Peter Geist: Zu Bert Papenfuß’ Gedicht „Nachricht 19hundert Unferbindlich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bert Papenfuß’ Gedicht „Nachricht 19hundert Unferbindlich“ aus dem Lyrikband Bert Papenfuß: dreizehntanz. –

 

 

 

 

BERT PAPENFUSS

Nachricht 19hundert Unferbindlich

Wher Mher Sein Will Ist Weniger
aaSagt Der Fiel Getragen Der Maks
aaaaWher Mher Wiegen Will Isst Weniger
aaaaaaIn Dieser Ferkehrten Wellt Sagt Till
Doch Ich Hab Dir Andere Dinge Zu Sagen
aaDies Alles War Zwischensatz Sagt Maks
aaaaDoch Ich Hab Dir Andere Dinge Zu Sagen
aaaaaaDies Alles War Zwischensatz Sagt Till:
Der Eine Hat Fiel Getragen
aaEin 2ter Hat Fiel Weit Getragen
aaaaEin 3ter Ist Ferdammt Gestorben
aaaaaaEin 4ter Hat Mit Fielem Was Angefangen
Ein 5ter Hat es Weitergefuehrt Entfuehrt
aaEinen 6ten Hat Es Ganz Alle Gemacht
aaaaEin 7ter Hatte Nur Pech Damit
aaaaaaEin 8ter Hat Sich An Einen 9ten Gewandt
Dann Haben Beide Auf Die Kakke Gehaun
aaDas Hat Wohl Weit Gespritzt Aber
aaaaEs ist Nichts Dabei Herausgekommen
aaaaaaDann Ist Ein 10ter Zu Ihnen Gestossen
Es Wurde Geredet Gebettelt Gebombikt
aaDann Hamse Erstmal Alle Ferknastet
aaaaEiner Floh Zwei Wurden Erschossen
aaaaaa& Der Floh Hat Sich An Alle Gewandt
Die Haben ES Eingesehen Siehst Du
aa& Einen Teil Dafon Durchgesetzt So
aaaaDann Wurde ES Praechtig Gefeiert &
aaaaaaDann Kam Die Zeit Nach Der Umwaelzung:
Wher Mher Sein Will Ist Mehr
aaDas Ist Jetzt Die Folksmeinung
aaaaWher Mher Wiegen will Isst Mehr
aaaaaaIn Dieser Ferkehrten Wellt Sagt Till

 

Bert Papenfuß-Gorek: Nachricht 19hundert Unferbindlich

Bereits in der Erstbegegnung mit „Nachricht 19hundert Unferbindlich“ fällt die Besonderheit der Sprachbehandlung ins Auge: Hatte man sich seit Stefan George allmählich an die Kleinschreibung in vielen modernen Gedichten gewöhnt, begegnet bei Bert Papenfuß-Gorek (geb. 1956) die durchgängige Großschreibung aller Wörter. Sie zieht mindest drei Konsequenzen für den Lesevorgang nach sich:
Erstens einen visuellen Effekt: Durch Großschreibung, Verstreppenbildung und die strophische Gliederung (acht Strophen zu je vier Verszeilen, wobei zwischen den Strophen keine Leerzeile gelassen wird) eröffnet sich eine streng strukturierte, ebenmäßige und geschlossene Zeichenlandschaft, in der sich durch die Parallelismen in der ersten und achten Strophe Beginn und Ende ineinanderschließen.
Zweitens einen semantischen Einebnungseffekt: Klein- beziehungsweise Großschreibung eliminieren die herausgehobene Stellung von Substantiven und Eigennamen im Deutschen. Die auch in der modernen Lyrik ungewöhnliche Großschreibung verstärkt diese beabsichtigte Egalisierung, die ja mit der anarchistischen Aussage des Textes korrespondiert.
Drittens einen Verlangsamungseffekt: Die ungewohnte Schreibung bedingt durch Übersetzungsoperationen im Kopf des Lesers ein langsameres Lesen. Dadurch kommt dem einzelnen Wort im Verhältnis zum Satzverstehen größeres Gewicht zu; es wird gleichsam mit Bedeutung aufgeladen. Karl Mickel bemerkt zu dieser Verdichtungskunst:

