Peter Engel: Zu Albert Ehrensteins Gedicht „Du mußt zur Ruh“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Albert Ehrensteins Gedicht „Du mußt zur Ruh“ aus Albert Ehrenstein: Wie bin ich vorgespannt den Kohlenwagen meiner Trauer

 

 

 

 

 

ALBERT EHRENSTEIN

Du mußt zur Ruh

Wird dir sogar die Liebe zu fad,
Alpen, Wälder und das blaue Meer:
Willst du nur Ruh –
Deckt dich der alte Himmel
Mit der großen Tuchent zu
Und du bist stad.

 

Grabschrift mit Heimatwörtern

Am Ende eines trostlosen Briefes vom 10. November 1947 teilt Albert Ehrenstein, der einmal ein Wortführer des literarischen Expressionismus gewesen war und nun bettelarm und krank im New Yorker Exil lebte, einer alten Freundin im zerstörten Nachkriegsdeutschland mit:

Da ich Dir leider keine deutschsprachigen Bücher schicken kann, schreib ich ein, zwei, drei hier entstandene Gedichte auf die nächste Schmalseite.

Er muß da schon vergessen oder verdrängt haben, daß er die etwas zittrig notierten sechs Zeilen von „Du mußt zur Ruh“ mehr als 14 Jahre zuvor in der ersten Phase seiner Schweizer Emigrationsjahre verfaßt und sogar in einer Zeitung seiner Heimatstadt Wien veröffentlicht hatte, wo er in kärglichem jüdischen Milieu am 23. Dezember 1886 geboren worden war.
Diese fast dürftig erscheinenden Zeilen stellen die komprimierteste Form jener grabschriftartigen Gedichte dar, von denen sich mehrere im lyrischen Werk Ehrensteins finden. Das Motiv des antizipierten eigenen Todes ist zentral in seinem Schaffen und begegnet schon im Erstlingsband Die weiße Zeit von 1914 – der Autor ist da ganze achtundzwanzig Jahre alt. Das darin enthaltene Gedicht „Leid“ mit den einprägsamen Eingangszeilen „Wie bin ich vorgespannt / den Kohlenwagen meiner Trauer!“ endet mit der Traumvision, wie aus dem eigenen Totenschädel Gras schießt und der Kopf „aus schwarzer Erde“ ist.
Nachdem der Autor am 8. April 1950 in einem New Yorker Armenspital vom Dahindämmern seiner letzten Tage erlöst worden war, sagte Kurt Pinthus, der Mentor der Expressionisten, bei der Trauerfeier, Ehrenstein habe die „leidvollsten Verse deutscher Dichtung“ geschrieben. Er dürfte dabei vor allem an jene todessüchtigen Gedichte gedacht haben, die wie selbstverfaßte Epitaphien anmuten und von denen „Du mußt zur Ruh“ das letzte gültige Beispiel ist. Nichts mehr von Pathetik und polemischer Überspitzung, die bei ihm immer eine gewisse Gefahr waren, nichts mehr vom stark entwickelten Selbstmitleid, das manche seiner Zeilen schwer erträglich macht. Auch die Melancholie, die Ehrenstein in der schwärzesten Einfärbung im Wappen führte, ist in dem späten Text einer Schicksalsergebenheit ohne Klageton gewichen.
Das stückweise Sterben mitten im Leben, das Gefühl, eigentlich schon längst tot zu sein, hat den Dichter von früh auf verstört, hat auch die Texte des streitbaren Pazifisten und Aktivisten, des später von seinen sozialistischen Überzeugungen Enttäuschten immer grundiert. „Ich starb vor vielen Jahren schon, / Meine Leiche lebt noch, schwer und leer“, heißt es in einem Gedicht von 1919. Die Zweifel am eigenen Lebendigsein, das tiefwurzelnde Mißtrauen der eigenen Existenz gegenüber verschärften sich noch, als der Autor, der schon 1932 von Berlin in die Schweiz gegangen war, nach der „Machtergreifung“ der Nazis seine literarischen Auftraggeber in Deutschland und seinen Freundeskreis verlor.
Da saß er nun in Brissago am Lago Maggiore in dem Häuschen eines Mäzens, um sich eine der schönsten Ferienlandschaften, aber fast mittellos und vereinsamt. Da mochte ihm der Gedanke an Liebe, die sein misanthropisches Gemüt so selten aufgehellt hatte, schon fad vorkommen. Stärker als je mochte er da an die Ruhe denken, die unter dem alten Himmel einer längst verlorenen Wiener Kindheit in all den kleinbürgerlichen Schrecknissen schließlich das abendliche Zudecken mit der großen Tuchent, wie man in Österreich die Bettdecke nennt, bedeutet hatte.
Da tuschte er all diese Dinge mit breitem Pinsel hin, wie er es bei seinen Übersetzungen der alten Chinesen gelernt hatte, die Alpenberge, die Wälder und das blaue Meer, darüber den Kindheitshimmel wie eine große weiße Bettdecke, alles ganz einfach und wie selbstverständlich. Und da stand dann im fernen Exil plötzlich das heimatliche Wiener Idiom wieder zur Verfügung, das lebenslang empfundene Gefühl der Fadheit, die große Tuchent und das Wort „stad“, worauf die schon ruhig gewordenen Zeilen wie auf ein Ziel zulaufen. Es war nur eine erschriebene Ruhe, denn noch war er nicht stad, nicht so ruhiggestellt, wie es auf dieser umtriebigen Erde nur möglich ist – in die ganz große Ruhe wurde er erst 17 Jahre später heimgeholt.

Peter Engelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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