Matthea Harvey: Du kennst das auch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Matthea Harvey: Du kennst das auch

Harvey-Du kennst das auch

THE FUTURE OF TERROR / 1 

Der Generalissimus folgte nur seinem
Geruchssinn. Geronimo! rief der Überganove,
den wir Gott nannten; wir waren gut auf Trab.
Dass hier nur Graues gedieh und der Blick in
die Gusche des Gauls beim Gesundheitscheck
eine kluftige Zukunft verhieß – Schwamm drüber.
Wir hatten die hässlichen Nachrichten satt.
Es half, wenn wir die Hörgeräte runterdrehten.
Wir alle konnten bereits ideale Imitationen
des Idioten liefern, wie seine Zähne auf einem Steak
insistierten, als er sagte Invasion hat was Intimes.
So viel stimmte ja. Wenn wir die Jause
jäh überhatten, konnten wir im Kräutergarten
immer noch mit den Gefangenen spielen.
Ein Kessel Buntes, Blinde Kuh und Kopf-
schlagen waren unsere Hits. Die Leitlinien
der Linguisten waren ziemlich elastisch,
voller magischer Lücken, die Medaillen
ausspuckten. Wir hatten es wirklich geschafft,
aber die Nacht nagte noch an unseren Fersen.
Die Nadel des Navigators pendelte
irgendwie ominös zwischen Ölquelle
und Versuch’s später wieder. Um uns noch mal
aufzurappeln, probten wir Quarterback-Sprints
entlang der Pylonen, doch das Rennen zur Schlucht
wurde bald so ernst wie Rosen und Ruhe
in Frieden, geritzt in Stein. Schon der Anblick
einer Schultasche konnte uns jetzt aufscheuchen.

 

 

 

Anmerkungen der Übersetzerin

Du kennst das auch umfasst Gedichte aus Matthea Harveys Bänden Sad Little Breathing Machine und Modern Life. Die Gedichte in „The Future of Terror“ und „Terror of the Future“ schrieb Harvey auf der Basis von alphabetischen Wortlisten, wobei die Worte „future“ und „terror“ für A und Z stehen. Sie sind keine strengen alphabetischen oder akrostischen Gedichte, aber sie ahmen die Buchstabenschritte des Alphabets nach. Für die Übersetzung wurde versucht, die alphabetische Form einzuhalten. Ein längerer Essay der Autorin zum Thema, veröffentlicht zuerst in American Poet, findet sich auf www.mattheaharvey.info.
Der Titel des Gedichts „To Zanzibar by Motorcar“ ist eine Eselsbrücke für (auch deutsche) Medizinstudenten, um sich die fünf Abschnitte des nervus facialis einzuprägen (temporalis, zygomaticus, buccalis, mandibularis, cervicalis). Der Titel wurde darum auch in der deutschen Übersetzung englisch belassen.

Uljana Wolf, Nachwort

 

Die Gedichte

aus Matthea Harveys drittem Gedichtband Modern Life gehören „zu den atemberaubendsten, die über das derzeitige politische Klima Amerikas geschrieben worden sind“, wie David Orr in der New York Times urteilte. Mit dem Band Du kennst das auch, der neben den Texten aus Modern Life auch eine Auswahl früherer Gedichte enthält, können deutsche Leser erstmals durch Harveys Prisma schauen – nicht nur auf Amerika, vielmehr auf die eigene Gegenwart und auf die Möglichkeiten von Gedichten, als hellsichtige Hybride diese Gegenwart politisch bewusst und poetisch innovativ zu durchleuchten. Du kennst das auch ist ein post-katastrophisches Kompendium, das Zentauren, Hybride, Roboter, Soldaten, Zivilisten in einem ebenso bezaubernden wie verwunschenen Reigen versammelt, als halbierte, zersplitterte, verlorene Subjekte, die den Leser mit den Entscheidungen des postmodernen Menschen und deren Folgen konfrontieren.

kookbooks, Klappentext, 2004

 

Alphabetisierter Terror

– In ihren Gedichten versucht Matthea Harvey, das Trauma des 11. September in Worte zu fassen. Sie sind ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit. –

