Matthias Unger (Hrsg.): Die Kartoffelernte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Matthias Unger (Hrsg.): Die Kartoffelernte

Unger/Goltzsche-Kartoffelernte

***
So war’s:
Das Leben gab uns
auf die Fresse, und auf die Nase noch dazu
Und wir spien unsern Lebenslauf
wie blutig eingeschlagene
Zähne aus.

Giorgi Lobzhanidze
Übersetzt von Norbert Hummelt

 

 

 

Zur Anthologie Georgischer Lyrik der Gegenwart

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts fand ein intensiver Austausch zwischen Georgien und Westeuropa statt, und auch die georgische Literatur öffnete sich in den ersten Dekaden den europäischen und russischen Avantgarde-Bewegungen. So bildete sich 1915 im Haus der Georgischen Künstlergesellschaft in Tiflis die 13-köpfige Gruppe Tsisperi Kantsebi, Blaue Hörner, deren Inspirator der durch die deutsche Kultur geprägte Autor Grigol Robakidse war. Die Schriftsteller der Gruppe zielten auf eine Verbindung von georgischer Tradition und kultureller Moderne. Autoren wie Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, jedoch auch der Dadaismus eines Kurt Schwitters oder Hugo Balls, die mit ihren Unsinns-Gedichten auf den Kriegswahnsinn des I. Weltkriegs reagierten, faszinierten sie und beeinflussten ihr Schaffen.
Die Besetzung Georgiens durch die Rote Armee 1921 wirkte sich verhängnisvoll auf das kulturelle Leben aus. Die bolschewistische Eroberung des Landes suchte mit allen Mitteln die ästhetische Modernisierung der georgischen Literatur zu unterdrücken, das stalinistische Terrorregime vernichtete fast die Hälfte der Avantgarde-Künstler der Blauen Hörner. Dennoch wirkte der Einfluss der Künstlergruppe, die sich dezidiert den ästhetischen Innovationen der westlichen Kultur geöffnet hatte, bis in die Literatur der Moderne nach. Der Zusammenbruch der UdSSR, der Georgien wieder zu einem selbständigen Staat machte, ermöglichte eine neue freie kulturelle Entwicklung, schuf jedoch zunächst auch neue Schwierigkeiten. Es folgten Jahre des wirtschaftlichen Niedergangs, der sich massiv auf die georgische Literaturszene auswirkte. Es gab keine finanziellen Mittel für die Buchkultur, kaum noch Verlage, Buchhandlungen, und erst sehr langsam bildeten sich erneut Förderinitiativen. Dass Georgien zum Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 ernannt wurde, wirkt sich seinerseits positiv auf die literarische Produktion aus.
Die Literatur der postsowjetischen Ära knüpft kaum noch an Lyriker der sowjetischen Zeit an, deren innovative Kreationen gegen jedes Parteidiktat allen Realismen abschworen, eine Dichtkunst im Sinne geistiger Autonomie anstrebten. Das Konzept der Blauen Hörner hat seinen Einfluss verloren. Die georgische Lyrik der Gegenwart in ihrem Misstrauen gegen die heroische Geste, gegen Pathos und elitäre Artistik zeigt sich skeptisch gegenüber allen Erscheinungsweisen einer poésie pure, gegenüber kühner Metaphorik oder Formen hermetischen Entwerfens. Stattdessen gehen die Autoren von ihrem eigenen Erfahrungshorizont aus, verkleinern den Abstand zwischen biographischem und lyrischem Ich.

