, keine Discokugel, nicht mal eine Tanzfläche.
Was tun? Vielleicht die innere Tanzfläche betreten, jetzt erst recht. Das scheint auch der Grundgestus von Masha Qrellas Album Woanders zu sein: Ein Stilwille zum pumpenden Beat liegt ihm zugrunde, dazu ein rastlos gespielter, harter E-Bass, der immer weiter will. Auch Industrial und andere Genres der elektronischen Musik werden darauf aufgegriffen; gewisse sphärische Verfremdungseffekte aber lassen alles geisterhaft wiedergängerisch wirken, ein bisschen so wie beim nachgeträumten Techno des Stückes Insomnia von Faithless.
Das hat weniger mit Corona zu tun als vielmehr damit, dass die Sängerin Masha Qrella – die als Tochter einer Deutschen und eines Russen 1975 als Mariana Kurella in Ost-Berlin geboren wurde – auf diesem Album vorgefundenes Material traumhaft verschiebt, verdichtet, geisterhaft weiterspinnt: das Sprachmaterial des Dichters Thomas Brasch.
„Wie soll ich dir das beschreiben / Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur: / In einem Saal aus Stille. Hier treiben / Geister ihren Tanz gegen die Uhr“: So lautet die aus Braschs Gedicht „Sprachlos die Tänzer“ adaptierte lyrische Hookline von „Geister“, die sich, rhythmisiert gesungen über dem treibenden Beat, wunderbar selbst belügt: Denn alles an diesem Lied drängt zum Tanzen.
Manche Lieder sind regelrecht vertonte Gedichte, andere collagiert auch aus sonstigen Äußerungen Braschs: Qrella geht frei mit dem Material um, versäumt aber nicht, einige fast schon klassische Verse aus Braschs Gedichtbänden Kargo (1977) und Der schöne 27. September (1980) als Pflöcke einzuschlagen, um die sie kreist – also „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ oder „Wolken gestern und Regen / Jetzt ist keiner mehr hier / Ich bin nicht dagegen / Singe und trinke mein Bier.“ Die Letzteren überführt Qrella in eine traurige Volksweise, die an jiddische Klagelieder oder solche von Partisanen erinnert – nicht ohne auch sie mit Hilfe der Musiker Chris Imler und Andreas Bonkowski einer blechern scheppernden und dunkel hallenden Hardcore-Klangkur zu unterziehen.
Das Album ist entstanden aus einem Liederabend im Berliner Theater Hebbel am Ufer. Von Thomas Brasch, dem immer noch unterschätzten ost-westdeutschen Dichter, der 2001 starb, war die Sängerin schon früher fasziniert und fand zudem in dem Roman Ab jetzt ist Ruhe von dessen jüngerer Schwester Marion Brasch viel Resonanz für ihre eigene Lebensgeschichte.
Die adaptierten Texte indessen, so viel Resonanzraum sie etwa im Ringen mit dem Sozialismus und seinem Gegenteil haben, offenbaren jetzt erst recht ihre universelle Wirkung, umso mehr, indem sie nicht von Braschs Bariton gelesen, sondern von einer weichen Stimme gesungen werden und dann noch stark erweitert durch Musik und Geräusche. Es sind bittere Balladen, gemacht für einsame Großstädter und moderne Arbeiter, manchmal voller Technikmelancholie. Sie zeigt sich, wenn Qrella bei einem Gastauftritt des Sängers Andreas Spechtl mit diesem im Duett singt:

Nach der Arbeit an den Maschinen
Träumen die Leute von den Maschinen
Wovon träumen die Maschinen
Nach der Arbeit an den Leuten?

Das Auseinanderklaffen von Musik und Text fordert auf diesem Album noch manches Mal die Hörer heraus und erzeugt bisweilen eine sarkastische Wirkung, wie man sie etwa vom Electro-Liedermacher Peter Licht kennt: „Lass die Ideale liegen / Wie Leichen am Strand“, singt Qrella mit einer Art fröhlichem Fortschrittspathos zum ewig marschierenden Beat. Vielleicht ist die kontraintuitive Vertonung aber auch der einzige Weg, Zeilen wie die folgenden auszuhalten:

Du fehlst keinem
Wenn du das begriffen hast
Kannst du die Tür schließen hinter dir