Wie sieht die Zukunft des Terrors aus, und ist sie unser aller Ende? Jeden Morgen, schreibt Matthea Harvey, habe sie nach dem 11. September von „future of terror“ im Radio gehört. Sie nennt diese Formulierung einen „amorphen Schirm der Furcht“, der sie immer in lähmender Angst hinterließ. So entstand das existentielle Bedürfnis, die vage Phrase in etwas Greifbares zu verwandeln.
In einem poetologischen Essay schildert die in Brooklyn lebende Lyrikerin, wie sie die Definitionen von „future“ und „terror“ im Wörterbuch nachschlug und daraufhin eine Liste aller Wörter anlegte, die zwischen den beiden Begriffen auf Höhe von „future“ stehen. Erst die Orientierung an lexikalischen Wortlisten ermöglichte Harvey, Worte zu finden für das Unfassbare. Und erst durch eine Formvorgabe entstanden Verse: Die Initialen F und T markieren die alphabetische Grenze, innerhalb deren elf Gedichte unter dem Titel „The Future Of Terror“ verfasst sind. Es sind freie Formen von Abecedarien, Gedichten, in denen alle Anfangsbuchstaben dem Alphabet folgen. Sie kombinieren die alphabetische Vorgabe mit der Freiheit beliebiger Wortwahl und verbinden die Nähe zum Gebet mit dem Hang zum Wortwitz.
Dem entspricht die inhaltliche Verbindung von Spiel und Bedrohung. Zwischen „Future“ und „Terror“ liegt der verminte Raum des Widerspruchs. Harvey entwirft ihn als apokalyptisches Zukunftsszenario, in dem Soldaten und Zivilisten nach Halt suchen:

Wir hatten die hässlichen Nachrichten satt.
Es half, wenn wir die Hörgeräte runterdrehten.
Wir alle konnten bereits ideale Imitationen
des Idioten liefern, wie seine Zähne auf einem Steak
insistierten, als er sagte Invasion hat was Intimes.
So viel stimmte ja. Wenn wir die Jause
jäh überhatten, konnten wir im Kräutergarten
immer noch mit den Gefangenen spielen.
Ein Kessel Buntes, Blinde Kuh und Kopf-
schlagen waren unsere Hits.

Mit großer Leichtigkeit spielt Harvey Gefährdung gegen Albernheit aus, tauscht Trauer und Heiterkeit:

Der Leutnant meinte, die Ungeliebten
seien die besseren Lagerwachen, meist aber lasen sie
nur Magazine, die sie in ihren Mänteln horteten,
und kamen zurück mit nutzlosen Berichten über
die Mikrowelten der Meisen.

Doch zwischen der sprunghaften Sprache bleibt der tiefe Graben der Traumatisierung spürbar. Das lyrische Wir ist lediglich heimisch geworden in der Gefahr:

Nachts
in schusssicheren Schlafwagen träumten wir,
dass spitze Stäbe Wunden schlugen, sowie von
anderen Arten, den Deckel vom Terrarium zu hebeln.

Die poetische Erwiderung auf „The Future Of Terror“ bildet ein zweiter Zyklus, „Terror Of The Future“, in dem Harvey dem Alphabet von hinten nach vorne folgt. Die „Decebarien“, wie sie die inverse Form des Abecedars selbst tauft, stemmen der in die Ödnis gedachten Zukunft in weiteren elf Gedichten eine vergebliche Zwischenmenschlichkeit entgegen. Das Wir weicht einem lyrischen Ich, das in Dialog tritt:

Als du auftauchtest,
wusste ich, dass ich gegen die Zeit spielte,
bis dich die Sanitäter forttragen würden.

Eine ergreifende Liebesfähigkeit führt zu so poetischen Bildern wie „Schwalben waren Untertitel für die / Wolken“ und muss in stiller Drastik enden:

Zu Omas Zeiten
wäre jetzt der Moment für den letzten Tanz gekommen.
Stattdessen fütterte ich dich mit Narkotika,
kürzte deine Nägel.

Die beiden Zyklen „The Future Of Terror“ und „Terror Of The Future“ erschienen 2007 in Harveys drittem Gedichtband Modern Life und liegen nun in der deutschen Übersetzung von Uljana Wolf unter dem Titel Du kennst das auch vor. In der Unsicherheit um „Nine Eleven“ als ästhetische Tabuzone hat sich die Lyrik vor allem mit patriotischem Pathos oder Etüden hervorgetan, die sich im Ringen um Worte selbst in Frage stellen. Dagegen sind Harveys Gedichte ein poetisches Wagnis wider die Unsagbarkeit. Es sind hochpolitische Gedichte entstanden, in denen „Gott“ neben „Geronimo“ und „Ölvorrat“ vor „Stacheldraht“ steht. Harvey ist eine hellsichtige Autorin, die einen entwaffnenden Blick auf Amerika wirft:

Ich sah ein Handtuch am Nagel hängen
und stahl es ohne einen Hauch von Ironie.
Hier ist meine Hypothese: Wir waren irreversibel
im Arsch.