Schon 2015 erschien in der Corvinus Presse Berlin die georgische Lyrik-Anthologie Aus der Ferne – Neue Georgische Lyrik, die sechs Lyriker bzw. Lyrikerinnen der deutschen Leserschaft in einer bibliophilen Ausgabe nahebrachte. Die neue Anthologie Die Kartoffelernte. Neue Georgische Lyrik II, translinear ins Deutsche übertragen von Nana Tchigladze und nachgedichtet von Norbert Hummelt und Sabine Schiffner, setzt diesen Prozess fort, sie enthält jeweils vier Gedichte von vier Lyrikern und drei Lyrikerinnen und u.a. auch das lange Gedicht „Die Kartoffelernte“ von dem Nestor der georgischen Lyrik, BESIK KHARANAULI (geb. 1939), der zahlreiche Preise erhielt und 2010 von Georgien für den Nobelpreis für Literatur nominiert wurde. Sein Gedicht gab der vorliegenden Edition den Namen, symptomatisch der Titel, der auf ein Ereignis aus dem bäuerlichen Alltag verweist. Und in der Tat erinnert sich das lyrische Ich an die Worte der Mutter „Morgen müssen wir die Kartoffeln ausmachen!“, bei denen sich der fünfzehnjährige Sohn demonstrativ zur Wand drehte. Das Gedicht evoziert das bäuerliche Leben mit Kühen, Kartoffeltausch gegen Pfirsich und Zwiebel und das vertraute Miteinander beim Kartoffelernten. Die Kartoffelernte gestaltet sich als Leitmotiv eines Lebens, das in seinen vielen Aspekten in diesem Prosagedicht veranschaulicht wird. „Poèmes en Prose“ nannte Baudelaire eine Textsorte, die anders als die Fleurs du Mal auf alle lyrischen Formelemente verzichtet und kleine Prosastücke arrangiert. Kharanauli behält zwar die Zeilenbrechung bei, gliedert seinen Text in verschieden lange Sequenzen – der Begriff Strophe trifft nicht –, doch er erzählt letztlich Geschichten von und beim Ernten. Alltagssprache bestimmt den Ton, und eine Metapher wie „Ackergold“ ist ein seltenes Edelwort, das im Prosafluss aufblinkt. Und das ist symptomatisch für das moderne georgische Gedicht.

TEMUR CHKHETIANI (geb. 1955) thematisiert in seinem Gedicht „Juli“ die Nachtträume des Ich, das stets auf der Suche, stets unterwegs ist und schweißgebadet aus seinem Albtraum erwacht. Die Hitze wird ihm zur Plage; und die Träume vom Regen lassen das Ich sich an die beschwerliche Beschaffung des Wassers erinnern, von ferne hertransportiert, „in großen Milchkannen festgezurrt auf einem Karren“. Die georgische Wirklichkeit dringt in das Gedicht ein, so die gelegentlichen Stromsperren gerade zur Fernsehzeit, wenn sich die Straßen leeren. Auch Temur Chkhetiani verzichtet auf feste lyrische Strukturen wie Strophenform, Reim, Metrum oder rhythmische Tonfolgen, er wählt die Nähe zur Prosa-Kurzform, um sich ungefiltert durch artistische Formzwänge der Wirklichkeit zu nähern. In dem Gedicht „Manhattan im Hof“ fordert das Ich sein Gegenüber auf, die Gedichte des jüdischen amerikanischen Autors Hans Promwell (1986) zu lesen, die Lektüre wird seinen Horizont und die Enge der gegebenen Wirklichkeit durchbrechen. Auch das Gedicht „Der Stuhl“ – hier spricht der anthropomorphisierte Gebrauchsgegenstand von seinen diversen ,Besetzern‘ – endet mit der Pointe:

Und habe auch
nur einen Freund auf Erden –
ein Buch, das auf mir liegt, mit dem Gesicht nach unten.

Es ist also lesbar. Deutlich wird die enorme Bedeutung der Literatur für den Lyriker, die sein Leben weitet, bereichert und dem Ich neue Welten beschert.

RUSUDAN KAISHAURI (geb. 1957) hebt sich von den beiden vorher genannten Autoren insofern ab, als sie auch das gereimte Gedicht pflegt. In ihrem Gedicht mit dem eigenwilligen Titel „Frau Konfitüre“ wählt sie die gebundene lyrische Form, deren 16 Zeilen sich durchaus in vier Strophen teilen ließen, einen am Jambus orientierten Rhythmus aufweisen und bis auf die zweite Strophe (a b b a) mit alternierendem Reim auftreten. Ihre Gedichte lassen sich als Empfindungspoesie bezeichnen, die sich jedoch von der klassischen Erlebnislyrik insofern entschieden abheben, als sich ihre Erlebniswirklichkeit keineswegs in einer lyrischen Stimmung, in einem Zusammenstimmen von Ich und Welt ausdrückt. Glückserwartung und Resignation prägen den Ton. Schon die erste Zeile „Ich weiß, ich lebe nicht, ich bleib bloß in der Spur“ intoniert das desperate Selbstverständnis des Ichs, nur zu funktionieren, statt sein Selbst in seinen Möglichkeiten zu entfalten: In dem Bild der Konfitüre als Selbstcharakteristik stellt sich das Ich als konformes, d.i. jedem angenehmes Wesen dar, als selbst angerührten, süßen Eintopf, der unfähig zur klaren bitteren Revolte ist. Nur die Poesie – so deuten die Schlusszeilen an – bietet einen Gegenraum zum niederdrückenden Alltag; das ist ein Aspekt, der im heutigen georgischen Gedicht vielfach begegnet.