[…] jedes Wort, das er verändert schreibt, (ist) eigentlich ein verkürzter Satz, das Gedicht […] gewissermaßen ein Stenogramm. (Karl Mickel: Gelehrtenrepublik. Leipzig 1990)

Schauen wir uns die erste Verszeile genauer an: „Wher Mher Sein Will Ist Weniger“ – eine Neugier weckende Eröffnungssentenz, die allerdings gleich über die ersten zwei Worte stolpern läßt: Warum „Wher“ statt  ,Wer‘, „Mher“ statt ,Mehr‘? Der Decodierungsschlüssel liegt beim zweiten Wort; die ,Falschschreibung‘ des ersten hat eine Hinweisfunktion darauf zu erfüllen. Aus „Mher“ nämlich läßt sich durch Einfügen von ,ijn‘ Mijnher (nl. Herr) extrapolieren, wie sich zugleich in „Wher“ und „Mher“ die um das zweite ,r‘ reduzierte Kümmerform von ,Herr‘ verdoppelt. Den doppelbödigen Eingangssatz über die feinen Unterschiede zwischen Haben und Sein „Sagt Der Fiel Getragen Der Maks“. Ein sprechender Name, man denke an die Redensart, nach der sich jemand zum Max gemacht habe. Papenfuß legt in umfänglicher Anmerkung eine weitere Bedeutungsschicht frei, die überraschende Perspektiven der Textbetrachtung eröffnet:

Der Fiel Getragen Hat – Multatuli, Pseudonym für Eduard Douwes-Decker (1820-1887). Niederländischer Sozialcriticus. über seine Dienstzeit als Colonialbeamter auf Java schrieb er den autobiographischen Roman Max Havelaar. Verbittert ob der von ihm angestrebten, jedoch ausbleibenden Verbesserungen der dortigen Lebensumstände wurde er Schriftsteller und als solcher nicht müde, die Beziehungen insbesondere der Autoren zur Gesellschaft zu relativieren. Seinem notorischen Drang, ,Gutes zu tun‘, verdanken wir Veränderungswut, radikales Gedankengut, mehrere Bände ,Ideen‘.
,Wer mehr sein will, ist weniger. Doch ich habe dir andere Dinge zu sagen. Dies alles war Zwischensatz.‘ – Aus einem Brief Multatulis an Mej. M. Hamminck Schepel vom 10.9.1862.