Fast schon grotesk wirkt die federnd-fröhliche Hüpfmusik des Stücks „Hure“, die eine maximale Reibung erzeugt mit dem derben Brasch-Text:

Jetzt bist du weg ein halbes Jahr
Ich sauf mich voll vom Morgen in die Nacht
Hab schon vergessen wer ich war
Und hab mir eine Hure angelacht
Sie trinkt mich aus und leckt mich blank
Sie reitet mich zuschanden

Dann wieder gibt es musikalische Momente und Harmonien, die zwischen den Balladen von Bettina Wegner und dem Neuen Geistlichen Lied changieren, bevor im langen instrumentalen Schlussteil von „Straßen“ das Solo eines seltsamen elektronischen Instruments anhebt, das wie eine Vertonung des bei Brasch werkbestimmenden Werkzeugs der Fräse anmutet. Sie schneidet einem tief in Herz und Hirn.

Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.2.2021

Nach der Arbeit an den Maschinen

– Im Werk von Thomas Brasch fand Masha Qrella neue Inspiration und begab sich mit ihm auf ihre ostdeutschen Spuren. Nun erscheint ihr Album Woanders. –

Vom Frühstückstisch direkt auf die Tanzfläche: Die treibenden Beats von Masha Qrellas Song „Geister“, die aus dem Radio in der Küche schallen, teleportieren die Hörerin sofort in ein pulsierendes Techno-Ambiente. Doch kaum ist man da angekommen, bremst ein schroffer Disclaimer alles aus.

„Wie soll ich dir das beschreiben?“, singt die sich vorsichtig vorantastende und doch entschiedene Stimme.

Ich kann nicht tanzen
Ich warte nur
In einem Saal aus Stille
Hier treiben Geister ihren Tanz gegen die Uhr!

Ein kühler, zu Klang gewordener Wind umweht die Worte, die wie ein Gegenpol zur Musik wirken. Nicht nur Menschen, die im Club tendenziell eher beobachtend herumstehen, statt auf der Tanzfläche nach Entgrenzung zu suchen, können sich in diesen Zeilen wiederfinden.
Verfasst hat sie der 2001 verstorbene Dramatiker, Autor und Regisseur Thomas Brasch, vertont wurden sie von der Berliner Musikerin Masha Qrella. Ihr neues Album Woanders besteht auf Songlyrikebene ausschließlich aus Texten von Thomas Brasch, eingebettet hat sie diese in aufs Nötigste reduzierte und doch vielschichtige Songs, die mal soghaft, mal sphärisch, aber immer eigenwillig klingen.
Bekannt wurde Qrella Mitte der 1990er Jahre, als sie bei den weithin unterschätzten Berliner Postrock-Combos Mina und Contriva spielte. Seit knapp zwei Jahrzehnten veröffentlicht die 1975 in Ostberlin geborene Künstlerin ihre Songs zumeist als Solistin. Bis zur EP Days After Days (2019) sang sie immer auf Englisch.
Zum Werk von Thomas Brasch fand Qrella auf Umwegen, an deren Anfang eine Auftragsarbeit für einen Heiner-Müller-Abend im Jahr 2016 stand. Die Beschäftigung mit Müller stieß bei ihr eine Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Sozialisation an. „Das Projekt hat mich auf eine Reise in meine eigene Vergangenheit geschickt“, erklärte Qrella damals der taz.
Und es brachte die Künstlerin zu der Erkenntnis, dass sie nach dem Mauerfall in den Jahren ab 1989 „in einer langen Amnesie“ gelebt habe. Dass sie anfangs vor allem Instrumentalmusik gemacht habe, sieht Qrella als Ausdruck der damit einhergehenden Sprachlosigkeit.
Eine Freundin machte sie auf den autobiografischen Roman Ab jetzt ist Ruhe (2012) aufmerksam. Darin zeichnete die Radiojournalistin Marion Brasch die – unter anderem ideologisch motivierten – Verwerfungen innerhalb ihrer Familie nach: Vor allem zwischen dem Vater Horst Brasch, einem hohen SED-Parteifunktionär in der frühen DDR, und ihren drei Brüdern, die allesamt mit den Mitteln der Kunst gegen den Staat rebellierten.
Thomas, der älteste der Gebrüder Brasch, geriet immer wieder in Konflikt mit den DDR-Behörden; sein Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 brachte ihn sogar ins Gefängnis. Trotzdem blieb sein Verhältnis zur DDR komplex, auch nach seiner Übersiedlung in den Westen, 1977, wollte er sich nicht zum exemplarischen Dichter-Dissidenten stilisieren lassen. 1981 etwa provozierte er bei der Verleihung des Bayrischen Filmpreises mit seiner Dankesrede einen Skandal:

Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung… Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche.

