SCHUMMER———————————–
es ersteht, wenn die zeit hoch ist
im hort des untergangs, & die weile lang
ein sagenhaft’ geschelcht erqueckend
auf, aus verwobener zwiesprache, & ab-
lebt’s biegsam in gefühlen & ungebeugt
im s o w i e s o, nicht jedoch im joch
hat’s keine träume, frisst kein fleisch
schwelgt noch überschäumend im schwange
frauen, die rausrennen in’s moos, wenn
die liebe sie überkommt lauern liebste
scheppern masken, entkleiden sich selbste
wo man nur innehält, tempelprostitution
gruppenehen, betrügereien& verzeihen
mutter gottes, & hinter all dem steckt
keine frau, wenn’s waser uns überkommt
können wir noch blasen werfen; am ende
eines langen traumes tritt die tod ein
& zählt mit ihrem messer ganz genau aus
was in erinnerung eingeht & was abgeht
wann werd alt genug ich sein einzusehn
wohin wir kamen woher wir gehen & mit wem
bis dann mach ich mir ein paar bösen aus zeit […]
Die Arbeiten von Bert Papenfuß-Gorek sind zu Recht nicht nach ihrer Gattung bezeichnet, wie es gemeinhin üblich ist: herkömmliche Klassifizierungen nach Gedicht, Vers, Metapher wollen nicht passen, wenn manche seiner Texte auch danach gelesen werden können. Andererseits haben sie auch kaum etwas mit den Versuchsanordnungen zu tun, die uns als „konkrete Poesie“ seit den 50er Jahren bekannt sind, wenn auch bestimmte Impulse – „Die Unversöhnlichkeit zwischen einer experimentellen Kunst und einer Gesellschaft, die im ganzen konformistisch sein muß“ (franz mon) – unter ganz anderen Bedingungen wieder zum freien Umgang mit der Sprache drängen. Es wäre an der Zeit, dem einmal nachzugehen, was die Autoren der Wiener Schule oder des Bielefelder Colloquiums in ihren Bestrebungen zu einer „Neuen Poesie“ von denen unterscheidet, die zu Beginn der 80er Jahre vor allem vom Terrain der DDR aus ihre Sprachempfindungen und Sprachfindungen artikulierten (Roland Innerhofer hat in seinem Buch über Die Grazer Autorenversammlung – zur Organisation einer ,Avantgarde‘ ziemlich deutlich auf gesellschaftspolitische und kulturelle Ursachen aufmerksam gemacht, die damals im restaurativen Nachkriegsösterreich „junge Autoren“ dazu trieben, sich von der vorausgehenden Generation nicht nur weltanschaulich und organisatorisch, sondern auch und vor allem ästhetisch loszusagen und abzugrenzen. In der DDR erfolgte dieser Generationsbruch aus verschiedenen Gründen später).
Papenfuß’ Texte haben von Beginn an ihre eigene Intention, er vor allem, „erzähl das keinem so naif“, fällt in der Auswahl Neue Lyrik – Neue Namen von 1978 aus dem Rahmen; verschiebt den Vorgang des Dargestellten durch eigenwillige Sprache und orthographisch-lexikalische ,Abweichungen‘ und Brechungen, die mehr über den eigentlichen Hergang einer Sache sagen, als über ihre von außen erkennbaren Realien. Sprache, die hinter die Dinge sieht, und zugleich – er hat das im Gespräch betont – existentielle notdurft ist: selbst durch zu schauen, durch zu brechen und zu sprechen „gegen ferfestigungen / ferfestigter Zungen“. Sprache, die sich vor allem an gesprochener Rede bereichert (an Umgangssprache, Redensart, ständig sich wandelndem Berlin-Jargon und Slang der Rock- und Punkszene), Sprache auf entschiedener Traditionssuche (zwischen Rotwelsch und dem Barock eines Quirinus Kuhlman) – Kunstsprache also aus vielen disparaten Substanzen, die er sich im Prozeß des Sprechens und Schreibens selbst schafft, mit der er umgeht, spielt, Emotionen, Assoziationen, Reaktionen folgend, wie er sie aus seiner gesamten Umgebung aufnimmt, mit ihnen arbeitet – sie als Medium seiner physischen, psychischen und sozialen Existenz betrachtet. Gedichtfolgen über das ulen, über das gehen, über einsprung und ablaß entsprechen solchen Abläufen und entwerfen zugleich ihre eigene Poetik.
Während wir es gewohnt sind, uns mit schwierigen Metaphern moderner Lyrik zu befassen (man denke nur an die aufschlußreichen Deutungen zu Celan oder Bobrowski), fällt es uns schwer, diese ganz anderen Denk- und Darstellungsweisen nichtmetaphorischen Sprechens und Dichtens aufzunehmen und in ihrer Eigenart wirklich anzuerkennen. Dabei haben sie seit Schwitters und Chlebnikow, seit Arp und Krutschonych längst ihre eigene Schule und Klassik. Und es ist kein Wunder, daß sich Papenfuß, sobald er sich seiner Praxis bewußt wurde, auch auf sie orientierte. Man darf nicht übersehen, daß die sprachschöpferische Bewegung der russischen Sa-um (mit Burljuk und Majakowski) parallel läuft mit den vorrevolutionären Strömungen künftiger Sowjets; Sa-um bedeutet etwa: über Sinn und Verstand hinaus. Und gemeint war natürlich die herrschende Konvention von Gesellschaft und Kunst.
Papenfuß schreibt seit nunmehr fünfzehn Jahren und die Textfolgen zeigen eine erstaunliche Konsequenz und Kontinuität, die sich liier in 13 Kapiteln ziemlich chronologisch gliedern, jeweils in einer vom Autor bestimmten Auswahl aus umfangreicheren Manuskripten. Frühe Texte erscheinen heute schon wie ein spontanes Aufbegehren, dem Naivität und jugendliches Ungestüm anhaften; literarische Symbole, wie die Gestalt Ulenspiegels werden angerufen, um sich mit Spaß und Witz aus dem Dschungel eingeübter Benennungen und Sprachfolien zu befreien: er spielt alle arten des sehens, übt bestellungsbestattungsbegattung, umschreibt Gefühlslagen und Daseinssituationen, um sich ihnen auszuliefern oder widerborstig – worte und kneifzangen – den herrschenden Verhältnissen zu konfrontieren: um mit dem folksmut zu sprechen: der ofen ist aus.
Papenfuß-Gorek überträgt die Bewegungsformen der modernen Medien in seine Texte, Schnitt, Überblendung, Montage nach Film und Video, Trick und Slapstick. Für bestimmte Zusammenhänge gibt er nur verkürzte Signale, Idole für Ideale; Karl Mickel sagt, er stenographiert. Chlebnikow hat solche Kunst eine „Poesie für Produzenten“ genannt, und fürwahr, wer sich an ihr nicht beteiligen will, kreativ und mit Lust, der kommt nur schwer an die Texte heran, dringt kaum in sie ein, die ja auf Mittun aus sind, „die verarmten Wellen der Sprache mit neuem Leben, mit ausgestorbenen oder noch nicht existierenden Wörtern zu besiedeln“ (Chlebnikow).
Gerhard Wolf, aus Gerhard Wolf: Sprachblätter Wortwechsel. Im Dialog mit Dichtern, Reclam Verlag, Leipzig 1992
− Zu Bert Papenfuß-Goreks Gedichtband dreizehntanz. −
Kein Wunder, daß der Lyriker Karl Mickel ihn schätzt und in Sinn und Form vor einigen Jahren sich zu ihm bekannte; kein Wunder auch, daß er einem in der DDR – neben Elke Erb und Jan Faktor – als einer der wenigen genannt wurde, die dort schrieben, was „experimentelle Literatur“ zu nennen sich eingebürgert hat. Bert Papenfuß-Gorek, Jahrgang 1956, in Berlin lebend, vertrat seit etwa 1973 in der DDR jene Literatur, die dort bis kurz vor der „Wende“ sprich: dem Zusammenbruch, öffentlich fast gar nicht vorkam, nicht vorkommen durfte, jenen Typus von Literatur, welche die klassische Moderne rezipiert und weitergegeben hat. Gegen deren Förderungen oder Verbreitung mußte natürlich eine Literaturpolitik sich wenden, die für viele Jahre ja schon ihre Schwierigkeiten mit der doch schon ‚ungefährlich‘ gewordenen klassischen Moderne hatte – es war schließlich erst in der Schlußphase der DDR möglich, einigermaßen hinreichende Publikationen von Texten Dadas und des Surrealismus auf den Markt zu bringen: Dem Verlag Reclam in Leipzig sei hier für seine Hartnäckigkeit einmal intensiv gedankt!
Bert Papenfuß-Goreks Gedichtband dreizehntanz erschien 1989 zugleich in der DDR wie auch in der BRD, und das markiert den Punkt, wo – nachträglich kann man es fast nur noch hochironisch finden und fast wehmütig registrieren – Lyrik öffentlich wurde, die jahrelang zum DDR-Underground gehörte und eigentlich genau darauf angelegt war (oder doch ein entscheidendes Ingrediens von Wirkung dazugewonnen hätte), innerhalb der DDR, bei fortbestehender und sich allmählich liberalisierender DDR öffentlich zu werden. Papenfuß-Goreks Lyrik entsprach und entspricht dem und ist in einem Atemzug zu nennen mit dem, was Reinhard Prießnitz und Franz Mon, Oskar Pastior, Paul Wühr oder Felix Philipp Ingold, Urs Allemann oder Thomas Kling (gerade zu letzterem besteht eine intensive poetische Verwandtschaft Papenfuß-Goreks!) geschrieben haben oder schreiben. Bert Papenfuß-Gorek hält sich zwar, was seine poetische Herkunft angeht, auch in den Anmerkungen zu seinem Band auf eine erheiternde Weise sorgfältig bedeckt, gibt bisweilen sogar geradezu irreführende Erläuterungen zu seinen Gedichten, aber aus der Faktur seiner Poeme geht eindeutig hervor, daß sie zu jenen Texten zu rechnen sind, die Helmut Heissenbüttel „antigrammatisch“ genannt hat, die also grundsätzlich und systematisch von der alten poetischen Lizenz Gebrach machen, Wörter, Satzteile, Bilder, Sprachklänge, auch Bedeutungsebenen von Wörtern anders miteinander zu verknüpfen und aufeinanderzubeziehen, als dies in der Regelgrammatik in der Alltagskommunikation vorgeschrieben oder in der klassischen Poesie erlaubt ist. Wortspiele der verschiedensten Art bis zum ganz ‚wurschtig‘ hingehauenen Kalauer, Verkettungen von Wörtern über Assonanzen, Neubildung von Wörtern durch Hybridisierung zweier bekannter Wörter, Veränderung der Orthographie zum Zweck der Erzeugung von Verblüffung bis Wut und veränderter Optik auf Sprache und überhaupt als Ohrfeige für Dogmatiker und Feinsinnige (Letztere gab es ja auch in der DDR auf spezifische Weise), Einbeziehung der Fläche der Buchseite in die Strukturierung des Gedichts durch andere als lineare Anordnung der Wörter, durchgehende Groß- oder Kleinschreibung – bei Papenfuß-Gorek wurde mit völliger Freiheit angewendet, was wir aus der Konkreten Poesie, der Neuen Poesie, der literarischen (Neo-)Avantgarde vor allem der westdeutschen und der österreichischen Literatur kennen, und, würde ich heute hinzusetzen, was sich bei Papenfuß-Gorek auch rückblickend nicht einfach unter „Wortkunst der Prenzlauer-Berg-Szene“ abheften läßt. dreizehntanz enthält Gedichte aus den Jahren 1973 bis 1988, und gleich eines der am frühesten entstandenen der abgedruckten Gedichte, das komische wustsein im unterwolz, ist auf der Höhe der experimentellen Poesie jener Jahre, sagen wir zum Beispiel: Reinhard Prießnitz’:
mit dem harlekönig vom uhlenkamp
im unterwust
sich unstet durchtasten
s irgendwie lebenshof zu nennen
triebelei und erdschleifen sein lassen
s todschön finden und
rauskrauchen
währ andre s laut rausschreien
von den kriegen
Es muß eine ingrimmige Dickköpfigkeit dazugehört haben – vornehmer gesagt: ein enormes Durchhaltevermögen −, gegen die offizielle Literaturpolitik der DDR und auch bei schwierigem Zugang zu den modernen Texten, an denen überhaupt fruchtbar sich Poetisches lernen ließ, an denen man in Radikales sich einüben konnte, solche Schreibweisen zu entwickeln und an ihnen festzuhalten, die der realsozialistischen Obrigkeit und Kulturbürokratie einen verwerflichen Anarchismus signalisieren mußten. Und so, wie diese Obrigkeit dachte, muß man sagen: Die roch ja doch zu Recht, daß hier etwas passierte, was ihr wesentlich widersprach, auch wenn es nicht offen widerständig formuliert und gar nicht recht greifbar war. Den Gedichten merkte und merkt man – schon durch den häufigen Ton von Zorn, böser Wurschtigkeit und halb unterdrückter, halb ’rausgelassener Aufsässigkeit – an, daß sie im Bewußtsein einer Sondersituation geschrieben sind, deren Ende gar nicht abzusehen ist bzw. eben damals nicht abzusehen war: der Vereinzelung dessen, der höchstens ab und zu mal ein Gedicht in einer Anthologie unterbringen oder es in Abschriften zirkulieren lassen konnte. Papenfuß-Gorek spricht im und aus dem „hinterhalt der anstößigen grazie, ,ddr-underground‘ genannt“, wie er selbst mißgelaunt spottet; denn natürlich stimmt das einerseits, während er doch andererseits darunter nicht verrechnet oder dergestalt abgestempelt werden möchte: „bezugslos scheiden“ will er sich von den Verhältnissen, was auch heißt, daß er anarchisch in dem Sinn sein will, daß er eben auch nicht einfach als „Oppositioneller“ rubriziert werden möchte. Aber aus diesem Dilemma kam er wohl zunächst kaum heraus, wobei man sagen muß, daß dieser Trotz, dieser Ingrimm, diese Wut der Gedichte ihnen durchaus zum Guten anschlugen; man merkt auf jeden Fall, daß es hier um etwas geht, und eben nicht nur um Literatur. Papenfuß-Gorek ließ sich den Nacken nicht beugen, und etwas von diesem Untersetzt-Unbeugsamen haben die Gedichte auch.
Wer mit der Literatur der erwähnten westdeutschen und österreichischen Autoren vertraut ist, wird im allgemeinen keine Schwierigkeiten haben, Gedichte von Papenfuß-Gorek zu lesen, beispielsweise dieses mit dem titel reißaus:
geschmähte angeflehte, flieht
eh’ sie euch entdek-ken, keck vollstrek-ken
& euch fosen zecken in die schmacht
bitt’ ich euch; nehmt eure flucht auf/euch
: seid gerissen & wie immer – ridikül
verbleibe ich zwar im engeren sinne
aber erweitertem einvernehmen
zwischendurch schrei’ ich euch
das neuro-mantische gedichtfragment
„reizend nahm sie reißaus“
& schmeiß’s euch hinter
Wenn aber viele seiner Texte dennoch schwierig zu lesen sind, dann, speziell für den Westler, wohl nicht so sehr wegen unerwarteter poetischer Verfahren, sondern weil eine Menge DDR-Realität, sprachlichredensartliche, bis in den Jargon des ‚Underground‘ reichende, in die Gedichte eingewandert ist, als Material, als Angespieltes, als Atmosphäre, vom Wortlaut der staatlichen Hymne der DDR (die man in den achtziger Jahren bekanntlich gar nicht mehr laut singen, sondern nur mitsummen durfte, weil Johannes R. Becher darin das heute sprichwörtliche „Deutschland, einig Vaterland“ noch beschworen hatte) bis zu Alltäglichkeiten des Milieus vom Prenzlauer Berg. Hier steckt übrigens eine genuin philologische Aufgabe für dermaleinst: eine bestimmte Art von Verstehbarkeit dieser Gedichte zu erhalten, indem diese Realia verzeichnet werden, die demnächst wohl keiner mehr erinnern kann oder will.
Wie für viele andere hat sich auch für Bert Papenfuß-Gorek die Ausgangssituation seiner Schriftstellerei jetzt entscheidend geändert, indem er nun nach dem Herbst 1989 vieles nicht mehr andeuten und für den Kundigen halbverstecken muß, vielmehr ‚alles‘ frei sagen kann, was er sagen möchte. Mit anderen Worten, der Druck, der zu erfindungsreichen Verbiegungen des Gesagten führte, um dennoch das Intendierte zu retten, das Element ‚Sklavensprache‘, das ja durchaus zu den in verschiedenster Weise prägenden Faktoren der Sprache dieser Gedichte gehört, ist weggefallen, und in der Zukunft werden wohl Erörterungen von der Art des Literaturstreites um Christa Wolf noch viel weniger interessant und fruchtbar sein: Spannend wird es viel eher sein wahrzunehmen, welche Sprache die Literatur der fünf neuen Länder – einschließlich der Papenfuß-Goreks – entwickeln wird, wenn sie die Sprache der DDR nun sozusagen in sich aufheben, aber ihr nicht mehr unmittelbar opponieren oder sie vermeiden muß. Jedenfalls ist der DDR-Barde – so nennt Papenfuß-Gorek sich übrigens auch selbst einmal, und bisweilen hat er auch im Ton etwas an den anderen Barden, den Großstadt-Barden Peter Rühmkorf Erinnerndes – eine ganz außerordentliche Entdeckung, und mir scheint er im sprachlichen und affektiven Reichtum, auch in der Reichweite der Geste fast vitaler, gelöster, kräftiger als Karl Mickel, sein Lobredner. Seine Textarten, seine Techniken der Verkettung der Wörter sind vielfältig, unvorhersehbar und voller blitzschneller Hakenschlägereien. Ich habe dabei den Eindruck, daß Papenfuß-Goreks kürzere Gedichte die dichteren und disziplinierteren sind; bei umfangreicheren Gedichten scheint er mir bisweilen etwas geschwätzig und fast von sich selbst besoffen zu werden, manchmal auch wie überwältigt von dem Vergnügen, eine ganz andere Sprache als die DDR-Sprache gefunden zu haben: grob, aggressiv, raffiniert, einerseits (wenn die Saloppheit erlaubt ist) springerstiefelmäßig, andererseits aber in „meistertitelnaehe im zweischichtsistem“ – da wird dann die Länge des Gedichts zum Problem für die innere Ökonomie, die Proportion des Textes.
Aber das sind geringe Einschränkungen gegenüber einem Autor, der als und in „erewhon“ – was ‚everyone’ ebenso wie ‚nowhere’ und ‚Eriwan’ heißen bzw. andeuten kann – einen verblüffenden sprachlichen drei-zehen-tanz, hinlegen kann, und von seinen Vorbehalten möchte ich speziell ausnehmen das letzte Gedicht des Bandes, einen ausladenden „song of myself“, über den sich Walt Whitman freuen müßte, und Walter HölIerer auch – der eine, weil da ein Bruder im Geiste, dem Leben zugewandt und absolut nicht kleinlich, mit großem Atem und in unbekümmertem Ton spricht, der signalisiert: Bange machen gilt nicht, und der andere, weil diese 18 Seiten und 26 Abschnitte lange krampf-kampf-tanz-saga, die beginnt mit
gedanken stellen sich ein, lassen sich nicht aus
man strebt zu erblicken, stagna’, steigert sich
sträubt in unumgänglichkeit, in gemeinheit hinein
mit nichts an warten heidnische fräulein
mit nichts auf an ungedeckten tischen
reißen wir unser leben aus gewohnheit – ab
− und in Abschnitt 26 mit einer Doppelcoda endet:
das ungeduldige trappeln ömilliger urmuttis, op’ster oberdaddis
bevor sie sonstwohin abdrehen ist die brunst der eitelkeit
aus’m schuß, auf’n grund gekomm’, ein verschämtes strampeln
aus wesentlichem herrührend, zukünftiges schon berührend
wo sie auch herkommen mögen, aus bussen der volkssolidarrität
aus’m zoo, aus omaha, sonstwoher, einige aufgeräumt, andere
schusseln klamm verstohlen in handtaschen, hosentaschen
mit abgerubbelten fetischen dreister triebe erwiesener liebe
brabbeln sie vor sich hin & einander ergänzend z
die erkennbare wahrheit, ihre intoleranz die summe
aufoktroyierten was-weiß-ich, sträuben sie sich tupfend
gleitend, flatternd, schwebend coda I
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawir hingehend wringend
peitschend, drückend, stoßend, zu erschöpft zu verenden
lassen’s damit bewenden,
coda II
aaaaaaaaaaaaauns geht’s zu gut, was wollen wir mehr
− weil dieses über 18 Seiten sich hinziehende, spuckende; und dröhnende und mäandrierende Gedicht ein überzeugendes, wenn auch sehr spätes Beispiel für die welthaltigen Möglichkeiten des vor vielen Jahren schon von ihm, nämlich: Walter Höllerer – propagierten „Langen Gedichts“ ist. Da bringt einer die versteinerten Verhältnisse poetisch zum Tanzen, indem er ihnen rücksichtslos seine und ihre Melodie vorspielt; daß man diesen Eindruck einer geradezu ansteckenden Bewegtheit dieses Textes auch jetzt noch hat, da die Verhältnisse, die da in Veitstanz versetzt werden, längst ihr Leben ausgehaucht haben, scheint mir doch auch ein Indiz dafür zu sein, daß diese Gedichte sich auch ohne den Gegner Staat DDR halten können; anders formuliert, mit den Worten Heinrich Vormwegs: Bert Papenfuß-Goreks höchste Fähigkeit ist eine außerordentliche, über alles Kalkül hinaus durchgehaItene „Spontaneität beim Zugriff auf die Realien“, und dies gibt den Gedichten eine – da hat Heinrich Vormweg recht – „erstaunliche Kraft“. Bert Papenfuß-Gorek hat so sehr gegen die „wucht der wichte“ in seinem Staat ansingen müssen, daß er sich eine Stimmkraft dabei erwarb, die ihm in Zukunft wahrscheinlich die Notwendigkeit solcher Gegner erspart: Die Stimme ist selbsttragend geworden.
Jörg Drews
„Wer Lyrik schreibt, ist verrückt“: Ich möchte Peter Rühmkorfs These nicht widersprechen. Verrückt ist der Dichter nicht nur in dem soziologischen Sinn, daß er eine marginale Existenz in der Gesellschaft fristet, und daß – um bei Rühmkorf zu bleiben – die öffentliche Nachfrage nach Gedichten „geringer ist als bei Nadelkissen, Katzenfallen oder anderen Auslaufproduktionen“. Wer Lyrik schreibt, ist auch in einem existenziellen Sinn verrückt: Wer sich ein Leben lang mit dem Abfassen von Gedichten beschäftigt, muß verrückt sein auf Sprache; verrückt auf die Sabotage der herrschenden Sprachregelungen, die – frei nach Brecht – auch die Sprachregelungen der Herrschenden sind.
Auch der DDR-Lyriker Bert Papenfuß-Gorek zählt zu diesem sonderbaren Clan der Verrückten und Sprachbesessenen, die ihr Leben aufs Wort-Spiel setzen. Seine Gedichte machen es sich zur Aufgabe, Chaos in die Ordnung zu bringen: Chaos nicht nur in die Ordnung der gesprochenen Sprache und der Grammatik, sondern Chaos auch in die scheinbar unfehlbaren Ordnungen der Ideologie und der Politik. Acht Gedichtbände hat der 33jährige Papenfuß-Gorek in Kleinst- und Selbstverlagen schon veröffentlicht – alle unter Ausschluß einer größeren Öffentlichkeit. Passionierte Lyrik-Leser im Westen wurden auf diesen Autor aufmerksam, als 1985 der kleine Westberliner KULTuhr Verlag den Gedichtband harm publizierte – ein lyrisches „Popalbum”, wie es Papenfuß-Gorek rückblickend nennt.
Eine Auswahl all dieser Texte, die lange im Verborgenen blühten und in Szene-Magazinen, Anthologien und subkulturellen Cliquen zirkulierten, legt nun der Luchterhand Literaturverlag in einer Lizenzausgabe des Ostberliner Aufbau Verlags vor: Der Gedichtband dreizehntanz präsentiert Texte, die zwischen 1975 und 1988 geschrieben worden sind. Im Aufbau Verlag ist das Buch in einer neu geschaffenen Edition mit dem sinnigen Titel Außer der Reihe erschienen. Tatsächlich liest sich die Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek wie ein Negativ dessen, was in der DDR staatlich favorisierte Kunstideologie ist. „Papenfuß ist ein Meister nicht-syntaktischer Grammatik … Seine Wörter sind nicht dudenkonform geschrieben”: So pries der Freund und Förderer Karl Mickel 1986 in der Literaturzeitschrift Sinn und Form das sprachschöpferische Verfahren des poetischen Nachgeborenen Papenfuß-Gorek, um ihn gleich in eine ehrwürdige Reihe poetischer Modernisten zu stellen: von Quirinus Kuhlmann, über Hugo Ball und August Stramm, bis zu Ernst Jandl und Helmut Heissenbüttel reiche die literarische Ahnengalerie. Auch auf die Gefahr hin, des literaturhistorischen Verweisungsgefuchtels bezichtigt zu werden, nenne ich einen weiteren Namen: Arno Holz. Wie Arno Holz in der „Phantasus”-Dichtung entwickelt Papenfuß-Gorek eine Vorliebe für bizarre Wortbildungen, die meistens nach dem Gesetz der Klangassoziation gebildet sind. Wort- und Reimspiele, Assoziationsketten, expressive Wortzusammenballungen, Variationsreihen und pure Klangeffekte bestimmen beträchtliche Partien sowohl im Phantasus als auch im dreizehntanz. Die partielle Auflösung der Syntax führt jedoch nicht zur vollständigen Liquidierung der grammatischen Ordnung. Der intakte umgangssprachliche Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt bildet stets den Rohstoff und den formalen Grundriß von Papenfuß-Goreks Verszeile. Nur durch die zahlreichen Verfremdungsprozeduren, denen er Wörter und Sätze unterwirft, entsteht dann jener eigentümliche Wirbel, der den Sinn oft im Buchstaben-Gestöber untergehen läßt. Der poetische Alchemist Papenfuß-Gorek spielt mit der Etymologie der Wörter, verballhornt Redewendungen und Sprichwörter, vertauscht und verdreht, montiert und collagiert. Die Lust an der Buchstabenbastelei bringt die Gedichte zuweilen in die Nähe des Kalauers:
du hast die schmarren geramscht
hast die sau in saudiarabien begrabien
wassermolochs augen gossen tränen flutengleich
eich euch männern und eichenlaubern.
Papenfuß-Goreks Gedichte wollen die sterilen sprachlichen Verhältnisse in einer Gesellschaft der vorgestanzten Resolutionen, Dekrete und Verlautbarungen zum Tanzen bringen. „krampf-kampf-tanz-saga” ist der lange Gedichtzyklus überschrieben, der den Band beschließt. Dieser Titel kann auch als poetologische Selbstbeschreibung gelesen werden. Denn der Kampf, die Attacke gegen poetische und gesellschaftliche Konventionen, der wilde Tanz der Sprach-Zeichen, endet nicht selten in vokabulärer Verkrampfung. Dem „wortüberfall”, den Papenfuß-Gorek auf den 200 Seiten seines Gedichtbands inszeniert, steht man am Ende ziemlich wehrlos gegenüber. Obwohl schon längst der Faden gerissen ist, der einen durch das komplizierte Gewebe des Textes führt, läßt man sich doch in den Sog der Wortkunststücke von Bert Papenfuß-Gorek hineinziehen. Ich fürchte Peter Rühmkorf: Auch wer Lyrik liest, muß verrückt sein.
Michael Braun, Deutschlandfunk, 14.3.1989
Ich kann mir nicht versagen, über das Buch zu schreiben, obwohl ich es einem verständnisvollen Rezensenten geben könnte. Ich möchte meine Meinung dazu sagen. Ich bin bemüht. Ich lese. Laut, leise geht’s sowieso nicht. Mit Synthesizer-Untermalung und Papenfuß’ gedämpfter Stimme klingen diese Sprachgebilde anders. Aber wer hat schon solche Bänder? Der lyrikfreundliche Leser, ich meine den aufgeschlossenen, am Experiment interessierten, normal- oder darüber gebildeten (nicht die Fans von Modernismen aller und jeglicher Art) liest, er liest freundlich, aufnahme- und verständnisbereit.
Zum Buch haben Karl Mickel und der Nestor des Sprachexperiments Ernst Jandl Voten gegeben, abgedruckt im Buch, positive in guten Worten, in literarischer Form. Der alte Herr aus Wien beschaut sein „Kind“ und siehe es war gut…
Ich finde es nicht so gut – vor allem gibt es da inhaltlich nicht mehr viel Gutes. Das Ganze beginnt mit „notdurft“ (na ja, ist menschlich). Daß die Welt nicht heil ist, wissen wir seit Adams Zeiten, daß das letzte Jahrhundert so unheilvoll war, davon sagt auch die Lyrik, aber nicht nur sie. Es waren die Verhältnisse („und die Verhältnisse, die waren nicht so…“) Aber bei Papenfuß gibt’s gar keine Verhältnisse mehr – allenfalls das Verhältnis Papenfuß zu Papenfuß, aber auch das scheint recht gebrochen. Wenigstens aber ist da die Suche und Ansätze, wieder ins Verhältnis zu den Werten zu kommen. Manche Sätze oder Wortgebilde zeugen schon vom Bemühen.
Ich sage nichts zur Form, die wenigsten schreiben heute noch im klassischen Versmaß. Da gibt es auch Reime die Fülle: „wir fliegen an einen strandt / liegen in einem heissen sand“ (Ich will nicht gleich mit „mein freier wille lokusbrille“ beginnen.) Es gibt diverse Sprach-Bilder. Aber wir hatten das doch schon und nicht nur einmal, von Majakowski bis Morgenstern, mit klarer Absicht und wichtig. Der Leser findet Dreiecke, Kegel, Verschobenes, Schnecke usw. Gewiß kein Argument gegen. Und da findet er auch Neues. Es mangelt nicht an Experiment oder Provokationen. Aber Wort- oder Lautspiele mit ernstem oder witzigem Hintergrund, Stammelei oder Aufschrei gab es in hoher Qualität (von Rimbaud über Arp, Schwitters bis zu Jandl). Gegen oder für dies sei nichts gesagt. Man kann nicht mehr alles neu machen. Form und Inhalt müssen stimmen und etwas aussagen. Das verlange ich auch von den &s, vielerorts schon zu finden und von Papenfuß reichlich verwendet, rote Taste auf Papenfuß’ Schreibmaschine? Oder die Groß- und Kleinschreibung. Gewiß, sie ist deutsche Art, jeder halte es bei Lyrik, wie er wolle. Aber kennen nicht viele von uns die kleingeschriebenen Substantive aus Briefen der lieben, intellektuellen Freunde? (Man schreibt und denkt wie George.)
Ich verweigere Bert Papenfuß-Gorek die Achtung nicht. Er hat eine reiche, sich leider vielfach in Kraftausdrücken Luft machende Phantasie, er weiß auch in Geschichte, Kunst, Philosophie Bescheid und läßt das durchblicken. Es gibt bessere Verse und weniger gute nebeneinander. Beispiel:
1 jeden tag ein streit
und es hat uns sehr gereut
wir liebten uns wohl leer
ich mag die tage nicht mehr
− das ist stimmig, aber dann 3:
hau ab
du bist so schoen
& lass dich mal wieder sehn
− das ist schlecht. Wo der Blick sich weitet, wird die Sprache auch besser, etwa im Poem ab S. 184. In Pompeji fand man bekanntlich Toilettensprüche und machte hübsche Bücher davon, nicht generell etwas gegen diese Sprache, sie sagt etwas über die Schreiber, über Zeiten und Sitten. Aber hier wird sie zur „Antikunst um der Antikunst willen“.
Der Verlag betrieb für die neue Reihe Außer der Reihe viel Aufwand (Auffällige Ausstattung, gutes Papier), Gerhard Wolf betreut die Jungen, die in der mit dem Band begonnenen Reihe zu Wort kommen. Neuen Versuchen wird reichlich Raum gegeben. Deshalb ist der hohe Anspruch des Lesers gerechtfertigt. Und Papenfuß’ Ansätze sind bemüht, aber sein Kosmos bleibt letztlich nur der kleine von Papenfuß & Co.
Zu wenig kommt rüber von individueller Not. Sprache als Ausdruck von Sprachlosigkeit. Schade, daß nicht sorgfältiger ausgewählt wurde, weniger wäre mehr gewesen. So aber kann ich (frei nach Papenfuß) nur sagen:
Ich hab mich
aaaaaaaaaaafon papenfuß
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverspottet gefuehlt.
Sabine Neubert, Neue Zeit, 2.5.1989
Lesung 1: und wie steht’s mit der Rechtschreibung?