Auffällig an diesem erläuternden Kommentar ist das Wechselspiel von feingesponnener Ironie (wenn etwa vom „notorischen Drang, ,Gutes zu tun‘“, die Rede ist) und zeitübergreifendem Bekenntnis („verdanken wir“) zu „Veränderungswut“ und „radikale(m) Gedankengut“.
Syntaktisch parallel – wodurch die semantischen Abweichungen (Sein – Wiegen, Ist – Isst) markiert werden – entgegnet „Till“ den uneinleuchtenden Satz „Wher Mher Wiegen Will Isst Weniger“. Doch dürfen wir solcherart verdrehte Rede wohl von einem Till (Eulenspiegel) erwarten, der dieser „Ferkehrten Wellt“ (die Überschreibung von ,Welt‘ zu „Wellt“ birgt das Auf und Ab geschichtlicher Bewegungen oder auch das von Einzelschicksalen ins Wort) plebejisch gewitzt den Spiegel vorhält. Till ist eine im Papenfußschen Work of progress immer wieder irrlichternd auftauchende Redefigur. Alter ego des Dichters und Spottverseschmied par excellence. Zurückgeworfen auf das irritierende Verb „Wiegen“, lassen sich andere als die im Verszeilenkonzext erwarteten Bedeutungen anrufen: Wiegen als Ableitung von ,Wiege‘, dem Pflegeort neugeborener Ideen, die erst einmal behütet werden müssen, ehe sie der/in die „Wellt“ ausgesetzt werden können.
Nicht nur, daß das Multatuli-Briefzitat (1,1) in die Tillsche Entgegnung gespiegelt wird (1,3), die ganze erste Strophe scheint in der achten, der Schlußstrophe, noch einmal auf – allerdings mit einigen bemerkenswerten Veränderungen: So kehrt sich die Aussage der Zeilen 1,1 und 1,3 in 8,1 und 8,3 ins Gegenteil, weil „Weniger“ durch „Mehr“ ersetzt wird, und 1,2 „Sagt Der Fiel Getragen Der Maks“ wird in 8,2 substituiert durch „Das Ist Jetzt Die Folksmeinung“. Strophen 1 und 8 rahmen das Gedicht, das sich als streng gebaut erweist: acht Strophen zu je vier Verszeilen, die in der Art Hölderlinscher Nachbildung griechischer Verse treppenförmig angeordnet sind. Strophen 1 und 8 bilden den Rahmen, Strophe 2 bereitet den ,eigentlichen‘ Bericht in den Binnenstrophen 3–7 vor, welcher durch die Doppelpunkte am Ende der zweiten und am Ende der siebenten Strophe überdies deutlich abgehoben wird.
Auch die beiden Teile der darauffolgenden Strophe sind nahezu identisch; die Till-Figur wiederholt diesmal wortwörtlich die Worte des Maks. Dies bestärkt den Eindruck intensiver Aufeinanderbezogenheit der Figuren, was auch im literaturgeschichtlichen Kontext stimmig erscheint: Till Ulenspiegel ist die Hauptfigur im gleichnamigen Roman des Landsmannes und Zeitgenossen Multatulis, Charles de Coster (1827 bis 1879). Die Verdoppelung verleiht beider Rede einen pathetischen Gestus. Zwiefach angekündigt und balladesk durch Rahmenstrophen eingeschlossen, erhält die mitgeteilte ,Nachricht‘ den Charakter einer Legende. Die Mär von den untergründigen Avantgardisten gibt Papenfuß in knapper Diktion und in den Strophen 3/4 streng anaphorisch („„Der Eine Hat Fiel“ / „Ein 2ter Hat Fiel“ / „Ein 3ter Ist Ferdammt“ / „Ein 4ter Hat Mit Fielem“ usw. – man beachte auch die Verbindungsfunktion der fielen, Ferzeihung, vielen F-Alliterationen) an den Leser, so daß sie an Kinderlieder wie Ziehe durch die goldne Brücke oder Zehn kleine Negerlein erinnert. Von Vergeblichkeit, Elend, Niederlage wird berichtet, ehe sich die einzelnen zusammentun und beschließen, gemeinsam zu handeln, ehe ihre Aktionen (6,1: „Es Wurde Geredet Gebettelt Gebombikt“) an Gestalt gewinnen wie die Reaktionen der Macht (6,2: „Dann Hamse Erstmal Alle Ferknastet“) an Gewalt, ehe im qualitativen Umschlag die revolutionäre Idee die Massen ergreift (7,4; 8,1: „& Der Floh Hat Sich An Alle Gewandt / Die Haben ES, Eingesehen Siehst Du“). Klingt das nicht arg nach vorschulfreundlicher ,Aufbereitung‘ Leninscher Revolutionstheorie? Klänge es, strotzte der Text nicht von Blasphemien, die ihn recht eigentlich erst interessant machen.