Nadja Wünsche, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.11.2011

Matthea Harvey | Du kennst das auch

Matthea Harvey – muß man die kennen? Ja. Sollte man zumindest. Unermüdlich produktiv, als Redakteurin und Herausgeberin diverser Magazine, Dozentin am illustren Sarah Lawrence College und vorbildlich versiert im Umgang mit allen Erscheinungsformen des modernen Kulturlebens (ein Besuch auf ihrer vorbildlich polierten Internetseite läßt die meisten vergleichbaren heimischen Erzeugnisse doppelt popelig aussehen) und natürlich als Verfasserin von nunmehr drei Gedichtbänden und einem Kinderbuch.
Die in der amerikanischen Kulturlandschaft längst etablierten Gedichte Harveys sind nun dem deutschen Publikum zugänglicher gemacht durch das Erscheinen von Du kennst das auch, einer Auswahl von Gedichten aus den Bänden Sad Little Breathing Machine (2004) und Modern Life (2007). Herausgekommen ist ein Harvey-Lesebuch im besten Sinne des Wortes. Freilich ist die Gattung der Auswahl-Publikationen nicht ohne Gegner; manch einen Musikliebhaber mag es schaudern bei der Ansicht von Best Of-Kompilationen, mancher Bücherfreund mag bei Sammel- und Auswahlbänden unwillkürlich an die nur vermeintlich repräsentablen Reader’s Digest-Bände denken und den Flurschaden, den solcher Umgang mit Literatur hinterlassen hat.
Das vorliegende Lesebuch hat allerdings den Vorteil, auch solche Leser gewinnen zu können, die sonst um Lyrikbände einen Bogen machen. Graphisch als Lyrik markierte Texte sind in der Unterzahl; sie erscheinen in zweizeilige Strophen gegliedert, deren Struktur beim Lesen aber fast sofort und automatisch ignoriert wird. Enjambements sind flächendeckend verwendet und beschleunigen die Lektüre der ohnehin kurzen Gedichte solcherart, daß der Eindruck seltsam gesetzter Prosa zurückbleibt. Überwiegend besteht der Band aus kurzen Texten (so kurz, daß sie auf jeweils eine Seite passen), deren Erscheinungsform in Blocksatz und unter Verwendung aller herkömmlichen Zeichensetzung eher den Eindruck kurzer Prosa-Erzählungen hinterlassen. Werden sie laut gelesen, belohnen sie diesen Aufwand jedoch mit geschliffen schillernder phonetischer Schönheit und Eleganz.
Nicht fehlen darf das zehnseitige Versepos „The Future Of Terror“, das in Versverlauf und der Verwendung von Stabreimen an Vorgänger wie das Nibelungenlied gemahnt, ein Vergleich, der durchaus auch auf der semantischen Ebene dieses Textes fortgesetzt werden könnte. Die Erwähnung des Reizwortes Terror im Titel reicht schon aus, um das Gedicht (laut Rezension der New York Times) zu einem Kommentar über das „derzeitige politische Klima Amerikas“ zu machen. Solche Bedeutungszuschreibungen sind sicherlich nicht falsch, den Texten Harveys können sie jedoch nicht gerecht werden. Allzu arbiträr erscheint diese Deutung, wenn auch der Feminismus, die Ökologie, die Kapitalismuskritik oder jede andere Stütze der Postmoderne die Texte für sich beanspruchen könnte. Tatsächlich sind Harveys Texte keiner herkömmlichen Version eines semantischen Gehalts solcherart verpflichtet, als daß sie sich einer eindeutigen Lesart zu unterwerfen oder auch nur anzudienen hätten. Viel besser kann man sie als Musterbeispiele zeitgenössischer und hochmoderner Lyrik betrachten: Unzusammenhängende Beobachtungen mit einem Auge fürs Detail, das keinen Wiedererkennungseffekt durch Iteration generieren will, sondern sich in der (bisweilen prätentiösen) Lust am asyndetischen Alltag