Als Qrella begann, Thomas Brasch zu lesen, sei zunächst nicht geplant gewesen, etwas Weiterführendes zu entwickeln, erzählt sie im Videointerview:

Vor allem von seinen Gedichten haben mich einzelne Zeilen nicht mehr losgelassen. Ich fing an, sie zu singen, auf dem Fahrrad, in der U-Bahn; sie als Grußbotschaften ins Handy zu spielen und an Freunde zu schicken, auf der Suche nach Austausch.

Zum Glück, so muss man es sagen, ist aus diesen Skizzen dann deutlich mehr Stoff geworden. Zunächst ein Konzertabend, der zugleich Performance und Installation war und – ebenfalls unter dem Titel Woanders – im Dezember 2019 im Berliner Hebbel-Theater Premiere feierte; weitere Gastspiele wurden zunächst von Corona ausgebremst.
Aber jetzt veröffentlicht Qrella ebendieses Album, in dem nicht nur Popappeal, sondern – auch auf der Textebene – überraschend viel Gegenwart steckt. Zum Beispiel in den Zeilen des Songs „Maschinen“:

Nach der Arbeit an den Maschinen
Träumen die Leute von den Maschinen
Wovon träumen die Maschinen
Nach der Arbeit an den Leuten?

Im Zeitalter von künstlicher Intelligenz und selbstlernenden Systemen wirken sie nicht mehr kokett, wie sie vielleicht schienen, als Brasch sie unter dem Titel „Frage“ vermutlich Anfang der 1970er Jahre schrieb.
Vielmehr formulieren sie lakonisch, fast lapidar eine berechtigte Frage. Nach einem sphärischen Einstieg singt Andreas Spechtl (Ja, Panik) an der Seite von Qrella zu einem zunehmend brachialen Beat. Ähnlich gegenwartssatt wirkt das luftig-groovende Stück „Tür“. Es basiert auf dem Text „Schließ die Tür und begreife“ – einem undatierten Tagebucheintrag, den Brasch seinem Theaterstück Rotter (1978) voranstellte – und wirkt wie ein zeitgemäßer Kommentar zur allgegenwärtigen Selbstbespiegelung, die durch die Dauerpräsenz in den sozialen Medien noch mehr angefüttert wird:

Schließ die Tür und begreife
daß niemandem etwas fehlt, wenn du fehlst, begreife
daß du der einzige bist der ohne Pause
über dich nachdenkt, daß du die Tür schließen kannst
ohne viel Aufhebens und ohne Angst, es könne dich einer beobachten
Dich beobachtet keiner
Du fehlst keinem.

Ein Song, der es allerdings beinahe gar nicht aufs Album geschafft hätte. „Der Text war mir ein bisschen zu didaktisch“, erzählt Qralla.

Beim Lesen fand ich ihn erst einmal toll, habe dann aber gemerkt, dass es nicht so einfach ist, ihn ohne erhobenen Zeigefinger zu singen.

Offenbar hat sie einen stimmigen Weg gefunden. Qrella gelingt es, ihre Stimme ganz unvoreingenommen und wertfrei klingen zu lassen, so dass diese Zeilen, die auf Papier doch etwas hart und abkanzelnd wirken, fast tröstlich klingen. Sie scheint einem einzuflüstern:

Mach dir keinen Stress, zieh einfach mal die Decke über den Kopf.

Der Coronapandemie sei an dieser Stelle ausnahmsweise gedankt: Dafür nämlich, dass sich Qrella und ihre Mitstreiter:innen, etwa der umtriebige und vielbeschäftigte Schlagzeuger Chris Imler, extra Zeit nehmen konnten für alle Albumversionen des Songs, die bei dem Theaterabend uraufgeführt wurden.

So ist das Album deutlich länger geworden als geplant – und atmosphärisch wie musikalisch höchst abwechslungsreich.