LELA TSUTSKIRIDZE (geb. 1964) favorisiert eine Poesie der Alltäglichkeit, kultiviert das Prosagedicht, das auf die tradierten Versformen, Reim, Strophe, lyrische Genres wie Sonett oder Ode verzichtet, und, wie ihre Vorgänger, surreale Bildlichkeit und kühne Metaphorik ausschließt. Dennoch erzeugt ein Gedicht wie „Ferienhaus“ durchaus Irritation ob der alogischen Kombination der Sätze, obwohl die Sätze selbst für sich keinerlei kühne Metaphorik oder hermetische Bildlichkeit aufweisen. Schrank, Kleid, Wald, Wiese, Duft, Pfad entwerfen ein kryptisches Beziehungsgeflecht, das eine neue Form der Hermetik schafft. Das Gedicht „Die Wohnung meines Vaters“ dagegen, ein Erzählgedicht, evoziert den Angsttraum des lyrischen Ichs, das den Tod des Vaters erlebt, da er Tochter und Enkelkind nicht in der von ihm gefertigten Wohnung antrifft. In den sorgsam aufgelisteten Details der väterlichen Mühen um die Wohnung, in der lebhaften Vorstellung von seinem Kommen mit Wassermelone und Holzkrücke spiegelt sich die fürsorgliche Liebe des Vaters zugleich mit der innigen Wertschätzung der Tochter. Das Prosagedicht mit seiner schnörkellosen anschaulichen Sprache verleiht der engen Verbundenheit der Tochter mit dem Vater Ausdruck, und gleichzeitig deutet es die beängstigenden Fallstricke familiärer Bindungen an. Auch in dem Gedicht „Ich muss in den Krieg ziehen“, das auf die russische Besetzung Abchasiens verweist, spielt die Familie in Form eines Hemdes, das vom Urgroßvater bis in die Jetztzeit der Anverwandten reicht und das der Feind zerschnitten hat, eine bedeutende Rolle. Das Zerschneiden des Familienerbstücks, in dem sich das Zerschneiden des Landes symbolisiert, wird zum politischen Emblem, das das Ich zum Widerstand bewegt. Die politische Dimension spricht sich nicht plakativ in agitatorischer Rhetorik aus, sondern in den melancholischen Erinnerungen des Subjekts. Agitprop ist der georgischen Poesie der Gegenwart fern.

Auch NATO INGOROKVA (geb. 1969) fügt sich in den Kreis derer, die das Prosagedicht fortführen. Ihre Gedichte lassen sich unter das Genre Liebeslyrik subsumieren, jedoch eine Liebeslyrik, die nicht den glücklichen Moment festhält, sondern das Risiko erotischer Beziehungen thematisiert. Das Gedicht „Niemand“, das das mögliche Ende einer Liebe beschwört, endet mit den Zeilen:

dir dämmert,
dass
es nicht so leicht ist, den zu lieben,
der sich einst in dich verliebt hat.

Offenkundig der logische Widerhaken der Zeilen, die die Schwierigkeit der gelebten Liebe vermerken. Auch das Gedicht „Die Empfängerin“ formuliert die Ambivalenz des Liebens, darin der deutschsprachigen Tendenz der modernen Liebeslyrik ähnlich, die reich an Gedichten ist, die das Scheitern, die Vergänglichkeit oder die Schwierigkeit des Liebens formuliert. In dem Gedicht „Der Brief“, einem in freien Versen entworfenen Gedicht, das auch als Brief verfasst ist, öffnet sich das Ich dem Du, das „nah“ ist, und zugleich „so fern“, deshalb „ist es nicht einfach, dir zu schreiben“. In rhythmisch melodiösen Zeilen, die dem Gefühlsfluss folgen, den ,Atem‘ der Empfindung aufzeichnen, wagt das Ich das Risiko, seine Sehnsucht, sein ungeduldiges Drängen nach Nähe zum Du preiszugeben. Obwohl sie längst ein Paar sind, sie seit vielen Nächten beieinander schlafen, bleibt die paradoxe Furcht des Ich, nur neben einem Wunschbild des Du zu liegen. Die Schlusszeilen: „Ich schreibe dir / und gebe preis, wie ich mich fürchte, / dass ich sterben könnte, / bevor du mir beweist, dass es die Liebe gibt“ besiegeln das Liebesbekenntnis als gefährliche Offenbarung.