Da ärgert man sich wieder ordentlich, daß man nix kapiert von der scheiß-modernen Lyrik … Das fängt schon beim Titel an: dreizehntanz. Was soll denn das heißen? Jetzt schlägt’s aber dreizehn? Na, und dann dauert’s ein wenig und dann kommt man drauf – drei-zehen-tanz. Aha. Der ist wohl eher ein Experimenteller, ein Sprachkünstler? Lustige Sachen stehen da drin: „mir grünt saulieb ein todestrieb“. Das ist halt Dichtersprach’, das muß man dem schon zugestehen, auch wenn er die Hälfte von allem falsch schreibt:
lieber
mich selbst zu be- & ent-
haupten wie’s mir gefühlt!
als beherrscht zu werden
oder selbst zu herrschen.
Gefällt, heißt das natürlich, nicht gefühlt. Oder war’s ein Dreckfehler? Dann sind die aber ein bißchen häufig in dem Band:
auf wiedersehen faterland
ich such das meuterland.
Dabei lernen wir in der Grundschule schon den Unterschied zwischen Fenster-Ef und Vogel-Vau, nicht wahr?
Einmal schreibt er alles klein, dann wieder gesperrt, ein andermal nur die Anfangsbuchstaben groß, auf einmal aber alle:
Das wissen
um eine schiere fuelle fon
e r s c h e i n u n g e n
Die Ich Nicht Wahrnehmen Kann
IST EMPFINDEN UNERFUELLBAR
Und prompt vergißt er das Fragezeichen. Der macht wirklich was er will.
Kein Wunder, daß sie ihm in der DDR „Sinnverweigerung“ vorgeworfen haben, obwohl der Pappenheimer selber schreibt: „Du Fermaledeist Den Ernst / Zur Komik Des Oeffentlichen Lebens (…) Was Ich Tu Recht Tu Ich Doch Recht & Manchmal Ess Ich Den Ernst Ernsthaft“. Der scheint ein rechter Schelm zu sein, und einen Lebenswandel muß der haben: „ein saufen findet for der buehne statt“, nicht nur da, nehme ich an, denn von sich selbst sagt er ja: „Mit Mir Herum Trag Ich Strohhut & Freibier“. Das find ich prima. Muß ein rechter Säufer sein und zugehen tut’s bei dem:
außen – nettonett, innen – bruttobrutal
strotzten meine gedichte von votzen, wimmeln
von pimmeln, schwänzen & gespensten – kopf-
tripper!
Wenn das nicht skandalös ist! Aber das „antlitz der poesie ist gräßlich“. Nun will ich’s gern glauben. Nur gegen mein geliebtes Bayern wenn er nochmal was sagt – etwa “freistaats an freiheits statt” – dann sei er förmlich „fersichert dessen dass ein arschloch das andere beisst“.
Lesung 2: „so betrieben sie lieben“?
Papenfuß-Goreks Verunsinnigungen, seine ansteckenden Wortkrankheiten und frechen Wortbrüche stamen aus keinem postmodernen Signifikantenspiel, sondern stecken in der Eigendynamik der Sprache selbst. Sicherlich hat solche ein diegetisches Verfahren etwas von Willkür, doch zeugt es eher von zutrauen in die Sprache, denn von Mißtrauen ihr gegenüber – solange es sich nicht damit begnügt, gefällig zu sein oder herrschende Codes nachzuplappern, was aufs gleiche rausläuft. Von Liebesgedichten z.B. erwarten die meisten, daß sie „schön“ sein sollen, was heißen mag, daß man die Liebe nicht ungestraft verunglimpft. So ein zustand ist natürlich unerträglich, den „gunst hat nicht nur mit wohlgefallen zu tun“ und Kunst schon gar nicht. Daher
betreten wir
eine revolutionäre situation & trampeln
darauf bloß auf unseren genitalien herum
die liebe bleibt unüberholbar zurück
Schön gesagt: „gerinne mine verebbe liebe fließe strom“. So mancher wird nämlich “gleich gluekklich gleich gueltig”. Wie viele aber würden sich durch so ein Liebesgeständnis betören lassen: „Maedchen Ich Lade Dich Ein Bei Mir Zu Sterben“? Nun ja, alle Lust will Ewigkeit, das hat er wohl gemeint und immerhin kommt’s dann halb so schlimm:
Hier Kannst Du guten Muts Abhauen & Sakkpfeifen (…)
Was Immer Du fuer Mich Kochst Werde Ich Essen
Ich Werde Cigaretten Drehen Von Unserem Tabak
Wir Werden Die Bis Jetzt Foellig Zu Unrecht Gueltige
Mutter Erde Eine Natter Schimpfen & Was Darauf Keucht
& Fleucht Kann Uns Foellig Zu Unrecht Am Arsch Lekken
Aber wie eine „entliebung“ (bestens als Epitaph geeignet) vonstatten geht, läßt sich natürlich vorm Traualtar der kollektiven Liebesmühen nicht ohne Weiteres aufsagen:
nun ist ein saftarsch
nicht natuerlich das
was das herz bekehrt
aber auch aufs gesicht
wie ueblich geschissen
so bleibt also uebrigens
selbstgeil sterben lernen
fiehisch wie die foegeln
Lesung 3: „um mit dem folksmut zu sprechen: der ofen ist aus“
Ob sich die DDR-Regierung nicht lieber nach einem anderen Volk umsehen sollte? Mit dem momentanen scheint sie sich nicht so gut zu verstehen, wenn denn die Dichter & Denker schon zu so argem Fatalismus neigen müssen: „wenns haupt foller gedanken stekkt will mans auch los sein“. Nicht erst Papenfuß-Gorek weiß: „wer das wort hat, hat die macht“, die Frage wird sein, wer den längeren Atem hat (Renè Char) oder das schnellere Einsehen. Immerhin ist es nicht so, daß die jungen Motzer statt einer linken nun eine geschlichtliche Rechtschreibung wollen, vielmehr „dass kommunismus / kommen muss“. Wenn aber gilt: „mit der gegenwart als gegenwert / bist du stets uebers ohr gehaun“, sollte man vielleicht lieber auf Zukunftsperspektiven setzen. An alle diejenigen, die aufgebrochen sind „fuer neue ire laender“, ergehe die Bitte, sich auch nicht nicht „einkeufern“ zu lassen.
Manfred Ratzenböck, Konzepte
− Eine Reihe Außer der Reihe im Aufbau-Verlag. −
Es ist nun schon etliche Zeit her, seit die ersten beiden Bände der so gekennzeichneten neuen Editions-Reihe des Aufbau-Verlags, herausgegeben von Gerhard Wolf, erschienen sind: Bert Papenfuß-Gorek dreizehntanz und Rainer Schedlinski die rationen des ja und des nein. Sie fanden bereits literaturkritische Beachtung. Es handelt sich hier keineswegs um Außenseiter, sondern um ernst zu nehmende lyrische Erscheinungen, die das Bild der Literatur unseres Landes schon länger mitprägen. Vereinzelte Drucke von Papenfuß-Texten gibt es bereits seit den siebziger Jahren. Mit einer umfassenderen Publikation tat man sich aber schwer.
Und leicht machen es die beiden Autoren ihren Lesern wahrhaftig nicht. Es gehört ja zum Wesen des Experimentierens mit Sprache, daß Gewohntes verfremdet. Klischees durchbrochen und Vieldeutigkeiten der Alltagssprache provokant für neue Sinnzusammenhänge oder Bild-Assoziationen, genutzt werden. Das sind keine völlig neuen poetischen Konzepte. Sie können auf eine lange Tradition verweisen, die von DADA bis zu Jandl reicht.
Beginnen wir mit Bert Papenfuß-Gorek (Jg. 1956), der schon 1977 in einer Zeitschrift vorgestellt wurde. Der Band „dreizehntanz” enthält das 1976 entstandene, inzwischen populär gewordene Gedicht
jede uhr isn zeitzuender
… jede zeit ferspottet jeden augenblikk
jede zeit ferspottet jede uhr
jede uhr ferspottet jeden augenblikk.
Auffällig ist zunächst der eigenwillige Umgang mit unserer Rechtschreibung. Der Text bekommt „Widerhaken“, die uns zu genauerem Hinsehen zwingen. Aus dem Sprachspiel spricht aber ein tiefer Ernst, wenn wir durch die Schreibweise „zeitzuender“ assoziieren: Uhren gemahnen uns daran, wie das „Zünden“ neuer Zeit und das Zuendegehen von Zeit dynamisch miteinander verknüpft sind.
Überhaupt ist „Zeit“ eines der durchgehenden Motive des Bandes. „Es geht um die fertonung des orts & der zeit“, um das Orten des Ich in einer widerspruchsvollen Zeit („zu spaet zu kraischen zu frueh zu flüstern“), um eine große Hoffnung: „zeit und ferstand gehen wieder zusammen“. In diesem Sinne ist auch der Titel des programmatischen Gedichts „wortflug“ ganz wörtlich zu nehmen. Die Rolle der Poesie, des gesprochenen oder des geschriebenen Wortes überhaupt wird so hoch angesetzt. daß „wortschritt“ durchaus einmal für Fortschritt stehen kann. Je nachdem, wie wir uns zu „ferfestigungen“ oder zu unseren „bekwehmlichkeiten“ verhalten, können Worte „liegen“, „sitzen“, „stehen“, „gehen“, „laufen“ oder eben weit vorausfliegen:
flugs um bestimmten
forkommnissen zuforzukommen
for ort beim wort
dass kommunismus
kommen muß
Manches im Band erscheint maniriert, vieles bleibt dem Leser dunkel und rätselhaft, obwohl einfallsreich mit Umgangssprache umgegangen wird (auch das ein Erbe der künstlerischen Avantgarde), so daß uns manche Texte zur „litteratortur“ werden.
(…)
Dr. Mathilde Dau, Berliner Zeitung, 14.10.1989
René Kegelmann: „wortflug“
Listen, Heft 15, 1989
Sabine Kebir: „Ich hab mich fon der zeit ferspottet gefuehlt.“
Deutsche Volkszeitung / die tat, 14.4.1989
Wulf Segebrecht: Vom Lottern des Wortes. Bert Papenfuß-Gorek ist ein „Neuer Wilder“ der DDR-Lyrik
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.1989
Michael Braun: Sabotage der Grammatik
Frankfurter Rundschau, 8.7.1989
Jörg Drews: „mir grünt saulieb ein todestrieb“. Bert Papenfuß-Goreks deutsch-deutsche Buchpremiere
Süddeutsche Zeitung, 30.8.1989
Auch in: Basler Zeitung, 1.9.1989
Nicolai Riedel: Bert Papenfuß-Gorek: dreizehntanz
Passauer Pegasus, 1989, Heft 14
Matthias Biskupek: Bert Papenfuß-Gorek. dreizehntanz
Eulenspiegel, 1989, Heft 20
Peter Böthig: „fertonung des orts & der zeit“
Temperamente, Heft 3, 1989
Michael Gratz: Schreiben gegen Verfestigungen
Neue Deutsche Literatur, Heft 11, 1989
Antonia Grunenberg: Frontlos. Über Bert Papenfuß-Gorek
Die Zeit, 8.12.1989
Alexander von Bormann: Ins freie Feld der Sprache
Der Tagesspiegel, 11.3.1990
– Spracherneuerung in Texten von Bert Papenfuß-Gorek. –
Auch die Kunstpolitik der DDR zeigte alle Merkmale des Stalinschen Typs von Sozialismus. Es wurde, wie wir nun wissen und immer wußten, eingesperrt, ausgebürgert, verboten, verhört, bespitzelt, unter Druck gesetzt, vertrieben, ausverkauft, in den Reißwolf gesteckt und gleichzeitig wurden Preise verteilt (nicht unbedingt zu Unrecht, auch das gehört ja dazu), Werte gesetzt, Anpassung trainiert und finanziert. Eine bestimmte, ideologisch zentrierte Auffassung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst wurde kunstpolitisch von oben nach unten durchgesetzt. Kunst sollte das positive Lebensgefühl heben, sozialistische Werte reproduzieren, wie sie durch einen bestimmten Typ von Politik vorgegeben wurden, sie sollte „lebenswahr“ sein, also die Wirklichkeit so darstellen, daß es für die Kunstfunktionäre annehmbar war. Die politische Praxis der SED-Führung (nicht mal die vorhandenen theoretischen Konzepte) bildeten die Grundlage für alle über Kunst verfügenden Institutionen: Von der Parteizentrale über den Staatsapparat aller Ebenen bis zu den nur begrenzt souveränen und dominant kontrollierten gesellschaftlichen Organisationen. Das begann schon bei der grundsätzlichen Entscheidung, welche finanziellen und materiellen Mittel für Kunst überhaupt „zuerkannt“ wurden. Künstler, Verlage, Galerien, Theater, Kritiker, Studios, Kulturhäuser, Klubs, Kinos usw. waren dem unterworfen und mußten versuchen, sich in sehr engen Spielräumen zu bewegen.
Spielräume allerdings gab es, und sie wurden mit mehr oder weniger Risikobereitschaft und mit wechselndem Erfolg genutzt – aber auch sie waren hierarchisiert: International bekannte Künstler hatten wesentlich mehr Chancen als junge (für die sie sich dann einzusetzen versuchten), traditionelle Kunst mehr als innovative oder massenrelevante. Diese Spielräume waren gegeben durch die traditionell größere Unabhängigkeit des Kunstbereiches; sie waren gegeben durch unterschiedliche Auslegung und Anwendung zentraler Vorgaben zwischen den verschiedenen Regionen und Ebenen (der Parteiapparat reagierte anders als manch Rat des Kreises) oder zwischen den verschiedenen Institutionen (Verlage hatten breitere Toleranzen als das Fernsehen); Spielräume gab es zwischen den gesellschaftlichen Organisationen und weil relativ unabhängige Einrichtungen vorhanden waren (zum Beispiel Künstlerverbände, der Kulturbund); es gab sie vor allem durch persönliches Engagement (durch Proteste, zähe Verhandlungen, Partisanenaktionen, Kompetenzüberschreitungen, durch Toleranzgrenzen ausschöpfende oder erweiternde Funktionäre); durch Unterstützung „kunstfremder“ Einrichtungen (wissenschaftliche Institute) und durch Reaktionen provozierende Veröffentlichungen von und in Westmedien, durch die internationale Beachtung der DDR-Kunst, der Konzessionen gemacht wurden, die sich in das Bedürfnis nach Selbstdarstellung mitunter integrieren ließ (aber auch zum Verkaufsobjekt wurde).
Insgesamt jedoch wurden die Interessen und produktiven Potenzen des Kunstbetriebes diesen ideologischen Dogmen und damit verbundenen ökonomisch-pragmatischen Interessen weitgehend untergeordnet, die Vertreter des Kunstbereiches kamen bei der Entscheidungsfindung nicht oder nur präpariert zu Wort – das beweist die Rolle der Kulturbundfraktion in der Volkskammer oder der öffentliche Umgang mit den letzten Künstlerkongressen. Kunstpolitik war weniger Entfaltungsbedingung von Kunst, sondern eher Kontrolle von Kunst; Kunstfunktionen entfalteten sich im eng begrenzten Rahmen oder gegen ihn. Das alles ist im Moment ausgesetzt, stillgelegt, Veränderungen haben begonnen, und zwar solche, die neue Unausweichlichkeiten ahnen lassen: Der Markt droht als Chance. Aber das wäre ein eigenes Thema.
Von der alten Kunstpolitik (die hier nur grob charakterisiert werden kann, deren Geschichte differenziert zu erforschen wäre, schon damit sich die genannten Phänomene nicht auf andere Weise wiederholen) besonders betroffen waren Künstler, vor allem junge, die tatsächliche Kunstfunktionen über die bisherigen Grenzen hinauszutreiben versuchten – und das ist schon eine Funktion von Kunst, eine ihrer Weisen, lebendig zu sein: Das Sprengen von Grenzen, von Wahrnehmungsstrukturen, Verhaltensmustern, von existierenden Werten, auch von konventionalisierten Weisen der Kunstproduktion und -rezeption selbst, von sprachlichen, visuellen und auch politischen Klischees. Kunst ist, der Möglichkeit nach, innovativ, dialogisch, kritisch, immer im Widerspruch zu vorhandener Realität, nicht lediglich ihr Spiegel oder Ornament. Und gerade die, die mit einem traditionellen Verständnis von Kunst (und Verhalten) am deutlichsten brachen, wurden am schärfsten getroffen und ausgegrenzt: Es blieb so gut wie gar kein Spielraum, blieb nur ein Außerhalb, das als ein Dagegen verstanden wurde – und wohl auch so verstanden werden sollte. Ich rede hier von der sogenannten „Szene“, dem „Untergrund“. Es gab für diese Leute kaum Möglichkeiten, Kunst auf ihre Weise zu produzieren, zu veröffentlichen, Publikum zu erreichen, Auseinandersetzung in Gang zu bringen. Räume, Theater, Verlage, Zeitschriften blieben ihnen weitgehend verschlossen. Man war auf sich selbst geworfen. Das aber auch als Chance: Rücksichten mußten nicht genommen werden – und als Gefahr: Manche konnten sich verstecken, Mittelmäßiges innovativ drapieren, und die Isolation prägte auch die Texte selbst.
Um die Mitte der siebziger Jahre – die Biermann-Ausbürgerung dürfte der entscheidende Einschnitt gewesen sein – entstand ein offener Riß in der Kulturpolitik zwischen dem, was innerhalb des Landes noch gedruckt, ausgestellt, diskutiert oder wenigstens geduldet werden konnte – auch das, wie gesagt, nicht problemlos und unter Kämpfen – und dem, was es nicht gab, weil es das weder geben konnte („Wo kommt denn das her?“) noch geben sollte („Wo führt denn das hin?“) noch geben durfte („Wem nützt das eigentlich?“). Aber dennoch gab und sich trotz Isolation proportional mit dem Wachsen gesellschaftlicher Probleme verbreiterte, an Qualität und Eigengewicht gewann. Es bildeten sich Gruppen, eigene Formensprachen, neue Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten, zwischen Machern und Publikum, vor allem eigene Lebensmodelle – nicht faßbar, abgrenzbar, politisch und künstlerisch nicht „festzulegen“, in ständiger Entwicklung, spontan, arrogant, innovativ und epigonal. Kunst wurde zum Ferment der Suche nach Alternativen. Gesucht wurde nach Äußerungsmöglichkeiten der sonst so gebremsten Kreativität, nach Formen des Widerstands und der Unterwanderung. Alle greifbaren Artikulationsformen wurden erprobt: 8 mm Film, Malaktionen, Lyrik, Rockmusik, Happenings, Malerei, Plastik, Aufführungen. Es entstanden eigene Formen von Öffentlichkeit: Aktionen, Ausstellungen in Wohnungen, in Ateliers und kleinen Galerien, es gab (und gibt) eigene, handabgezogene Zeitschriften ariadnefabrik, schaden, Bizarre Städte usw.), im Selbstverlag herausgegebene Lyrik-Grafik-Editionen, eigene Manager und Ideologen. Das Spektrum ist sehr breit, sehr heterogen, die Entwicklung wohl auch nicht frei von Zersetzung im Inneren (auch durch Ausreise) – das alles kann hier nicht im mindesten ausgebreitet werden. Vielleicht ein Zusammenhang, der die Notwendigkeit dieser Alternativsuche verdeutlicht: Die eigene Individualität und Befindlichkeit steht im Zentrum, ohne Frage, aber als Suche nach anderen Lebensformen unter dem Druck ökologischer Zerstörung, drohender Selbstvernichtung der Menschheit, durch Konfrontation der Weltsysteme oder per Computerfehler. Aus diesen Zwängen – aus dem Zwang zu konsumieren, Leerformeln nachzubeten, Bedrohungen zu verdrängen, sich selbst zu unterdrücken und in Unterdrückung anderer hineingezogen zu werden – wollte man heraus und begab sich in andere. Das wäre auch ein eigenes Thema.
Ich möchte etwas zur Lyrik dieser Szene sagen, kann aber nicht auf die höchst unterschiedlichen Arbeiten von Autoren wie Stefan Döring, Andreas Koziol, Leonard Lorek, Kurt Drawert, Rainer Schedlinski, Gabriele Kachold, Jan Faktor, Johannes Jansen, Bernd Igel und anderer eingehen, sondern möchte versuchen, anhand von Texten alleine Bert Papenfuß-Goreks, einige produktive Möglichkeiten – und nur das – darzustellen. Vorweg sind jedoch ein paar Bemerkungen über das Verhältnis dieser Lyriker zur Sprache überhaupt nötig.
Die gesellschaftliche Situation in der DDR war auch eine der Sprachlosigkeit, eine, in der die Phrase, die Worthülse, die unerschütterliche Formel über die Wirklichkeit herrschte. Hier wurde angesetzt. Die Radikalität dieser Lyrik – es gibt andere Radikalität in der Lyrik – zeigt sich im Umgang mit der Sprache: Es wird nicht allein etwas Neues, Anderes, Eigenes gesagt; hier wird, indem und bevor Neues gesagt wird, die Grundlage lyrischer Artikulation selbst revolutioniert. Es wird eine Sprache gesucht, in der man überhaupt erst sprechen kann, die, noch „vor“ der Bedeutung oder als Bedeutung die Merkmale des Neuansatzes trägt: Sie soll sinnlich sein, assoziationsreich, spielerisch, demokratisch, sie soll für sich selbst stehen und offen sein für andere, individuell zugleich, nicht Macht und Entfremdung reproduzieren, sie soll sich der Wirklichkeit des späten 20. Jahrhunderts öffnen, ohne die Ohnmacht der Sprache wegzulügen. Sie soll sich vor allem der alten Sprache, den Formeln und Litaneien verweigern – vom Wortbestand, der Schreibweise, der Gestalt, dem Klang und vom Kontext her. Das & wurde ihr Symbol.
Spracharbeit vergleichbarer Art hat eine lange Tradition und die Quellen, aus denen sich diese speist, konstituieren eine in der Lyrik der DDR bisher nicht gekannte Traditionslinie, eine Vielfalt heterogener Einflüsse, deren Konstruktionsprinzip – selbst sich wandelnd – noch zu entdecken ist. Peter Böthig und Gerhard Wolf haben, vor allem für die Gedichte von Papenfuß-Gorek, einiges aus dieser Vielfalt der Bezüge herausgehoben: Ernst Jandl und Kurt Schwitters werden ausgemacht, Einflüsse aus dem Sanskrit und dem Keltischen seien spürbar, das Rotwelsch werde mit dem Jargon des Prenzlauer Berg konfrontiert, es ließen sich Linien bis zu Johann Fischart, zur Concetto-Dichtung des Manierismus, zu Walther von der Vogelweide ziehen. Aber auch die Texte der russischen Avantgardisten, Majakowski, Krutschonych und ganz besonders Chlebnikow sind von Bedeutung. Das lohnt näherer Betrachtung, denn Chlebnikow ist einer der ganz großen Spracherneuerer.
In Chlebnikows Lyrik wird rigoros mit allem bisherigen Dichten gebrochen. So, wie Kasimir Malewitsch mit seinem schwarzen Quadrat die Malerei auf einen Endpunkt brachte – von dem Neues ausgehen konnte –, tat es Chlebnikow in der Poesie:
GEWITTER IM MONAT AU
Kruolkruolrolrol! Rollt der Donner.
Drom grom grom rom rom.
Krach-nisi, Das ist er.
Zick gni-isi. Glanz der Blitze.
Weg-go-schiwa. Bist du .
Rola, rolaa – majestätisches Rollen
Rolo, roloa!
Zsi. Zsi.
Mrr! Mrr! Nr!
Ra uh tohamouha. Das All erblaut. …
Das ist reiner Schwachsinn, sinnloses Gestammel, meinen viele Zeitgenossen, Unfug. Das ist die Revolution der Dichtung, meinen die Futuristen. Hier wird mit dem alten Wörterschrott aufgeräumt, der es nicht zuläßt, zu den Dingen in ihrer Unendlichkeit, ihrer sinnlichen Totalität, zu den Menschen mit ihrer Kreativität zu kommen und zu einer Zukunft, die so offen ist, wie die, die sich an ihre Produktion machen. Weg mit der verfahrenen, mißlungenen Geschichte, die in den Wörtern steckt, hin zu einer Sprache, die an die Ursprünge führt und frei ist für neue, menschliche Konstruktion – den Planeten übergreifend bis an die Sterne heran. „Haß gegen die voreinst existente Sprache“ hat Majakowski. Daher:
Verfrachtet sie [die alte Kunst] in die Schulen und Universitäten als Behelf beim Unterricht in Erdkunde, Lebenskunde und Geschichte. Mit Empörung aber erteilt dem eine Abfuhr, der euch diese Versteinerungen anzubieten wagt statt des Brotes der lebendigen Schönheit. [/] Eine Revolution des Inhalts – der Sozialismus-Anarchismus – ist undenkbar ohne die Revolution der Form: den Futurismus.
Und von daher Chlebnikow:
Wenn die alten Bezeichnungen uns wenig überzeugend erscheinen, so schaffen wir unsere eigenen… So hat Chlebnikow in Anlehnung an die entsprechenden Ableitungen von anderen Zeitwörtern etwa fünfhundert Derivationen vom Zeitwort ,lieben‘ geliefert, alle völlig zutreffend im Geiste russischer Wortbildung, zutreffend und unentbehrlich.
Denn das Wort Liebe wird in allen Variationen gebraucht, weil nichts, was der erhoffte neue Mensch denkt oder tut, ohne Liebe sein wird. Chlebnikow ist ein „Kolumbus der neuen dichterischen Kontinente“ und er hat ein ganzes „,periodisches System des Wortes‘ geschaffen. Er nahm ein Wort mit unentwickelten, unerforschten Formen, stellte es neben ein entwickeltes Wort und bewies Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Aufkommens neuer Wörter.“ – „Es handelt sich nicht um Unsinn, sondern um ein neues semantisches System?“, meint Juri Tynjanow, einer der in den dreißiger Jahren wegen ihrer „reaktionären Gesinnung“ terrorisierten russischen Formalisten:
Chlebnikow konnte eine Revolution in der Literatur herbeiführen, weil sein System nicht eng literarisch war, weil er mit ihm die Verssprache wie auch die Zahlensprache, zufällige Gespräche auf der Straße und Ereignisse der Weltgeschichte erfaßte, weil für ihn die Methoden der literarischen und der historischen Revolutionen verwandt waren.
Welimir Chlebnikow, Mitglied der „Regierung des Erdballs“, sucht eine Sprache, die für eine zukünftige staatenlose Menschheit tauglich ist, die von den Ursprüngen der Menschheit den Bogen zur nun scheinbar angebrochenen Freiheit schlägt. Die Grundhaltung der Futuristen ist kräftigster Optimismus – bei zerreißenden Widersprüchen angesichts der Realität der Revolution –, die energische, befreiende Geste des Beiseiteräumens allen Schutts der Vergangenheit. Sprache wird demontiert, um mit ihr zu konstruieren, sie wird auf ihre sinnlichen und psychologischen Bausteine untersucht, alle alte Bedeutung destruierend, um neue, unbegrenzte zu ermöglichen.
Vieles davon wird in der Sprachtheorie und poetischen Praxis dieser heutigen Lyrik – mit Bezügen zum postmodernen Denken – aufgegriffen: Die Negation der alten Sprache (aber es ist nicht dieselbe), das Abwerfen einengender Bedeutung, die sprengende und befreiende Konstruktion neuer, offener semantischer Systeme zur Produktion neuen (Un-)Sinns, einschließlich des Zusammenhangs zur historischen Situation. Doch genau die ist eine wesentlich andere. Indem Papenfuß sich auf Chlebnikow bezieht, wird ein entscheidender Unterschied deutlich, der dieser Spracherneuerung ihre eigene Richtung gibt, sie strukturiert. Papenfuß schreibt in einem literarischen Briefwechsel mit Mitch Cohen:
Widerton (= widertan = dagegen/getan) Name verschiedener Moose & Farne. Werden für Gegenzauber verwendet. Heilmittel wider den Tod./Von V. Chlebnikow domestiziert. (schaden 14, Februar 1987)
Hier ist das Alte nicht im Grunde längst erledigt, hier herrscht es als Übermacht, hier ist nicht lachendes Freiräumen angesagt, sondern Widerstand, hier ist das Tote nicht Vergangenheit und Freiheit unausweichliche Zukunft, hier ist, knapp siebzig Jahre nach Chlebnikow, der Tod die wahrscheinliche Konsequenz der Gegenwart – gegen ihn wird Sprache gewendet.
Daraus entstehen andere Haltungen zur Zukunft, kommt die Kraft aus der Illusionslosigkeit, nicht der Utopie allein, wird daher das Entgegenstehende genauer gefaßt, wird genauer – und damit vielleicht auch eingrenzender – nach der Richtung der Spracherneuerung gesucht, entsteht ein anderes Verhältnis zur Kollektivität. Geschichte öffnet nicht zu den Sternen, sondern es droht der Sternenkrieg und die Versteppung der Erde. Hier wird Spiel Ernst, obwohl es gerade Spiel sein muß, wird Lachen zwiespältig, sarkastisch, ironisch, obwohl es befreiend sein soll, werden Kräfte nicht mit Urgewalt freigesetzt, sondern freigekämpft, kann der Gestus nicht weltumspannend sein, sondern vom eigenen besetzten Territorium ausgreifend, soweit es eben geht.
Das hat Folgen für die Sprachproduktion. Nicht nur eine neue Sprache, sondern ein neues Verhältnis von Wirklichkeit – Sprache und den Wirkungen/Folgen sprachlicher Gebilde wird gesucht. Das macht das Ausloten der Widersprüche dieser Beziehung nötig, denn: Sprache ist Ausdruck von Wirklichkeit und zugleich selbst Wirklichkeit; kann Widerstand gegen Wirklichkeit sein und bleibt ihr doch unterworfen; sie kann Wirklichkeit schaffen und doch nichts verändern; sie ist formbar und hat doch undurchbrechbare Gesetze und Grenzen. Die erneute Auseinandersetzung damit ließ verschiedene sprachtheoretische Versuche und Varianten praktizierter Lyrik entstehen. Das sollte aufgearbeitet werden, dazu ist bis jetzt wenig geschehen. Ich kann hier nur einige Punkte nennen, eine Linie, der andere entgegenstehen mögen – auch innerhalb der Szene entstanden sich ergänzende oder ausschließende Ansätze. Rainer Schedlinski opponiert gegen den Leerlauf der gesellschaftlichen Diskurse, versteht, denke ich, Spracharbeit als Opposition und Subversion. Er konstatiert:
jeder diskurs operiert im inneren einer dimension, in der durch bündigkeit und schlüssigkeit jene hermetik erzeugt wird, die ihn der wirklichkeit entfremdet, denn die wirklichen dinge schließen sich ja überhaupt nicht aus, die diskurse dagegen widersprechen sich…
Es gibt in jeder Gesellschaft voneinander abhängige oder nebeneinander bestehende Diskurse und Sprachen, die, für sich, schlüssig sind, zusammenhängend, wiedererkennbar, verifizierbar – wenn auch nicht völlig schlüssig, und darin liegen Chance und Gefahr, die Notwendigkeit oder wenigstens Möglichkeit des Aufbrechens der Sprache gerade unter veränderten Bedingungen, der nicht endende Zwang, Leerstellen, so sie kenntlich und nicht verdrängt werden, zu füllen. Und das verlangt die Umstrukturierung des Systems selbst, denn es sind seine Leerstellen.
Zudem gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Sprachen. Das können Funktionalsprachen sein – die Wissenschaftssprache, die Sprache der Politik, des Militärs usw. – oder Sprachen, die durch bestimmte gleichartige soziale Bedingungen ihrer Benutzer geprägt sind, durch deren Interessen – zum Beispiel die Funktionärssprache, das Beamtendeutsch oder die Sprache der Jugend –, Sprachen weiter, die an ein bestimmtes Ausdrucksmedium gebunden sind – etwa die Sprache der Künste, die Zeitungssprache, die Sprache der Medien – oder Sprachen, die besonderen Gegenständen zugehörig sind Sprache des Sports oder Formelsysteme in Mathematik und Chemie usw. Das ist nicht deckungsgleich mit dem Terminus Diskurs, auch nicht systematisch dargestellt, mag aber hier genügen. Jede dieser relativ unabhängigen oder sich überschneidenden Sprachen faßt einen bestimmten Teil oder eine Dimension von Wirklichkeit – aber, wie gesagt, nicht ganz und nicht ständig; auch alle Sprachen und Diskurse zusammengenommen, bleibt die Wirklichkeit reicher – während andere Teile notwendig ausgeschlossen sind. Zugleich können sich die Sprachen (wie ihre Benutzer) gegeneinander kehren, die Vermittlungen zwischen ihnen sehr dünn sein: Die Sprache des Militärs und die Sprache der Liebe sind vom Vokabular, der Denklogik und dem Wirklichkeitsverhältnis her unvereinbar. Die Wirklichkeit aber, die mit diesen Sprachen kommunizierbar gemacht werden soll, ist selbst ganzheitlich, vollständig und auch im Gegensatz ungeteilt, unendlich vermittelt. Schon diese Tatsache verlangt das ständige Sprengen sich stets kanonisierender Sprachen, des Sprachsystems insgesamt oder einzelner Sprachregelungen.