verliert, ist die hervorragendste Eigenschaft von Harveys Texten; Kempowski hätte daran seine helle Freude gehabt, wenn er auch die graphisch markierten Gedichte als „Knickprosa“ abgetan hätte. Weitere erwähnenswerte (moderne) Merkmale sind syntaktische Brüche und Inkongruenzen, vielversprechende Titel, effektive Aufmacher und Textanfänge, exzentrisches Register an gewollt originellen Neologismen mit einer Reichweite von spritzig bis getragen. Der Kritiker mag den Texten getrost die Nähe zur New York School of Poets und dem Pulitzerpreisträger Ashbery attestieren, wenn er dabei nicht vergißt, daß vor solchem Hintergrund die Bezeichnung des Inhalts von Modern Life als „politische Gedichte“ bestenfalls beliebig, schlimmstenfalls absurd wirkt.
Lesevergnügen und Freude an gelungene Sätzen ist in jedem Fall garantiert – vorausgesetzt natürlich, der Leser ist nicht nur des zeitgenössischen Englisch mächtig, sondern ist auch einigermaßen versiert im Erkennen gegenwärtiger Popkultureller Anspielungen und Referenzen.
Kann sich ein Leser, dessen Englischkenntnisse eher mäßig sind, nicht an die deutschen Übersetzungen der Texte auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten halten? Freilich, doch vermutlich wird sein Urteil über die Qualität der Originale danach deutlich schlechter ausfallen. Die Übersetzungen von Wolf sind weder wortgetreu, noch gelingt es ihnen, akustische Feinheiten der Originale einzufangen, noch liefern sie adäquate Übertragungen beschriebener alltäglicher Phänomene, die Nicht-Amerikanern kaum geläufig sein dürften. Die Übersetzung ignoriert graphische Verseinheiten und salzt die Texte mit Füllwörtern, die sich im Original nicht finden, was der Satzmelodie jedoch mitnichten Ähnlichkeit mit der des Originals verleiht.
Wolf, deren neuester Gedichtband sich versiert und effektiv mit dem Topos der (Un)übersetzbarkeit auseinandersetzt, kann zugute gehalten werden, daß eine verlustlose Übertragung von Gedichten aus einer Sprache in eine andere stets ein Ding der Unmöglichkeit ist; bei Betrachtung ihrer Übersetzung drängt sich förmlich die Lesart auf, sie solle als eine performative Darstellung des Topos von der Unübersetzbarkeit des Kunstwerks verstanden werden. Befriedigend ist eine solche Lesart allerdings nicht. Zumal dann nicht, wenn die Übersetzung sich Freiheiten herausnimmt, die einer möglichst korrekten Übertragung schlicht im Wege stehen: Etwa der in „word park“ beschriebene launige Streit zwischen coat und wearing darüber, wer im Satz ein Verb sein darf; in der Übersetzung streiten sich darum „Kragen“ und „Tragen“. Nicht nur, daß das Original keinen Reim aufweist, also auch in der Übersetzung keiner etwas zu suchen hätte, der beschriebene Streit ist gerade deshalb plausibel, weil er im Original zwischen zwei Wörtern ausgetragen wird, die tatsächlich beide als Verb verwendbar sind. „Kragen“ ist bekanntlich kein Verb, was den Streit albern macht.
Die Absicht, ein deutschsprachiges Publikum mit Harveys Gedichten vertrauter zu machen und diesen Gedichten eine größere Verbreitung zu ermöglichen, ist sicherlich lobenswert, wenn nicht längst überfällig. Die Qualität der Übersetzung läßt jedoch so sehr zu wünschen übrig, daß die Entscheidung, die Originaltexte ebenfalls abzudrucken, den Kaufanreiz für das vorliegende Lesebuch ausmachen sollte. Dann sollte man jedoch gleich über eine Anschaffung der beiden Quellenwerke in der amerikanischen Originalversion nachdenken.