Mir war es ein explizites Anliegen, nicht die Texte zu verwenden, die Brasch biografisch eindeutig verorten, als Nachkriegsdeutschen oder als Dissidenten, der von Ost nach West ging. Mich hat an den Texten fasziniert, dass es diese Stellen gibt, die sehr ins Heute passen, und deren Sprache mich eher an David Bowie denken lässt als an ostdeutsche – oder überhaupt deutsche – Lyrik.

An wenigen Stellen hat Qrella in Braschs Texte eingegriffen. Ein Beispiel ist das Titel gebende „Woanders“. Am Ende seines Sinnierens, wo anders man denn noch so sein könnte, „vielleicht an der Küste / Oder vielleicht nebenan“, macht Qrella einen Schlenker, der in Braschs Gedicht nicht auftaucht:

Wo ist man woanders
und wo ist man anders

In Braschs Archiv, so erzählt Qrella, sei sie in einem Maschinen geschriebenen Manuskript auf diese letzten Zeilen gestoßen – die allerdings durchgestrichen waren.

Offenbar hatte es der Autor zwar ursprünglich so geschrieben, sich dann aber gegen die Zeilen entschieden. Vielleicht waren sie ihm zu kitschig? Keine Ahnung – für den Song fand ich sie aber sehr schön.

Derzeit weilt Qrella als Stipendiatin an der Kulturakademie Tarabyain Istanbul und klügelt eine türkische Live-Version des Woanders-Abends aus, die sie seinerzeit in Teamwork und mit Gästen wie Dirk von Lowtzow (Tocotronic) und Marion Brasch erarbeitet hatte. Dafür wurden die Texte ins Türkische übersetzt, die sie momentan mit Musikern und Interpreten in Istanbul probt. „Brasch ist, zumindest in der türkischen Community in Berlin, kein Unbekannter“, erzählt sie.

Er hat bereits für seinen 1988 entstandenen Film Der Passagier – Welcome to Germany mit dem unlängst verstorbenen Schauspieler Birol Ünel zusammengearbeitet, meines Wissens waren sie auch befreundet. Ich glaube, dass Braschs Gedichte, die das Leben zwischen zwei Welten, zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschreiben, in Istanbul auf eine noch krassere Art hochaktuell sind.

Am 19. Februar, dem Tag der Albumveröffentlichung, wäre der in Großbritannien geborene Thomas Brasch übrigens 76 Jahre alt geworden. Gut vorstellbar, dass er ziemlich toll gefunden hätte, was gerade mit seinen Texten passiert.

Stephanie Grimm, taz, 19.2.2021

CD-Reviews

Da war sie wieder, diese Nostalgie. Ein Rezensionsangebot zum Album von Masha Qrella. Und die Erinnerung an andere Zeiten, als im Musikfernsehen Sendungen wie Wah² liefen, wo man Bands wie Contriva kennenlernen konnte und im Anschluss mit dem Album Tell Me When eine schöne Begleitung für den Sommer erwarb. Masha Qrella als einstiges Mitglied dieser Band blieb im Gedächtnis und machte nun auch mit Woanders neugierig. Einem Album, auf dem die Berlinerin Texte des Dichters und Schriftstellers Thomas Brasch vertont, dessen Todestag sich jüngst zum 20. Mal jährte. Ein Dichter, mit dem man wiederum alleine schon Seiten füllen könnte.
Masha Qrella entdeckte Brasch’ Wirken im Jahr 2012 durch den Roman Ab jetzt ist Ruhe, den die Schwester Marion veröffentlichte. Die erweckte Faszination wirkt hierbei am besten in Qrellas eigenen Worten:

Die persönliche Perspektive der Autorin kam mir sofort bekannt vor. Eine Familiengeschichte der DDR aus Perspektive der kleinen Schwester. Ich erwachte wie aus einer Amnesie! Das war auch meine Geschichte: Meine Perspektive und meine Vergangenheit! Ich hatte ja sogar meinen Namen geändert, um nicht auf meine Ostidentität reduziert zu werden. So begann ich die Texte von Thomas Brasch zu lesen. Deutschsprachige Texte, die mich einfach nicht mehr losließen!