Aber die Sprachen und ihre Veränderungen, ihre Beziehungen sind nicht nur bestimmt durch die Elemente und Schichten von Wirklichkeit, die sie jeweils bezeichnen oder ausschließen, sie sind als solche bestimmt vom Produzenten und Nutzer der Sprache. In den Sprachen, den Diskursen, die mit ihnen möglich werden, ist eine bestimmte Logik eingelagert, eine bestimmte – ideologische – Sicht auf die Wirklichkeit, die die Kommunikation determiniert. Rainer Schedlinski gibt ein Beispiel:
in der schule erklärte mir der lehrer, die häuser in new york würden so hoch gebaut, weil die grundstücke so teuer wären. das wirkt schlüssig. ein anderer, eher empirisch einleuchtender diskurs lautet: die wolkenkratzerkultur sei glanzvolles zeichen des siegeswillens einer kultur, die die menschen in himmel erhebt oder in schluchten verbannt.
Die verschiedenen Argumentationszentren der beiden Diskurse stören sich gegenseitig, jeder Diskurs drückt das Zentrum des anderen an die Peripherie des eigenen. Die bestimmte Sicht auf Wirklichkeit kann, von der Logik eines bestimmten Diskurses her, in ihm nur schwer widerlegt werden. Jeder Diskurs ist einseitig, damit auch immer unwahr. Das gilt insbesondere, wir haben das kennengelernt, je geschlossener, fester ein Diskurs ist, je monologischer. Der geschlossene Diskurs ist unangreifbar, die Wirklichkeiten, die ihn gefährden könnten, filtert er aus oder behauptet sie als marginal. Die Mentholzigaretten-Geschichte des Neuen Deutschland (21.9.1989, S. 1) ist dafür ein im Grunde (sprachtheoretisch) harmloses Beispiel, weil in seiner Absurdität offensichtlich: ein Diskurs in der Agonie. Doch solange der geschlossene Diskurs noch funktioniert, gesellschaftlich allgemein ist oder gesetzt werden kann – und damit immer noch ein, abnehmendes, am Ende verschwindendes Stück Wahrheit für sich hat – kann durch diese in die Diskurse, die Argumentationsmuster, Sprachregelungen, Frage-und-Antwort-Abläufe eingelagerte Logik Macht ausgeübt werden, kann Wirklichkeit in den Diskursen, in der Kommunikation zum Verstummen gebracht werden. Das gilt bis in die intimsten Zusammenhänge. Es wird geredet und beim Reden geschwiegen. Die Zeitungen sind voll und es steht nichts drin. Das ist zugleich nur eine andere Weise, wie Wirklichkeit selbst in den Diskursen arbeitet, und es ist so nicht nur ein Problem des Inhalts, sondern als solches eines der Art und Weise der Kommunikation, ihrer Formen. Die Sprache spiegelt reale Entfremdung und Ohnmacht (auch die der Mächtigen), der Anspruch auf ein – schon erkenntnistheoretisch unmögliches – Wahrheitsmonopol äußert sich in einer Sprache, die den Dialog ausschließt, weil sie vorgibt, alles schon zu wissen und die auf jeden Versuch, ausgeschlossene Wirklichkeit sprechbar zu machen, mit Konfrontation reagiert und in veränderter Situation – wenn die verdrängte Wirklichkeit zum Zentrum wird – mit absoluter und völlig echter Sprachlosigkeit, Lähmung.
Daher ist der radikale Angriff auf die herrschende Sprache sofort ein Angriff auf die herrschende Macht und auch stets so verstanden worden. Wer sich artikulieren kann, kann sich wehren. Ein Teil der notwendigen Spracharbeit, der Arbeit daran, die Ohnmächtigen – und zuerst sich selbst – aus der erzwungenen Sprachlosigkeit zu holen, ist auch von Lyrikern wie Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Kurt Drawert, Rainer Schedlinski, Jan Faktor, Johannes Jansen und vielen anderen geleistet wurden, so wenig damit gesagt ist über unterschiedliche Qualität und Wirksamkeit. Aber daß Wandlungen so radikal eingeklagt werden konnten, hat wohl auch damit zu tun, daß unter der verkrusteten Oberfläche schon lange anders geredet und gedacht wurde, daß Formen der Artikulation produziert waren. Die Spracheuphorie und -phantasie der Demos im Oktober und November 1989 scheint mir auch ein wenig geprägt durch die Vorarbeit dieser Lyrik, so sehr sie offensichtlich, als es an die Formulierung von Inhalten ging, den Platz anderen überlassen hat oder überlassen mußte.
Trotz vieler Widersprüche – Ohnmacht wurde verabsolutiert und der eigenen Arbeit mitunter der Boden entzogen, stark hermetische Texte zeigen das, auch Tendenzen des „Wohlfühlens in der Ohnmacht“ scheint es zu geben – trotzdem: Dieser Lyrik ging es meines Erachtens um die Sprachmächtigkeit von Wirklichkeit, um die Artikulationsfähigkeit selbstbestimmter Subjekte (so eng der Kreis ist), um das Aufbrechen des Verschweigens, um die Überwindung der Entfremdung von Sprache und Sprechenden, so sehr man sie auf andere Weise reproduzieren mußte: Denn „Verständlichkeit“ war erstmal nicht zu erreichen, auch nicht gewollt, damit war die Gewalt der betonierten Diskurse nicht zu brechen, wenn auch gleichzeitig die eigene Isolation damit zementiert wird. Kaum lösbare Widersprüche und kaum lebbare Alternativen. Kurt Drawert hat diese verzweifelt zwiespältige Lage beschrieben in seinem Roman Unmöglich Lösbar: Im Kopf eines Todkranken (!) werden die Probleme scharf ausgesprochen. Der Redezwang, die lähmende Isolation. „…. auf die gleiche weiße, leere Stelle, da mir Bewegungen nur im Zentimeterradius möglich noch sind und zu sprechen das einzige ist, das mir blieb und bleiben je wird, denn allein wenn ich spreche, spüre ich, daß es mich gibt…“ – Unmöglichkeit der Kommunikation mit anderen, Verweigerung gegenüber den Mitpatienten, auf die er angewiesen ist:
In Verweigerung, hin und wieder zuhören zu müssen, und es kam mir immer eine Ewigkeit vor, und in Angst auch, verloren zu sein, sobald ich versuche, ihre mir gänzlich sinnlos erscheinende Rede auf einen mir zugänglichen Sinn hin zu übertragen, was hätte heißen müssen, mein eigenes Denken zugunsten eines fremden Denkens aufzugeben oder verrückt zu werden, redete ich das Wort Gedankenvernichtungsanstalt leise, bald schon lauter, vor mich hin, bis sie, zu Recht auch verärgert über mich, aufhörten zu reden. Gewiß tat es mir leid, Grund ihres plötzlichen Verstummens geworden zu sein, zumal sie mir ja alles Vorrecht zu sprechen gaben [das Vorrecht des aussichtslosesten Falls] und möglicherweise auch litten darunter, sich meine Reden anhören zu müssen und sich kotzelend fühlten dabei, aber es war äußerste Notwehr und ganz und gar weder arrogant noch in irgend einer anderen Weise anmaßend oder zudringlich, es ging einfach um Leben und Tod.
Auch das Ausbrechen aus dem eigenen Diskurs ist unmöglich:
Kurzzeitig dachte ich daran, einen mir selbst unverständlichen Text zu reden, denn redete ich einen verständlichen Text, verstand mich, wie mir schien, niemand. Bald schon aber war mir die Unmöglichkeit, ja die Absurdität dieser Idee klar, denn ich konnte innerhalb meines Denkens ja nur einen mir selbst verständlichen Text hervorbringen, erbarmungslos und unwiderruflich, immer nur einen mir selbst verständlichen Text, und auch die Auflösung des mir verständlichen in einen mir plötzlich unverständlichen Text wäre nur in mechanischer und meiner Denklogik entgegenarbeitender Weise möglich gewesen… Und da das mechanische Prinzip des unverständlichen Redens ein mir verständliches und meiner Denklogik entspringendes wäre, wäre zugleich auch der Text, so wie er sich auch anhören würde, ein mir erbarmungslos und unwiderruflich verständlicher Text… (in: ariadnefabrik, II/1988)
während er für die anderen nun zusätzlich noch wirr geklungen hätte.
Drawert schildert meines Erachtens mit dieser Figur die wirkliche Situation in ihrer möglichen Zuspitzung, es ist Warnung vor eigener Dialogunfähigkeit, Ohnmacht gegenüber der anderer; das Zeigen der Gefahr und der Versuch ihrer im Aussprechen Herr zu werden, die Widersprüche auszuhalten, nicht zu sterben, aber ohne wirklich zu leben, nicht zu leben und doch nicht tot zu sein. Die Syntheseversuche, die immer neuen Anläufe und Irrläufe der Szene sind, so gesehen, der Versuch, einerseits, den eigenen Sprachraum zu erweitern, das bisher Unsagbare – und so sich selbst – aus dem tödlichen Schweigen zu holen, sich, andererseits, zur Kommunikation zu öffnen, ohne von ihr verschlungen zu werden. Kunst ist hier unmittelbar Leben. Mit ihr konnte Sprache am grundsätzlichsten und am weitesten geöffnet, erprobt, konnte Kreativität am unmittelbarsten produktiv werden.
Das Zerstören der Hermetik der Diskurse wurde Teil des literarischen Programms (der Programme). Schedlinski meint, daß diese Hermetik „nur durch humor gelüftet…, durch individualität verwässert, durch aggressivität aufgebrochen oder durch kunst verlassen werden kann. Und Humor, Individualität, Aggressivität sind selbst Zeichen dieser Kunst. Wie das aussieht, soll hier am Beispiel einiger lyrischer Verfahren von Bert Papenfuß-Gorek kurz und grob dargestellt werden. Es kann dabei nur um Ausschnitte, nicht um die Texte und ihren Zusammenhang insgesamt und in ihrer Entwicklung gehen.
Papenfuß’ Ausgangspunkt ist das Wort. Er verändert Worte, analysiert sie und schafft so Voraussetzungen für neue Kontexte. Er nutzt ein Verfahren, das der Futurist/Formalist Viktor Schklowski Verfremdung genannt hat: Die übliche, automatisierte, je begrenzte Wahrnehmung von Dingen und Verhalten, von Wirklichkeit insgesamt, einschließlich der Kunstwerke selbst, kann durch Sprachkonstruktion verbogen, gebremst, gestört, aufgelöst, umgestellt, und so intensiviert werden, um auf diese Weise neue Sicht auf sich verändernde Wirklichkeit zu ermöglichen, anderes in ihr zu sehen und Bekanntes neu. Zeichen werden freigemacht für andere Assoziationen, Bedeutungen, damit für andere Wertungen.
Einige Verfahren, die Papenfuß verwendet (vgl. seinen Band dreizehntanz, Berlin und Weimar 1988): Wörter werden beschnitten und offenbaren so vor dem Hintergrund des ursprünglichen Wortes – neue Bedeutungen: errorismus – aus Terrorismus und Error (Irrtum), Irrtum, ins Fanatische getrieben; ortschritte – Fortschritt und Stillstand bzw. als Stillstand in einem Wort, dagegen: wortschritt; erniedlichung – aus der Verkleinerung wird eine Erhöhung; aber mit dem ursprünglich negativen Akzent. Oder umgekehrt, Wörter werden ergänzt: unumstaende, zerzufall – Zerfall aus Zufall ließe sich assoziieren, eine Möglichkeit unseres Jahrhunderts. Bedeutungsverschiebungen bringt auch die künstliche Trennung von Wörtern: ver-lust – was verloren geht, wird genannt –, oder vers-pott, oder in anderer Schreibweise: propheZeiung, potenZierung – die Lächerlichkeit protzender Potenz ist in das Wort aus dem Sprachschatz der Wissenschaftler und Politiker eingeschrieben: Sexuelles und Politisches ineinander.
Neue Wörter entstehen durch Vertauschung von Buchstaben: weltschmelz – Weltschmerz, schmelzen, Schmalz können verbunden werden: geschmolzene Welt im Diskosound. Oder erqueckend, umwortung – Umwertung als Veränderung von Wörtern, das Mittel von Papenfuß, verwendet mit wahrheftigkeit gegen schnulst. Veränderte Bedeutungen bringt auch das Auslassen oder Einfügen von Buchstaben: achtaben, introlektuelle, nervenklinke – manche putzen sie. Eindeutigkeiten werden ambivalent, neue Wertungen eingesetzt, getrennte Wirklichkeiten verbunden, verbundene konfrontiert, Assoziationsketten gestört und neu formiert. Erfahrungen unseres Jahrhunderts, des tagtödlichen (Johannes Jansen) Erlebens werden aussprechbar.
Schnelles Lesen, oberflächliches Wiedererkennen von Wörtern und deren Bedeutungen wird durch veränderte Schreibweise verhindert und gleichzeitig Spaß am Spiel provoziert. Statt ß verwendet Papenfuß oft ss, statt ä, ö, ü, – ae, oe, ue ; f statt v; kk statt ck; ts statt z: wegtsublaettern, im jetstkeller witaler elektriker – jetzt und Jazz in einem; hier ist das v durch das w ersetzt, nichts ist zufällig; kw statt q: kwehrdeutsch, kreuts & die kwehr; ks statt x: eksplodation; y statt i: aber yck byn eher so’n bardotyp. Sprache wird spürbar in ihrer Materialität, als Instrument, veränderbar, als selbst anzueignende Wirklichkeit, sie wird robust, kräftig, sinnlich, lebendig, sie wird umgekrempelt, aufgerissen, und ihr wird doch nirgends Gewalt angetan. Gewalt ihr gegenüber ist gerade das Zementieren der Worte, Wendungen und Diskurse.
Auch die Verwendung von Satzzeichen, von Quer- und Längsstrichen erweitert die Bedeutungsfelder, die Wörter und Texte erschließen können. Satzzeichen verwendet Papenfuß meist sparsam, fehlende Satzzeichen führen zu Bedeutungsübergängen, zu Mehrfachbedeutungen und oft drastischen Sinnüberschneidungen; die Wahrnehmung wird zusätzlich gebremst durch die Aufhebung der genormten Groß- und Kleinschreibung, die einerseits Demokratisierung und gleichzeitige Individualisierung von Wörtern anschaulich macht – Abbau von Hierarchien –, aber auch die unterschiedlichen Bedeutungen aktiviert: taube – Taube; arme – Armee, die folgenden Verse funktionieren nur auf diese Weise:
wer sich in genuss begibt
kommt genossen darin um
Prophetische Zeilen. Ähnliche Provokationen, Bedeutung im Lesen selbst zu produzieren, sich nicht auf das Gewohnte zu verlassen, erreicht Papenfuß dadurch, daß in manchen Texten jedes Wort mit großen Anfangsbuchstaben einsetzt. Man muß sich an die Bedeutungsvarianten jeder Zeile heranarbeiten, man muß wieder buchstabieren, das Wort ernst nehmen, nicht nur vage den Zusammenhang erfassen. Alphabetisierung wird betrieben, aber ohne den Leser in die Unterstufe zurückzuversetzen, sondern gerade seine Mündigkeit herausfordernd:
Die Jungen Reifen Des Uniwersumpfs
aaaWidersetzten Sich Dem Alten Machthalter
aaaaaaAles Age Mischief Les Art Magike
Immer mehrere Verfremdungsverfahren ineinander. Hier: Großschreibung, Fehlen von orientierenden Satzzeichen, Verwendung fremdsprachlicher Wörter, diese wieder im Schrift- und Lautbild verfremdet, Verzahnung von Wörtern Uniwersumpf – in ihm stecken ganze Welten oder können darin untergehen: unauffindbar, von niemandem gesucht, versumpft; Machthalter: der Anschein des „Göttlichen“ wird zerrissen, die Machthalter klammern sich an die Macht und tun vor allem dies.
Dann: Papenfuß inszeniert, was Schklowski das Entblößen von Verfahren genannt hat, er konstruiert neue, bisher nicht existierende Wörter aus bekannten und im folgenden Gedicht wird dieser Vorgang als Vorgang von Bedeutungsbildung selbst thematisiert, zwei Wörter werden ineinandergefügt und gegeneinander/ineinander bestimmt:
schikksal & „wuchtsal“
wenn kraft sich
aaaaamit masse paart
herrscht „wuchtsal“
aaaaa– die wucht der wichte
„wuchtsal“
aaaaaaaaaaschikksal
aaaaaaaaaaaussichtsreich
aaaaaaaaaaentgegenzusetzen
…
Im weiteren Text wird dies problematisiert und noch ein Wort zur Bedeutungsformierung herangezogen (ebd.) :
…
ist gleichbedeutend
aaaaamit „geschikkt sein“
– „wuchtsal“ haut
aaaaadeine nachbarn um
aaaaaaaaaaaaaaaaber
geschikklichkeit
aaaaaaaaaastrekkt
aaaaaaaaaaoh dich
aaaaaaaaaanieder.
Schicklichkeit klingt an, geschickt werden und „wuchtsal“ kann nur faßbar sein, wenn Schicksal, Geschicklichkeit, Schicklichkeit, schick sein, sich schicken, geschickt werden, Wucht und Wicht ins Verhältnis gebracht werden, wenn die Ambivalenzen, die aus der Wirklichkeit in diese Worte geraten sind, mitgedacht werden.
Wortanalyse als Spiel. An anderer Stelle werden die fließenden und in ihrer Gegensätzlichkeit sich beleuchtenden Bedeutungen von „Wert“ und „Geld“ erforscht: Geld, gelt, gelten, abgegolten, gilt, gildet. Zugleich werden Haltungen in den Bedeutungen formuliert und sogar so etwas wie eine Moral:
…
es soll kein wert
mehr mehrwert sein
denn wert ist mir
was du mir weh & ach
& ueberhaupt antust
wert ist was ich dir
an tu tu an tu an
was gilt ist nich geld
…
liebhaben gilt nicht
was ein guthaben gilt
das gildet nicht
…
& lass dich nicht
einkaeufern
Das Einschläfern am Schluß kann nicht überhört werden – es ist allemal tödlich. Eine unterdrückte Warnung, durchaus rechtzeitig gegeben, dokumentierend die Vorgeschichte dessen, was heute „Ausverkauf“ genannt werden muß.
Ein anderes Spiel, diesmal mit Nationalitäten – eine Weltbefindlichkeit wird vorgeführt:
die sich nichts fer-gaelen
lassenden iren schotten
bretonten ausdruekklich
walis der wirrus diesmal
nicht endgueltig bekaempft
werde, wuerden sie sich
er-kelten: die eih-ahr-ehj
militanzte den endsieg dazu
dass die armeen menschen
basken sich dem meuterland
ab-spanien hauns die korsen
den frank&frei-reichen drauf
den bombaskischen handschlag
des linksuntersten fluegels
der eta: fuer neue irre laender
Ein tödliches Spiel. Gegen die „bombaskischen“ Handschläge stellt Papenfuß seine „Spreng-Sätze“ (Peter Böthig), gegen den hellen Wahnsinn den Irrsinn seiner Texte und ist doch solidarisch mit den Meuterern.
Andere Texte verfremden Redewendungen oder sprachliche Formeln, die umgedreht werden: mutterseelennakkt & splitterallein, oder durch Buchstabenvertauschung in der Bedeutung blitzartig gewendet: hoch & flachschulwesen, wort & totschlag, oder es entstehen neue Wendungen aus der Deformation alter Wörter: ballizeisten & wassenschiftler (oder warens wissenschuftler?). mutterseelennakkt holt aus der eingefahrenen Rede die wirkliche Einsamkeit (das Spiel mit dem Doppelbuchstaben hält dagegen), splitterallein macht Isolation anschaulich, während wort & totschlag erhellt, das auch in und mit Sprache erschlagen werden kann. litteratortur – das trifft auch den Autor: „wer das wort hat, hat die macht“, oder: „wer’s schwert hat, hat die macht / wer’s wort hält, hält bloß wacht“. Deshalb der Wortbruch.
Diese Verfahren ermöglichen zugleich, an Spracherfahrungen anzuknüpfen. Die Texte funktionieren nicht als Texte an sich, sondern nur über den Leser, einen aktiven, Assoziationen und eigene Erfahrungen freisetzenden, der sowohl vorausgesetzt wie angestachelt, aufgeziegelt wird. Mit Lust. Mit Spaß provozierenden Verfremdungen des Laut-Bildes. Überhaupt: der Klang. Fast alles Vor-Lesegedichte, zu hören, zu spüren, zu betonen (aber schön falsch), auch still zu lesen, mit Musik denkbar, mit Bildern zusammen, im Bühnenkontext, auf U-Bahnhäfen, als Bestandteil von Aktionen und Happenings:
hochgeoehrtes & wohinaseweises
aaaaazu laut achwo komm her kwatsch
aaaaaaaaaaich setz deine triebe frei ein
aaaaaaaaaaaaaaaals treibsand seis schwammholz
lasst erklingen musik fon rokk & kloeten
aaaaa& mich diesmal noch die floeten floeten
Papenfuß tritt mit der Band ornament & verbrechen auf; die Medienbezogenheit seiner Texte macht sie vor allem für junge Menschen attraktiv, weist sie als Produkte moderner Gegenwart aus. Viele seiner Texte brauchen Musik, wie in ihnen Rhythmen, Vokabular und Themen der Rockmusik aufgehoben sind (oder vielleicht vorgearbeitet). Von daher hat Papenfuß dann auch einen anderen, glaubwürdigen Ansatzpunkt für Medienkritik:
oh tag der du ablaeufst
wie schnullis fernsehfilm
oh wohlstand deine schnulze
geigt in geilen toenen wenn
ich unser flusensieb anbete
Die Assoziationsstruktur der Texte trifft auf ein videoclip-geschultes Publikum. Die meisten, vor allem die frühen Texte von Papenfuß sind kurz, greifen Jargon auf, ohne jede Scheu vor – gerade für die Lyrik – tabuiertem Vokabular, vor kloeten oder Am Arsch Lekken, (Zu Unrecht übrigens), die Gedichte strotzen vor votzen wimmeln / von pimmeln, schwänzen & gespensten – kopftripper! Auch die Liebe bekommt eine andere Sprache, es entsteht eine andere Gefühlskultur, eine um Emotionalität zentrierte Lebenshaltung, die auch Rationalität wieder glaubwürdig zu machen vermag. Die Texte sind hochintellektuell, sie sind voller Anspielungen, Zitate historischer und aktueller Bezüge, voll Kenntnis der Lyrikproduktion durch die Jahrhunderte, aber nicht verbissen oder akademisch, sondern selektiv, spontan und deswegen nicht weniger gearbeitet – die Ode zum Beispiel wird verabschiedend erneuert: o ode // eine o ade im alten stil lauten Titel und Untertitel eines Gedichtes.
Die Bedeutungsproduktion verlangt die Anstrengung des Gedankens, des Ohrs und des Auges, ohne Komplexität geht hier kaum etwas. Die Texte haben eine Dimension, die sich nur beim Lesen erschließt: Die Ersetzung des v durch das f und w ist nicht hörbar, das & läßt sich nur lesen. Andere Texte verlangen geradezu die akustische Wahrnehmung, wieder andere sind grafisch gestaltet – da reicht auf eng rationale Entschlüsselung versessene Lektüre nicht aus, sie muß scheitern, denn die Text-Zeichen sind nicht allein „Träger“ der Bedeutung, sondern in ihrer lesbaren und hörbaren Gestalt, ihrem sich anreichernden und widersprechenden Zusammenhang erst die Bedeutung selbst – uneindeutig, aber alles andere als beliebig. Der abgestorbene, vereinseitigte Apparat der Empfindungen wird reaktiviert, in seiner Totalität angesprochen und wichtig genommen. Weil es Spaß macht und weil es weh tut und weil Deformation von Wahrnehmung und Gefühl sich als genauso gefährlich erwiesen haben wie deformiertes Denken, weil hier ein Potential der Befreiung gefunden wird, fielfalt anstatt einfalt. Dieses Herausarbeiten aus der Einfalt ist nicht richtungslos, sondern Widerstandskunst im besten Sinne. Und mit Tradition natürlich: Walter Benjamin hat, trotz letztlich negativer Wertung, die Unterwanderungskraft des Surrealismus gegen faschistische Gefühligkeit – die diese Unterentwicklung der Vernunft braucht, wie auch der Stalinismus ohne sie undenkbar ist – betont:
Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen. Das darf er seine eigenste Aufgabe nennen.
Papenfuß heute:
meiner umwelt gebrichts
an geschlechtlichkeit
Und an die Denkerfahrungen wird angeknüpft: befordergruendet – das eine Zusammensetzung aus vordergründig, begründen, fordern, befördern, fördern, (unter- und hinter)gründig; eine Wort gewordene sattsam bekannte Haltung, mit der das Vordergründige befördert und vordergründig begründet wird, weil es nicht auf die Begründung ankommt (die Entscheidungen sind im Hintergrund längst gefallen), sondern auf das Befördern in eine Richtung, die der Begründung nicht bedarf, weil ja, so der Anschein, der hier zerstört wird, alles geklärt ist, gesichert, im Interesse aller in die Wege geleitet. Wer’s akzeptiert, wird befördert. Ein absolut geschlossener Diskurs. Bevormunden klingt an und Unmündigkeit. Dagegen:
aaaaaamit nem segelschiff nach fantasien
aaaeinerlei lasst mich nur fliehn
hoeher noch zu luft & weltenschiffen
als drekkdrollige erdensoehne nachzuaeffen
aaaaaaaaa…
aaaaaaaaawer sein gedacht befordergruendet
aaaaaaeinzig & einsam in kampf & sage muendet
aaajach gefahr laeuft durch inzwischnes zu ferlogen
darzubieten juchen lebenshaders pfeil & bogen
aaaaaaaaadoch wir absagen der klasskampanje
aaaaaaaaa…
Aber nicht den kaempfen und Fantasien ist kein irgendwo/nirgendwo, sondern der freie Ort, an dem Kraft, Mut und Phantasie produziert wird, um ein seltner der sich in sein morgen webt sein zu können, der fuer die freiheit kaempfen kann. Freiheit wovon? Papenfuß faßt zusammen:
heit is heit
aaaaaaaaaaaaaaaheiten bleiben heiten
auch feitenkeiten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakeit is keit
keiten bleiben keiten
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauch keitenheiter
Fast eine Definition: Wahrheiten, die bleiben, wie sie einmal wa(h)ren, oder Freiheiten. Und Gesetzmäßigkeiten, Dreieinigkeiten, auch Feierlichkeiten und Dummheiten, Geilheiten, Einheiten, Einsamkeiten – auch die eigenen. Alles, was sich als fertig, richtig und unvermeidlich ausgibt. Es trifft die Sachen und die Worte. Dagegen wird Sprache geöffnet, weil, nicht nur bis zum Hals, sondern:
das wasser steht ueber unseren aengsten
es gibt kein lachen
aaaaaaaaaaaaaaaes gibt auch kein laecheln
alles
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaawas ihnen bleibt bleibt
gelaechter
Und (ebd.): „danke“. Stattdessen:
Wenn Fortschritt Gleichschritt
gleicht, schrei ich: Fort mit den
Wahrheiten und ihren durchgelauf
enen Schuhsohlen! Wir wollen uns
gleich frische Wirrheiten holen.
So Mitch Cohen in einem Briefwechsel mit Papenfuß. (in: schaden 14). Papenfuß antwortet:
Kunst lügt lieber, als das sie sich versteift.
Das ist vielleicht der Kern: Wirrheit als neue Wahrheit. Und zwar als letzte mögliche, denn:
Bis Dahin Sind Noch Ein Paar Jahrzehnte Zeit
Trotz aller Subjektivität, das heißt gerade durch sie, ist ein Objektives, ein allem vorausgesetzter Gang von Geschichte gedacht, ist genau das Ausgangs- und Reibungspunkt dieser Lyrik. Es sind Experimente, dem Druck bisheriger Geschichte standzuhalten, die auch in den Wörtern festgesetzte geschichtliche Macht, wo sie vernichtend geworden ist, aufzusprengen und gerade durch Individualisierung ihre Richtung umzukehren, das Tote – Wörter, Systeme, Institutionen – dem Lebendigen zu unterwerfen. Und auch das funktioniert nicht ohne Geschichte, auch sie wird verlebendigt, daraus erklären sich meines Erachtens die vielfältigen anderen Traditionsbezüge dieser Lyrik, der Rückgriff auf Plebejer wie Till Eulenspiegel und Klaus Störtebecker (sitten brauche[n] strolche), die niederdrückende wie stärkende Erinnerung an 500 Jahre Hexenverbrennung:
liebe hexen, werte hexer
ihr seid nicht umsonst
nochmal eingefleischt
wie ihr seht, brennen wir
immer noch vor begierde
leidenschaft & liebe
…
Meuterei, Anarchie, Wirrheit bei klassem bewußtsein auch das eine geschichtliche Tendenz, die gegen die verwalter, die uns verwesen (ebd.) ins Spiel gebracht wird. Das setzt das Artikulieren der zerreißenden Widersprüche lebensnotwendig voraus und das Umwerten von Werten, die nur so bewahrt werden können: Gewaltlosigkeit, Wahrheit, Liebe, Gleichheit. Es ist der Aufmerksamkeit wert, zu verfolgen, wie behutsam und zugleich schonungslos Papenfuß mit den Wörtern Wahrheit und Revolution umgeht. Die letzten Worte des Buchkapitels „wortflug“ lauten:
gehen worte
wenn ihr weiter wollt
aaaaaaaaaaaaaanoch weiter
laufen worte
wenn ihr dorthin wollt
aaaaaaaaaaaaaaawort-
flugs um bestimmten
forkommnissen zuforzukommen
for ort beim wort
aaadass kommunismus
aaaaaakommen muss
Es ist, scheint mir, ein Angebot, man kann es beim Wort nehmen – aber es meint die ursprüngliche, utopische, zugleich neue, in sich zerstrittene Bedeutung des Wortes Kommunismus, Inhalte, die eben gerade Anarchie, Wirrheit, Fantasia, Meuterland, Begierde, Leidenschaft und Liebe einschließen. was man angefangen hat, muß man auch verändern.
Achim Trebeß, Weimarer Beiträge, Heft 4, 1990
1986 bis 1989: Glasnost und Destruktion
(…) Gewiß, man könnte einen Großteil des seit 1945 in den deutschen Ostlanden recht und schlecht Zusammengeschriebenen auf die Müllkippe karren, und manche Autoren gäben dazu gern ihr Einverständnis, wenn damit eine tabula rasa möglich wäre, die sie mancher Scham enthöbe. Doch müßte ein Nach-Fragen immer wieder möglich bleiben, daher sollte es zumindest ein Geschichtsmuseum geben, in dem heilsames Nach-Sinnen befördert wird. Literatur– o d e r Geschichtsmuseum, das wäre von Fall zu Fall, von Text zu Text die Frage.
In beiden Museen hätte ich z.B. gern Bert Papenfuß-Gorek (*1956) mit seinem Text die „verendung z u m b e s t e n“, 1986 geschrieben, 1988 von G. Wolf im Außer der Reihe-Papenfuß-Band dreizehntanz veröffentlicht:
1 mein freier wille lokusbrille, selbst-
2 verstopfung, lust am lustlosen selbst
3 die teuerste rhetorik billigerweise
4 zum ersten, zum letzten, am dransten
5 einsam an der leine dräut das drange
6 dem schicken schlägt die stunde ohne-
7 hinab mit aller frischen wut nach oben
8 alles trübsal, dieses geld freiwillig
9 einer schlankeren schlange schlenkern
10 zum besten, lefzendlich, bestialisch
11 sehnsucht zu starrsucht, vater unser
12 alles ist soll & muß so sein bleiben
13 wildlings drauflos,
14 blind voll macht
15 führt die willfahrt den kurgan bergan
16 auf die ketten, zum bersten; letzten
17 selbstendlich: DIE FREIHEIT IM FREIEN
18 &’n schweineohr fettstrotzend herzlich1
Papenfuß war dreißig und bereits seit fünf Jahren freischaffender Schriftsteller, als er diesen Text verfaßte. Es war nahezu selbstverständlich für diese sechste/siebente Lyrikergeneration, daß sie Studium und Berufsausbildung schmiß, sich jobbend durchschlug und dann freischaffend und mit einem Existenzminimum in Abrißhäusern lebte, kaum Öffentlichkeit hatte außer ihresgleichen. Man lebte im inneren Kreis, belas sich gegenseitig, brachte seine Texte in selbstgemachten Zeitschriften heraus.