Daniel Randau, Literarisches Zentrum Gießen

Wenn das Alphabet sich schräg legt

Du kennst das auch heißt der soeben erschienene Gedichtband der hierzulande noch weithin unbekannten Dichterin Matthea Harvey. In den USA hat die 1973 geborene Harvey bereits drei Gedichtbände veröffentlicht, einer von ihnen stand sogar auf der Auswahlliste zum renommierten National Book Critics Circle Award. Nun hat die mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete deutsche Dichterin Uljana Wolf – die mit dem amerikanischen Lyriker Christian Hawkey verheiratet ist und sich gerade als Stipendiatin in der kalifornischen Villa Aurora aufhält – einen umfangreichen Auswahlband mit Lyrik Matthea Harveys veröffentlicht. Tobias Lehmkuhl stellt ihn vor. –

Dass die Dichterin Matthea Harvey auch ein Händchen für Kinderbücher hat – eines ist unter dem Titel Der kleine General und die riesenhafte Schneeflocke bereits auf Deutsch erschienen – merkt man ebenfalls dem lyrischen Auswahlband Du kennst das auch an. Ein Zyklus von Prosagedichten widmet sich in ihm dem Schicksal Robo-Boys, eines kleinen Jungen oder kleinen Roboters oder auch einer Mischung aus beidem: In „Hau-den-Maulwurf-Realismus“ spielt Robo-Boy ein archaisches Computerspiel, in „Minotaurus-Labyrinth“ wundert er sich darüber, wer sich die Mühe gemacht hat, Lebenslinien in seine Robo-Handflächen zu gravieren und in „Einsamer Magnet“ schließlich entwickelt er magnetische Fähigkeiten:

Er hebt den Kopf und sieht eine Wand aus Blechblasinstrumenten auf sich stürzen – doch zum Glück hat er DenkschnellTM und ReflexTM, die ihn schon vor zahllosen Spielplatzblamagen bewahrten. Mit gewaltigem Scheppern schlägt die glänzende Blechwand gegen die Tür, die sich hinter ihm schließt, und gleitet zu Boden wie der Schatz eines verrückten Musikantenkönigs. Robo-Boy flitzt nach Hause. Stoppschilder neigen sich ihm zu, Ringe in der Juwelierauslage pressen ihre glitzernden Nasen ans Glas, Armreifen grinsen. Zwar bemerkt ihn der Quiltzirkel nicht, aber die Nadeln bemerken ihn, recken sich ihm entgegen wie Pflanzen der Sonne. Eine Nadel sticht im Verlangen, das neue Zentrum ihres Universums zu finden, Frau Eisenstein in den Finger. Lies den Blutstropfen, der aufs Blumenmuster fällt, als das offizielle Zeichen für den Beginn von Robo-Boys Pubertät.

Herrlich schräge Geschichten sind das, für Kinder ebenso geeignet wie für Erwachsene mit Hang zum Absurden, für Menschen die DADA-geschult sind und Daniil Charms oder Günter Eichs Maulwurf-Geschichten zu schätzen wissen. Andere Gedichte des Bandes sind zwar ebenso spielerisch, dabei allerdings weniger zugänglich. So arbeitet Matthea Harvey in dem Zyklus „Die Zukunft des Terrors“ etwa mit alphabetischen Progressionen. Dabei erhalten im Laufe eines Gedichts bestimmte Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge den Vorzug. Das führt zu allerlei kuriosen Alliteration – „die Gusche des Gauls beim Gesundheitscheck“ etwa – im Ganzen aber wirkt dieser Zyklus allzu beliebig und assoziativ. Zwar fordert Harvey in einem programmatischen Aufsatz zum Thema „Abecedarium“, der sich auf ihrer Internetseite nachlesen lässt, es bräuchte einfach ein wenig mehr Zeit als bei üblichen Gedichten, bis sich erschließt, wovon diese alphabetisierenden Gedichte handeln und was sie ausdrücken wollen. Doch fehlt den Versen leider etwas, dass zu einer längeren Beschäftigung überhaupt erst einlädt und anreizt.
Wer Lyrik gleichwohl als Geduldsspiel schätzt, wird mit „Die Zukunft des Terrors“ möglicherweise glücklich. Das gilt auch für viele andere Gedichte des Bandes. Zwar finden sich immer wieder originelle Motiverknüpfungen, Anspielungen und schöne Bilder wie etwa das der Sonne, die im Rückspiegel glänzt wie, Zitat, ein „Pfirsichkern aus Licht“, und auch die Verwandtschaft von Silberfisch und Zeppelin offenbart sich hier erstmals. In der Regel aber geht es dem Leser von Du kennst das auch wie Matthea Harvey mit Benzinringen in Pfützen: „Schön, aber unlösbar“. Daran ändert leider auch die so einfallsreiche wie unglaublich gelenke Übersetzung Uljana Wolfs nichts.

Tobias Lehmkuhl, Deutschlandfunk, 4.5.2011

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: TERROR OF THE FUTURE
fixpoetry.com, 25.4.2012

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin + DAS&D + KLGPIA
Porträtgalerie: Galerie Foto GezettDirk Skiba Autorenporträts +
Autorenarchiv Isolde OhlbaumAutorenarchiv Susanne Schleyer
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Matthea Harvey @ Big Apple BAP: NYC’s Best American Poetry Poets.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00