Ist es etwa nicht witzig, wie Papenfuß Erzählteile ins Umgangssprachliche transformiert? „Auf Die Kakke Gehaun“ haben da welche, „Das Hat Wohl Weit Gespritzt Aber / Es Ist Nichts Dabei Herausgekommen“. Übertragene und wortwörtliche Bedeutung werden gegeneinander ausgespielt, was einen unzweifelhaft komischen Effekt zeitigt. Im berlinernden „Dan Hamse Erstmal Alle Ferknastet“ wird das Legendenhafte in die mündliche Diktion einer Abenteuerstory ,entweiht‘, ohne es billig zu denunzieren. Originell auch die semantischen Irrläufer: Ist das Insekt oder der Geflohene gemeint: „Der Floh Hat Sich An Alle Gewandt“, und terroristisches Bombenlegen bekommt im lautmalerischen „Gebombikt“ eine dezent verharmlosende Note.
Während die Aktivitäten und Geschehnisse geradezu plastisch in Partizipialkonstruktionen aufgeführt werden, verbleibt ,die Sache‘ im Unbestimmten abstrakter Sächlichkeit. Von einem ,es‘ ist immerfort die Rede: In Strophe 4, 1. Zeile (einzige Ausnahme im Gedicht) wird ,es‘ auch in dem Anfangsbuchstaben klein geschrieben, in 4,2 ist dann der Anfangsbuchstabe („Einen 6ten Hat Es Ganz Alle Gemacht“) groß geschrieben und ab Strophe 7 beide: „ES“ – etwa so wie in der Bibel JAHWE oder HERR konsequent durch Großschreibung mythologisch skribiert werden. Durch diese Veränderungen in der Schreibung des Zweibuchstabenwortes verweist der Autor raffiniert auf die zunehmende Entfremdung der Revolutionsidee von ihrem ursprünglichen Inhalt im Laufe ihrer Gewaltwerdung – ohne große Worte zu verlieren.
Wenn schon ,es‘ im Ungefähren belassen wird, so muß 1977 die bereits in der Überschrift nachdrücklich betonte Unverbindlichkeit des Zeitbezuges – „Nachricht 19hundert Unferbindlich“ – als Provokation aufgefaßt werden. Das offizielle Geschichtsverständnis in der DDR ging von einer „in letzter Instanz“ (Engels) aufsteigenden Bewegung des Geschichtsprozesses aus, dessen vorläufig höchste Entwicklungsstufe mit der siegreichen Oktoberrevolution 1917 erreicht worden sei. Nun nimmt Papenfuß in gleicher Wertigkeit Bezug auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die Oktoberrevolution (vgl. 6,4: „& Der Floh Hat Sich An Alle Gewandt“ – das „An Alle“ ist als Überschrift der ersten Dekrete der russischen Revolutionsregierung November 1917 geläufig), auf die Gegenwart 1977 und – siehe Überschrift – auf eine unbestimmte, vorausgelagerte Geschichtszeit. Seine Geschichtsvorstellung ist also durch eine zyklenhafte Permanenz (wie sie z.B. in philosophisch interessanten Anarchismus-Theorien von Bakunin über Landauer bis Durruti vorwaltet) grundiert. Was bedeutete: Das Gedicht müßte als Parabel gelesen werden können.
Als Parabel worauf? Schauen wir uns noch einmal den Schlußteil des Textes an: Wenn schon die Umsturzvorbereitungen knapp dargestellt werden, verdient die Erwähnung der teilweise erfolgreichen „Umwaelzung“ das Steigerungsattribut knappest. In dem „Praechtig“ (die normabweichende Schreibung legt das eingeschlossene Wort ,Pracht‘ frei) schwingt eine gehörige Portion Ironie, denn: „& / Dann Kam Die Zeit Nach Der Umwaelzung:“ Die Eingangsstrophe wird in der Schlußstrophe wiederholt, nur die Wertungen sind entgegengesetzt, und nicht die Meinung des „Maks“, sondern die „Folksmeinung“ wird nun ausgewiesen. Ach ja, und Till stellt seinen verdreht-rätselhaften – und deshalb reizvollen – Eingangssatz ins Langweilig-Resignierte ,richtig‘. Ein trauriger Schluß, oder nicht? Das Gedicht könnte als Parabel gelesen werden über sich wiederholenden Aufruhr, der, wenn erfolgreich, zur Wiederverfestigung von Verhältnissen führt, die zu bekämpfen die ,vorkämpfer‘ einst angetreten waren: weiterhin „Ferkehrte Wellt“ unter partiell neuen Vorzeichen. Der Platz des Dichters Papenfuß ist darum am ehesten bei den Tills zu suchen.

Peter Geist, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992

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