GIORGI LOBZHANIDZE (geb. 1974) verbindet die Liebesthematik in dem Gedicht „Der Logos“ mit metapoetischer Reflexion, er spielt auf den Beginn des Johannes-Evangeliums an: “Gesalbter, schau hin, / ich bin doch das Wort. / Genauer gesagt, ich bin/ der fleischgewordene Logos“, er spricht der Poesie einen metaphysischen Ursprung zu, attestiert ihr gleichzeitig eine existentielle Sinnlichkeit, wenn er sie mit dem Mädchen vom Dorf vergleicht, das mit Erschrecken seine Geschlechtlichkeit, seine tiefe sinnliche Erregung spürt –, „dem wird die Höhle zum ersten Mal feucht“ –, und er verweist auf den Widerspruch von Logos und sinnlichem Begehren. Das Poem „Altmodisches Gedicht“, dessen Titel wohl auf die Form, fünf Vierzeiler mit alternierendem Reim (a b a b) anspielt, kommt mit idyllischen Attributen einher, „Schneeglöckchen“, „Schneeflockenrosen“, schlummernder Katze und einem lyrischen Ich, das von leidenschaftlichen Gefühlen durchdrungen ist. Ein Gedicht in Reimen, die die schwelende Emotion, die das Ich schüttelt, in Form bannen. Ein Vergleich – die Katze schnurrte wie die vorübergehende Liebe – schafft den Blickwinkel ins Innere des Ich, evoziert gleichsam im Nebenbei den Schmerz über den Liebesverlust. Die Außenwelt, Schnee, der zu Matsch wird, der Feigenbaum, der nicht knospen will, entspricht der düster resignierten Innenwelt. In der verzweifelten Frage, wie „dem Schoß der Lüge“ zu entrinnen sei, klingt Misogynie an, doch das Bild des wütend am Tor Schlagenden wirft ein kritisches Bild auf den aggressiven Liebhaber. In dem Gedicht „Von der anderen Nachbarin“ dagegen zeigt der Autor das Lebensschicksal einer alten Dame, das sie mit vielen Frauen teilt, die „fünf Kinder großzog“ und sich nach ihrer Kindheit zurücksehnt, ihrer glücklichen Zeit, die ihr langes Leben als aufopferungsvolle Mutter fast zugeschüttet hat. Poetische Neuschöpfungen geben dem Erinnern gegenüber dem tristen Jetzt poetischen Glanz. Lobzhanidze verweist hier indirekt auf den Rollendualismus der Geschlechter, der vor allem die Frau um vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten brachte.

NIKA JORJANELI (geb. 1978) beginnt und schließt sein Gedicht „Mexican standoff“ mit den Zeilen:

Acht junge Männer, die Waffen aufeinander gerichtet
standen wie erstarrt an einer Kreuzung bei Nacht

Der Tod der acht Männer bleibt unerklärlich, die Umstände undurchsichtig, der Staat in Gestalt des Staatsanwalts sprachlos und tatenlos trotz großer Worte. Nicht der Tod der Männer wird angeprangert, er bleibt mysteriös, sondern der Umgang der Macht mit der Öffentlichkeit.

Die georgische Lyrik der Gegenwart, wie sie sich in der Anthologie Die Kartoffelernte darstellt, wendet sich der Alltagswirklichkeit zu mit ihren Widrigkeiten, Überraschungen, freundlichen Momenten. Das lyrische Ich spricht sich vornehmlich als biographisches Ich aus, das den Unterschied zum artistischen autonomen Subjekt reduziert, von seiner Erfahrungswirklichkeit ausgeht. Sofern es politische Aspekte thematisiert, erscheinen sie als Erfahrungsmomente der subjektiven Wirklichkeit. Neben der Familie spielt auch das klassische lyrische Thema der Liebe in der gegenwärtigen georgischen Lyrik eine wichtige Rolle, jedoch – wie auch in der deutschsprachigen Lyrik – nicht in einem ungebrochenen Verständnis als Seelenharmonie zweier Menschen, sondern als schwieriger Akt, der Risiken birgt. Obwohl das heutige Gedicht der offenen Form des Prosagedichts zuneigt, verschließt es sich nicht gebundenen Versformen und erweist sich so als flexibles vieldimensionales Genre.