In dreizehntanz dann Papenfuß’ Texte, die er zwischen 17. und 32. Lebensjahr geschrieben hatte. Die einzelnen Abteilungen hießen u.a.: „notdurft“, „denkensdank“, „mittenangst“, „ablaß“, „kafftexte“, „magnopolis“ und „krampf-kampf-tanz-saga“. Da hatte er bereits total mit Umgangs-, Schrift- und schon gar mit Politsprache gebrochen, und er schrieb an gegen Dudendiktat, kokettierte mit Legasthenie, setzte Syntax und Grammatik außer Kraft, rebellierte gegen alles Schulwissen, gegen Vorschrift und Rotstift, gegen Vernormung und Reglementierung. Er ulkte, zerstörte mit Feuereifer alle (Sprach-)Konvention, um sich der Sprache auf seine Weise wieder neu zu nähern. Er gierte nach Neologismen, verballhornte, trieb Schabernack, bekannte sich zum Non-Sens, zum Kalligramm, zum Jargon, zur Profanierung und Verklausulierung – zur umwortung. Oder zuweilen auch einfach so: Alberner Bub spielt lasziv mit Sprach’: Bestellungsbestattungsentgattung:
bereits abseits seits weg schmähren schmollen
rollen reudern zu pollen reudige
zu rollen pollleuder entreuder
rein o rein o rein so rein
komm
komm dringlichst rausfliehen
ent enten zi ziehn rausziehmen
ziehn fressen scheißen reinbeißen…2
Wars wirklich nur der phonetische Jux eines Sprach- und Bürgerschrecks? Wars nicht doch Protestprotestprotest, provokativ herabgezerrt auf Porno-Niveau, soziolinguistik aus dem fickwinkel? Da wurde er mittels der OPK (Operative Personenkontrolle) Fuß längst schon aufgeklärt, verschriftet und veraktet dank seiner Dichterfreunde-IMs Fritz Müller und Gerhard; dennoch unerschrocken gefördert vom gleichfalls seit langem argwöhnisch observierten Doppelzüngler G. Wolf, der trotzig mentorierte:
Seine (Papenfuß’ – E. K.) Dichtung setzt Wort-Anschauung für Weltanschauung / Wort-Beachtung für Beobachtung / Wort-Sinn statt Weltsinn / Wort-Welt an die Stelle von Mord-Welt.3
Und K. Mickel begrüßte begeistert Papenfuß’ Verse:
Potz Luther, Schiller & Mann: ich liebe dieses kalte Feuer… Sind die Gedichte meines Freundes rätselhaft? Das Rätseln gehört zu den ältesten Vergnügungen der Menschheit; Rätsel sind, neben den Zaubersprüchen, poetische Ursubstanz…4
Und E. Jandl feierte Papenfuß gar als einen
Dichter ersten Ranges, der die Düsterkeit unseres historischen Augenblicks in Versen von hoher Qualität festhält, einschneidend und herausfordernd wie experimentelle Poesie.5
Papenfuß also einer von der DDR-Anarcho-Poetenzunft, jene allerletzte Regung und Opposition in der DDR-Dichtung, vielleicht schon gar nicht mehr DDR-Dichtung der Form nach, außer daß nun – mit fünfzehn/zwanzig Jahren Zeitverzug – in diesem Lande auch möglich wurde, was im übrigen deutschen Sprachraum bereits seine Vergangenheit hatte.
Dieser Papenfuß hatte sich – wie viele andere seiner Generation, u.a. Döring, Faktor, Grünbein, Kachold, Kolbe, Lanzendörfer, Lorek, Melle, Neumann, Opitz, di Roes, Rosenthal, Schulze, Stieler, Thulin, Zieger – längst von der übrigen offiziellen DDR-Schreibgenossenschaft, die zu Hofe gegangen und dort gesessen und gegessen hatte, abgeseilt. Erinnern wir uns: Das Schreiben war in der DDR bis zum X. Schriftstellerkongreß per Parteidekret eine ideologische Angelegenheit, Kunst war Waffe, Dichter taten Dienst, und an die dreihundert von ihnen leisteten zugleich inoffizielle Schreibdienste für das Ministerium für Staatssicherheit.
Doch die Zahl der Autoren, die Herrschaftsästhetik intonierten, wurde im DDR-Lyrikerchor immer kleiner, die Töne wurden schräger, dissonanter (flötende Raben6, der Glaube an einen Marsch in ein Reich des Glücks7 schwand zusehends. Der Kasernenhof bekam Spielecken.
Freilich, in den Lesebüchern des polytechnisch ausgerichteten Oberschülers B. Papenfuß standen noch immer die alten Parteigesänge: noch immer ganz vorn Brechts Lehrlyrik („Lob der Partei“, „Lob des Kommunismus“) und die Parteidichter Becher, Kuba und Zimmering; und der Schüler Papenfuß mußte 1975 zum Abitur die Kriterien des sozialistischen Realismus herbeten können. Und wollte er sich über DDR-Lyrik informieren, so gab es seit 1972 die Anthologie Lyrik der DDR und in ihr jener total domestierte J.R. Becher:
Es herrscht kein Herr mehr und es dient kein Knecht,
es herrscht ein freies Menschengeschlecht8
Und der gläubige Parteibarde E. Weinert:
Fest schreitet, so wild ihre Feinde auch wüten,
In Deinem (Thälmanns – E. K.) Geiste zum Sieg die Partei…9
Und der Literaturprofessor an der Humboldt-Universität W. Herzfelde war vertreten mit seiner dem Staate treu ergebenen „Ballade von der Liebe“, und gemeint war die Liebe zum Staate DDR:
Was du beginnst
beginnt mit unsern Händen
Was du ersinnst
wir wollen es vollenden
Und was du brauchst
wir werden es dir geben
…
Es hat, wer dich verletzt,
auch uns verwundet
und ein Freund ist uns
wer Freundschaft dir bekundet…10
So ging das fünf Seiten lang. Da war Papenfuß schon angewidert vom Mißbrauch der Sprache und Dichtung, und er zog für sich daraus den Schluß, mit der Sprache subversiver umzugehen, Herrschaftssprache und offizielle Sprachregelungen auseinanderzunehmen und aus den Trümmern etwas Neues zu bauen.11
Die parteilich protegierten Dichter, die sich – zumindest zeitweilig – als ideologische Aufklärungsfanatiker prostituierten und mittels kategorischer Imperative einen dogmatischen Moralismus predigten, waren Papenfuß zutiefst suspekt. Aber wie sich einer apparativen Vereinnahmung entziehen? Jaspers’ Einkehr in Stille, zu individuellem Selbstsein12 war Papenfuß keine Alternative, obzwar ein Verkriechen in Nischen und Abtauchen in Schweigen durchaus auch eine geübte alternative DDR-Dichterpraxis war. Auch Schillers edele Utopie von einer Veredelung der Sinne durch Erziehung unseres Empfindungsvermögens war dem aufgereizten Papenfuß nur Hohn wert. Freilich auch der Imperativ humanitatis. Humanismus und Ethik hatten nicht im Lehrplan gestanden. Von einer Seelenkraft spendenden Ästhetik des Humanen13 dürfte der in DDR-Lehranstalten Herangebildete weit weg gewesen sein, und er zog diese Human-Ästhetik auch als Gegen-Ideologie oder als Gegen-Macht nicht in Betracht. Bekenntnisse wie Bölls Alles, was ich schreibe, entsteht aus… Verantwortungsgefühl lagen ihm fern. Auschwitz war ihm lediglich eine Vokabel aus dem Geschichtsbuch, neue Auschwitze lagen hinter sieben Bergen. F. Fühmanns Von Auschwitz komme ich nicht mehr los und Dichtung ist das Andere zu Auschwitz oder Th. Adornos Nach Auschwitz läßt sich kein Gedicht mehr schreiben oder gar dessen Imperativ Daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe brauchte Papenfuß als Nachgeborener nicht zu verkraften. W. Försters Erkenntnis, daß Kunst vor allem die Gestaltung einer
Leiderfahrung in diesem KZ-reichen Dasein sei, war Papenfuß in dieser Konkretheit kein Thema. Mögen die Kirsten der Blutstraße immer eingedenk bleiben und die Jewtuschenko Maso-Poesie betreiben:
Ich habe keinen je ans Kreuz geschlagen…
Doch muß als Schuld ich an den Händen tragen
der Menschheit Blut, das sie vergossen hat14
Woher sollte Papenfuß solche Last kennen:
In meiner Brust sind mehr als siebzig Länder…
sind die KZs der Welt…
Ich bin aller Zeiten Altersgenosse, der Landsmann
aller Erdenbürger und außerirdischen dazu15
Die Rede ist schon lange von militanthumanistischer Littérature engagée, einer Literatur, die weiß, daß man gegen totalitäre Ideologie eine Gegen-Ideologie ins Feld führen muß; man braucht ein Messer, um das Viehische am und im (Un-)Menschen zu tranchieren. Die Moral als Galeere, auf der man freiwillig dient (P. Eluard), Poesie als letzte Instanz (J. Przybos), die Kunst als das Kreuz, an das man sich schlägt (G. Benn) – was wußte einer, 1956 in der DDR geboren, von Adorno, Heidegger, Jaspers, Eluard, Przybos, Benn?. Selbst P. Celans Humanpostulat
Entmündigte Lippe, melde,
daß etwas geschieht, noch immer
unweit von dir16
wurde da auf Prenzlberg-Erfahrung nivelliert. Papenfuß war jegliche Moral verdächtig. Viehischer Zustand o d e r moralische Sklaverei war ihm keiner Nach-Frage wert. Mit dem Begriff Gewissen als sozialer Schuldinstanz konnte er nichts anfangen. Als zu gewissenlos hatte er die Machtinstanzen erlebt und deren Lug- und Trugabsichten längst durchschaut. Seelenkloß und Seelensoße steckten nicht in seinem Hals, nach seelischer Hygiene war ihm nicht zumute, das Gewissen als tief nach innen tobendes Inferno war ihm fremd. Wenn schon Gewissen, dann als rein pragmatischen Selbstschutz, als Skalpell, das das Machbare vom Nicht-Machbaren trennt, also als Vorzensur zur eigenen Absicherung, aber die Selbstkastration dabei so minimal wie nötig. Dennoch, auch Papenfuß litt an der Paranoia, die in der DDR unter seinesgleichen grassierte, indem man niemandem trauen konnte:
als der verrat in mein leben trat, war ich grad’
über die ersten zirzen der eifersucht hinaus
um gerechtzeitigerweise noch mitzukriegen
was schon lynchte & was bloß übertünchte17
Das Wissen um die DDR-Tünch-und-Lynchsprachregelung konnte einen Sprachartisten wie Papenfuß schon in den Zynismus treiben. Davon wird zu reden sein. Vorerst aber war da das Elementarerlebnis Angst, doch er hatte auch den Willen sich nicht krank machen zu lassen. Er ahnte die Phobien, die die Haushofmeisterseelen aller Zeiten durchmachten, doch er war nicht bereit, sich das Gemächt freiwillig zu amputieren.
Aus meinem Tagebuch von 1986, bei Abschluß der Auswahlarbeiten für das Manuskript des 8. Bandes der Offenen Fenster:
Was für ein Land, das eine Littérature engagée n ö t i g hat! Was für ein Unterschied, ob sich ein Eichendorff oder ein Eichmann oder ein Mielke am Schreibtisch zu schaffen macht oder vielleicht ein Jonas: Sorge, daß eine Menschheit sei! Ich rede von einer Ästh-Ethik, zunächst noch unberührt vom Streit, ob der Ethik die Palme gebühre (Bourdieux, Böhme) oder der Ästhetik (Nussbaum, Foucault). Als Leser habe ich meine Entscheidung freilich längst getroffen, und ich bekenne mich zu Brechts vielleicht altmodischem Imperativ in der Kunst müsse alles erlaubt sein – außer der Verherrlichung von Gewalt und Krieg. Und: Keine Feier einer wie auch immer gearteten imperialen brutalen Tat! Zutiefst im Innern vielleicht gar so: Kunst als Möglichkeit einer Errichtung eines Reichs der Wärme in einer Welt der Kälte (Beuys).
Um Gotteswillen kein konsequentialistischer Aufkläricht, keine kalten Kant’schen Sittengesetze, mit denen man jeden Robespierre zu einem Tugendhelden hochstilisieren kann! Gar zu gern gäbe ich den Kunstpuristen die Palme: Der Dichter setze Sprache in Gang, spiele mit seinen Figuren – was da Starkstrom Gegenwart (Bachmann)! Raus aus den Schraubbacken der Zeit! Nicht gerade affirmative Schönheitsästhetik, aber doch das Gedicht in Zelebration, die Poesie als heiliger Bezirk (Hopkins), der Dichter als Perlentaucher. Mag Arnold Zweig auch lästern: Technisch hochbegabt wie ein Insekt aber ethisch unterentwickelt wie ein Maulwurf. Also auch das: Freie Bahn dem lyrikenden Playboy der seinen Sunnytrieb mittels durchaus echten Talents sublimiert. Wer die Freiheit bejaht, muß den freien Flug begrüßen. Am Ende fördert das doch den Feinsinn des Menschen, ist es Sensibilisierungstraining, befördert Hochkultur vielleicht doch die Basiskultur. Schließlich sei das Leben nur in gelungener Form zu ertragen. Müsse man denn unentwegt beim Anblick der Pyramiden an das Geschrei der Sklaven denken, die dort zu Tausenden verreckten?
Dennoch graust mich bei dem Gedanken: anything goes; Liebe und Mord mit gleichem Existenzrecht (de Sade, Nietzsche). Es graust mich vor den Müßiggängern am Rande des Abgrunds: Ich habe nichts zu sagen / und ich sage es / und das ist Poesie / wie ich sie brauche (J. Cage). Führt das am Ende nicht doch durch eine Hintertür zur Entmenschlichung des Menschen (Adorno/Horkheimer)? Mobilisiert Narrenfreiheit nicht auch die Furien des Schreckens?
Gewiß, Papenfuß’ verendung-Text bietet hierfür nirgends Beleg. Er i s t ein Stück Littérature engagée, und er weist seinen Autor als einen Kyniker aus, wie ihn P. Sloterdijk beschrieben hat: ein Hund, der von unten gegen oben bellt.18 Papenfuß hatte einen Bock auf alles, was mit Machtmißbrauch zusammenhing. Es war jenes offensive, empörte Sich-Verweigern einem totalitären Du-Sollst gegenüber. Eine aggressive, polemische Optik, eine freche Sklavenposition. Da betrieb einer literarisch Beschattung, Observierung der Machtriege mittels weitgehend furchtlosen Engagements, und das nicht nur als respektlose Behauptung einer Kammerdienerfreiheit, eher jene Respektlosigkeit, mit der Diogenes den Großen Alexander aus seiner Sonne gewiesen haben soll, eine möglicherweise mittelbare Infektion durch den Geist der Voltaire, Rousseau, Montaigne, Büchner, Grabbe, die Papenfuß wohl kaum aus seiner Lektüre kannte; eher war er geprägt durch die Konterbande der Heine und Biermann, vor allem aber durch die klassische Literaturmoderne der Stramm, Ball, Goll, Schwitters und Chlebnikow bis Heißenbüttel und Jandl. E. Jandl kannte er persönlich. Der war 1982 – anläßlich einer Lesung im Palast der Republik – inoffizieller Gast im Prenzlauer Berg gewesen und hatte dort seine Jandlianer (Jandl im Landl) kennengelernt, und sie ihn.19 Und 1985, also ein Jahr vor Papenfuß’ verendung, waren in der DDR Die erloschenen Wörter – Lyrik aus der BRD mit Texten von Heißenbüttel, Enzensberger und Mon erschienen; und im gleichen Jahr gabs auf dem DDR-Büchertisch auch E. Jandls Augenspiel und F. Mayröckers Das Jahr Schnee. Spätestens jetzt geriet also Papenfuß – seiner kritisch-ironischen Ausstattung entsprechend – voll an die literarischen Rebellen der sechziger und siebziger Jahre von Jenseits der Mauer. Und sie wurden ihm zu Mutmachern und Anregern. Doch zu dieser Zeit war ihm eigentlich schon jedes Mittel recht sich vernehmbar zu artikulieren und zu provozieren. Und er schrieb an AUS ALLER GESCHLOSSENHEIT / GEGEN VOLLZUG UND GEWAHRSAM20, gegen gesellschaftliche ferfestigungen & bekwehmlichkeiten und nistete sich ein for ort beim wort21
Zitieren wir aus seinen poetologischen Selbstaussagen:
meine sprechmeise
spricht leise weise
spricht haut laut
spricht haut zu22
gegen imperiale sprachkonzepte
aaagegen konsequenz, gegen das hochdeutsche
aaaaaafür das niederdeutsche unterdeutsche
aaaaaaaaain aller deutlichkeit undeutsche23
Seine Texte seien ihm mystisch-mechanistische perplexe, hysterienspiele auf des gedankens schneide, dreckzauber, brüllwarmes oder eiskaltes rumaasen, zurechtgekultet und abgeelft, seien soziolinguistik aus dem fickwinkel, sieche, pisse. Seine grundtrauer sei überhaupt nur noch zu ertragen mittels ironie; daher klage, zank und schrille töne oder trunkenes dallern, das mich befreit.24 Und Papenfuß flanierte hin und her zwischen Rotwelsch, Jargon, Argot und Zote.
Zu Beginn seines verendung-Textes die umwortung des Kalauers Mein letzter Wille: einer mit Brille – E. Honecker, der Erste Brillenträger der Nation – in mein freier wille lokusbrille. Und damit war Papenfuß sofort auf Latrinenniveau, beim Politporno, dem er mit selbst- / verstopfung auch gleich einen pathogenen Tatbestand hinterherschickte. Daß er sich mit diesem Latrinenniveau auf die Königsebene zu begeben gedachte, belegen Schlüsselwörter und Redefiguren wie wut nach oben (Zeile 7), vater unser (= Landesvater? Zeile 11), voll macht (Zeile 14) und auch das schweineohr fettstrotzend (= Mielkes Stasiohr? Zeile 18).
Im Finale – zwischen den Signalwörtern ketten und schweineohr – großsprecherisch in Versalien:
DIE FREIHEIT IM FREIEN!
Eine Ätsch-Erkenntnis, ein Zirkelschluß. Da drehte sich einer mal kurz im Kreise und schwitzte dabei aus: eine Tautologie, die ein Nonsens zu sein scheint. Oder steckt hinter solch haarsträubender Platitüde nicht doch ein Tief- und Hintersinn? Wollte da einer mitteilen, Freiheit könne es nur im Freien und unter Freien geben, nicht aber in einem ummauerten Ghetto und unter Knechten? Oder: die Freiheit stehe im Freien, im Regen, auf dem Trockenen, im Sand, sei obdachlos, habe kalte Füße, friere? Doch solches Aufgebot an scheinbar verquerem, verquastem Sprachbombast um solch einer Aussage willen, die die Spatzen 1986 doch längst von allen DDR-Dächern pfiffen? Oder wars ein parodistischer Frontalangriff auf die längst paradox gewordene Losungssucht und Transparentitis zu hohen Staatsfeiertagen? Papenfuß also ein DDR-Eulenspiegel?
Die verschrobene Titelzeile hatte ja bereits vorgewarnt: die verendung z u m b es t e n. Nicht die Verwendung zum besten und nicht die Veränderung zum besten, sondern Verendung. Da stirbt etwas, verendet, verreckt. Da wurde Abdeckerei betrieben am Besten. Ein Bestes würde es also nicht geben, es sei denn, es verende erst etwas. Was? Das Schein-Beste? (Das Oben und der Landesvater werden erst später benannt.) Nein, es stand nicht zum besten im Staate Dänemark. Oder hielt uns da nur einer auf spöttisch-saloppe Art mit Rätsel-Nüssen zum besten? Wars Destruktion als Befreiungsversuch (Wellershoff)?
Einen Nonsens-Trip wollte uns dieser Papenfuß wohl nicht langschicken. Eher schien es eine Schnitzeljagd nach verstecktem Sinn, wie es in der DDR unter kritischem schreibenden Volk seit langem Usus war. Und Papenfuß häckselte seinen Text, ließ die Zeilen ganz und gar mitten im Wort wegbrechen (Zeilen 5 und 6), dann zog er wieder schelmisch Antinomien aus dem Hut und forderte Widersprüche heraus:
Lust – lustlos, teuer – billig, zum ersten – zum letzten, hinab – nach oben, Sehnsucht – Starrsucht.
Oder er ging uns mit Pleonasmen, die in der Andeutung steckenblieben, auf die Nerven, veranlaßte den Leser zur Ambiguität. Der stieß auf Asyntaxismen, Agrammatismen, Vokalismen, Alliterationen, auf Parachesen (Zeile 9), Metaplasmen (lefzendlich) und Neologismen (Zeile 15). Ein Taschenspieler und Wortakrobat führte uns da seine slapsticks vor, ein durchtriebener Bruder Lustig fiedelte auf der Sprachgeige. Was zunächst wie ein labyrinthisches Dalbern und Salbadern mit Versatzstücken aussah, erwies sich am Ende als trickreiche Provokation. Und assoziierte das herzlich am Schluß nicht einen Briefschluß: herzlich dein bert papenfuß? Der Text also als vertrauliche Mitteilung des Autors an den fiktiven Leser, an einen Kumpan, Komplizen: Nicht wahr, du weißt, was ich meine, wir verstehen uns schon, wir sind uns einig gegen die Konsorten da oben, gegen den schicken Erich, dem hoffentlich bald die stunde schlägt (Zeile 6).
Der an renitenter DDR-Lyrik geschulte Rezeptionshedonist, daran gewöhnt, die Texte regimekritischer Autoren wie ein Fährtenleser, Rutengänger, Spürhund nach Indizien abzusuchen, mutmaßte natürlich mit konspirativer Libido hinter einem Begriff wie kurgan (Zeile 15) ein Schlüsselwort, zumal er mittels assonanten Schlagreims (bergan) und durch den Neologismus willfahrt (gewiß eine umwortung von Wall-Fahrt, was ja Mauer-Fahrt/Grenz-Fahrt auch assoziiert), der seinerseits durch den assonanten Schlagreim führt demonstrativ verstärkt wurde. Also kurgan vielleicht jene Zyste, die den gesamten Textorganismus metastasierte? Ein Strahlwort, eine Untergrundenergie?
Doch fahndete man in deutschen Lexika umsonst nach der Vokabel kurgan. Allenfalls fand man sie im Russisch-Slownik oder in einem Atlas mit differenziertem Kartenmaterial, auf einem Meßtischblatt vielleicht, und sie meinte dort allgemein einen Hügel und topographisch ein Bergmassiv im tadshikisch-afghanischen Grenzbereich, durch das die Heerstraße von Dushanbe nach Kabul führte, Nachschubbasis für die damals – 1986 – imperiale Sowjetmacht. Den kurgan bergan rollten die Panzer (ketten) der Invasoren. Wir befanden uns mitten im Afghanistan-Krieg, der selbst zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch scharf tabuisiert/verschwiegen/verdrängt wurde. Lediglich die Westmedien berichteten über diesen zynischen Kolonialkrieg.
Von kurgan aus erhielt nun der Papenfuß’sche verendung-Text eine Doppelbedeutung: Er wurde gleichzeitig zum Appell zur Be-endung des Afghanistan-Kriegs zum besten.
Spätestens hier wird deutlich: Kritische DDR-Lyrik, wollte sie die Zensur überlisten mußte Kassiberlyrik sein. Sie verpackte, verschachtelte, codierte Kommentare zu Zeitereignissen, war Botschaft. Sie war daher primär oft mehr ein geschichtlich-situatives als ein poetogenes Phänomen. Sie bedurfte zu ihrer Dechiffrierung weitgehend einer personellen Proportionalität25 So trat zu ihrer Provinzialität (infolge verhinderten Zugangs zu weltliterarischen Sensationen) eine enge Zeitspezifik und machte sie oft vollends zu einer temporären Angelegenheit. Die politische Nötigung des Autors, sich gewitzt als Äsopscher Verpackungskünstler zu bewähren, schuf einen Typ Lyrik der einen vom gleichen Zeitgeist gespielten Leserkomplizen26 voraussetzte. Das war das Dilemma dieser Lyrik, aber auch ihre temporäre Chance, denn sie erfüllte als Konterbande eine wichtige Gebrauchsfunktion innerhalb der dristen geistigen Hermetik.
Und Papenfuß war vielzu sehr Zeitgenosse, um dieser Verstrickung entgehen zu wollen. Was ihn als Autor über gängiges DDR-Niveau hinaus vielleicht rettete, war, daß er ein sprachgewiefter Kumpan jener lästerlichen Zunft war, die ihre Konterbande im Narrengewand unter die Leute brachte: Eulenspiegel ist bereits benannt, das clevere Kasperl gehört dazu, der traun-tölpische Hans Wurst, der gewitzte Harlekin, der bauernschlaue Sancho Pansa, der pfiffige Schwejk, Brauns raffinierter Kunze, die allesamt den Bonzen keck und wagemutig zu verstehen gaben: Kein Mensch muß müssen (G.E. Lessing), außer scheißen und sterben (H. Müller), eventuell muß das wort noch müssen (B. Papenfuß). Also jene Ambivalenz aus Ehrlichkeit und Bosheit, die zuweilen nur deshalb überlebte, weil sie sich zur Lottermoral bekannte: Lieber rot als tot, lieber feig als tot; die zuweilen aber auch mit aller Konsequenz auf Knast setzte anstatt auf den Partys ihrer Unterdrücker zu tanzen. Es waren die vigilanten Skeptiker oft, die Verweigerer, Aussteiger aus einer zynischen Kaderpolitik, kynische Wühlmäuse, denkfähige Satyre, die konstruktive Destruktion betrieben, intellektuelle Résistance, die der Über-Macht ein Licht aufsteckten, hinterhältig und lakonisch deren Vivisektion beschrieben und Entblödung im Sinn hatten27 mittels sprachlicher Eskapaden. Eben solche, die hinter oft sklavensprachlicher Maske das Ver-Rückte geraderücken wollten. Also dreimal ja in totalitärer Zeit zu solchen suspekten, konspirativen Kynikern und zu deren literarischem Hundegebell.
Shaftesburys Test of Ridiculousness (Wir brauchen das Gelächter, um zu sehen, ob es trifft!) mochte durch solche Kyniker wirksam werden: Angriffe auf Schein-heilige Werte, deren Hohlheit offenbar gemacht werden mußte. Literatur im Spannungsfeld ideologischer und gegen-ideologischer Energien.
Doch müßte es schon eine Grenze geben, die den Umschlag kynischer Energien in eine zynische Prätention markierte, nämlich wenn sich der Autor nur noch als Allesverächter positioniert und Kunst lediglich noch als Horror Picture Show akzeptiert. Dazu zählen jene laxen, lasziven literarischen Grandseigneure, die sich genüßlich in ihre west-östlichen Diwane fläzen und auf alle Welt verächtlich spucken; die allenfalls noch vom großen farbigen Knall träumen, damit dieser Kotfleck Erde in einem Overkill endlich ins Nichts explodiert. Das hört sich im Kultkeller auf der Nagelstiefelparty und im Soundtrack eventuell so an:
Ich stille meine Gier nach Menschenfleisch
mit Zyklon B und Gift und Blut.
Ich reiße dir die Därme aus
und stille damit meine Wut… (aufgenommen 1994)
Da ist kein Übergang mehr zu den Bajonett- und Pogromtexten schlimmster Sorte. Das sind bereits welche.
Weiter aus dem Tagebuch von 1986:
Vielleicht gehöre ich zu jener längst überlebten Generation mit Todesmarscherfahrung, die sich eingeätzt hat. Ich werde das Menschenantlitz mein Lebtag nimmer los, das sich zur Killervisage verfratzen kann binnen kurzem, aus der es Flamme empor! schreit, wenn Menschenleiber stapelweis angezündet werden. Und dennoch: auch ich bin mir keinesfalls sicher, was ich getan hätte, wäre ich unter bestimmten Bedingtheiten zu den Öfen von Auschwitz abkommandiert worden. Oder: Wenn Menschen, die gleiche Worte sprechen wie ich und eine gleiche Musik lieben wie ich, nicht davor sicher sind, Unmenschen zu werden, woher beziehe ich fortan meine Zuversicht, daß ich davor sicher bin? (Max Frisch)
Oder der Prenzlberg-Tarzan A. Endler:
Mein Gott, wie kreuz und quer es zuweilen in meinem Kopf hin- und herschießt!28
Und bei E. Toller ist nachzulesen:
In jedem bellen die Eishunde.
Und Goethe wußte sehr wohl um den potentiellen Zynikeranteil, um die zweite, die Zynikerseele, selbst im strebsamsten Menschen, die beständig bewußt machen möchte:
Alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht!
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
Ein Werbeslogan gar will einreden:
Warum also leben, wenn Sie schon für zehn Dollar beerdigt werden können?29
Der Zynismus liegt auf der Lauer. Bedient sich seiner mit strategischer Absicht und mit ideokratischer Mission ein autoritäres oder gar totalitäres Regime als Staatsraison, dann bedeutet das über kurz oder lang administrative Ausschaltung jeglicher Vernunft. Stattdes tritt eine andere Logik in Kraft. Eine Ästhetik der Verachtung mit ihren Orgien der Verhetzung mittels perverser Semantik setzt sich durch, und die Blumen des Bösen beginnen zu wuchern. P. Sloterdijk hat ihre Protagonisten ausgemacht in Chefetagen, Redaktionen und Lektoraten. Er kannte die Führungsoffiziere des MfS nicht.
Dante war ein Kyniker. Und James Joyce? Und Henry Miller? Und Charles Bukowski? Und der Katastrophenliebhaber Heiner Müller? Und etliche der Prenzlberg-Anarchos, -Szenis, -Gruftis? Und Bert Papenfuß? Nistete in seinem verendung-Text nicht auch in manchem Zeilendurchschuß zynische Gebärde, die lästerlich-lüstern-lasziv die Lefzen schürzte, nach Rache lechzte und dabei die Satyrkeule schwang:
Hunde, wollt ihr ewig leben? Wildlings drauf auf die Schweine!
Also Ausstülpung eines archaischen, teutonischen Rigorismus, Haßkultur par excellence: Seht her, wie böse ich sein kann! Oder ging da ein Kyniker, selber Urhund und Urschwein, nur konsequenterweise bis ans Ende der leine, an der er geführt wurde (Zeile 5)?
Als sicher gilt: Da war einer zutiefst angewidert vom DDR-Provinzmief, und es machte ihm diabolisch Spaß, als kynischer Untergangsvoyeur die verendung z u m b e s t e n bzu vermelden. Moral war ihm kein Thema:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanicht genug, daß ich worte mache
aaaaaaaaaaaajetzt soll ich sie auch noch halten
& tugend suchend taugen & sauchen30
Schreiben war ihm: jeglicher menschlichkeit hohnlächeln!
mein nam’ ist scharwenz von & zum schein
großes kaleptego; mein sprach- spiel ist ein leben
das ich schüttele31
Und dabei bekannte er:
Moral muß man eher provozieren als sie innehaben. Innehaber der Moral produzieren Unterdrückung, Lüge, Amoral.32
Womit er recht hat und – gottlob – auch nicht.
(…)
Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995
TIP: Bist du ein politischer Poet?
Papenfuß: Angesichts der jetzigen, unerhörten Verhältnisse in der DDR würde ich das lieber verneinen.
TIP: Du fährst seit Jahren von Ost nach West und umgekehrt. Welche Richtung bevorzugst du?
Papenfuß: „Führt nicht jeder Weg doch immer nur nach Haus?“ (Enno P. Gramberg)
TIP: Gibt es noch immer den Ost-Bonus für DDR-Künstler?
Papenfuß: Im Zuge der grasierenden Liberalisierung der „DDDR“ geht der natürlich langsam gegen Null. Biermann z.B. hat noch voll abgefaßt. Sascha Anderson schon weniger, ich eher mau, und die neu einreisenden Paßgänger werden richtig arbeiten müssen wie alle anderen auch.
TIP: „DDDR“
Papenfuß: Weiß ich auch nicht, aber das ist irgend so ein Witz. Man findet ja kaum noch Zeit dem Volk richtig aufs Maul zu schauen.
TIP: Arbeitest du noch mit Malern und Musikern zusammen?
Papenfuß: Ja, und zwar richtiggehend flächendeckend.
TIP: Verstehst du dich als „Oppositioneller“?
Papenfuß: Nein, als „Gegner“ im Franz Jungschen Sinne.
TIP: hast du Pläne für deine Vergangenheit?
Papenfuß: Gegenwartsbewältigung, auf der Hut sein, alle Ironie könnte wahr gewesen werden.
Dieses Gespräch wurde vor dem 9. November 1989 geführt.
Mit Bert Papenfuß-Gorek und Rainer Schedlinski sprachen Jürgen Deppe und Stefan Sprang.
Papenfuß und Schedlinski gehören zu den wichtigen Avantgarde-Autoren des sogenannten „Prenzlauer Berg“: Konzepte führte im Juni ein Gespräch mit den beiden im Wiener Café, Schönhauser Allee, Ost-Berlin. Im Anschluß an das Interview findet sich im Magazinteil ein Beitrag „Zehn plus eins gleich Öffentlichkeit“, der Einblick gibt in die Szene und die aktuellen Entwicklungen, insbesondere das Verlagsprojekt „Galrev“.
Jürgen Deppe & Stefan Sprang: Wie hat Eure literarische Arbeit begonnen? Bert, von Dir habe ich gehört, daß Du schon sehr lange schreibst, Deine ersten Texte schon mit fünfzehn gemacht hast. Was hat sich Deiner Meinung nach seitdem verändert?