Schwere Kost, könnte man meinen, wenn man das so liest. Aber wie klingt das denn nun? An dieser Stelle ist eben auch die Erleichterung, wenn man so will: Das lässt sich sehr gut hören. Zwar Lyrik mit Tiefgang, aber dennoch eine Musik, die bei aller Ernsthaftigkeit ein leichtfüßiges Moment mit sich bringt. Das merkt man schon in den ersten Nummern „Lied“ und „Straßen“, die zwar nachdenklich, aber auch beschwingt wirken und nicht zuletzt durch die Stimme Masha Qrellas eine angenehme Melancholie verbreiten. Der Indie-Sound ist dabei eine – und auch die dominierende – Facette, aber längst nicht alles. „Geister“ zeigt es beispielsweise gut mit seinen pulsierenden Elektro-Sounds, schafft aber im gleichen Moment mit Piano- und Bassläufen viel Gefühl.
Dass Masha Qrella mit ihrer Begeisterung nicht allein ist, zeigen auch illustre Gäste auf dem Album. So unter anderem in „Das Meer“, bei dem sich Dirk von Lowtzow die Ehre gibt. Ein Duett, das eine ruhig eröffnende Indie-Pop-Nummer gibt, schon bald in treibende Gewässer gleitet und durch seine Zweistimmigkeit die Eingängigkeit erhöht. Den elektronischen Gestus wiederum begleitet Ja, Paniks Andreas Spechtl in „Maschinen“, das mit synthetischer Kühle seine Faszination ausstrahlt. Und dann ist da noch „Märchen“, in dem Brasch’ Schwester Marion (zu von Tarwater mit erschaffenen Klängen übrigens) höchstpersönlich im gesprochenen Wort einen Text beisteuert.
Mit „Woanders“ ist Masha Qrella ein faszinierendes Album gelungen, das einiges an Tiefgang beinhaltet, dabei aber dennoch nicht als verkopftes Monstrum begegnet, sondern ein starkes Indie-Album darstellt, das man sehr angenehm hören kann. Sehr begeisternd!

Marius Meyer, monkeypress, 21.2.2021

Album der Woche

Mariana Kurella ist desillusioniert. Von der Musikindustrie und dem untrennbar mit ihr verwobenen Kapitalismus. „Wir sehnen uns nach Utopien, nach Frei- und nach Zwischenräumen. Stattdessen bekommen wir nur noch Verwertbarkeit und Verkaufsstrategien als Antwort“, sagt die Musikerin. Seit über 20 Jahren sucht die 1975 im damaligen Ost-Berlin geborene Künstlerin nach diesen Utopien. Erst mit dem wortlosen Post-Rock ihrer Bands Mina und Contriva, dann in zahlreichen Soloalben unter dem Namen Masha Qrella. Auf diesen sang sie auf Englisch, der Universalsprache der Popmusik. Ihre neueste LP ist ihr erster Langspieler auf Deutsch – und scheint besagte Verkaufsstrategien und Verwertbarkeitsansprüche bewusst zu ignorieren.
Das auf den ersten Blick ungriffigste Element von Woanders sind die Texte: Diese stammen allesamt vom in Feuilleton-Kreisen gefeierten, aber in der Popkultur wenig präsenten Dichter Thomas Brasch. Auch dieser war in seiner Kunst auf der Suche nach Utopien. Der 1945 im englischen Exil geborene Sohn jüdischer Emigrant*innen wuchs in der DDR auf und verbrachte wegen seiner systemkritischen Dramen 77 Tage im Gefängnis. Der von der Stasi als „Feind der DDR“ klassifizierte Dissident emigrierte 1976 in die BRD, wo er bis zu seinem Tod 2001 als freier Autor, Dichter und Regisseur arbeitete. In seinen Werken setzte er sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines zerrissenen Deutschlands auseinander.
Qrella umarmt auf ihrem neuen Album Woanders die Zeilen Braschs mit einer Mischung aus kühler Elektronik und warmen Gitarren, ausschweifend den Äther erkundenden Synthesizern und nah am Ohr klebendem Gesang. Sie bringt seine Verse zum Singen. Aus Sätzen wie „Ich besinge die Rinde der Bäume und warte bei Dir“ wird Musik für nachmitternächtliche Stadt-Spaziergänge. Dunkel, wabernd, mysteriös.
Komplettiert wird das Album von den Gastauftritten: Dirk von Lowtzows Bariton schmiegt sich in „Das Meer“ an Qrellas Alt-Stimme. Ja, Panik-Sänger Andreas Spechtl steuert in „Maschinen“ dem Titel angemessenen Roboter-Gesang bei. In „Märchen“ spricht Braschs Schwester Marion (durch deren eigenen Roman Ab jetzt ist Ruhe Qrella auf Brasch aufmerksam wurde) ein paar Zeilen im Loop. Woanders eine Utopie zu nennen, fühlt sich nicht ganz richtig an. Dafür ist das Album zu introspektiv, zu verträumt. Doch ein faszinierender Zwischenraum, in dem Künstler*innen unterschiedlicher Generationen gemeinsam wunderbare Kunst erschaffen, ist es auf jeden Fall.