Hiltrud Gnüg, Vorwort

 

Liebe Anja,

– Ich habe mich an den Beschreibungen der Birken erfreut, mir schwarze Drosseln, Pfirsichblüten, Apfelbäume und so manche andere Dinge vor Augen geführt und bin mit Zviad Ratiani beim Rasieren gestanden. Ich habe Kartoffeln geerntet und mir andere neue georgische Lyrik angesehen. Ich musste einsehen, „dass man Gedichte vor der Liebe schreibt / und sie erst lesen wird, wenn sie vorbei ist“. Kapitulation vor der georgischen Lyrik. –

dies ist der Brief eines Scheiterns. Du hattest mir vier Bände mit Gedichten aus Georgien geschickt und mich aus Anlass der Buchmesse um eine Tagtigall gebeten. Ich habe die Bücher wieder und wieder zu lesen begonnen. Ich habe mich an den Beschreibungen der Birken erfreut, mir schwarze Drosseln, Pfirsichblüten, Apfelbäume und so manche andere Dinge vor Augen geführt und bin mit Zviad Ratiani beim Rasieren gestanden. Bei Adolf Endler habe ich Einblicke in die ältere georgische Poesie erhalten und bei Chekurishvili habe ich gelesen, dass Gedichte Burgen, Tempel und Gemächer sind. Zwischendurch habe ich immer wieder über das Gelesene nachgedacht, in mich hineingehört, und – wie bei jedem Lesen von Lyrik – versucht, einzelne Bilder, Klänge, Rhythmen sich entfalten zu lassen. Gedichte sind ja immer auch Räume, die man betreten muss.
Und doch: ich kapituliere vor solch einer Übersichtsaufgabe. Dabei habe ich mich über viele Zeilen, die mir begegneten, gefreut, etwa: „Schaut den Tag an, wie er wackelt“, oder: „Großmutter stierte das Erblühen der Rosen / wie einen geilen Pornostreifen an.“ Man lacht. Und dann? So ging es oft. Lauter Fenster, keine Türen, wenn man so will. Dabei weiß man: Lyrik spielt in Georgien traditionell eine sehr wichtige Rolle. Es heißt, sie sei die Grundsprache Georgiens und werde bis heute weitaus intensiver gelesen als in Deutschland. Nicht zuletzt weil die Überlieferung der georgischen Geschichte in Versepen geschrieben sei. Und es stimmt. Die erwähnten Gedichte über Pfirsichblüten und schwarze Drosseln sind klassische Naturgedichte. Und wenn auf Lyrikline georgische Dichter lesen (zum Beispiel hier), hört man sofort, dass da eine enorme Kraft dahintersteckt. Nur: ich vermag kein Porträt davon zu schreiben.
Ich habe einmal eine
Dada-Zeitung aus Tbilissi gesehen, sie stammte aus den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, glaube ich. Diese Moderne muss es auch in den Gedichten geben. Doch ich erkenne sie nicht. Das muss an meiner Unkenntnis liegen. Es fängt schon damit an, dass die Buchstaben für das in „lateinischer Ausgangsschrift“ geschulte Auge auch bei mehrmaligem Betrachten von geheimnisvoller Schönheit bleiben, eine akkurate Perlenschrift, die mir nicht einmal einen kleinen Finger zum Verständnis entgegenstreckt. Aber das heißt ja eigentlich nichts.
Auch die Lehnworte aus dem Deutschen, die es ja wahrscheinlich gibt (wie in allen Sprachen), erkenne ich beim Lesen nicht. Wikipedia erklärt mir, dass der Name der Schrift, Mchedruli, Ritterschrift bedeutet und vor Jahrhunderten deshalb so rund geformt wurde, damit sie den Rittern leichter von der Hand gehe. Das passt ins Bild, das man von Georgien hat, genauer ins Vor-Bild: Georgien gilt als Land der Gesänge, Feste und Tänze, der freundlichen Menschen in einer überwältigenden Natur. Parallel assoziiert man Kriege, Bürgerkriege und Scharmützel verschiedenster Art. Abchasien, Aserbeidschan, Armenien, die Türkei – das alles, so stelle ich mir vor, wird sich in der Sprache wiederfinden.
Bei Literaturen aus Ländern, von denen man nicht viel weiß, braucht es immer Persönlichkeiten, die sich auskennen, sich irgendwann aus welchem Grunde auch immer angesprochen fühlen und sich dann mit ihrem eigenen Enthusiasmus aufmachen, das Fremde zu uns herüberzutragen. Manchmal sind es politische Gründe, warum das Augenmerk sich auf ein Land richtet, manchmal gibt es andere „Törchen“ in die fremden Fiktionen, eine Liebe oder eine Verszeile vielleicht…
Zu den hiesigen Türöffnern in die lyrische Szene Georgiens gehörten einst, Ende der 1970er Jahre,   Autoren wie Adolf Endler oder Rainer Kirsch. Später Clemens Eich. Heute ist es unter anderem der Dichter Norbert Hummelt, der sich engagiert. Unermüdlich wirbt er, dichtet nach und ediert. Grundlage für sein Tun sind offensichtlich gute Interlinearübersetzungen.
Ich bewundere solche Kunst. Die Gedichtbände, die er veröffentlicht hat, beeindrucken auch der vielfältigen Stimmen wegen. Zum Beispiel Shota Iatashvili, der in anderen Publikationen auch mal Schota Iataschwili geschrieben wird. Er hat ein Gedicht „Die Generation“ verfasst, eine äußerst konkrete Angelegenheit und eine äußerst universelle Erfahrung: Wenn man heranwächst, ist man fraglos sein Alter, doch wenn man älter wird, entdeckt man dass man GENERATION ist