Bert Papenfuß: Ich werde heute mal eine andere Version liefern. Angefangen habe ich mit vierzehn, damals war ich T.Rex-Fan und habe dann Texte übersetzt und Hermann Hesse gelesen. Jedenfalls war das eine sehr hippieske Mischung aus Pop und kitschiger Hesse-Lyrik, die ich gemacht habe. Später habe ich eine bessere Freundin gefunden, die war ein bißchen verrückt und älter. Sie hat Marx und Hölderlin gelesen. Vor allem mir laut vorgelesen. Dann, als ich mich schon von der Frau trennen wollte, habe ich in einem Antiquariat aus irgendeinem Grunde Was ist Metaphysik? von Heidegger gefunden, wahrscheinlich auf der Suche nach Hesse. Ich habe dann Heidegger gelesen und hatte damit einen gleichgewichtigen Partner in Streitgesprächen meiner Freundin gegenüber. In ihr dialektisches Vorgehen zwischen Hölderlin und Marx konnte ich Heidegger einschieben. Dazu kam noch eine erstaunliche Politisierung – und zwar eine völlig andere, eine linksradikale, eine anarchistische. Ich will nicht sagen, daß ich Anarchist geworden bin. In der Auseinandersetzung mit Heidegger hat mich die Sprache, die Sprachbehandlung unheimlich interessiert. Ich habe dann auch ganz profan anarchistische Texte gelesen, besonders alte, 19. Jhd. und Anfang dieses Jahrhunderts: Landauer, Rudolf Rocker und wie sie alle heißen, die an sich eine sehr uninteressante Sprache haben. In diesem Spannungsfeld habe ich mich bewegt. Natürlich habe ich auch Schwitters und so ein Zeugs rezipiert, nicht die russischen Futuristen. Die waren damals noch nicht sehr populär in der DDR… Klar, Dada, Schwitters usw., viel Persiflage kam noch dazu auf politische Propaganda-Sprache, Zeitungssprache. Hatte ein gutes provokatives Element. Und daraus entstanden die ersten Texte.
Rainer Schedlinski: Ja, wie war das? Ich habe Wirtschaftskaufmann gelernt, und drum habe ich für meine Abschlußarbeit eine Schreibmaschine geschenkt bekommen, um die zu Hause zu schreiben. Also fiel mir nichts Besseres ein, immer auf dieser Maschine zu tippen, also habe ich eine Erzählung geschrieben. Ich hab die heute noch, aber die ist furchtbar schlecht. Dann hab ich’s wieder vergessen für ein paar Jahre. Ich war bei der Filmdirektion, habe Öffentlichkeitsarbeit gemacht und für Zeitungen Kritiken geschrieben. Hat mir sehr gut gefallen, weil man das sehr gut verklausulieren konnte. Es haben sowieso nur bestimmte Leute gelesen. Die haben alles gedruckt, wenn es nur ein bißchen nett geklungen hat. So habe ich eine Verliebtheit zum Schreiben gekriegt. Gerade durch die Auseinandersetzung mit diesem herkömmlichen Zeitungs-Deutsch: Die ganze Kulturkritik bestand nur aus Versatzstücken. Dazu hatte ich keine Lust. So bin ich immer mehr zu lyrischen Formulierungsweisen gekommen, kam zum Gedichte-Schreiben. Als ich mich mit den Zeitungen verkrachte, habe ich halt nur noch Gedichte geschrieben. Das war die Geschichte.
Papenfuß: Na, das war ja auch mal ne andere Version.
Deppe & Sprang: Es kursiert die These – vorausgesetzt, Eure Texte sind innovativ, sind avantgardistisch –, daß eine solche Literatur nur unter repressivem Druck entstehen kann. Haben die besonderen Bedingungen in der DDR eine wichtige Rolle gespielt?
Papenfuß: Ich habe vorhin schon einige Quellen beschrieben. Es kommt auch auf den Druck an, aber natürlich auch auf die Ingredienzien. Was ist drin im Gefäß? Wenn der Druck groß ist, dann passiert viel. Es kommt viel nach außen. Das ist ja der Begriff: „Emotion“. Wenn sich das dann auch noch formulieren kann, Sprache hat, dann könnte es interessant werden. Es wird ja gesagt, das es interessant geworden ist. Ich bin auch sehr überzeugt von meinen ersten Texten. Es ist wichtig weiterzumachen, aber im Prinzip geht es dann nur noch in die Breite, ins Filigrane, ins Ornament, wird untermauert. Man ummauert. Aber man gerät immer mehr in die Gefahr, sich selbst einzumauern. Es ist eine ständige Auseinandersetzung: Maure ich mich ein, komme ich wieder raus. Gibt es Ausflüchte, oder eventuell richtige Auswege, gar richtige Wege? Was ist wichtig in diesem Zusammenhang? Die ersten Sachen sind nicht so durchgestylt, aber die Pression ist stärker, die Intensität der Emotion.
Deppe & Sprang: Noch einmal: Wie stark spielt dort die DDR-Wirklichkeit mit?
Papenfuß: … als Druckausüber…
Schedlinski: … ja, das sind ganz komplexe Situationen. Wenn man sagt, man hat T.Rex gehört oder ne Schreibmaschine gekriegt, dann nennt man nur den Anlaß, beschreibt nicht den Grund. Diese Reaktion auf die DDR-Wirklichkeit zu beschreiben; da ist ein Autor selbst überfordert. Das ist eine andere Aufgabe, theoretisch zu reflektieren. Ich habe mir auch Mühe gegeben, das rauszukriegen, aber man kann es nicht erschöpfend beantworten.
Deppe & Sprang: Als einen Ansatzpunkt für Eure Arbeit habt Ihr beide Zeitungssprache genannt, die „offizielle“ Sprache wie im Neuen Deutschland. Man kannte die Formulierungen schon vorher…
Papenfuß: … das war durchaus witzig und spritzig, formuliert, wenn man es ironisch genommen hat, die entsprechende Lesehaltung dazu hatte. Frank-Wolf Matthies hat das mal als „surrealen“ Prozeß beschrieben, den DDR-Journalismus. Das reicht aber nicht. Es muß schon ein starker Druck auf die Persönlichkeit ausgeübt werden, damit die entsprechende Haltung entsteht, kreative Äußerungen zustande kommen. Insofern spielt die politische Pression in der DDR eine Rolle. Ich kann mir auch vorstellen, in einem anderen Land zu sein, Polen, es muß nicht der Ostblock sein, es kann auch West-Deutschland sein, daß auch da die Pressionen des Überbaus auf einem lasten. Und daraus könnte auch was entstehen. Das wäre bei mir sprachlich vielleicht anders geworden.
Deppe & Sprang: Und wie stark ist der Einfluß der „Szene“ Prenzlauer Berg einzuschätzen, in der sich so viele kreative Kräfte zusammengefunden haben? Ist es ein Ghetto der kreativen Kräfte? Adolf Endler spricht von einer „Prenzlauer Berg-Connection“.
Papenfuß: Wenn die Demontage begonnen hat, dann müßte der Prozeß der Ghettoisierung jetzt einsetzen, oder vor ein, zwei Jahren eingesetzt haben. Aber erst mal mußten alle Leute herkommen, um sich hier zu treffen, zu finden und gemeinsam zu arbeiten, um das entstehen zu lassen, was man dann ironisch behandeln kann als „Prenzlauer Berg-Connection“. Wenn das installiert ist, und die Demontage beginnt, dann setzt die Ghettoisierung ein. Das ist jetzt.
Schedlinski: Ich bin ja erst viel später gekommen aufgrund dieses Mythos, der vorhanden war, und der schon 1984 zuende ging. Klar, hat sich die Szene auf die Provinz ausgewirkt. Anderson und Papenfuß kamen natürlich auch nach Magdeburg, Leipzig, Halle. Wem es da zu eng wurde, der kam nach Berlin.
Papenfuß: Magdeburg? Ich weiß gar nicht, wie es da aussieht, ich war noch nie in meinem Leben in Magdeburg.
Schedlinski: Stimmt! Damals hat Sascha für dich mitgelesen.
Papenfuß: Gut, das zu hören.
Deppe & Sprang: Es gibt in einer wissenschaftlichen Arbeit über Euch ein Zitat: „die Risse in den Wänden der Hinterhofhäuser (Anm.: des Prenzlauer Berg) erscheinen nicht selten als die Korrelate für die ,Risse‘ und ,Nöte‘ des Ichs.“
Papenfuß: das bezieht sich aber auf Uwe Kolbe! Nicht auf uns. Die Autoren gehen von Kolbe aus, in einem seiner Gedichte spielt er auf die Risse an. Der hat so eine Art mythischen Prenzlauer Berg beschrieben, mit zerfallenen Häusern und schwarz gestrichenen Wohnungstüren. Wir waren da anders. Gut, man muß dran leiden. Ich habe nie daran gelitten. Ich habe nie an Deutschland gelitten. Dichtung hat nur ein Thema, aber das kann kein zerissenes Land sein oder die Stasi. Das übt Einfluß aus, bietet mit Sprachmaterial, ein Reservoir, aus dem man schöpfen kann. Und wenn man aus diesem Reservoir schöpft, dann sagt man im nachhinein: das ist politische Lyrik. Aber es ist nur ein Aspekt. Wer ihn nur nutzt, ist dann vielleicht Spezialist, aber auf die Dauer langweilig.
Deppe & Sprang: Sind Eure Texte politisch?
Papenfuß: Ja, in diesem Sinne sind sie politisch, wenn sie aus diesem Reservoir schöpfen. Es wird zunehmend uninteressanter, politische Texte zu schreiben, weil das Rohmaterial, das persiflierend bearbeitet wurde, zunehmend uninteressanter wird. Die Motivation sinkt.
Schedlinski: Die Frage ist falsch gestellt, Man könnte auch fragen: Ist das Gaststättenwesen politisch? Ist doch auch politisch, als Zusammenkunftsort, aber nicht von sich aus.
Deppe & Sprang: Wie sieht Euer Verhältnis zur Öffentlichkeit aus?
Schedlinski: Wir haben Veranstaltungen gemacht, in Kirchen gelesen. Natürlich haben wir auch an politischen Veranstaltungen teilgenommen, z.B. wenn welche im Knast saßen, bei Bittgottesdiensten gelesen. Es gab bei uns keine Verabschiedung aus gesellschaftlichen Zusammenhängen, man hat sie wahrgenommen, war nicht blind. Aber man kann sich darauf nicht reduzieren lassen, das ist dann ein Verarmung.
Papenfuß: Ich möchte auch noch was sagen zu diesem Polit-Zeugs da. Wenn man sich in den ständigen Clinch begibt mit dem Überbau, dann nimmt es so eine Form an von Haßliebe oder Verliebtheit. Es ist schwer, da wieder rauszukommen. Man beißt sich fest an der politischen Auseinandersetzung, mauert sich ein, wie ich sagte, beißt sich fest an der Persiflage, Entlarvung.
Schedlinski: Einen Tee bitte!
Papenfuß: Ich hätte gerne einen Whisky pur.
Schedlinski: … ach, dann bringen Sie mir auch einen Whisky. Und den Tee trotzdem.
Deppe & Sprang: Es gibt eine wunderbare Formel von Christa Wolf: „Tatenarm, aber gedankenvoll“. So war es bei Euch also nicht?
Schedlinski: Überhaupt nicht. Wir haben gerade sehr praktisch gearbeitet…
Papenfuß: … waren sehr umtriebig…
Schedlinski: … im Gegensatz zu anderen Autoren, die nur am Schreibtisch gearbeitet haben. Haben selbst gedruckt, hergestellt, die Buchbindearbeiten gemacht.
Papenfuß: Wir haben auch viel mit anderen Sparten zusammengearbeitet, Musikern, Malern, das war durchaus nicht tatenarm.
Schedlinski: Der Prenzlauer Berg bestand ja bloß zum geringsten Teil aus Dichtern. Das waren ganz andere Leute, mit denen wir zu tun hatten…
Papenfuß: … Trinker zumeist…
Schedlinski: … es war eine ganz vielseitige Mischung von Leuten, die eines verband, nämlich, daß sie irgendwie im Prenzlauer Berg eine Möglichkeit sahen, so unabhängig wie möglich zu leben.
Deppe & Sprang: Und wie hat das Publikum reagiert, Eure Texte, Lesungen, Aktionen aufgenommen?
Papenfuß: Es gab damals eine andere Haltung, zu dem was wir gemacht haben, eigentlich die klassische DDR-Haltung. Die Literaten wie Liedermacher oder andere Kritiker hatten die Aufgabe, Identifikationsmuster zu liefern, und das Publikum hat auf diese Identifikationsmuster gewartet. Selbst in meinen relativ abgefahrenen Gedichten, wie ich sie damals vorgelesen habe, war immer noch genügend Anhaltspunkt, daraus Identifikationsmuster zu destilieren. Und das ist eine weitere Mauer, die man sich selbst errichtet hat, nämlich indem man diese Erwartungshaltung erfüllt hat. Da muß man eben auch durch. Es fangt jetzt wirklich was anderes an, was ich schon im Westen kennengelernt habe, eine eher ästhetische Betrachtungsweise oder Hörensart der Texte, und nicht diese Verkrampftheit. Außerdem wird die politische Auseinandersetzung wie gesagt zunehmend uninteressanter, wobei ich immer mehrgleisig gefahren bin, ich habe ja nicht nur politische Texte geschrieben, wahrscheinlich eher weniger, eher mit Liebe oder so. Wobei es bei politischen Texten auch um Liebe geht.
Deppe & Sprang: Was fällt Dir zu Autoren wie Peter Waterhouse oder Thomas Kling ein?
Papenfuß: Das sind wunderbare Leute.
Deppe & Sprang: Wo liegt der Unterschied zu Euch? Uns fällt auf, daß Kling in seiner Sprache, in seinem Ansatz viel aggressiver, schärfer ist.
Papenfuß: In Bezug auf andere Sachen. Er reagiert, wie wir hier auf politische Muster reagiert haben, eher auf Konsummuster. In seinen Texten spielt die Reklame eine große Rolle, Konsumentensprache. Das ist in dem Sinne auch politisch. Er ist auf eine bestimmte Art aggressiver als wir. Er wird seine Gründe haben dafür.
Deppe & Sprang: Kling spricht vom „junkfood sprache“. Warum setzt ihr so radikal an der Sprache an, brecht sie auf, bis in die kleinsten Einheiten?
Papenfuß: (Schweigen) … Das kann ich jetzt komischerweise eher bei Thomas Kling erklären. Das war auch ein sehr schönes Zitat vom „junkfood sprache“. Die Errungenschaften der Konkreten Poesie sind in den Markt eingeflossen. Die Produkt- und Werbesprache geht ja sehr geschickt um mit den konkreten Techniken, die aus dieser Poesie kommen, dort geklaut wurden, meinetwegen auch pervertiert wurden. Schwitters hatte z.B. auch eine Werbeagentur. Bei uns war das wahrscheinlieh eher der Wunsch, die verordnete Sprache zu zerstückeln. Also eher analytisch an die Sache zu gehen, während der Prozeß bei Kling schon wieder synthetisch ist. Er nimmt Versatzstücke und kombiniert sie neu. Ich laß es als These stehen.
Deppe & Sprang: Rainer, Du hast auch sehr viel theoretisch gearbeitet. In Deinem Essay „Dilemma der Aufklärung“ setzt Du dem offiziellen, herrschenden Diskurs Alternativen entgegen: die literarische Sprache, den Ideolekt, die Körpersprache…
Schedlinski: Das ist alles nicht neu, ich habe nur verarbeitet, was in moderner Philosophie so rumgeistert. Gut, eigentlich aus einem Defizit heraus, das in der DDR herrscht. Es ist schon ein aufklärerischer Anspruch von mir gewesen. Damit befinde ich mich natürlich selbst in einem Dilemma, aber ich denke, daß ich das jetzt nicht mehr nötig habe, so eine Arbeit zu machen, sondern daß ich auf eine andere Art reflektieren kann. Es war tatsächlich als Erklärung nötig. Es gibt Germanisten hier in der DDR, die haben noch nie was gehört von der Postmoderne, vielleicht was gehört, aber nie was gelesen. Die fragen halt, ob der Strukturalismus dialektisch ist, oder sonen Quatsch. Da muß man von vorn anfangen, die einfachsten Sachen zu erklären.
Papenfuß: Na, das wäre ja ein schöner Titel für das Gespräch: Ob der Strukturalismus dialektisch ist, oder sonen Quatsch.
Deppe & Sprang: Gibt es denn bei Euch untereinander eine intensive theoretische Diskussion?
Schedlinski: Den eigentlichen Überbau, der das alles vereinigen würde, den gibt es bei uns nicht. Es gibt Berührungspunkte.
Papenfuß: Ich meine, wir sind ja irgendwie doch im Sozialismus aufgewachsen. Niemand von uns hat mit der Idee geliebäugelt, in der Opposition zu den Eltern, die das Ganze angerichtet haben, eine Diktatur zu errichten oder eine Sozialdemokratie. Alle Ideale gingen ja in Richtung besserer Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus oder sowas. Ich glaube, was damit einhergeht ist eine ziemlich große Toleranz, und es gibt auch eine poetologische Diskussion bei uns wie es auch eine ideologische gibt, aber ich glaube, die basiert auf Toleranz. Um gegen eine Sache sein zu können, brauche ich einen Namen dafür, und das Ding gibt sich selbst keinen Namen. Wir müssen ihm einen Namen geben, um es ansprechbar und somit angreifbar zu machen, wenn man derartig veranlagt ist, um es beherrschbar zu machen. Ich glaube, diese Namensfindung, Namensgebung, Ansprechbarkeit ist, was in vielen Texten passiert, in den sogenannten politischen Texten. Und ich glaube, die Akzeptanz untereinander für die verschiedenen gefundenen Namen ist relativ groß. Das wird sich jetzt mehr dividieren und spezialisieren.
Schedlinski: Es ist aber mehr eine Gemeinsamkeit der Erklärungsmuster, nicht der Ideen. Diese Interpretationsgemeinsamkeit ist eine Ablehnung der herrschenden Kausalitäten. Diese sozialistische Gesellschaft ist eine deutsche Vernunftgesellschaft, die ja zurückgeht auf Fichte und solche Leute. Deshalb auch diese kulturelle Verarmung, Vulgarisierung der Geisteswissenschaften. Wenn die Wissenschaft es zugelassen hätte…
(eine Sirene) …
Papenfuß: … fünfzehn Uhr!…
Schedlinski: … wenn die Wissenschaft in der DDR auch spekulative Aspekte möglich gemacht hätte, dann wäre es vielleicht gar nicht aufs Schreiben gekommen. Die Literatur war die einzige Möglichkeit, diese sture Funktionalität zu durchbrechen, die Dinge anders zu beschreiben. Den kulturellen, symbolistischen Aspekt, den hat die einfache marxistische Ideologie nie erfaßt, genauso wie ihn die heutige Ökonomie nicht mehr erfaßt hat, die längst nicht mehr eine einfache Ökonomie des Nutzens ist oder Ökonomie des Image. Es ist ein bloßer Kalkulationsfaktor, eine kulturelle Ökonomie. Dazu waren alle rationalen, wissenschaftlichen Erklärungsmuster, die es hier gab, zu eng. Jeder, der über die Gesellschaft nachdenken wollte, ist zwangsläufig Literat geworden, denn es gab keine andere Rationalität, in der man hätte denken können.
Papenfuß: Also die westliche Gesellschaft, die medien ja alle zu. Es gibt ein breites Angebot an Konsumgütern, an kulturellen Ereignissen, wie man auch die Mauer bemalt hat. Es ist ein Phänomen, das man als horror vacui beschreiben kann. In der DDR war verboten, die Mauer zu bemalen. Es gab ein schmales Kulturangebot, also muß im Zentrum, im Individuum, etwas blühen. Vielleicht ist das der Unterschied. Wobei sie das hier auch alles zugemedient hätten, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Dann wäre es schon lange so gewesen, wie es jetzt werden wird. Es hätte keine Brut gegeben, keine Blüte.
Deppe & Sprang: Die Frage: Wenn es im Individuum blüht, es aber an der Breite fehlt: Warum beschränkt ihr Euch dann nur auf die kleine literarische Form?
Papenfuß: Sagen wir so. Ich versuche es egozentrisch zu beantworten. Ich habe nie ein Interesse daran gehabt, einen Roman zu schreiben, aber wir haben sehr viele andere Sachen gemacht, die in Richtung Gesamtkunstwerk gingen, die auch nicht mehr mit kleiner Form zu beschreiben sind. Das bezieht sich auf Projekte, die wir mit Malern und Musikern zusammen gemacht haben, und nicht zu vergessen haben wir Theaterstücke geschrieben, die Überdimensionen haben, etwa die, die Sascha Anderson geschrieben hat, Opern und solche Sachen, die natürlich irgendwie eine Persiflage darstellten. Bezeichnenderweise waren das immer Zusammenarbeiten. Niemand hat sich allein, hingesetzt und so ein Ding geschrieben, das waren immer zwei, drei Leute. Stefan Döring, Sascha und ich haben z.B. ein Stück gemacht, das nicht mehr für die Bühne zu bewältigen ist, die Dimension sprengen sollte. Die Tendenz zum Roman ist relativ gering.
Deppe & Sprang: Ein Zitat von Rainer: „der verlust des klassischen intentionalen bogens, wie der form des großen zentralen romans, ist so ein bruch mit dem diskursiven.“ Steckt ein Konzept dahinter, sich in der Form zu beschränken?
Schedlinski: Konzept ist zuviel gesagt. Man hat sich nicht vorgenommen, keinen Roman zu schreiben. Die Situation gibt es nicht her. Gerade die älteren, Christa Wolf, Heiner Müller, die haben für alles eine Story. Die sagen: Der Krieg war zuende, dann waren die fuffziger Jahre und deshalb waren wir so. Das sind genau die Zusammenhänge, die Suspekt geworden sind. Das ist, was im Roman passiert. Die Figuren werden so hingequält, daß am Ende rauskommt, was rauskommt. Es wird konstruiert. Das funktioniert nicht mehr. Wenn die Zusammenhänge so einfach gewesen wären, hätte es die Revolution viel eher gegeben.
Papenfuß: Meiner Meinung nach ist ein Roman immer konstruktiv, auch im Sinne von reaktionär. Ein Roman ist viel näher am Überbau, viel mehr ein integrierbares Produkt für den Überbau als das Gedicht. So wie wir angefangen haben zu schreiben: das war, ich will nicht sagen destruktiv, aber subversiv. Und für diese Subversion gibt es nach der Wende nicht weniger Anlaß, sondern mehr, denn jetzt gibt es nicht nur dieses ganze traditionelle Zeug, mit dem wir uns in der DDR auseinandersetzen mußten, sondern auch noch diesen ganzen Konsumscheiß mit seiner perfiden Art von Politik. Insofern sehe ich bei mir nicht die Gefahr, daß ich einen Roman schreiben werde. Ich werde bei Gedichten bleiben. Kräftig sind sie vielleicht nicht, aber die Intensität ist höher. Anderson, Döring und ich planen das nächste Gesamtkunstwerk: „Faust III“. Es wird natürlich nicht „Faust III“ heißen. Ich bin dafür, es „Feist drauf“ zu nennen. Na, man merkt, welche Richtung das Ganze nehmen wird.
Deppe & Sprang: Das Stichwort Subversion: Sie untergräbt, stellt infrage. Hat das, was Ihr bisher gemacht hat, diese Kraft gehabt?
Schedlinski: Man könnte auch sagen Dekonstruktion. Es ist mehr eine analytische Arbeit, nicht einfach eine anarchische Arbeit.
Papenfuß: Ich hoffe, daß es gefruchtet hat. Wenn, dann wird es nicht fruchten, sondern es ist passiert. Irgendwo muß es eingedrungen sein. Sowas wirkt langsam. Wir werden nie wieder fünftausend Bücher von derartiger Literatur verkaufen, wie wir es bisher geschafft haben, sondern vielleicht knapp zweitausend. Aber dann für den gesamten deutschen Sprachraum.
Deppe & Sprang: Besteht aber nicht die Gefahr, daß die künftigen Käufer den ursprünglichen Ansatz vergessen und die Texte als intellektuelles Entertainment, schmackhaftes Design von Sprache konsumieren?
Schedlinski: Das ist die westliche Sicht.
Papenfuß: Was heißt westliche Sicht? Das ist die Sicht im Moment.
Schedlinski: Ja, dann muß man wirklich anders schreiben, wenn es Design wird.
Papenfuß: Irgendwie müssen wir diesen Gedanken der Subversion retten, laß mich überlegen… Das ist gepflanzt wie ein… Boogie-Trap. Vielleicht klappt es irgendwann und erschüttert eine weitere Grundfeste oder Mauer. Dann ist es gut. Wenn nicht, hat es uns selber geholfen.
Schedlinski: Wir sind auf diese Öffentlichkeit wie sie in der Bundesrepublik herrscht, nicht eingeschworen. Wir sind davon nicht abhängig. Wir haben es gelernt, anders zu existieren. Ich würde kaputtgehen unter dem Zwang, nur diese eine Öffentlichkeit meinen zu müssen, die da nunmal exisitiert und allmächtig ist.
Deppe & Sprang: In einem Interview für die Weltwoche hast Du gesagt, Rainer:
Sie haben eine Art Glasnost-Hätschelkinder aus uns gemacht, wir wurden ins offizielle Verlagsprogramm integriert, mit Privilegien ausgestattet, dürfen Reisen und Westgeld haben – und werden dadurch von den Leuten abgenabelt. Wenn wir früher in Wohnungen gelesen haben, war ganz selbstverständlich ein Publikum da. Heute fahr ich mit Bert Papenfuß zu einer vom Kulturbund organisierten Lesung an den Stadtrand und lese vor 15 Muttis vom Kulturbund. Dabei kommt natürlich nix raus. Die Wirkung von Literatur steigt nicht mit ihrer Offizialisierung. Eher im Gegenteil…
Schedlinski: … es ist einfach sinnlos geworden. Wenn ich mich auch noch um Leser kümmern muß, vielleicht auch noch um Subventionen kümmern muß, da sehe ich keinen Grund drin. Dann würde ich mich aus einem merkwürdigen Idealismus heraus engagieren. Das ist das, was ich im Westen nie verstanden habe: die machen noch ne Zeitschrift, noch nen Treffen, und es wird nicht gebraucht. Als wenn das nur ne Beschäftigung wäre um einer Sache willen. Da kriege ich dann ein ganz komisches Gefühl.
Deppe & Sprang: Konfrontation mit einem weiteren Zitat. In „Sichtbarkeit der Zeichen“ schreibst Du, Rainer:
es ist also ein frommer wunsch, schlechtin anzunehmen, durch konkretion und verringerung der bedeutungen, durch die poetik des fehlers und der brechung würde der überbau unterwandert oder gar hinfällig – er wird tatsächlich umso mehr beansprucht, denn es gibt natürlich im grunde keine eigensprache der dinge.
Verweist das nicht schon auf das Scheitern Deines Schreibens?
Schedlinski: Ne, überhaupt nicht. Ich habe da mit Bert schon immer Differenzen, worin der Sinn besteht, nach dem etymologischen Kern zu suchen. Selbst wenn der etymologisch richtig ist, ist der ja sozial nicht richtig. Man kann ihn anbieten als Deutungsmuster, aber da ist er ja nicht mehr wert als jedes andere Deutungsmuster. Die etymologische Wahrheit hat keine Berechtigung, jedenfalls keine gegenwärtige. Auch die phonetische Konkretion hat eigentlich keine Wahrheitsberechtigung. Wahrheitsberechtigung hat nur das, was unter bestimmten Menschen als Verabredung gilt. Das ist sehr variabel. Ich glaube nicht, daß man eine Sprache zu irgendeiner Wahrheit zurückführen kann, da gibt es kein Mittel, selbst die Konkretion nicht oder die Zergliederung. Man kommt der Verabredung nicht bei. Wenn man die Bedeutung noch so sehr einklagt, oder sich drüber beschwert. Sie bleibt bestehen. Da kann man nichts machen.
Deppe & Sprang: Bert, willst Du darauf was erwidern?
Papenfuß: Ja, ich seh’s natürlich völlig anders. Ich versuche schon herausfinden: will diese Tasse abgewaschen werden, was sagt der Tisch, was würde der Polizist dazu sagen. Das interessiert mich schon. Ich finde, daß alles eine Sprache hat. Es ist natürlich ein sehr subjektives Medium, aber ich versuche es zu artikulieren. Es muß jemand dasein, der das ab und zu zusammenfaßt. Sei es auch nur, um es in einen anderen Kontext zu stellen, um wiederum Zweifel zu erleben oder Zwiesprache.
Schedlinski: Ja, aber dieser andere Kontext ist gut gemeint, aber immer unwahr, selbst wenn er geschichtlich oder sonstwie noch so wahr ist. Wahr ist nur der Kontext, in dem ein Wort tatsächlich gebraucht wird. Nur der ist gültig. Wahr ist das falsche Wort: gültig. Gültig ist immer nur eine Variante.
Papenfuß: Gültig ist gar nichts. Nichts hat Wert.
Schedlinski: Aber sozial gesehen. Kannst Du nichts dagegen machen. Da kann für Dich „Vernunft“ tausendmal von „nehmen“ kommen von „vernommen“, das Wort wird nun mal anders gebraucht.
Papenfuß: Ich gebrauche es nunmal anders.
Schedlinski: Dieser Gebrauch wie er existiert ist der einzig gültige. Du kannst es nur anbieten. Alles andere ist Aberglaube.
Papenfuß: Natürlich. Lyrik ist ein Kommunikationsangebot. Es wird niemanden aufgezwungen. Du kannst es nehmen oder lassen.
Schedlinski: Ja, aber mehr nicht. Dieses Beharren auf einer anderen Gültigkeit, das ich bei Dir feststelle, finde ich irreal.
Papenfuß: Ich beharre nicht darauf. Ich biete es an.
Schedlinski: Gut, es ist Angebot, aber mehr nicht.
Papenfuß: Gedichte sind nicht beharrlich, sie bieten an. Und zweifeln halt. Und Zweifel ist eine produktive Kraft.
Deppe & Sprang: Rainer, wie umgehst Du das Dilemma Deiner eigenen Texte. Wie bewältigst Du es sprachlich?
Schedlinski: Na, man kann die Variabilität natürlich heraustellen, damit arbeiten, aber das ist nur ein Spiel. Es kommt aber sehr konkret aus der DDR-Situation, in der die Sprache durch ihre Verhärtung einfach zum Zerstückeln und Spielen und Variieren angeregt hat.
Papenfuß: Also ich möchte noch ergänzen, daß mich natürlich nicht nur die etymologische Bedeutung eines Wortes interessiert, sondern die etymologische Bedeutung im Zusammenhang im Kontext der „gültigen“ Bedeutungen. Mich interessiert, was sich im Spannungsfeld zwischen der etymologischen Bedeutung und der offiziellen abspielt.
Schedlinski: Aber wenn Du in Diskussionen argumentierst, das habe ich öfter erlebt, dann argumentierst Du mit der etymologischen Bedeutung, die aber kein Mensch wissen will. Du kannst nicht jemanden die Vernunft austreiben, in dem du ihm sagst, das kommt vom „Vernommenen“.
Deppe & Sprang: Wieder ein Zitat, diesmal von Bert aus dem „arianrhod von der überdosis“:33
es war nicht meine die
unumstößlich klingt sie aus, die ära des aktiven wortspiels
es wurde zu ernst.
Das klingt nach Verabschiedung. Was wurde zu ernst?
Papenfuß: (Schweigen) … Ich habe die Konkrete Poesie eigentlich immer so im Dilemma erlebt. Ich hatte immer Schwierigkeiten, die Konkrete Poesie als Endprodukt anzusehen. Was mich daran interessierte, war die Methode der Sprachverwandlung. Diese Methode sollte in den Text mit einfließen, weil es eben eine weitere Methode ist. Und ich wollte eben immer verhindern, daß es sich verselbständigt und zu einer Art Sprachspiel wird wie Pastior und diese Leute. Und ich habe bei uns die Gefahr gesehen, zu dieser Verselbständigung. Ich meine, es ist nicht so ernst zu nehmen. Danach habe ich ja weiter Gedichte geschrieben und mich nicht auf Epik gestürzt, Romane oder sowas.
Konzepte: Nochmal Salz in die gleiche Wunde. Ein Vorwurf gegen Euch ist formuliert worden, formuliert oder mitgetragen auch von Uwe Kolbe: Verzicht auf Aussage, die Abwesenheit von Sinn und die Apostrophierung der Sprachstruktur wird zum alleinigen Inhalt eines poetischen Textes, so die Stichworte. L’art pour l’art?
Schedlinski: Das ist ein grundsätzliches Mißverständnis, zu dem man eigentlich nichts weiter sagen muß, Quatsch. Wenn die Form gesiegt hat…
Papenfuß: … meint der uns? Das kann nicht sein.
Schedlinski: Doch, ich kenne sowas von ihm. L’art pour l’art: Das kann man von dem xten Tschernobyl-Gedicht behaupten, das geschrieben wird.
Papenfuß: Wenn man bedenkt, daß es in Gedichten immer nur um das Gleiche geht, dann wäre es l’art pour l’art, irgendwelche politischen Gedichte oder gar ökologischen Prozesse in dem Sinne zu pervertieren, daß ich die so als ein Scheinthema hinstelle. Dann könnte ich mich insbesondere hinstellen und sagen, die politische Lyrik ist l’art pour l’art.
Deppe & Sprang: Wir haben immer wieder über das gesprochen, was sich in Zukunft ändern wird. Das sprachliche Reservoir, aus dem zu schöpfen ist, wird sich ändern. Wo geht es lang, inhaltlich, literarisch?