ByteFM Redaktion, Byte.fm, 19.2.2021

Weitere Beiträge zu dieser CD:

Steffen Greiner: Masha Qrella: Woanders
musikexpress, 19.2.2021

Christian Lehner: Masha Qrella und ihr neues Album „Woanders“
fm4.orf.at, 26.2.2021

Wie man Gedichte von Thomas Brasch zum Tanzen bringt
rp-online.de, 16.4.2021

Angelika Sauerer: Masha Qrella und Thomas Brasch: Woanders
mittelbayerische.de, 18.2.2021

Jens Uthoff: Masha Qrella und die Sehnsucht nach „Woanders“
Berliner Zeitung, 18.2.2021

Thomas Mehringer: Neuerscheinungen der Woche
BR2, 18.2.2021

Akin E. Şipal & Masha Qrella: Fliehkräfte
logbuch-suhrkamp.de

 

Show down

Gemeinsamer Lieblingswitz 1980:
„Hab gestern meine Frau geamselt.“
„Du meinst wohl gevögelt?“
„Nee falsch, sorry. Erdrosselt.“

Den Typ am Flipper, wie der Panther mit der Beute, den kennste doch?
Wir befreundeten uns mit Vorsicht. Er, der gestandene Jungliterat, scharfzüngig, Frauentyp. Ich, der dickliche, kleine Rockmusiker aus der Provinz. Immerhin gabs ’n paar Ähnlichkeiten biographischer Art: Beide aus ’m Osten, die Knastzelle schon mal von innen gesehen und hier wie da ausreichend Arschlöcher geboten bekommen für abendfüllende Biergespräche. Er hatte ’n paar spannende Geschichten in petto. Ich mochte, wie er seine Vita skelettierte, bis sich die harten Knochen der Niederlagen auf dem Tisch stapelten. Wofür er mich mochte? Weiß der Himmel. Womöglich hilft auch die Story von unserer ersten Zusammenarbeit da nicht weiter. Aber lustig war’s. Mit ’m Vierteljahrhundert Abstand zumindest.

Grad mal drei, vier Jahre im Westen („Nur gesoffen.“) hatte Brasch schon Gedichtbände veröffentlicht und als Dramatiker einen Namen. Jetzt drehte er auch noch einen Kinofilm nach eigenem Buch: Die Geschichte des Werner Gladow, der, die Wirren der Luftbrückenzeit nutzend, mit seiner Bande ganz Nachkriegs-Berlin unsicher gemacht hatte und einst 17-jährig auf dem Schafott gelandet war.
Engel aus Eisen hieß das Werk, zwei Millionen Mark standen zur Verfügung. Nie zuvor hatte ich auch nur Sichtkontakt gehabt zu jemandem, der einem solchen Haufen Schmott schon mal nahe gekommen war. Entsprechend meine Ehrfurcht.
Aber für hollywoodmäßige Sprünge bot auch dieser Etat nicht ausreichend Höhe. Die abgeklapperten Oscar-Preisträger unter den Filmkomponisten z.B. waren für Krümel des Kuchens nicht zu haben. Also suchte Brasch jetzt so ’ne Art Aldi-Mozart und fragte ausgerechnet mich (Unheil, nimm deinen Lauf!), ob ich so was schon mal gemacht hätte.
Nun, mit meiner RENFT-Combo hatte ich für die DEFA mal ’n paar Songs eingespielt, insofern war mein „Klaro.“ nicht ganz glatt gelogen. Vielleicht ein wenig gemogelt. Aber ich war heiß auf den Job wie Bush aufs Öl, auch wenn mich als Anstreicher der Auftrag für ein Deckengemälde völlig überforderte.
Plötzlich saß ich mit gesichtsbekannten Theater-Leuten an weiß gedeckten Restaurant-Tafeln, lauter berühmte Schriftgelehrte und Verwandlungskünstler – ich verstand kein Wort von dem, was sie sich erzählten, gab aber den Mitwisser. Gewöhnte mich auch an Aperitifs und Mousse au Chocolat, und keiner ahnte, dass ich abends in mein schimmelpilziges Abrisshaus kroch, verzweifelt hoffend auf den schlagartigen Wandel zum Genie, allerdings auch unter dem Vorsatz, mich in die ewige Bestenliste der Filmkomponisten einzureihen, vor allem aber fest entschlossen, zukünftig meine Kneipenrechnungen sofort bezahlen zu können.
In dieser vertrauten Umgebung bastelte ich mir ein kleines Walzerthema zusammen, das ich für krimigeeignet hielt und mischte düstere Klänge mit Glissandi zu einem Brimboratorium, das dem geneigten Kinobesucher später mal ein bestaunendes „Oh! Flugzeuggeräusche aus Noten!“ entlocken sollte. Was einzig die Idylle störte, waren Braschs nächtliche Anrufe. Bestenfalls spielte er mir Weltstars vor von Vivaldi bis Wonder, immer mit der Maßgabe:

So musste ’s machen.

Meist aber haute er mir Adjektive um die Ohren, die mir Beschaffenheit und Charakter der gewünschten Töne klarmachen sollten.
Ein Weiser des 20. Jahrhunderts hat mal den schönen Satz geäußert:

Über Musik reden ist wie nach Architektur tanzen.

Den hatte ich damals aber noch nicht drauf. Und weil ich nie so recht verstand, wovon die Rede war, bezeugte ich allen Verbalitäten meine Achtung und machte weiter wie vorher. Gelegentlich als Demo zelebriert, fanden meine Geräuschkulissen beim Meister sogar ein geneigtes Ohr. Also ins Studio mit dem ganzen Kram, die fertigen Bänder abgeliefert und gelassen unter den Sonnen der Selbstzufriedenheit durch die Wochen geschlendert.
Ab und an auch in den Schneideraum: Hektik, Unzufriedenheiten, Kapitulationsgelüste. Wie ’s halt so ist auf der Welt. Aber da war ja noch meine Musik. Die würde am Ende wie Stuck all die kleinen Unzulänglichkeiten des Rohbaus überdecken.

Erst am Tag vor der Endmischung kamen meine Bänder ins Spiel. Brasch sah nun seinen Film zum ersten Mal mit Musik. Und seine Mine verfinsterte sich zusehends:

Das geht überhaupt nicht.

Hände tief in den Taschen, durchschritt er die Diagonalen des Raumes.

Du machst mir meine ganzen Bilder kaputt!

Schieben, drehen, schnippeln – nichts half. Je häufiger man die Szenen betrachtete, desto saumäßiger sahen sie aus.
Die Cutterin heulte:

Ich hatte gehofft, die Musik würde noch was bringen, aber die bringt auch nichts.

Und ich hatte gehofft, mein Werk sei nicht ausgerechnet die beschissenste Filmmusik, die ich je gehört hatte.
Von der Decke tropfte der Stressschweiß des Termindrucks und wuchs daselbst zu bedrohlichen Stalaktiten heran. Es wurde verdammt eng in der Bude.
Ich mit meiner Schmach auf dem Buckel hielt mich mühsam in Ausgangsnähe aufrecht in der Hoffnung auf das Ende aller Stunden. Das aber beeilte sich nicht. Erst als die letzte Rolle durchprobiert war, kam der erlösende Satz:

Okay, alles raus, der Film läuft ohne Musik!