Da siehst du ganz lebendige Menschen
Durch irgendwelche Straßen laufen
Paris in den Zwanzigern
London in den Sechzigern
Oder auch Moskau oder Leningrad, wenn’ sein muss
Und dann begreifst du’s,
Wie grauenerregend dieses Wort ist:
Generation.
Was für ein lausiger
Tifliser du bist
Du – ganz neunziger Jahre,
Wie du rumläufst
Jemand hat dich irgendwo gefilmt
Oder doch nicht.
Aber du bist trotzdem nur ein Film
Du bist das Unwort Generation
Und machst den Abgang…

Das Gedicht geht noch weiter; irgendwann macht eine nächste Generation den Abgang, und wieder eine nächste… Und doch gilt, wie es in der letzten Zeile heißt:

ohne das Wort wärst du gar nicht hier.

Viele der Gedichte, die ich bisher gelesen habe, zeichnen sich durch einen gewissen melancholischen Grundton aus. Ein radikales Bekenntnis zum Subjektiven durchzieht die Zeilen. Die meisten sind im freien Vers geschrieben, einige sind Anrufungen, Evokationen – ein Ich wendet sich an ein Du, manchmal ist das Du auch das eigene Ich. Was bedeutet solch adressiertes Sprechen? Kann oder soll man daraus Rückschlüsse ziehen auf eine starke lyrische Tradition? Auf eine unsichere georgische Existenzweise? Welche Wurzeln hat das Bedürfnis nach Zwiegespräch und welche die Melancholie? Einmal erzählt ein Dichter, Besik Kharanauli – als wolle er die poetische Grundstimmung erklären –, er habe als Kind oft seine Großmutter besucht und jedes Mal erfahren, wie diese von traurigen Geschichten nachgerade lebendig wurde. Daraus habe er geschlossen:

Einen Menschen traurig zu machen, ist wichtig, um ihn wach zu machen. Das Herz muss sterben, um wieder aufwachen zu können.