(Schweigen)
Schedlinski: Ja, wenn man sich das so vornehmen könnte, was man im nächsten Jahr schreibt… Kann man nicht erklären. Da kann ich nur das machen, was die Situation hergibt. Man kann es nicht planen. Wäre ja schlimm, wenn man es täte. Da würde man an den Bedürfnissen vorbei schreiben.
Papenfuß: Ich weiß es auch nicht, ich kann schlecht Ausblicke geben. Ich weiß nur, daß es in meinem Leben so funktioniert, daß ich mich verirre – und zwar permanent – und dann immer ein Stück zurückgehe, dann ein Stück gehe, mich wieder verirre, wieder ein Stück zurückgehe… Es gibt keinen Ausweg – und auch keinen Ausblick.
Deppe & Sprang: Jan Faktor spricht vom „Abtreten des Wortspiels an die Werbeagenturen“. Könnte die Medien-, Computer-, Werbewirklichkeit, die Sprache dort, ein Thema für Euch sein? War das für Euch nicht schon ohnehin ein Thema?
Schedlinski: Na, die Unbefangenheit, da völlig neu drauf zu reagieren, die muß eine andere Generation haben, das können wir nicht mehr…
Papenfuß: Ich habe bis heute keinen Fernseher. Also mich interessiert das nicht. Überhaupt nicht. Ich mache manchmal was für’s Fernsehen. Aber ich hab’s mir noch nie angesehen. Manchmal ist es sinnvoll: dann gibt’s ein paar hundert Mark dafür. Manchmal reden sie mir ein, das wäre gut für den Verkauf meiner Bücher. Und sie schicken auch immer Frauen zu mir. Wenn die Frauen nett sind, o.k., dann mach ich’s, wenn nicht, dann nicht. Es interessiert mich überhaupt nicht. Es interessiert mich vielmehr, wann ich meine Schreibmaschine wegschmeiße. Ich schreibe viel lieber mit der Hand, mache so kleine Zeichnungen…
Deppe & Sprang: Um noch einmal Uwe Kolbe zu strapazieren. Er hat für eure Generation das Wort „Hineingeborensein“ geprägt. Damit nochmals die Frage verbunden: Wie wird sich die Veränderung zu einer gesamtdeutschen Realtität auswirken? Seid ihr jetzt zu den „Herausgeborenen“ geworden?
Papenfuß: Gut, Kolbe hat diesen Begriff geprägt. Wenn er zu den Glücklichen gehört, die „hineingeboren“ sind, dann ist es o.k., ich kann es gut tolerieren. Ich muß jedenfalls ein Leben lang an meiner Individuation arbeiten. Gut, wenn er es hinter sich hat, dann ist es o.k.. Aber was will er da? Also ich arbeite nach wie vor an meiner „Gebärdung“.
Deppe & Sprang: Und die neue Realität?
Schedlinski: Gut, bei den „Feinden“ hat sich nicht viel geändert. Die sind immer noch die gleichen geblieben. Also von Dickel zu Diestel, diesem neuen Innenminister, ist kein großer Schritt. Also, was hat sich da geändert? Außer, daß die Mauer offen ist, aber die war für uns schon vorher offen. Man wird sich vielleicht mehr mit den Nazis beschäftigen.
Deppe & Sprang: Aber an eurer Umgebung wird sich allerhand ändern. Die neuen Supermarktketten…
Schedlinski: … Klebt nur bunte Pappe dran. War macht das für einen Unterschied?
Papenfuß: Ich glaube, wir bleiben sehr ungeschickte Konsumenten. Wir kennen ja den Laden seit ein paar Jahren, waren sehr oft drüben, haben längere Zeit dort gelebt… Bringt nichts.
Deppe & Sprang: Das Schlußwort soll Rolf Dieter Brinkmann haben:
Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeitkonkret als snap-shot festzuhalten.
Ein Schlußwort in Eurem Sinne?
Schedlinski: Na, gut, ja.
Papenfuß: Ja, nur das der snap-shot noch einen Drall haben müßte, einen Drang, damit er sich verselbständigt.
Konzepte, 9/1990
Die Rezeption in der DDR
Bei der Suche nach den „produktiven Potenzen“ im „poetischen Bedingungsgefüge und sozialgeschichtlichen Spannungsfeld“ der jungen Lyrik lassen Ingrid und Klaus-Dieter Hähnel den 1956 geborenen Bert Papenfuß(-Gorek) nicht aus. In der Literaturwissenschaft und -kritik der DDR stellen sie damit eine Ausnahme dar.34 Abgesehen von einer Textveröffentlichung in der Zeitschrift Temperamente35 und einigen Sätzen von Karl Mickel zum Gedicht „Foegel“ in NDL,36 auf die die Hähnels verweisen, erschienen von Papenfuß im Jahr 1978 jeweils zwei Texte in den Anthologien Auswahl und Zwiebelmarkt,37 die sie unerwähnt lassen. Seit der Zeit wurden, bis 1986 in Sinn und Form, keine weiteren Gedichte in offiziellen Medien der DDR veröffentlicht.38 Die im Jahr 1988 erschienene Anthologie Die eigene Stimme enthält zwei Gedichte von Papenfuß, die Anthologie mit Liebesgedichten Die Wärme die Kälte des Körpers des Andern sieben,39 und in Sinn und Form wird 1989 noch einmal ein Text aufgenommen.40 In der DDR erhielt Papenfuß-Gorek im Jahr 1988 einen eigenen Lyrikband: dreizehntanz, in dem Texte von 1973 bis 1986 enthalten sind.
Hinsichtlich Papenfuß’ Lyrik umschreiben die Hähnels einen innovierenden Aspekt mit einem Hinweis auf die sprachliche Beschaffenheit seiner Texte:
Die Gedichte von Papenfuß gehören zu den wenigen Ausnahmen in der Lyrik der Jüngeren, die – im Sinne von Werner Krauss’ Unterscheidung von „sprachbedingt“ und „sprachbezogen“ – ein ausgeprägt sprachbezogenes Dichten erkennen lassen.41
Einmal abgesehen davon, daß nicht wenige Autoren unter den „Jüngeren“ eben diesen Trend verkörpern, übersehen Ingrid und Klaus-Dieter Hähnel nicht eine Nähe dieser Lyrik zur ,Konkreten Poesie‘ von u.a Heißenbüttel oder der Wiener Gruppe. Und wenn auch nicht „die philosophischen Prämissen“, so akzeptieren sie doch deren „rationalen Kern“, nämlich „[d]as produktive und spielerische Spannungsverhältnis zwischen Sprachzeichen und Bezeichnetem, zwischen Prozeß und dem Resultat“, „[…] das Herausstellen künstlerischen Produzierens“,42 von dem sie meinen, daß das „auch andere sozialistische Poeten […] praktiziert haben“ (auf Namensnennung wird in diesem Falle verzichtet).43 Zur Illustration der ästhetischen Eigenheiten zitieren sie das bereits 1974 entstandene und 1977 in Temperamente veröffentlichte Gedicht „immer zwei und manchmal eins“:44
immer zwei und manchmal eins
eben weil du düster sinnst
aaaaaaaaaaaaaaaaalügst du mich
und weil du hungrig bist
aaaaaaaaaaaaaaaabetrügst du mich
daß du mich liebst
aaaein guter weder rück noch vorfall
und doch gut
und diese handvoll alpen für dich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaafräulein jehova
und dieses lichtbein
aaaaaaaaaaaaaaaaaadu liebe subkuh
Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang die für die kritische Analyse gezogene Konsequenz einer literarischen Verfahrensweise, der Hinweis nämlich, daß eine Paraphrase des Gedichtinhalts im Falle Papenfuß’ zu keinem Ergebnis führen würde:
Die verknappte Bestimmung der thematisch-gehaltlichen Tendenz des Gedichts wäre kaum ergiebig – Disproportion und Übereinstimmung der Partnerbeziehung in einem anders gestalteten Kontext würden kaum über jene spannungslose Unverbindlichkeit hinausführen, die wir bei der Besichtigung der jungen Lyrik häufig beobachten konnten.45
Folglich nähern sie sich dem Text, indem sie sich – den Hinweisen Mickels folgend – um das fast jedem Wort eingeschriebene „Rudel anderer Bedeutungen“ bemühen.46 Damit zeigen sich diese Interpreten bereit, in der Betrachtung der ,jungen Lyrik‘ einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen als die wenigen Kollegen, die sich mit den Texten dieser Generation ebenfalls umfassender – d.h. nicht von vornherein auf eine bestimmte Gruppe beschränkt – beschäftigen.47 Die Hähnels weisen hin auf den transitiven Gebrauch des Verbs „lügen“, das sie durch ihre Umschreibung jedoch auf eine Bedeutung festlegen, es mehr oder weniger ,übersetzen‘: „den Partner erlügen, ,erfinden‘, ihn dichten nach seinem düster sinnenden Bild“.48 Nichts spricht aber gegen die Möglichkeit, das Verb ,lügen‘ mit ,verleugnen‘ gleichzusetzen. So bekommt das Gedicht zwei entgegengesetzte Lesarten. Demnach wäre „betrügst du mich“ entweder als ,betrügen mit einem anderen‘ zu lesen oder im Zusammenhang mit der nächsten Zeile als „betrügst du mich / daß du mich liebst“, also: Liebe vorgebend. Dann könnte „lügen“ auch ,belügen‘ bedeuten. Die prinzipielle semantische Offenheit des Textes verwehrt geradezu eine Festlegung von ,sinnen‘ und ,hungrig sein‘ als entgegengestellte „Pole“, wie sie die Hähnels vornehmen. In deren Mitte sehen sie den Raum einer manchmal begegnenden „Liebe ohne Exaltiertheiten, ,weder rück noch vorfall‘“.49 Die Bewegungslosigkeit des Liebesmoments scheint allerdings nicht von vornherein positiv zu sein: Es ist zwar kein „rück“, kein ,rückfall‘, aber auch kein „vorfall“, also nichts Plötzliches, ebensowenig eine nach hinten oder nach vorne gerichtete Veränderung, trotzdem aber „doch gut“: Liebe (ob vorgetäuscht oder nicht) wird offenbar einfach als Gegebenheit, als ,guter fall‘, auch ohne Veränderungsaspekt hingenommen.
Scheinen in den beiden ersten Strophen semantische Zusammenhänge in Konnotationen zu ,lügen‘, ,betrügen‘ und ,Liebe‘ gegeben, in der dritten steigert sich die ebenso inhärente Bedeutungstoleranz bis zur – scheinbaren? – Ungereimtheit. Die Hähnels meinen in bezug auf diese letzte Strophe:
Ist man geneigt, den Hereinfall von „fräulein jehova“ und „liebe subkuh“ den spielerischen Zwängen des „linguistischen Gedichts“ zuzugestehen, trotzdem scheint er den Leser hier poetisch und linguistisch ziemlich unvermutet und unvorbereitet zu treffen.50
Das versuchsweise Einsetzen von klangähnlichen Lauten, in anderen Gedichten von Papenfuß durchaus aufschlußreich, hilft hier nicht weiter, etwa wenn man versuchen würde, statt „lichtbein“ ,lichtschein‘ zu lesen, oder „subkuh“ als Verkürzung von ,subkulturell‘.51 Die „Veruntreuung von Wirklichkeit durch die immanenten Sprachzwänge und eine […] mangelnde […] Sensibilität, die sich notwendigerweise aus der sehr vermittelten Kundgabe von Subjektivität ergibt“, bezeichnen Ingrid und Klaus-Dieter Hähnel als unannehmbar.52 Und so schleicht sich – obwohl das Individuelle in der Wirklichkeitsdarstellung nicht von vornherein abgelehnt wird – das Argument der Verständlichkeit in Anbetracht dessen, was letztendlich auch Widerspiegelung bedeutet, wieder ein.
Bei einem Spuren suchenden Lesen des Textes wären auf jeden Fall Beziehungen zu entdecken zwischen „fräulein jehova“ und „liebe subkuh“, z.B. in einer Umschreibung wie ,heilige Kuh‘, und zwischen „alpen“ und „[…] kuh“ in der recht banalen Vorstellung einer Alpenweide. Diese beiden Vorstellungen liegen enger beieinander, als auf den ersten Blick unbedingt zu vermuten ist. In der beschriebenen Situation wird einem „fräulein“ eine „handvoll“ von etwas angeboten. Das Überreichte wird als „alpen“ bezeichnet, womit die mit „jehova“ angedeutete Verherrlichung des „fräulein“ rückwirkend verstärkt wird: es werden ihm sogar Berge geschenkt. Der Anfang des Gedichts setzte jedoch eine erhebliche Assoziationsfähigkeit beim Rezipienten voraus, und es ist davon auszugehen, daß das bei den letzten Zeilen nicht unbedingt anders ist. So dürfte sich an „und diese handvoll alpen“ als erstes ,-veilchen‘ anknüpfen – in der Vorstellung vom Überreichen eines Blumenstraußes. Und damit hat man gleichsam einen Schlüssel zum Rest des Gedichts in der Hand. „jehova“ ist dann nicht nur eine Variation des alttestamentlichen Eigennamens für den Gott Israels, mit der die Geliebte als ,höheres Wesen‘ angebetet wird,53 sondern ebenfalls als erstes Glied des Kompositums ,Jehovablümchen‘ zu lesen. Diese Zierpflanze gehört zu den Steinbrechgewächsen. Auf diesem Weg ist es nicht mehr schwer festzustellen, daß in „lichtbein“ sogar zwei Pflanzenbezeichnungen enthalten sind: zum einen die ,Lichtblume‘, zum anderen ,Beinbrech‘. Beide sind zu den Liliengewächsen gehörende Pflanzen. Die letzte Zusammenstellung, „subkuh“, enthält nur im letzten Bestandteil einen Blumenanklang: ,Kuhblume‘, eine Löwenzahn-Art. Das diese Zeilen verbindende Element liegt somit im nicht direkt Ausgesprochenen, in den Blumenbezeichnungen. Allen erwähnten Blumen ist gemeinsam, daß sie im subalpinen Bereich zu Hause sind, also zwischen der oberen Grenze des Bergwalds und der Baumgrenze. In dieser Interpretation kommt das „immer zwei“ des Titels vor allem in dem Unharmonischen der ersten Hälfte des Textes zum Ausdruck, die Einigkeit des ,manchmal eins‘ in der letzten.
Im Kontext der wort- und klangspielerischen Gedichte aus der gleichen Zeit (1974) ist man versucht, den hier zitierten Text nicht gerade als typisches Beispiel für die damalige Papenfußsche Schaffensphase zu betrachten. Auch wenn man sich, wie die Hähnels, auf die Veröffentlichung in Temperamente bezieht, nimmt zwischen den fünf anderen Texten aus erwähnten Gründen gerade dieses Gedicht eine Sonderstellung ein. Ein besseres Bild vermittelt der Text „tage“ aus dem Jahr 1975:54
TAGE
1 zu zeichnen:::schatzhauser die gebenedeite
weibsen entruekken/ eine berstende grabplatte
verruekkt keine geschleimnisse///// denn
an adombilse hat man sich gewoehnt wie an den
feurigen gestank der blumen in der sonne …..
diese bilder ((sind noch eidetisch))
zu verzeichnen ist das endzuekken der ver und
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanwesenden
innen drin erinnerten innerten sie sich nicht
2 atens:::…((schoen und wahrheiten heilen))…
aabetens:::… kenn seemannsleid
aaaaaaaaaaaaaaaakenn gammlers los
aaaaaaaaaaaaaaaaaadoch denen ists zu doof
3 leertag ((lediglich will ich lediglich mich))
4 der rest war krampff/vielen dank/das machte
mir den bregen hart
5 (der vogel ervogelt erfrorn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaader maulwurf verdrekkt ueberfahrn)
aaden widderspruch ham wir doch gleich gewittert
aa((manch wunsch waere erfuellbar
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasetzte man rechtzeitig))
aaden wiederspruch ham wir doch gleich gewiddert
aa(((auf einem aussenposten wertet ein wesentliches
aaaaaaaaaaaaaaaurteil nicht einmal vorbehalt)))
denn widerspruch ham wir doch gleich erwiedert
6 gewissen ist wissentlich weiss sind leichentuecher
7 es gibt keine weltfremden
Die Einteilung in sieben Teile erinnert an die sieben Tage der Genesis („zu zeichnen:::“ im Sinne von ,zu schaffen‘), der Inhalt der einzelnen Abschnitte stimmt aber mit einer solchen durch Struktur und Titel des Textes generierten Rezipientenerwartung nicht durchgängig überein. Zwar schildert der erste Teil durchaus eine biblische Szene, er bezieht sich aber keinesfalls auf die Schöpfungsgeschichte, sondern auf die Auferstehung Christi nach seiner Kreuzigung und die Entdeckung des leeren Grabes durch die „weibsen“ Maria Magdalena und die Mutter von Jakobus (ebenfalls eine Maria).55 Zusammen mit der ersten Zeile des Gedichts, „[…] schatzhauser die gebenedeite“, scheint hier ein Bild (christlicher) Hoffnung evoziert zu werden. ,entrücken‘ ist im Neuen Testament ein Wort, das sich auf die Erhebung eines Sterblichen in bzw. durch die göttliche Gewalt bezieht.56 Jedoch liegt bereits in der Abweichung von der normalen Rechtschreibung Signalcharakter für Bedeutungsverschiebungen.
Die „grabplatte“ wird nicht von außen entfernt (durch den Engel des Herrn), sondern scheint durch eine Kraft von innen zu zerspringen: „berstend […]“. Das ist ungewöhnlich, „verruekkt“, und ,ver-rückt‘ die evangelischen Geheimnisse zu „geschleimnisse[n]“. Mit einer längeren Pause, durch fünf Schrägstriche und einige Spatien angegeben, überspringt der Text zwei Jahrtausende und landet plötzlich in der von Atompilzen geprägten Gegenwart. Mit den „tage[n]“ des Titels können nun ,unsere Tage‘ gemeint sein. Die Schreibweise von „adombilse“, mit einem b, verknüpft sie alliterierend mit den „blumen in der sonne“ der nächsten Zeile, die „feurig […]“ stinken. Das einleitende „denn“ vor „an adombilse hat man sich gewoehnt“ führt das Bild der Verrücktheit inhaltlich-logisch fort: Die christliche Hoffnung auf eine bessere Welt, angekündigt durch die Auferstehung Christi, hat sich nicht erfüllt, statt dessen gehört eine Vernichtung der Welt mit atomaren Mitteln zu den Möglichkeiten. Dieser Umschlag läßt die Zahl sieben weniger im Licht der Schöpfungsgeschichte erscheinen, es klingt jetzt vielmehr „das Geheimnis“ dieser Zahl aus der Offenbarung des Johannes und damit die Apokalypse an. Das Bild der Agonie wird in der Gleichsetzung der „anwesenden“ mit den ,verwesenden‘ und mit der ,Ver-Zeichnung‘ des Wortes ,Entzücken‘ als „endzuekken“ weitergeführt. Zu dieser Art von Sterben scheint keine Auferstehung und kein Erinnern danach zu passen: „innen drin erinnerten […] sie sich nicht“.
So erscheint die Genesis als die des Endes, des absoluten Todes, nämlich der einst göttlichen Schöpfung. Kann auf ein solches Anfang-Ende überhaupt noch etwas folgen? Zwischen einzelnen, doppelten und dreifachen Klammern oder auch ohne diese erscheinen Kommentare und Nebengedanken sowie kurze Statements. Eventuelle Bezüge zwischen einzelnen (Teil-)Sätzen sind für den Rezipienten nicht immer ausmachbar. So bleibt z.B. in der Schwebe, ob der Satz unter „2 atens“ (nach dreifachem Doppelpunkt, drei Auslassungspunkten und zwei runden Klammern): „schoen und wahrheiten heilen“ als nicht mehr Erinnertes dem „sie“ zuzurechnen, oder ob er als Kommentar des Ich zu verstehen ist. Dann wäre er durch die Parallelisierung von ,Schönheiten‘ und ,Wahrheiten‘ und in der Pluralisierung des letzten Substantivs als Ironisierung jedes absoluten Wahrheitsanspruchs aufzufassen. Ironisch ist auch das unter „betens“ Angebotene, das in der Form eines an Freddy Quinn anklingenden Seemannslieds daherkommt: „kenn seemannsleid / kenn gammlers los“. Das Spiel mit den mitgedachten festen Wortprägungen ,Seemannslied‘, ,Seemannslos‘ und ,Gammlersleid‘ als Neuprägung in der gleichen Art ist „denen“ „zu doof“ und führt demnach nicht weiter. Es folgt ein „leertag“, an dem das Ich es nur mit sich zu tun haben will: „((lediglich will ich lediglich mich))“.57
Das noch Ausstehende wird danach als abhärtender („das machte mir den bregen hart“) „krampff“ bezeichnet.
Im Rahmen des unter 5 dargebotenen Spiels mit der in der marxistisch-leninistischen Philosophie so wichtigen Kategorie des ,Widerspruchs‘ ist in „krampff“ durchaus auch ,Kampf‘ mitzulesen – als Allusion an den „Kampf der Gegensätze“, der im Widerspruch neben der „Einheit der Gegensätze“ widergespiegelt werde.58/footnote] Die satirische Verstellung des Wortes in: „widderspruch“, den man „gewittert“, „wiederspruch“, den man „gewiddert“, endet in dem „widerspruch“, den man „erwiedert“ habe. Diese Positionen des erahnten, wiederholten und widersprochenen Widerspruchs werden eingeleitet von einem Bild toter Natur: „(der vogel ervogelt erfrorn der maulwurf verdrekkt ueberfahrn)“, und unterbrochen von einem unvollendeten Hoffnungsbild: „((manch wunsch waere erfuellbar setzte man rechtzeitig))“ und einer Anmerkung: „(((auf einem aussenposten wertet ein wesentliches urteil nicht einmal ein vorbehalt)))“. Damit sind benannt die Widersprüche zwischen Leben und Tod, Wunsch und Wirklichkeit sowie Urteil und Vorbehalt. Die Schlußzeile dieses Teils hebt sie keineswegs auf, denn die Erwiderung eines Widerspruchs führt zu einem neuen – was mit der Schreibweise „erwiedert“ (Hervorhebung A. V.) angedeutet ist.[footnote]Die Beschreibung dieses Abschnitts durch Peter Geist: „In dem Gedicht ,Tage‘ verschiebt er [Papenfuß, A. V.] in ernsthaftem Spiel das Wort ,Widerspruch‘ zum dümmlichen ,Widderspruch‘ und zum apologetischen ,Wiederspruch‘“, kann ich angesichts der Komplexität des Gedicht(kontext)s nicht teilen, sowenig wie ich die Bezeichnung „apologetisch“ in diesem Zusammenhang verstehen kann (Peter Geist: „Die Metapher in der poetologischen Reflexion und Dichtungspraxis von DDR-Lyrikern in den siebziger und achtziger Jahren – Eine Problemskizze“. In: DDR-Lyrik im Kontext. A.a,O. S. 61–87, hier S, 80)
Das Gedicht schließt (Nummer 6 und 7) mit zwei Feststellungen, die der christlichen Anschauung von Mensch und Welt diametral entgegengesetzt sind. „gewissen“ hat etwas mit Wissen zu tun: „ist wissentlich“, so daß „weiß“ als eine Verbalform aufzufassen ist. „wissentlich“ besitzt außerdem eine ausgesprochen negative Konnotation. „weiß“ als Adjektiv verbindet sich mit „leichentuecher“. Im übertragenen Sinne könnte das heißen, daß der Mensch erst im Tod, wenn nicht mehr mit Wissen behaftet, wieder zur ursprünglichen Unbeflecktheit, zur Unschuld gelangt. Die Verneinung christlicher Hoffnung gipfelt in der Schlußzeile (Nummer 7): „es gibt keine weltfremden“ (wie es Jesus war). Sie knüpft an den Beginn des Textes mit der „berstende[n] grabplatte“ an und verneint damit nicht nur die Auferstehung Jesu, sondern ebenfalls dessen Existenz selber, insofern er in der Tat als „weltfremde[r]“ gesehen wird.
Gegen eine schließende Interpretation wehrt sich der Text durch die eigene Struktur und semantische Offenheit ostentativ. Die Interpunktion unterscheidet sich von der normalen, und darüber hinaus bietet er viele Ergänzungsmöglichkeiten in Form von Leerstellen (Spatien, Punkten) und bruchstückhaftem Satzbau, weshalb Karl Mickel Papenfuß „ein[en] Meister nicht-syntaktischer Grammatik“ nennt.59 Der Text bietet folglich einen großen Freiraum für Assoziationen.
Peter Geist geht in seiner bereits kurz erwähnten Dissertation aus dem Jahr 1987 nicht auf Texte von Papenfuß ein. Das zweite Kapitel seiner Arbeit behandelt die „Weite und Vielfalt der Schreibstrategien“ im von ihm untersuchten Zeitraum von Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre.60 Dort unterscheidet er fünf verschiedenartige Schreibkonzepte (die jeweils noch weiter unterteilt werden): zum einen „[…] das Gedichte-Schreiben vorrangig zur Selbstverständigung und -aussprache, zur Ausforschung der eigenen Individualität“,61 als zweite „große Richtung“ sieht er „in den letzten Jahren“ eine – nach Elke Erb – „Verselbständigung des Spielerischen“, bei der „die Funktion des Gedichte-Schreibens […] den Zweck in sich selbst [hat], in der intensiven sprachlichen Formung einer poetischen Gegenwelt zum alltäglichen Leben“.62 Als Beispiel dafür wird die Anthologie Vogelbühne erwähnt, für deren Dichter die „Erfahrungszugänge zu gesamtgesellschaftlichen Prozessen, die ihnen lebendige Anteilnahme abverlangen würden, […] mehr oder minder außerhalb [der] Aufmerksamkeit“ liegen.63 Es gehe um das ganz Andere:
Im Gedicht soll all das seinen Platz erhalten, was das gewöhnliche Leben verwehrt: Das Spiel mit Klängen, Sprachformen, Bildzeichen, die Entrückung der poetischen Gegenstände ins Geheimnishafte, die magische Evokation rational nicht faßbarer Augenblicke.64
In diesem Rahmen wird Papenfuß als ein Lyriker genannt, für den „sich durch die Verwendung von Mitteln der konkreten Poesie […] neue Aussagemöglichkeiten erschlossen“ haben, die er immerhin „originär zu nutzen“ wisse.65 Nachdem er in knappen Worten einige Charakteristika der Papenfußschen „Sprechlyrik“66 und solcher Gedichte, in denen „die visuelle Textanordnung eine metaphorische Funktion“ übernehme, dargelegt hat,67 hebt Geist einen Text von Richard Pietraß hervor. Dessen Aussage zeichne sich durch „Mehrdimensionalität“ aus, so daß sie „weder auf den gewichtig-ernsten Lebenslauf einer Generation noch auf das bloße Spiel mit Sprachstrukturen zu reduzieren“ sei.68 Es ist anzunehmen – jedoch wegen fehlender Numerierung nicht eindeutig bestimmbar –, daß hier das dritte Schreibkonzept begegnet.69 Geist zitiert den Text „Generation. Für Welimir Chlebnikow“,70 wonach er folgert:
Das Gedicht […] ist ein charakteristisches Beispiel dafür, daß bei allem sprachspielerische[n] Witz die Sprache dennoch nicht auf eine Materialfunktion reduziert wird und das Wort immer auch als bedeutungstragendes, auf Wirklichkeit verweisendes Zeichen behandelt wird.71 In diesem Sinne sind diese Texte auch nicht als ,linguistische Gedichte‘ apostrophierbar.72
Spätestens der letzte Satz, mit seinem ohne Quellenangabe angeführten Papenfuß-Zitat der „linguistische[n] Gedichte“,73 weist darauf hin, daß hier durchaus ein wertender Vergleich zwischen Papenfuß und Pietraß vorgenommen wird, der für Papenfuß nachteilig ausfällt, ohne daß das explizit ausgesprochen würde.74 Auf Geists im Verlauf der Zeit veränderte Rezeption der Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek soll im nächsten Subkapitel eingegangen werden.
An der Anfang des ,Wende‘-Jahres 1989 erschienenen Rezension von Peter Böthig zum Band dreizehntanz fällt auf, daß er Papenfuß gleich zu Beginn einordnet in die „,linke […]‘ Literaturgeschichte der Deutschen“, für die er den „großartige[n] und oft sehr unterschätzte[n]“ Sturm-und-Drang-Autor Karl Philipp Moritz als beispielhaften Vertreter erwähnt.75 Ohne auf den Charakter dieser linksorientierten Traditionslinie weiter einzugehen, führt er Moritz danach als – politisch abgesicherten? – Bürgen einer Kunstautonomie auf, die so weit geht, daß sie die Tuchfühlung mit der Wirklichkeit als Negativum definiert:76
Jener Karl Philipp Moritz wußte etwas davon, daß in der Kunst (mitunter) jene Ferbrechen begangen werden (müssen), die wir uns im Leben ferkneifen müssen. Weil sonst herrschte ja wilde Anarkei (wie Pap. aus Anarchie und Arkadien und noch so manchen anderen Reagenzien mixt). Und wer würde dann schöne Bücher machen?77
Nach Böthig kann in bezug auf Papenfuß’ Lyrik nicht mehr die Rede sein von einer – extrem – subjektiven Wirklichkeitsauffassung (von der Ingrid und Klaus-Dieter Hähnel noch ausgingen), schildern seine Texte auch nicht etwa das irreale, aber immerhin potentielle Andere (wie Geist durchblicken ließ), sondern artikulieren sie Nicht-Möglichkeiten. Und damit ist Literatur dann endgültig zur Fiktion geworden. Das Übernehmen Papenfußscher Begriffe sowie Schreibweisen gibt dieser Interpretation von dessen Poetik einen dem Ernst des Kritikerdiskurses in der DDR zuwiderlaufenden, spielerischen Effekt, der gleichsam eine Distanz zu ihm markiert.78
Das Neue an den Texten von Bert Papenfuß-Gorek liegt für Peter Böthig vor allem in ihrer Entfernung zum, „irgendwie kitschig verklärten Standard […] des ,Poetischen‘“.79 Zusammengefaßt beinhaltet das seiner Meinung nach den Entzug von ,der Literatur‘ (als ,Überbau‘-Begriff), eine Nähe zur gesprochener Sprache80 und die Unmöglichkeit für den Rezipienten, die Gedichte in feste Traditionen einzugliedern:
Inzwischen hat man sich auch um eine Ahnengalerie für die Papenfußsche Dichtung bemüht […]. Der frühbarocke Johann Fischart und Till Eulenspiegel wurden von Adolf Endler ins geistesgeschichtliche Feld geführt,81 von Karl Mickel die Zweite Schlesische Dichterschule.82 Der Anmerkungsteil des Buchs wischt solche gelehrten Brückenschläge schulterzuckend vom Tisch (Motto: ’s schad ja nix, aber viel Sinn machts auch nich).83
Anschließend führt er eine Reihe inhaltlicher sowie formaler Bezugspunkte an, die auf das Aufgreifen von bestimmten Traditionen schließen lassen könnten, diese aber, so Böthig, nicht mehr als anklingen lassen:
Vom Keltischen bis zum Rotwelsch und Sanskrit gehen, springen die Einflüsse unbeschwert kreuz & quer hin & her, wie’s eben „die fertonung des orts & der zeit“ – gebeut. Da gibt es unmutstoene nach Walther von der Vogelweide, klassische Formen wie Stanzen oder Sonette, einen spielerisch verarbeiteten Manierismus, Kneipenjargon in „Gedichten im Handgemenge“ (Theobaldy), daneben wieder zärtliche Anpreisungen der Geliebten, und die Abstürze danach. […] Für mich ist Papenfuß ein […] Anarchist des Poetischen, der seine Sprengsätze überall aufsammelt und mit ihnen herumschleudert in jegliche Richtung; einer (um nun doch noch eine Tradition zu benennen) der „pòetes maudits“ unseres Jahrhunderts.
Hier unterscheidet sich Böthigs Beurteilung von der von Michael Gratz in einer während der ,Wende‘ erschienenen Rezension. Er betont gerade die Herkömmlichkeit der eingesetzten poetischen Mittel. Das, was für Böthig in der streifenden Verwertung vor allem formaler Traditionen gerade deren Durchbrechung ausmacht, bedeutet Gratz ihre Bekräftigung. Unter dem Gesichtspunkt entwickelt sich für Letztgenannten das Eigene der Papenfußschen Lyrik aus der Kombination der unterschiedlichen Traditionen mit dem „Vorgang“-Charakter des Gedichts und dem „Spaß“ am Text (der sich in „Lesespaß“ bemerkbar machen müßte):84 „Die Spaßseite ist wichtig; nur in ihr existiert und entsteht Inhalt“. In bezug auf diesen Inhalt meint Gratz, daß der „Wichtiges“ anspreche, das „uns!“ angehe (seine Hervorhebungen).85 Am Ende seiner Rezension der in der DDR nun offiziell herausgegebenen Lyrik von Papenfuß-Gorek und Rainer Schedlinski wird deutlich, warum die inhaltliche Seite der Gedichte in dieser Besprechung einen so gewichtigen Aspekt darstellt: Gratz braucht die Kombination Sprache – Wirklichkeit, um für eine Veränderung der Realität zu plädieren. Und auch wenn er sich explizit lediglich auf die Lyrik Schedlinskis bezieht, hatte er doch die Vorbereitungen in dem Teil zu Papenfuß bereits getroffen („[…] daß wir diesen Dichter brauchen“):86
Diese Gedichte fangen Wirklichkeit ein mit einer neuen, erneuerten Sprache – auf die sich neue Wirklichkeit gründen ließe, wer weiß?