Folgte noch ein kleiner Racheakt: Der Regisseur schleifte seinen Filmkomponisten durch diverse Plattenläden auf der Suche nach einer irgendwie verwertbaren Musik. Von mir aus konnte er jetzt mit Sinatra froh werden oder seinen Schwarz-Weiß-Schinken mit sonst was zukleistern, ich wollte nur noch weg. Zum Erfolg dieser Aktion beitragen konnte ich mangels Verständnis für die Intentionen des Chefs eh nicht. Aber ich stiefelte hinter ihm her wie weiland die Olsen-Bande hinter Egon.
Endlich wieder allein wurde Vergessen zum Überlebensinhalt. Klappte ganz gut. Bleibste halt bei deinen Leisten, Schuster. Lässt wieder anschreiben in der Kneipe, wie sie’s nicht anders von dir gewöhnt sind. Und Brasch, der ist so sauer, von dem hörste nie wieder was.
Nach ein paar Tagen aber Realität: Die Filmproduktion lädt zu einer Presse-Vorführung und bittet um mein Erscheinen.
Oh himmelschreiendes Elend! Das kann ich nicht einfach abhaken. Hab schließlich einen Vorschuss kassiert, was Teile der Westberliner Gastronomie bereits mit Freuden zur Kenntnis genommen haben. Der Taler ist schon gerollt, verstehste. Der ist nicht mehr rückzahlbar. Also hin zur Hinrichtung.
Sehr wichtiges Personal da: geleimte Geldgeber, Kronzeugen, Nebenkläger, alle finster blickend. Und massig Schaulustige natürlich. Der Scharfrichter hebt an zu einer Begrüßungsrede. Keine Henkersmahlzeit. Das Ding läuft unter Standrecht. Licht aus und WUMM! – mein Walzer. Was’n jetzt los? „Musik Christian Kunert“ steht im Vorspann, gleich hinter so berühmten Namen wie Thalbach oder Thate – muss ich Mama erzählen, sobald dieser Irrsinn hier vorbei ist.
Hinterher Brasch: „Na, haste gestaunt, dass Deine komische Musik da wieder drin ist?“
„Klar. Fand’s eigentlich gar nicht so schlimm, oder?“
„Na ja. Die Bänder lagen halt mit an. Irgendwann hat der Mischer den Regler hochgezogen und gefragt, warum wir das nicht nehmen wollen. Sei doch ganz hübsch. Noch ein bisschen Hall drauf, damit man’s nicht so deutlich hört, dann fanden’s alle okay.“
„Und du?“
„Hauptsache, nach der Premiere kommt keiner zu mir und sagt, die Musik war das Beste!“

Mangels Pointe noch ein Abfallprodukt des Films Engel aus Eisen, der später gar den Bayerischen Filmpreis übergeholfen bekam. Eine lange Kamerafahrt über Trümmerfelder hätte einen Song vertragen können. Brasch verschwand im Nebenraum und schleppte nach zehn Minuten den folgenden Text an:

Wenn die schnellen Winde wehn
in den warmen Nächten
wollen wir über die Trümmer gehen
in den warmen Nächten
Deine Hand in meiner, Lisa
deine Haut an meiner
schneller Lisa, schneller
uns sieht keiner

Wenn der weiße Mond aufgeht
über den Ruinen
siehst Du wie die Nacht sich dreht
über den Ruinen
Deine Hand in meiner, Lisa
Deine Haut an meiner
weiter Lisa, weiter
uns sieht keiner

Wenn unsre Mäntel nicht mehr schwer
auf unsern Schultern liegen
wenn sie zwei Segel unterm Wind
werden wir fliegen
deine Hand in meiner, Lisa
deine Haut an meiner
höher Lisa, höher
uns sieht keiner

Sauber, Alter!

Christian Kuno Kunert, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004

 

 

In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.

 

Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)

 

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.

 

 

Florian Havemann liest Texte zu Thomas Brasch (Teil 2)
Der schöne 27. September“ … zwischen 1968 & 2008 in den Tilsiter Lichtspielen Berlin-Friedrichshain am 26. September 2008. Eine Veranstaltung der Galerie auf Zeit – Thomas Günther.
Florian Havemann liest aus seinem tausendseitigen Prosawerk Havemann Passagen, die von seiner innigen und hochkomplexen Beziehung zu Thomas Brasch erzählen.

 

 

Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.

 

 

 

 

Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will

Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders

Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch

 

Zum 60. Geburtstag von Thomas Brasch:

 

Zum 70. Geburtstag von Thomas Brasch:

Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015

Zum 75. Todestag von Thomas Brasch:

Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020

Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020

Zum 20. Todestag des Autors:

Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021

Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021

Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021

Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021

Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Internet Archive +
Kalliope +KLG + Interview
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
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Nachrufe auf Thomas Brasch: Berliner Zeitung 1 + 2 ✝
literaturkritik.de ✝ Der Freitag ✝ Neues Deutschland

Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der große Brasch“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Brasch, der“.

 

Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).

 

Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.

 

Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.

 

Fakten und Vermutungen zur Musikerin + IMDb + Facebook

 

Masha Qrella – der heimliche Indie-Star.

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