Hat man erst einmal angefangen sich umzuschauen, entdeckt man, wie viele Publikationen georgischer Lyrik es gibt – meist in kleinen Verlagen. Wie gerne würde man tiefer in das Werk Einzelner eindringen. Aber wie? Zum Beispiel Zviad Ratiani, der zu den „experimentellen“ gerechnet wird. Er war gerade in Berlin bei einem deutsch georgischen Schriftstellertreffen (Berlinisi), und auf der Homepage gibt es ein Foto von ihm, einem Gemälde in altmeisterlichem Stile nachgebildet: Ein Mann sitzt am Küchentisch, Beine breit; vor ihm nichts als eine Orange. Kurz gesagt: Die Verklärung des einfachen Lebens im Land, wo die Orangen blühen. Doch wozu die Stilisierung?
Zviad Ratiani ist Autor und Übersetzer, er überträgt aus dem Englischen und aus dem Deutschen, u.a. Auden, Pound, Celan und Rilke, aber sicher noch viele Dichter mehr. Ich hatte gelesen, dass die Wiener Schriftstellerin Nino Idoidze, auch sie georgischer Herkunft, sich im Dezember 2017 für ihn eingesetzt hatte – aus Protest gegen seine damalige kurzzeitige Inhaftierung. Aber welches wäre der Grund, oder richtiger: welche Grundlosigkeit gibt es in seinem Werk, dass man davon ausgehen muss, dass die Polizei ihn aus politischen Gründen festsetzte? Hat er sich kritisch geäußert? Werden Schriftsteller in Georgien derzeit hinter Gitter gebracht?
„Vorsätze für Dichterkollegen für 2018“ überschrieb Ratiani sein folgendes Gedicht:

Ex voto
Schreib, was dir keiner glauben wird.
Schreib, als wäre nichts dabei, schreib
über Geister, deren Existenz
du selbst bezweifelst, und doch.
Schreib, was keiner dir verzeihen wird.
Nicht unten hin, nein mitten auf das Blatt
Schreib, dass du selbst dir Heimat bist
und rein dein Herz.
Schreib, wofür man dich auslachen wird.
Warte nicht auf Beifall, schreibe ungehemmt
über die tägliche, gemeine Niedertracht
und über Gott, der dich nicht erhört.
Was noch? Schreib über Liebe, ja darüber auch
Und sag, du kennst nun ihr Geheimnis:
Dass man Gedichte vor der Liebe schreibt
und sie erst lesen wird, wenn sie vorbei ist.

Von der politischen Wirklichkeit ist nicht so oft die Rede in der Lyrik, die ich las. Oder ich erkenne die Hinweise nicht. Auch in dem Ex-Voto-Gedicht, das Hummelt nach einer Interlinearversion von T. Khachapuridze nachgedichtet hat, weiß ich nicht, auf was genau „Schreib, was dir keiner glauben wird“ in Georgen anspielen könnte. Im Netz findet sich ein englisches Gedicht von ihm:

If I were entrusted with this city,
not even the whole city but just this street,
I would start with that shop window
requesting the owner to remove those glossy mannequins
I have never gotten used to after so many years:
whenever I pass by, I think that they are living.
What are they doing wrong? Nothing.
How could they do anything worse?

Dazu heißt es: translated from the Georgian by the author and Tim Kercher.
Du siehst, Anja, es gibt so einiges zu entdecken. Und das verdanken wir Übersetzern wie Tim Kercher, Sibylla Heintze oder Norbert Hummelt. Aber: ein Gedicht ist bekanntlich aus Sprache gemacht, und zu dieser eigenen Dimension des Gedichts, dem Umgang mit dem Material der Sprache, dringe ich, zumal bei solchen Überblicks-Versuchen, nicht vor. Insofern habe ich nach einer Weile kapituliert und sende Dir statt einer Tagtigall meinen Kapitulationsbericht. Ich könnte Dir noch Verse von anderen Dichtern zitieren, jungen, die wir alle auf der Buchmesse im Oktober hoffentlich sehen und hören werden, etwa Lela Samniashvili. Doch in welcher Sprache werden wir sie danach befragen, was sie in ihrer Dichtung mit der Sprache anstellt? Erzählen könnte ich auch, und damit will ich schließen, von dem jungen Paata Shamugia, geboren 1983, dem ersten georgischen Dichter, der den SABA-Literaturpreis des Landes bereits zwei Mal erhielt. Im Netz bei Lyrikline fand ich folgendes Gedicht, das mir wie ein Schlusswort für diesen Brief erscheint:

La-sang
We must understand
that poetry
is just a relocation of the objects
and nothing more is required of it
and when we want more,
it becomes more,
but – less, than a poetry.

Translated by Saba Lekveishvili

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 12.9.2018

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Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

Interview mit Norbert Hummelt am 22.5.2008

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Galerie Foto Gezett +
Dirk Skibas Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Norbert Hummelt

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