In einer Zeit der politisch-sozialen Umwälzung zeigt sich bei diesem Rezensenten ein beträchtliches Vertrauen in die Umgestaltungskraft von – literarischer – Sprache. Traditionell forderte die marxistisch-leninistische Literaturkritik bei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen eine Unterstützung durch Literatur. Hier wird die hierarchische Relation umgedreht, indem der Lyrik eine Vorreiterrolle in diesem Prozeß zugesprochen wird. Die Forderung, bei anstehenden Erneuerungen der gesellschaftlichen Realität diese lyrische Sprache als Grundlage zu betrachten, setzt eine politische Rezeption der Texte voraus, die sich umgekehrt proportional zur traditionellen verhält.87
Die westliche und ,ost-post-wendische‘ Rezeption
Frühe Untersuchungen zur jungen DDR-Lyrik am Ende der siebziger bzw. zu Beginn der achtziger Jahre gehen auf die Texte von Papenfuß-Gorek nicht ein. Günter Erbe erwähnt ihn 1984 als von anderen (Mickel, Kolbe) als talentiert angesehenen Lyriker,88 Gerd Labroisse, der den Hähnel-Artikel zum Ausgangspunkt nimmt für seine Vorführung „neue[r] Positionen“ innerhalb der DDR-Lyrik, geht im gleichen Jahr auf seine Gedichte ebensowenig ein.89 Erst Christine Cosentino behauptet ein Jahr später, daß ihrer Auswahl aus der „jüngsten DDR-Lyrik“ – die Papenfuß aber ebenfalls nicht einschließt – Qualitätskriterien zugrundeliegen, die sie allerdings nicht weiter ausführt:
Ich konzentriere mich auf drei m.E. unter den Prenzlauer Berg-Dichtern herausragend talentierte und vielseitige Lyriker: Uwe Kolbe, Sascha Anderson und Lutz Rathenow.90
Anneli Hartmann befaßt sich 1988 unter dem Gesichtspunkt des „Schreiben[s] in der Tradition der Avantgarde“ eingehender mit Papenfuß’ Gedichten, in denen sie eine Nähe zum Schaffen Welemir Chlebnikows feststellt, die in seiner Aufnahme von „Sondersprachen“, „Archaismen“ und „Zahlensymbolik“, vor allem aber im „Eindringen in die innere Struktur der Wörter“ zu finden sei.91 Sie benennt ausführlicher dasjenige, was die Hähnels „sprachbezogen“, Böthig „materialisiertes Sprechen“ nannte(n): Es gehe bei Papenfuß um „Sprachverhalten“,
Verhalten, wie es sich als Sprache niederschlägt und in ihr greifbar wird, und das Verhalten der Sprache im Prozeß ihres Gebrauchs und der Bearbeitung (Wortbildung durch Präfigierung, das Potential semantischer Ambiguitäten, Spannungen zwischen Homonymen und Homophonen, unvermutete Paradigmen aufgrund von Klangähnlichkeiten usw.).92
Für eine nähere Betrachtung Papenfußcher Texte bezieht sich Hartmann auf die von der DDR-Kritik nicht rezipierte Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, in die der Text „SOndern“ aufgenommen war,93 den auch Helmut Heißenbüttel in seinem Beitrag zu Papenfuß-Gorek in „Die andere Sprache“ hervorhebt, weil er „als programmatisch anzusehen“ sei.94 Im folgenden soll versucht werden, die von ihnen vorgebrachten Einschätzungen am Text kritisch abzuwägen, um so zu weiteren Einsichten zu gelangen.
Die erste, abgehobene, Strophe sehen Hartmann und Heißenbüttel beide als eine Art Verteilung der nachfolgenden, jeweils mit einer Nummer versehenen, Rollen:
1 ein hartes zartes herz
2 ein pakker des pakks
3 eine dagegen haudegin
4 ein sonderbarer gammler [S. 126.]
Das heißt, daß beide Interpreten versuchen, auf struktureller Ebene einen logisch nachvollziehbaren Sinnzusammenhang herzustellen, wobei dessen inhaltliche Füllung für Hartmann eindeutig mit der in einem Text-Kommentar in Berührung…95 erläuterten „Dechiffrierung des Begriffs Ohnmacht“ verbunden ist,96 während Heißenbüttel eine Vieldeutigkeit in den – potentiell – bedeutungstragenden Elementen sieht. Hartmann liest den Kommentar als eine Art Gebrauchsanweisung zum Gedicht, wo Heißenbüttel ihn als extratextuelle Information zur Unterstützung seines Close-Reading-„Durchgangs durch [das] Gedicht“ heranzieht.97
Für ihn bilden zwei aufeinanderfolgende und sich in identischer Form – aber in umgekehrter Reihenfolge – wiederholende Strophen „das Gerüst“ eines „aus einzelnen Anspielungen auf das Zusammenleben von ich und du“ bestehenden Gedichts.98 /footnote]
3 schrei gegen die wand
aschreib es an die wand
aschreite durch die wand
sowie:
1 du bist stark
aalso geh dorthin
awo ich herkomme
a& also hole dir
awas ich dir nicht
amitgebracht habe [S. 128/133.]
Akzeptiert man die Eingangsstrophe des Textes in der Tat als ,Positionsbestimmer‘, so bildet die ,Wand-Strophe‘ die achte.[footnote]Nach einer Zählung, die die auf der ersten Textseite abgedruckten, einzeln numerierten, aber unmittelbar untereinander stehenden Verse als eine Strophe auffaßt. Heißenbüttel zählt diese allerdings einzeln, wohl weil sie separat mit einer Nummer versehen sind. Es ist jedoch nicht gesagt, daß jede „Position“ an eine eigene Strophe gebunden sein muß. Im Gegenteil, das Spiel mit Verben, die die Vorsilbe ,ver-‘ besitzen, plädiert auf struktureller Ebene vielmehr dafür, dieses als eine Strophe aufzufassen (der Druck unterstützt das optisch): „3 uns fereinen / 1 fertsweigen / 3 ferdrehen // […] 1 fertsahnen / follferliebt / einhundertel“ (S. 127) Zwischen den beiden zitierten Abschnitten begegnet der Teilsatz: „du bist stark / also“ als selbständiger Teil. Nach ihnen stehen die Verse:
besagt das noch garnichts
denn ich bin andererseits
andererseits bin ich denn
nach morgen sehnsuechtig (S. 128)
Nach 24 weiteren Abschnitten findet die Wiederholung statt, gefolgt von den zwei restlichen Strophen (S. 133).99
Heißenbüttel liest die sieben ersten Abschnitte als eine Art ,Einführung in das Thema‘ des Liebes-Lebens, von denen er den ersten als „Auftakt“ sieht:
1 umwege zu zuwegen
atunnel & tunnelgetummel
ader liebe gerangel & rummel [S. 127]
Für den in den nächsten drei Strophen vorherrschenden ,acht‘-Klang akzeptiert er uneingeschränkt die dem Kommentar in Berührung… entnommene Umschreibung der „Unendlichkeit“.100 Als eine „Gegenbewegung“ dazu faßt er aus Klanggründen Verse wie „wir fuellen uns ausroben uns / ertschischt hellichtes dampfig“ (S. 127) auf. Wichtig ist weiterhin sein Hinweis auf die ,Einzigkeit‘ von „du“ und „ich“, die in diesem Teil des Gedichts ausgesprochen wird:
bin ich eintsig & und du eintsige elfe
berechne mich errechne dich ferlieberich (S. 127)
Daß Papenfuß-Goreks Gedicht sich im Spiel mit Klängen nicht erschöpft, macht meines Erachtens gerade auch eine Zeile wie diese deutlich: Keineswegs sind die beiden – „ich“ und „du“ – gleichwertig „eintsig“, ist doch das Du „eintsige elfe“. Außerdem ist das Ich zu ,berechnen‘, das Du aber – und das ist mühseliger – zu ,errechnen‘ (S. 127). Der bei Papenfuß-Gorek öfter begegnende Bezug auf Elfen101 vermittelt einen Gefühlswert, der durch die Allusion an die Zahl Elf und durch das Verb ,errechnen‘ meßbar scheint. Da Interpunktion fehlt, bleibt unklar, ob die Rechentätigkeit als Auftrag an das Du („du eintsige elfe / berechne mich errechne dich […]“) oder als Eigenaufgabe an das Ich gestellt ist. Im zweiten Fall wäre nach „elfe“ ein Punkt zu lesen. Auch das Adjektiv „ferlieberich“ ist nicht eindeutig einer Figur zuzuordnen.
Auf den grundsätzlichen Dualismus, der der Liebe vor allem als Lebensform eigen ist, machten bereits die vier Zeilen der Eingangsstrophe aufmerksam: ,hart‘ und ,zart‘ in: „1 ein hartes zartes herts“, zwei einander auch geschlechtlich gegenüberstehende Aktanten in: „2 ein pakker des pakks / 3 eine dagegen haudegin“ (Hervorhebung, A. V.). Lediglich der „sonderbare […] gammler“ des vierten Verses scheint durch seine Eigenartigkeit von dieser Gegensätzlichkeit ausgeschlossen zu sein. Die Tunnel-Strophe sprach vom „gerangel“ der Liebe, einem Wort, das Liebe als Machtkampf definiert. Anneli Hartmann ist, konform dem Kommentar in Berührung…, der Auffassung, daß „SOndern“ „als Verb eingeführt“, eine „Auflösung der Dualismen in Offenheit“ leistet, als deren Beispiel sie das „ohn maechtig“ der zweiten Strophe zitiert.102 Die Aufspaltung des Wortes ohnmächtig jedoch, separiert – ,sondert‘ – die dem Adjektiv ursprünglich eingeschriebenen beiden Pole in ,ohne macht‘ und ,mächtig‘ und macht sie dadurch explizit. Insofern ist das eher eine Bewußtmachung von Dichotomie als ihre Zerlegung. Besonders da sich das Liebes-Spiel als Macht-Kampf in dem Bild der sechsten Strophe fortsetzt:
3 zwei woelfe ruehrend rasend reitsend
awenn zwischen unseren beinen liebe dampft
adampf ab in diese betraechtliche labenacht [S. 128.]
In dem einzigen Wort ,dampfen‘ liegen denkbar verschiedene Konnotationen einer dichotomen Liebesbeziehung: dampfende Liebe im Sinne von temperamentvoll, im geschilderten körperlichen Kontext auch banal auf schwitzende Körper bezogen; „dampf ab“ zum einen verstanden als Aufforderung an die/den Geliebte(n), zu gehen. Zumal, wenn der Dampf heraus ist, die Angelegenheit auch langweilig geworden ist. Eine ähnlich perspektivierende Bedeutungsverschiebung wird mit der nächsten Zeile zustande gebracht, in der die „betraechtliche labenacht“ noch einmal aufgegriffen und als „immerhin betraechtliche […] nacht“ gesehen wird (S. 128). Für denjenigen, der ,abdampft‘ in diese Nacht, stellt sie sich postitiv als „labenacht“ dar, für den Zurückbleibenden (durch die Dativform „in dieser nacht“ kenntlich gemacht) bleibt lediglich das Schwarze der Nacht.
Heißenbüttel wehrt sich in seiner Interpretation der nachfolgenden Strophe („schrei gegen die wand […]“) gegen diejenige von Elke Erb im Vorwort zur Anthologie Berührung…, wo es heißt, die Papenfußsche „Sequenz“ stelle
eine Bilanz- und Bewegungsformel [dar], entworfen aus dem nüchternen und keineswegs vertieften oder gesteigerten Alltag der bewußten Gegenwart. Es ist jene Wand des falschen Bewußtseins, der Lüge, Leugnung, Unterdrückung, der dualistischen Spaltung, der Infantilisierung und zynischen Paralyse, die Kerkerwand des Hochmuts, der erstarrten Potenz, die zu lösen ist, die Glaswand der Unwirklichkeit und isolierende Wahnwand der Verzweiflung, die zu durchschreiten ist.103
Ihre Deutung resultiert meines Erachtens aus dem Versuch, die in die Anthologie aufgenommene Lyrik weniger unter spezifischer DDR-Erfahrung als vielmehr unter grenzüberschreitenden Gesichtspunkten zu typisieren. Das Buch trete, so Erb, „[…] mit dem vielstimmigen Disput seines über alle Grenzen der zivilisierten Welt reichenden Themas auch über die deutsche Grenze“.104 Im Vergleich dazu bleibt Heißenbüttel näher am Text und erklärt den Inhalt der Verse aus dem „lautlichen Gegensatzpaar […] ei-a“, nämlich in „schrei“, „schreib“ und „schreite“ gegenüber „wand“. Die Wand bezeichnet er von daher lediglich als „das Trennende, das Abschließende“ und meint, „daß die vielfältige Paraphrasierung Elke Erbs übertrieben ist und dem Gedicht nicht gerecht wird“.105 Ausgehend von der Zweisamkeit der Beginnstrophen kann dem nur zugestimmt werden, bedeutet doch das Durchschreiten der anfänglich beide Figuren umgebenden Wand, daß diese sich zu einer Trennlinie zwischen ihnen entwickelt. Die Dichotomie verstärkt sich infolgedessen in einem solchen Maße, daß eine tatsächliche Entzweiung stattfindet. Da drückt „denn ich bin andererseits“ (S. 128), abgesehen von einer gedanklichen Perspektive, ebenfalls ein räumliches Auf-der-anderen-Seite aus. Und so wird „dort“, das zunächst lediglich die Trennung von Du und Ich im „hier“ bezeichnete, zu einem Ort auf der anderen Seite der Trennwand:
1 jene jede dort
asucht irgendne art
aweg wek fon hier
ajene jede sie pass
agaengerin mit gesell
aschaftlichen gebaren [S. 129]
Die durch die Wand-Strophe vorbereitete Räumlichkeit der Trennung wird hier weiter konkretisiert und bezieht sich auf eine reelle Grenzüberschreitung der jetzt betont weiblichen Figur. An dieser Stelle wird – so meine ich – noch einmal besonders deutlich, daß es Papenfuß-Gorek keineswegs lediglich um Wortspiele zu tun ist, sondern daß die anti-diskursive Struktur seiner Gedichte durchaus semantische Zusammenhänge und Schlüsse zustande bringt – gerade durch das Einsetzen / von ,Fremd-Wörtern‘. Das einzelne Wort „passgaengerin“ ist hier in sich zum Beispiel bereits besonders aussagekräftig: Zum einen deutet das Wortenjambement formal auf den Grenzübertritt hin, zum anderen teilt es den Inhalt des Wortes in „pass“ und „gaengerin“ auf. Das ist als eine Lenkung des Rezipienten aufzufassen, dahingehend, daß weniger an die übliche Wortbedeutung eines im Paßgang sich fortbewegenden Tieres zu denken ist, sondern vielmehr an die einer mit einem Grenzdokument versehenen weggehenden Frau. Auf die Unnormalität eines solchen Weggangs (im Kontext des DDR-Staates) weist die Zeile „mit gesell / schaftlichen gebaren“ hin. Auch hier bringt das Wortenjambement eine zusätzliche Sinngebungsmöglichkeit ins Spiel, indem mit der potentiellen Substantivierung von „gesell“ (als wandernder Person) der Fortgang unterstrichen wird.
Das Danach kennzeichnet sich im Verlauf des Textes durch Reflexionen über des Zurückgebliebenen Einsamkeit, gemeinsame Vergangenheit, das Leben im allgemeinen, die Gesellschaft und die Wirkung von Literatur. Vor dem Hintergrund der zu Ende gegangenen Liebesbeziehung erhält das Motiv der Sexualität als grundlegendes Erklärungsmuster für Verhaltensweisen weiterhin eine wesentliche Rolle:106
3 dort fuer den frieden foegeln
aoder hier nur einen runterholen
adas ist doch hier wie dort die frage [S. 130]
Davon ausgehend, daß es bei Frieden um ein gewaltloses Zusammenleben zwischen Mehreren geht, dreht Papenfuß-Gorek den Spieß um und bezeichnet das körperliche Zusammensein zweier Menschen als ,Friedensinitiative‘, dem er die Selbstbefriedigung gegenüberstellt. „hier wie dort“ – überall – gehe es um diese beiden Alternativen. So kommt eine aufs Allerelementarste zurückgebrachte Sicht auf Sozialität zum Tragen, die mit Helmut Heißenbüttel als „Anti-Weltanschauung“ zu bezeichnen ist. An diesem Text wird m.E. allerdings, entgegen der Auffassung Heißenbüttels und des Textkommentars in Berührung…, nicht die „fast mystische Eingebundenheit“ Papenfußscher Texte deutlich.107 Um eine solche ausfindig zu machen, reichen die wenigen allgemeinen Hinweise im Textkommentar zur „Dreiteilung Gottes“, von der Papenfuß ausgehe, in bezug auf diesen Text doch wohl kaum aus.108 Auch das Spiel mit der Zahl Acht (der Unendlichkeit) bringt Mystik eher als angeführte ,Fremd-Sprache‘, denn als einbindendes Element in den Text ein.109
Wurde am Anfang dieser Interpretation Liebe als Machtkampf beschrieben (vgl. S. 263), so scheint nach dem Wegfall des einen Pols der Zweierbeziehung das (zurück-)gebliebene Ich „in ohnmacht“ (S. 129) zu verfallen. Die Zusammenschreibung des anfangs gespaltenen Wortes gibt auch äußerlich eine positionelle Einheitlichkeit zu erkennen, die sich allerdings nicht in allen Identität ausmachenden Aspekten niederschlägt:
2 er sollte bei sich sein doch
awenn er sich mal selber trifft
aist er schon selbst befriedigt
adiese beiden beisammen zu haben [S. 130]
Anneli Hartmann zitiert diese Zeilen als Indiz für die „Vielheit des Ich“, die das „mit sich und dem anderen Eins-Sein“ aufhebe.110 Aufgrund meiner vorgeführten argumentativen Auseinandersetzung mit den Positionen von Hartmann und Heißenbüttel ist aber eher umgekehrt zu folgern: Das Aufheben des – von Anfang an problematischen – Eins-Sein mit dem Gegenüber führt zu einer Aufspaltung eigener Identität, die allerdings im weiteren Verlauf des Gedichts nicht beibehalten wird. Hartmann ist zwar der Meinung, daß die zweitletzte Strophe die „Vielheit des Ich“ noch einmal vorführt:
4 fielfalt anstatt einfalt
a& du eintseller der fielfalt
abist nicht einfalt sondern
abaustein & bein der fielfalt [S. 133]
jedoch läßt eine Konstruktion wie „eintseller der fielfalt“ insbesondere eine Ausrichtung auf eine dem Einzelnen übergeordnete Diversifikation erkennen, die von „du […] bist […] baustein & bein der fielfalt“ unterstützt wird. Darüber hinaus beziehen sich diese Zeilen nicht mehr – nur – auf die Definierung einer Ich-Position, sondern thematisieren in fast programmatischer Weise eine Literaturauffassung, die gegen Ende des Textes allmählich an Konturen gewonnen hat.
Auf die Verkettung von „,Handlung‘“ und „Diskussion über das Sprachliche“ haben Heißenbüttel und Hartmann bereits hingewiesen;111 sie macht sich auch durch Struktur und Form des Geschriebenen bemerkbar. Keiner von beiden hat allerdings auf die Entwicklung dieser Verbindung innerhalb des Gedichts hingewiesen. Interessant ist, daß das erste explizite Indiz für diese Verflechtung in der Wand-Strophe enthalten ist: „schreib es an die wand [Hervorhebung A. V.]“, als Zwischenstadium zwischen schreien und handeln (schreiten). Elf Strophen weiter folgt vor der Beschreibung der Grenzüberschreitung des Du folgende, sprachreflektierende Strophe:
4 achtnachts auf der zunge gewandelt
awie sichs auf der zunge ferwandelt
aworte in unsaeglichkeiten schinden
arachentsapfenstreichs ferschwinden [S. 129]
Im Aussprechen verformen sich Worte und versuchen das, was ohnehin nicht sagbar ist, auszusprechen. Die Neuprägung „rachentsapfenstreichs“ vermittelt, wenn sie zerlegt wird, zugleich die Art und Weise des Verschwindens: Worte verschwinden im Rachen; Zapfenstreich bedeutet das Ende der Ausgehzeit, d.h. Rückkehr ist angesagt; das gesamte Wort erinnert in der Form an spornstreichs und konnotiert damit unverzüglich. Die letzte Zeile legt so auf unnachahmliche Weise den Übergang zur nächsten Strophe in der Verbindung von Sprache und Handlung dar. Auf der einen Seite verschwinden die Worte, auf der anderen geht die Geliebte. In einer Art Rückblick erfährt der Leser etwas über die Eigenart des Sprechens der Du-Figur:
sprich raunisch so
[…]
unsichtbar unendlich
sprichst du heiten
heimlicher schluesse
schliesslicher keiten
kuenftge entwuerfe [S. 130]
Sie scheint in den großen Begriffen, der Schlüssigkeit und der großen Gebärde der Sprechweise des Ich entgegengesetzt zu sein. Auf einen anderen Umgang mit – geschriebener – Sprache wird etwas später Bezug genommen, indem von einer „schmalingselfe“ erzählt wird, die:
[…] niederschreibt
gammler sind
taubnesseln
die ohne nennenswerte
ortswechsel ihr leben
in geistiger umfrachtung
wie saat so mahd
zu ende bringen [S. 131]
Die Wortgruppe „ohne nennenswerte / ortswechsel“ läßt den Schluß zu daß das zurückgebliebene Ich hier mit einem (sonderbaren) Gammler gleichzusetzen ist. Anders als dessen eigenes Sprechen, bei dem die Worte sich bis zum Verschwinden verwandelten, legt das Schreiben dieser „schmalingselfe“ den Beschriebenen zunächst einmal fest. Das Hinterfragen von Wortbedeutungen fängt darauffolgend nur scheinbar bei einigen Denotationen an. Die fragenden Pronomen zielen jedoch sofort auf weitere Modalitäten der geschlechtlichen Bipolarität sowie auf deren Auswirkungen.
wer der mann
wie die maennlichkeit
was das maennlein
welcher der frau
die fraulichkeit welche
das fraeulein welk [S. 131]112
In der nächsten Strophe führt das bereits zu einer Wunschformulierung, den Umgang mit Wortinhalten (Abstrakta) betreffend:
wenn richtig wichtig
[…] waer
[…] wir waeren wichtiger (S. 131)
Bemerkenswert ist der Übergang im Gebrauch des Personalpronomens von ich/du, er auf das gleichermaßen undefinierte wie ungebrochene „wir“. Die Wunschvorstellung wird weitergeführt und gipfelt im Verlangen nach „taetlichkeiten“ statt negativ konnotierter „handlungen“ (S. 131). Angesichts der positiv geladenen „ohnmacht“ (S. 129), die Ruhe beinhaltet („in ohnmacht ausgeruht“, S. 129), geht es auch hier nicht um das Übernehmen von irgendwelchen gewöhnlichen Machtpositionen. Ziel des angesagten „kampf[es]“ ist vielmehr eine durch „herrschaftslosigkeit“ zu erreichende „gewaltlosigkeit“ (S. 132). Dann wird noch einmal herausgestellt, welcher Glücksumstand es ist, in „ohnmacht“ zu sein:
durch gewalt haben wir
nichts zu ferlieren
Im folgenden werden die Gegensätze von „lotter / leben“ und in unterschiedlicher Weise mit ,Maß‘ Zusammenhängendem, wie „regelmaessig“, „maessig […]“ und „masstaebe“ (S. 132f.) aufgebaut. Die adjektivische Bezeichnung „sinnfluessig“ scheint zu „lotter / leben“ zu gehören und positiv konnotiert zu sein.113 Im entschlossenen Verwerfen von Vorschriften kommen Sprache und Leben ausgeprägt zusammen:
a[…]
1 es sei kein ferhaeltnis
azu deinem miteinander
aals deines
amasstaebe
asind litteratortur
a& wegtsublaettern [S. 132f.]
In dieser Strophe findet ein Wechsel im Personalpronomen statt von „ihr“ zu „du“, in der darauffolgenden Strophe übergehend in „mein […]“. Wenn in der nächsten („du bist stark / […]“, vgl. S. 261) unvermittelt das Du wieder erscheint, sind keine getrennten – an Figuren gekoppelten – Positionen mehr ausmachbar. So kann der Aufruf „du bist stark / also geh dorthin / wo ich herkomme / […]“ an eine(n) Andere(n), jedoch auch an das Ich selber gerichtet sein. Zumal die Machtlosigkeit, die „ohnmacht“, sich zuvor nicht unwesentlich gewandelt hat:
meine sprechmeise
spricht leise weise
spricht haut laut
sprache haut zu
Die ,sinnfluessig‘keit des Lebens, die Zurückweisung von Maßstäben und das Bestehen auf Eigenem mündet in ein Plädoyer für Vielfältigkeit, die als Gegensatz zu „einfalt“ zugleich für das Vernünftige steht. Die Strophe, die das zum Ausdruck bringt, ist geradezu als existentielles Programm zu bezeichnen:
fielfalt anstatt einfalt
& du eintseller der fielfalt
bist nicht einfalt sondern
baustein & bein der fielfalt
Erst hier ist Anneli Hartmann beizupflichten, wenn sie sagt, daß „Dualismen in Offenheit“ aufgelöst werden. Insofern ist das Durchschreiten der Wand zum Ende des Textes weniger das Überschreiten einer Trennlinie, die dann nach der anderen Seite abschotten würde, sondern vielmehr eine Öffnung nach außen.114 Trotzdem wird auf die Einzel(n)heit des Ich bestanden: Der Einzelne ist Detail eines größeren Ganzen, zugleich aber erkennbare, in sich geschlossene Größe. Diese doppelte Identität verschafft ihm den Ausweg aus der „einfalt“, ohne daß das hier eine „Vielheit des Ich“ bedeuten würde.115 Eher drängt sich die Konklusion auf, daß erst die Entdeckung der „fielfalt“ ungebrochene Identität zustande bringen kann.116
Die letzte Strophe führt eine Umkehrung der proportionalen Verstärkung ,je… umso‘ vor: „umso foller je“, allerdings ohne einen zweiten Komparativ folgen zu lassen:
ausgesprochen ohne
Abschließend heißt es dann mit einer letzten Zeile:
so foll so ohne SoJa (S. 133)
Wenn man „so“ als reguläres Auftaktsignal zu einer konkludierenden Schlußbemerkung auffaßt, stellt diese Zeile ihre Durchbrechung dar. Mittels der ersten drei Worte wird jeweils separat ein solches Signal gesetzt. Dabei bleibt es dann aber; es gibt kein „SoJa“, keine Konklusion. Die „fielfalt“ füllt das Gedicht („umso foller je“) und führt somit zu dessen ,Voll-Endung‘. Es wird aber nicht dargelegt, worin die Vielfalt besteht: „ausgesprochen ohne“. Auf der einen Seite „so foll“, jedoch „so ohne“ Explizierung dieser Fülle. Und auch das ist durchaus als Schlußaussage zu nehmen. „SoJa“ bleibt immerhin das letzte Wort.
Die Befreiung „aus der Festschreibung, aus starrer Eindeutigkeit“ gilt hier nicht lediglich für den „thematische[n] Mittelpunktbegriff ,Ohnmacht‘ […] mitsamt seinem Gegenstück ,Macht‘“,117 sondern wird an nahezu jedem Begriff vorgeführt. Heißenbüttel definiert Papenfuß-Goreks Schreiben in einem Vergleich mit dessen erklärtem Vorbild Kuhlmann folgendermaßen:
Eine Welt, die ganz und gar aufs Wort gestellt ist, […] ja, eine Welt, in der statt der Taten Worttaten geschehen.118
Die aber, so wurde deutlich, durchaus Relationen mit außersprachlicher Wirklichkeit aufweisen. Nicht im Sinne von Widerspiegelung, sondern als Möglichkeit, existierende Welt-Bilder in Bewegung zu setzen. Der Kommentar zum Text in Berührung... betont, daß „das Wort sondern aus seiner Eintracht mit […] disjunktiven Konjunktionen“ befreit und als Verb benutzt wird.119 Die nachfolgende Erklärung dieses Gebrauchs: „zu einem Tun, das Vielfalt und Bewegung erzeugt, Zuwege in Vielfalt zuwege bringt“, beschreibt das Ergebnis des ganzen Textverfahrens, nicht den Prozeß des Sonderns.120 Auf der Sprecher-Ebene wird die Geliebte vom Ich gesondert, auf der Ebene der Textkonstitution werden vier Positionen sowie die einzelnen Strophen, darüber hinaus zwei mögliche Reihenfolgen der dargestellten Positionen voneinander gesondert. Die letztgenannte Sonderung regt eine alternative Leseweise an, die auf der Zusammenlegung gleichlautender Nummern basiert. Zum Beispiel stünde dann die im Buch als zweite abgedruckte (und also ebenfalls in dieser Reihenfolge zu lesende) Strophe:
lasch doll sacht entfacht
flammt & ueberdreht
ohn maechtig
als erste der zweiten Gruppierung, nachdem an ihre Stelle die 1-Strophe
du im augentraegen dunkellicht
[…]
berechne mich errechne dich ferlieberich
getreten wäre. Diese wäre in der Lesart von allen anderen mit 1 markierten Strophen gefolgt, bevor die „lasch doll sacht“-Strophe erscheinen würde (das Resultat sähe etwa folgendermaßen aus: 1,1,1,1 […], 2,2,2, […] usw.). Eine Abfolge 1-2-3-4, 1-2-3-4 usw. gehört nicht zu den Möglichkeiten, da nicht von jeder Position eine gleiche Anzahl Strophen vorkommt. Interessant ist, daß in der rezeptionellen Abweichung von der Druckfolge der Anfang identisch bliebe, die „fielfalt“-Strophe den Text jedoch abschließen würde – was als Argument genommen die ,erste‘ (sich an das Abgedruckte haltende) Lesart unterstützt. Festzustellen ist andererseits, daß die mit der zweiten Lesart entstehende äußerliche Ordnung (in der ,richtigen‘ Reihenfolge der Nummern), inhaltlich gesehen die ohnehin brüchige Linearität des Textes weiter zersetzen würde.
Michael Thulin rechnet im Jahr 1990 die Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek gemäß seiner Dreiteilung der „poetischen Formen“ innerhalb des Bereichs der „autonomen Zeitschriftenliteratur Berlins“ zur „semantischen Sprachkritik“ (als andere Möglichkeiten gibt er an: „metaphorische Kritik“ und „textuale Sprachkritik“).121 Es ist hier nicht der Ort, auf seine Konstellation Kultur-Gegenkultur einzugehen, die er mit diesem dreiteiligen Konzept entwickelt. Da sich seine Kategorien auf eine Beschreibung textueller Verfahren richten, ist diese Ausgrenzung durchaus zulässig. Thulin versteht unter „semantische[r] Sprachkritik“ folgende Schreibweise:
Die Sprache […] entwickelt aus der Differenz der kleinsten Sinnspuren ein Coming-Out der Bedeutungen, das mit den Sinninhalten der Sprachsplitter umgeht, als wären es intakte metaphorische oder geschlossene rhetorische Einheiten. Die Abweichung wird dabei zur Methode, die Opposition von Lauten zur Grundlage von Sinnveränderungen und die einzelnen Bedeutungsbruchstücke werden zu semantischen Kernen, um die sich Aussageketten gruppieren.122
Der Begriff „Coming-Out“ ist hier besonders treffend gewählt, weil er ein bewußtes Einsetzen sprachlicher Elemente hervorhebt. Jedoch sind es – obwohl sie eine besonders gewichtige Rolle spielen – keineswegs lediglich die Differenzen der Seme und Phoneme, die für die vielschichtigen Bedeutungsdimensionen der Texte verantwortlich zeichnen. Wie an dem Text „SOndern“, aber auch am relativ frühen Gedicht „tage“ exemplarisch gezeigt werden konnte, werden an Schlüsselstellen durchaus ,Überbegriffe‘ so eingesetzt, daß sie – ausgehend von kulturellgesellschaftlich festgeschriebenen Bedeutungen – zu Sinnzusammenhängen zwischen den ver-spielt wirkenden Sprachbrechungen führen. Solche Sinnzusammenhänge werden dann aber ihrerseits durch diesen Kontext des Spielerischen aufgelockert. Es geht dabei keineswegs lediglich um sogenannte „Ideologiegroßwörter“, wie sie Peter Geist in seiner 1991 erschienenen Anthologie Ein Molotowcocktail auf fremder Bettkannte nennt, die, so schreibt er in seinem Nachwort, „zur Kenntlichkeit verändert“ werden.123 Ein Begriff wie Liebe, der auf den ersten Blick der Privatsphäre entstammt, spielt, wie gezeigt werden konnte, ebenfalls eine erhebliche Rolle. Und wird im Textverlauf in den Bereich des öffentlichen Lebens überführt.
Für Achim Trebeß liegt das verbindende Element der Papenfußschen Texte in einer in der Wahl der literarischen Bezüge, Themen und Figuren zum Vorschein kommenden Geschichtlichkeit:
Trotz aller Subjektivität, das heißt gerade durch sie, ist ein […] allem vorausgesetzter Gang von Geschichte gedacht, ist genau das Ausgangs- und Reibungspunkt dieser Lyrik. Es sind Experimente, dem Druck bisheriger Geschichte standzuhalten, die auch in den Wörtern festgesetzte geschichtliche Macht, wo sie vernichtend geworden ist, aufzusprengen und gerade durch Individualisierung ihre Richtung umzukehren, das Tote – Wörter, Systeme, Institutionen – dem Lebendigen zu unterwerfen. Und auch das funktioniert nicht ohne Geschichte, auch sie wird verlebendigt[.]124
Meine Analysen zeigten für das Gedicht „tage“ die ,Öffnung‘ biblischer Geschichtlichkeit, für ,SOndern‘ im Privaten die Umdeutung des Schmerzes einer beendeten Liebesbeziehung (ein klassischer Topos) in eine Befreiung im Sinne einer Durchbrechung des mit ihr verbundenen Machtkampfes. Damit wurde zugleich der Blick frei für eine Anerkennung von ,fielfalt‘.
Anders als in mancher Untersuchung angedeutet wird, geht es in Papenfuß-Goreks Texten nicht um eine prinzipielle Untergrabung der Souveränität des lyrischen Ich. Mißverständlich ist es in dieser Hinsicht, wenn Thulin Papenfuß’ Gedicht „kein befestigtes hochland“125 folgendermaßen anführt:
Seine Struktur [die des Textes, A. V.]: ,[…] feraendert sich selbst / staendig darein begriffen / unterstuetze ich diese / Fertiefung Der Wahrnehmung / gleichzeitig das wissen / um eine schiere fuelle fon / e r s c h e i n u n g e n‘ [sic!].
Die Art und Weise, wie das Textzitat in Thulins Aussage eingebaut ist, gibt Anlaß dazu, Papenfuß’ Gedichtsprache als autonomen, sich selbst generierenden Prozeß zu betrachten. Im zitierten Gedicht ist aber nicht die Textstruktur, sondern die „SINNLICHE […] WAHRNEHMUNG [Hervorhebung im Original, A. V.]“ das Subjekt der ständigen Veränderung. Da diese als „Fertiefung“ gesehen wird, ist das Ich darum bemüht, sie zu „unterstuetze[n]“. Im Wissen allerdings um die Unmöglichkeit einer alles aufnehmenden Wahrnehmung, geschweige denn, daß eine vollkommene Wiedergabe möglich erschiene. Wenn man den Text also als auf die Textkonstitution bezogen liest, ist die Struktur somit Folge, nicht Ursache wahrgenommener Veränderungen. Auf der Rezeptionsebene wird das genau umgekehrt sein: die Wahrnehmung des Lesers ist – auch sinnlich – bedingt durch Struktur und Form des Textes.
Die Bedeutungsveränderungen (ob Bedeutungsentwicklungen oder -differenzen), die Texte bei Papenfuß vorführen, können als explizites Anschreiben gegen Eindeutigkeit gesehen werden. Peter Geist hebt die Schreibweise Papenfuß-Goreks indessen ins Nebulose, wenn er sie 1991 folgendermaßen umschreibt:
Bert Papenfuß-Gorek versetzt in seinen Gedichten die Worte so in Bewegung, daß die Bedeutungen ins Tanzen geraten, durcheinanderwirbeln, sich neu verbinden […], immer in eigenartiger Spannung dirigiert zwischen vital-erotischer Aggressivität und etymologisch-philosophischer Sprachfaszination, die in mythologische Gefilde verweist.
Den von Papenfuß selber initiierten Terminus „Arkdichtung“ als Bezeichnung für sein Schreiben126 sieht Geist mit Thulin als „,metapher für den entwurf einer rhizomatischen anthropologie der poetischen sprache‘“,
in der der metaphysische Einlösungswunsch vom universalen Genießen und Wahrnehmen sich auf anarchisch-archaische Mentalität berufen kann […].127
Der betont malerische Stil des Leipziger Literaturwissenschaftlers trägt – obwohl er verschiedene Elemente der beschriebenen Lyrik durchaus anspricht – nicht gerade dazu bei, Papenfuß’ Gedichte für andere Rezipienten transparent zu machen.
Bereits die an anderer Stelle zitierte Dissertation von Peter Geist kennzeichnete sich durchgängig dadurch, daß schwer zu erkennen war, auf welche Texte sich zusammenfassende oder thesenartige Aussagen bezogen. Obwohl das für seine nach der Wende publizierten Erörterungen zum Thema DDR-Literatur in gleichem Maße gilt, verändern sich die Einschätzungen von einzelnen Lyrikern allmählich. Die summarische128 und in der Gegenüberstellung zum Pietraß-Gedicht pejorative Beschreibung der Lyrik von Papenfuß-Gorek in der Dissertation (vgl. S. 255) unterscheidet sich weitgehend von den enthusiasmierten Worten seiner späteren Untersuchungen. In seinem Beitrag zu Verrat an der Kunst? nennt er Papenfuß-Gorek den „unfreiwillig[en] […] Klassiker“ der „Lyrik aus der Lychener Straße“, dessen Gedichte der Bände tiské und nunft129 sich dadurch auszeichnen,
daß schier unerschöpfliche Verfremdungsphantasie […] eine Vielzahl schillernder ,zmetterlingue‘ in die (Buch-)Welt setzt […]. Dabei scheut der ,fon elfen eisgekaltete rebell‘ weder bramarbasierende Rede noch tagespolitischen Kommentar oder Publikumsbeschimpfungspose, um ,eine triumphflucht zu skizzieren‘: ironisch-,chaotische Feldforschung‘ (nach Michael Braun), ,müdes leben zum lieben‘ zu erwecken, gleichzeitig Strategie zur Verhinderung von Bedeutungsfestsetzung. In der Konsequenz seiner von beißendem Spott durchsetzten Ungemütlichkeit gegenüber Meinungsmainstream, Betroffenheitskultivierung, Dumpfdeutscherei u.ä. […] unterscheidet sich diese Lyrik von postmoderner Beliebigkeitsartistik.130
Da sich die hier aufgeführten textuellen Verfahren nicht wesentlich von denen aus früheren Texten unterscheiden, muß – zumal auch Geist selber auf die Wandlung nicht eingeht – offenbleiben, warum sich obige Charakterisierung in Wertschätzung und Darstellung so sehr von der flachen der Dissertation unterscheidet.[footnote]Die Gründe mögen durchaus mit dem Zeitpunkt des Zustandekommens der Dissertation zusammenhängen, die am 10.2.1987 angenommen wurde. Erst im letzten Heft von Sinn und Form waren 1986 erstmals wieder Texte von Papenfuß abgedruckt, was den Umgang mit dessen Texten legimitieren sollte (vgl. Anm. 49).
Noch abgesehen von der Frage, ob Geist den Begriff Postmoderne generell mit Beliebigkeit gleichzusetzen gewillt ist, liegt die Divergenz zur Beliebigkeit in den Texten von Papenfuß-Gorek meines Erachtens nicht lediglich im Ton der lyrischen Aussagen oder in der darin zum Ausdruck kommenden Haltung, wie Geist nahelegt. Es werden vielmehr – wie an dem Gedicht „SOndern“ gezeigt werden konnte – dem Rezipienten auf der semantischen und strukturellen Ebene so viele Hinweise vermittelt, daß eine argumentativ-revidierende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lesarten durchaus möglich ist. Die Papenfußsche ,Sonder‘-sprache führt in der Tat keine Beliebigkeit vor, so wenig wie bloße Sprachkritik, obwohl beide Elemente durchaus Bestand-Teil in ihr sind. Achim Trebeß stellt schlichtweg fest:
Ausgangspunkt ist das Wort.
Die verschiedenartige Arbeit am Wort ist von vielen Interpreten aus unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen heraus beschrieben worden. Allen Darstellungen gemeinsam war aber die schlußfolgernde Kennzeichnung:
Sprache wird spürbar in ihrer Materialität.131
Das ist durchaus auch auf die formale Seite bezogen. Auf die orthographischen Eigenheiten, die Gewichtigkeit des Klangs und den Einfluß der gesprochenen Sprache auf die Texte Papenfuß-Goreks wurde, wie auf ihre ,Medienbezogenheit‘, wiederholt hingewiesen.
Zu einem späteren Zeitpunkt soll versucht werden, diese Charakteristiken auf ihren Neu-Wert zu prüfen – zunächst folgt ein Abschnitt zu einem Lyriker, der für das Schlagwort „Hineingeboren“,132 unter dem die Generation Papenfuß-Goreks bekanntgeworden ist, verantwortlich zeichnet: Uwe Kolbe.
Anthonya Visser, in Anthonya Visser: Blumen ins Eis. Lyrische und literaturkritische Innovationen in der DDR. Zum kommunikativen Spannungsfeld ab Mitte der 60er Jahre. Editions Rodopi, 1994
Sprachgewand(t) – Ilona Schäkel: Sprachkritische Schreibweisen in der DDR-Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek und Stefan Döring
Bert Papenfuß: Außer der Reihe
Heribert Tommek: „Ihr seid ein Volk von Sachsen“
Mark Chaet & Tom Franke sprechen mit Bert Papenfuß im Sommer 2020 und ein Auftritt mit Herbst in Peking beim MEUTERLAND no 16 | 1.5.2019, im JAZ Rostock
Kismet Radio :: TJ White Rabbit presents Bertz68BirthdaySession_110124_part 2
Lorenz Jäger: ich such das meuterland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2016
Zeitansage 10 – Papenfuß Rebell
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre, 2016
Thomas Hartmann: Kalenderblatt
MDR, 11.1.2021
Nachruf auf Bert Papenfuß bei Kulturzeit auf 3sat am 28.8.2023 ab Minute 27:59
Bert Papenfuß liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.
Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.
Bert Papenfuß, erzählt am 14.8.2022 in der Brotfabrik Berlin aus seinem Leben und liest Halluzinogenes aus TrakTat zum Aber.
morderne lyrik ist schon komplex genug. wenn in der erklärung dann “nicht-syntaktischer Grammatik” erscheint, führt man keine neuen leser ran
Prenzlauer Berg garantiert mir ein Maß an Unzufriedenheit, das ich brauche
– Der Dichter Bert Papenfuß. –
In meiner Kindheit bin ich oft umgezogen. Von 1970 bis 1971 wohnte ich mit meinem Vater im Offizierswohnheim in Strausberg und fuhr oft nach Berlin rein, weil die Sachen, die mich damals interessierten, in Berlin abliefen. Zum Beispiel war ich in einem Jugendclub am Ostkreuz, wo Hardrockbands wie die Puhdys spielten. 1971 ging ich nach Greifswald zurück, doch in dem dortigen Freundeskreis waren ein paar Studenten, die aus Berlin kamen, und so hatten wir immer Adressen hier. 1975, als ich mit der Lehre fertig war, war für mich klar, ich muß weg aus Greifswald. Eigentlich stand Berlin schon ganz oben auf dem Plan, aber so richtig gefiel mir die Stadt nicht, sie war mir zu groß, und die Häuser waren zu hoch und zu dunkel. Berlin war gut für zwei, drei Tage, man kam am Freitagnachmittag her und bis Montag war eben Party – es gab viele Kneipen, viele Leute und viele Affären. Wohnen wollte ich aber erst mal noch nicht hier. Ich ging dann nach Schwerin. Begehrte Jobs für Aussteiger, wie ich ja irgendwie einer war, waren damals Antiquar, Bühnenarbeiter oder Tontechniker am Theater. Ich hatte mich in Schwerin zuerst bemüht, einen Job zu finden im Antiquariat, aber das klappte nicht. Ich war dann ein Jahr lang Beleuchter und Tontechniker im Theater. 1976 zog ich mit meiner damaligen Frau Cerstin nach Berlin. Das war zum Anfang ein bißchen schwierig, denn wir fanden keine Wohnung, kamen aber schließlich in einem besetzten Haus in der Friedenstraße unter. Dort sind wir jedoch bald wieder rausgeflogen, weil es interne Kommune-Beziehungs-Knatsch-Geschichten gab. Das war ein ganz mieser, enger, kleiner Mief in diesen sogenannten Kommunen, unaushaltbar. Mit Geheimniskrämerei und Beziehungstechtelmechtel hin- und herschieben und die Affären benutzen, um irgendeine Machtposition im Kreis auszubauen, damit kamen wir überhaupt nicht klar.
Wir waren fast am Resignieren und suchten schon in Potsdam nach einer Bleibe, das war aber noch aussichtsloser, und fanden schließlich eine Wohnung in Friedrichshain in der Kochhannstraße nahe der Leninallee. Stefan Döring zog auch dahin, Lutz Rathenow wohnte um die Ecke, und Anfang der achtziger Jahre kamen noch ein paar Punks aus dem Kirche-von-unten-Kreis dazu und ein paar Filmleute. Das war eine ziemlich konzentrierte Szene.
Es machte für uns keinen Unterschied, ob wir nominell in Friedrichshain wohnten oder in Prenzlauer Berg, das war egal. Außerdem war es genau die Grenze. Stefan Döring wohnte zum Beispiel in der Hausburgstraße, die eine Straßenseite war Friedrichshain, die andere Prenzlauer Berg. Der einzige Unterschied war, in dieser Gegend gab es keine Szenekneipen wie Fengler oder Café Burger. Café Burger wurde sehr frequentiert von den Bühnenarbeitern der Volksbühne, ein paar Schauspielern und einigen Schriftstellern wie Thomas Brasch, Klaus Schlesinger und Adolf Endler. Für uns war eher Fengler die Hochburg. Wir fuhren extra mit der Straßenbahn hin und liefen dann zurück, weil nach Ausschankschluß keine mehr fuhr. Aber meistens waren anschließend sowieso noch Parties, also fuhr man früh zurück mit der ersten Straßenbahn.
Ich fing dann am Theater der Freundschaft als Beleuchter an.
Nach einem Jahr schmissen sie mich da raus, weil ich angeblich ein paar Schichten gefehlt hatte. Jedenfalls hatte die Kaderleitung das behauptet. Der wirkliche Grund war, daß es zu viele Langhaarige in der Beleuchterbrigade gab, und nun war auch ich noch dazugekommen. Ihnen war aufgefallen, jetzt nimmt das überhand, also mußten sie wieder mal ein bißchen bereinigen, und so ekelten sie mich raus.
Ich mußte mir einen neuen Job suchen und fing am BAT an.
Die waren 1976 mit einer Inszenierung von Dantons Tod aufgefallen, das waren für damalige Verhältnisse spektakuläre Aufführungen. Klaus Brasch beispielsweise hatte da mitgespielt. Ich kannte die Leute zum Teil aus dem Schweriner Theater. Bei der Bewerbung hatte ich ihnen die Wahrheit gesagt, daß ich gerade raus geflogen war, aber die fanden das irgendwie machbar, und so arbeitete ich dort drei Jahre lang. Dadurch war ich dann natürlich mehr beheimatet im Prenzlauer Berg. Die Stammkneipen waren Metzer Eck, Am Wasserturm und die Quelle in der Metzer/Ecke Prenzlauer, dort hingen die ganzen Musiker ab, Freygang zum Beispiel. Inzwischen hatte ich angefangen, die ersten Sachen zu publizieren, der Verlag Neues Leben wollte ein Poesiealbum machen, der Aufbau Verlag einen Gedichtband veröffentlichen; das sah – jedenfalls meiner Meinung nach – günstig aus. Ich hatte zwar noch einen Lehrgang zum Beleuchtungsmeister gemacht und war gerade dabei, den abzuschließen, aber dann sagte ich mir, nee, mach das lieber nicht, das führt dich bloß in Versuchung, so ’ne normale Technikerlaufbahn einzuschlagen, das willst du doch eigentlich nicht, brich das mal lieber ab, dann sind die Fronten klar. Also hörte ich 1980 auf und war auch ganz zufrieden damit, obwohl es finanziell relativ schlecht ging. Wir hatten ja ein Kind – Leila war 1977 geboren ‒, und hätten das kaum geschafft, wenn uns nicht sowohl Cerstins Eltern als auch meine Mutter hin und wieder unterstützt hätten.
Cerstin nähte und verkaufte ab und zu Klamotten, und wenn die Not sehr groß war, versuchte sie mal wieder, irgendeinen Job anzunehmen. Das ging aber nie länger als ein paar Monate gut, dann flog sie wieder raus. Sie war nicht sehr geeignet für feste Arbeitsverhältnisse. Später hatte sie eine Zeitlang sauber gemacht.
Wir waren damals keine Ausnahme. Eigentlich hatten fast alle, die wir kannten, als Familie angefangen, auch wenn sie nicht miteinander verheiratet waren. Rathenows waren eine in dem Sinne intakte Familie. Döring hatte sich gerade scheiden lassen, der hatte das schon hinter sich. Das hing auch damit zusammen, daß Ende der Siebziger die neuen sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung von fast allen jungen Leuten in Anspruch genommen wurden – die nahmen Kredite auf und bauten sich Wohnungen aus und kriegten ein Kind und noch eins, damit sie das Geld nicht zurückzahlen mußten. Ein verderblicher Einfluß der Politik auf die Zwischenmenschlichkeit im Grunde genommen. Ich hatte damals einen Text darüber geschrieben, der hin und wieder bei Lesungen zu Diskussionen führte. Damals waren ja die Lesungen meist Vorgaben für anschließende Diskussionen, wo zum Beispiel darüber gesprochen wurde, daß man sich von der Familienpolitik des Staates nicht manipulieren lassen sollte, aber die meisten haben sich trotzdem darauf eingelassen.
Oft schleppte man die Kinder auch mit, natürlich nicht abends in die Kneipe, aber auf Parties und Konzerte. Die siebziger Jahre waren sehr geprägt von dieser Hippie-Mentalität, eine Fete war meist gleichzeitig auch ein Kinderfest. Das fing nachmittags an mit Kinderbelustigung und kippte abends in ein Besäufnis mit musikalischer Begleitung um. Für die Kinder wurde dann ein Raum zum Schlafen freigeräumt. Es gab aber immer Diskussionen zwischen Cerstin und mir, wer sich um das Kind zu kümmern hat. Bei vielen dieser Feste war ich ja aktiv dabei als Lesender oder mit der Band, und so mußte Cerstin auf Leila aufpassen, wollte das aber nicht so richtig, und dann mußte ich es zwischendurch wieder tun, das waren typische Situationen, nicht nur für uns. Und bald gab es eben auch die ersten Trennungen und Scheidungen.
1979/80 ging das los mit dem Punkrock. Mit ihm entstand die Motivation, Musik, Literatur und Malerei miteinander zu verbinden. Es gab schon bald drei, vier Bands, die sich gegenseitig unterstützten und die ersten Konzerte gemeinsam bestritten. Mit Günter Spalda, Bernd Jestram und noch ein paar Leuten, die nur kurz dabei waren, gründete ich damals Rosa Extra. Als Gitarrist und Sänger wirkte ich dort aber nur in der Frühphase mit. Später schrieb ich die Texte und hatte vor, während oder nach dem Konzert gelesen. Mein Vorschlag war eigentlich, die Band Der Schwarze Kanal zu nennen, das war aber den Leuten zu deutlich, und dann kam Sven Rose, damals ein Freund von Jenny Paris, auf den Namen Rosa Extra. Das paßte sehr zur üblichen Namensgebung der Neuen Deutschen Welle. Als die Band allmählich ernst genommen wurde, auch von offiziellen Kreisen, gab sie sich den moderateren Namen Hard Pop. Unter diesem Namen hat sie bis 1989 existiert. Ich hatte nur ein Jahr lang mitgemacht, weil ich 1982 zur Armee kam. – Unsere musikalischen Interessen divergierten. Günter und Berni kamen aus der Rockmusik und betrachteten Punk nur als Einfluß. Ich war eher für eine Mischung aus Singegruppe und Punkrock. Ich wollte die offizielle Singebewegung der FDJ parodieren und harte Musik dazu machen. Das war denen aber zu heikel. Die jungen Punks sahen Rosa Extra auch gar nicht als richtige Punkband an. Das war eher was für Leute, die schon ein bißchen älter waren. Die Jüngeren hatten ihre eigenen Bands, die ihre Klischees eher bedienten.
Wir spielten hin und wieder in privaten Zusammenhängen, also irgendwer hatte eine große Wohnung, einen Keller oder ein Grundstück, oder wir spielten auf Ausstellungseröffnungen. Die waren aber ebenfalls meist privat organisiert, also nicht staatlich unterstützt oder sonstwie von der offiziellen Kulturpolitik protegiert. Als Anfang der achtziger Jahre die Kirche von unten entstand, waren es häufig auch kirchliche Räume. Die Gruppierungen waren alle ein bißchen vernetzt, vor allem mit dem Süden, also Jena, Erfurt, Weimar, Dresden, Halle. Dort sind wir dann auch hingetourt. In den Privaträumen gab es oft Situationen, wo die Nachbarn sich beschwerten wegen Ruhestörung. Dann kamen die Bullen und brachen das ab. Es kam dann auf die jeweilige Zivilcourage der Veranstalter, also der Wohnungsinhaber, Grundstücksbesitzer und auch des Publikums an, ob es trotzdem weiterging. Manchmal wurde der Ärger richtig ernst genommen, die Musik wurde ausgemacht und man mußte wegschleichen. Aber schon Mitte der achtziger Jahre war der Respekt vor der Staatsgewalt enorm gesunken. Gut, da waren die Bullen, aber die hauten wieder ab, und dann ging es weiter, manchmal kamen sie auch wieder, das war dann eher ein Spiel. Zur selben Zeit waren auch schon relativ viele Sachen in staatlichen Räumen möglich, aber meistens nur einmal. Ich kann mich erinnern, daß Rosa Extra in der Volksbühne gespielt hatte, bis die Sicherungen rausgedreht wurden. An der Kunsthochschule Weißensee sollten sie mal spielen, durften dann aber nicht, weil die gehört hatten, daß ich da mitmache, und mit dem Argument, sie wollen keinen zweiten Biermann, wurde es untersagt. Aber die diversen Rausschmisse und Verbote trugen natürlich zur Mythenbildung und zum Szeneruhm bei.
Wir Literaten interessierten uns mehr oder weniger alle für Musik. Sascha Anderson beispielsweise war zwischen 1983 und 1986 ziemlich aktiv als Schweinerocker. Die Musiker, mit denen er zusammenarbeitete, waren eher traditionell, aber bestimmte Punkeinflüsse hatten auch sie verarbeitet. Rosa Extra hatte auch mal mit einer Dresdner Band gespielt, die sich aus Conny Schleime, Sascha Anderson, Ralf Kerbach, Lothar Fiedler und Michael Rom zusammensetzte.
Ich war mit Beatmusik der sechziger Jahre aufgewachsen, dann kam der Rock der Siebziger. Punkrock war für mich insofern die Konsequenz aus dem, was vorher passiert war. Jüngere Leute wie Flanzendörfer hatten den Punk und vor allem diese atonale Neue Deutsche Welle richtig ernst genommen, also Einstürzende Neubauten und so weiter, die ja auch alle mehr oder weniger literarisch ambitioniert waren. Schedlinski stand wahrscheinlich eher auf Schmuserock, wenn er sich fünfzehnjährige Mädels herbeiphantasierte. Honza Faktor war auf die sechziger Jahre fixiert, und Detlef Opitz ist völlig amusikalisch. Die Vorlieben waren individuell unterschiedlich, je nach dem, wie musisch die jeweiligen Literaten waren. Da Döring auch mal Baß gespielt hatte, wollte Günter gern, daß er bei Rosa Extra einsteigt. Er fing tatsächlich an zu üben und nahm zu Hause mit einem kaputten Recorder eine Kassette auf, ich hab die noch, die klingt sehr gut, das ist der wahre Underground. Die Aufnahmen in den illegalen Studios waren ja mit sehr großem technischen Aufwand verbunden, was Döring suspekt war. Er sagte, das kann man ganz einfach machen, man nimmt sich einen Kassettenrecorder und bastelt sich alles selbst zurecht. – Döring hatte mal eine Lesung in der Pfingstkirche am Kotikowplatz, wo er seine Texte auswendig aufsagte. Da dachten die Punks, er sei ein Sänger von einer Punkband, die irgendwo auf der Strecke liegengeblieben ist und jetzt kommt eben nur der Sänger an und sagt die Texte auf. Das wurde von denen sehr gut aufgenommen.
Neben der Pfingstkirche gab es in Berlin ein paar weitere Treffpunkte, wo Punkkonzerte stattfanden. Ich erinnere mich an eine Kirche in der Rigaer Straße und dann natürlich an die Erlöserkirche in Lichtenberg. Im Prenzlauer Berg fand mal eine Veranstaltung in den Gemeinderäumen der Immanuelkirche statt, die Sascha Anderson organisiert hatte. Berühmt für Konzerte und Lesungen war ferner das Hinterhaus Sredzkistraße 64, kurz vor der Ecke Prenzlauer, gleich neben dem Kohlenplatz, da hatten ein paar Leute ihre Ateliers, darunter Hans Scheib und Volker Henze. Im Atelier von Henze traten wir zu offiziellen Anlässen wie Silvester zusammen mit Punkrockern auf. – Die Galerie von Schweinebraden in der Dunckerstraße war eine andere Szene. Sascha und Rathenow hatten Kontakt zu denen, meine Position war irgendwie unklar, ich wollte mich nicht bestehenden Zusammenhängen anschließen. Die Szenen um Schweinebraden und auch um Poppe in der Rykestraße waren mir zu bürgerlich, ich hatte keinen richtigen Zugang. Bei Poppe war ich ein paar mal, aber das war eine von mehreren abendlichen oder nächtlichen Aktivitäten, das war für mich nicht so wichtig, daß ich extra hingegangen wäre. – Gegenüber vom Fengler in der Lychener Straße hatte Uta Hünniger ihr Atelier, das später Scheffler und auch Erdmann genutzt hatten. Dort fand 1984 die Zersammlung statt.
Die meisten von uns hatten sich Ende der siebziger Jahre im Bödickerklub am Ostkreuz kennengelernt, den Reinhard Zabka und Martin Hoffmann machten. Die hatten ihn für den damaligen Geschmack so ein bißchen alternativ gestaltet, also die Wände bemalt und die Möbel selbst gebaut. Dort fanden regelmäßig Konzerte, Lesungen und Ausstellungen statt, auch so offizieller Kram, der aber für uns halbwegs erträglich war. Ich erinnere mich, daß Wieland Herzfelde mal da war und über seine Aktivitäten in den zwanziger und dreißiger Jahren sprach. Außerdem wurden gerne Karneval und Silvester dort gefeiert, Anlässe, die benutzt wurden, um irgendwas zu transportieren, was ein bißchen schräg war. Die im Bödicker hatten eine Lesungsreihe organisiert, wo wir uns dann alle kennenlernten: Uwe Kolbe, Stefan Döring, Sascha Anderson, Lutz Rathenow, Knut Wollenberger und ich. Ungefähr so. Da ging es nicht um ästhetische Unterschiede, sondern eher um Gemeinsamkeiten, denn wir befanden uns alle in einer vergleichbaren Situation. Das Liebäugeln mit der FDJ-Poetenbewegung war für die meisten vorbei. Stefan Döring hatte das hinter sich gelassen und Lutz Rathenow auch. Manche hatten es gelassen, weil es ihnen nichts gebracht hatte, und andere, weil sie davongejagt wurden. Ich hatte nie etwas damit zu tun gehabt. Auf jeden Fall fühlten wir uns ein bißchen abseits des offiziellen Kulturbetriebs stehend, und das brachte so eine synthetische Solidarität mit sich. Synthetisch meine ich in dem Sinn, daß sie sozial gewachsen war, nicht ästhetisch. Es gab auch freundschaftliche Zusammenhänge, wir unterstützten uns gegenseitig, indem wir Geld borgten und verborgten und auf die Gören aufpaßten, aber es fand keine ästhetische Diskussion über Texte statt. Das kam später, als es aber auch schon politische Unterschiede gab. Ich war zum Beispiel nicht dafür, mit dem westdeutschen Feuilleton zusammenzuarbeiten, Rathenow vertrat dagegen die Auffassung, daß man es unbedingt tun sollte, um auf sich und auf die schlimme Position, die man hier auszuhalten hatte, aufmerksam zu machen. Damit traten dann auch die ästhetischen Unterschiede mehr in den Vordergrund, die ja eigentlich auf der Zersammlung ausdiskutiert werden sollten – wurden sie ja auch in Ansätzen. Aber bis dahin schwelte es so dahin. Wirklich schieden sich die Geister erst nach der Wende, 1991, nach den Stasi-Enthüllungen. Erst dann eigentlich kam es zur Distanzierung der Leute untereinander, aber auch das nicht vollständig. Wenn ich Rathenow heute treffe, ist das für mich ein alter Bekannter, wie so viele andere Leute auch. Die haben andere ästhetische Standpunkte und stehen sicherlich politisch woanders, aber das Stück gemeinsame Geschichte verbindet eben auch, das kann man nicht so wegwischen, und das will ich auch gar nicht.
Initiiert hatten die Zersammlung Döring, Sascha und ich, weil wir der Meinung waren, daß man darüber nachdenke sollte, so etwas wie einen alternativen Schriftstellerverband zu gründen. Das sollte bei der Veranstaltung herausgefunden werden. Eigentlich war es eine ziemlich monströse Woche, sieben Tage lang lasen jeden Abend sechs oder sieben Leute, und danach gab es stundenlange Diskussionen. Es stellte sich jedenfalls heraus, daß viele einen alternativen Schriftstellerverband gar nicht wollten. Da gab es Leute wie Jochen Berg, der auf der einen Seite Staatsdichter als angestellter Hausautor am Deutschen Theater war und andererseits doch der Subkultur verbunden, während Jan Faktor mit seinen tschechischen Erfahrungen viel motivierter war, einen politischen Zusammenhang herzustellen. Sascha sah das als einen Versuch an, eine große Familie herzustellen, und was mich interessierte, war die Frage, inwieweit das ganze politisierbar war. Ich wollte, daß eine Organisation gegründet wurde. Im Laufe der Woche merkte ich aber, daß das mit diesen Leuten nicht ging.
Im Nachhinein schrieben Döring, Faktor und ich ein Manifest. Weil bei der Zersammlung nichts Richtiges rausgekommen war, meinten wir, wir müßten uns ästhetisch und politisch positionieren. Vorher schon gab es einen vagen Anknüpfungspunkt beim russischen Futurismus; wir waren alle Fans von Chlebnikow. Häfner, Döring, Anderson und ich hatten bei verschiedenen Veranstaltungen zusammen mit Musikern Manifeste russischer Futuristen gelesen und auch gemeinsame Statements, vielleicht jeweils eine DIN-A4-Seite, die wir vor der Veranstaltung als reines Arbeitspapier verfaßt hatten, vorgetragen. – Eine klare Positionierung, wie sie ein Manifest eigentlich auszeichnet, war meiner Meinung nach nur selten vorgekommen. Und auch das, was wir schrieben, war sehr diffus. Man kann sagen, es sind drei verschiedene Standpunkte, die in dem Papier einander widerstreiten. Heute ist das wahrscheinlich gut aufschlüsselbar. Man kann jetzt besser sehen, das hat Faktor formuliert, das hier ich und das dann wahrscheinlich Döring, weil es nicht zu Faktor, nicht zu mir paßt. Damals wußten die Leute das nicht so genau, und das Papier wurde als äußerst verwirrend aufgenommen. Schedlinski publizierte es später in der Ariadnefabrik. Im Zuge des Poststrukturalismuswahns wurde es dann als ernsthafter Text genommen.
Auf der Zersammlung waren alle Leute aufgefordert worden, ihren gelesenen Text mehrmals abzuschreiben und zur Verfügung zu stellen. Es ist daraus ein Heftchen gebunden worden, vielleicht sogar zwei, eins habe ich jedenfalls mal gesehen, das andere wird Sascha gleich zur Stasi getragen haben. Es war nicht so interessant, weil es nur kurze literarische Beiträge enthielt. Es hatte keinen Statement-Charakter, es blieb ein kleines Lyrikbändchen, eine Art alternativer Almanach.
Wenn es eine Grenze gab zwischen den inoffiziellen Zeitschriften, die damals eine Rolle spielte, dann die zwischen, sag ich mal, „uns“ und Leuten, die schon mit Buchveröffentlichungen in die offizielle Kultur eingestiegen waren. Das war zum Beispiel bei den Herausgebern von Mikado, bei Bernd Wagner und Uwe Kolbe, der Fall. Ich weiß nicht genau, welche öffentliche Präsenz der dritte, Lothar Trolle, in den siebziger Jahren gehabt hatte, aber die anderen beiden hatten etwas zu verlieren, und Mikado war deshalb nicht so offen wie andere Zeitschriften, also wie schaden, und und undsoweiter. Aber es waren natürlich trotzdem unsere Freunde. Ich hatte zwar immer eine gewisse Distanz zu Bernd Wagner, mir gefiel nicht, was er schrieb, und er war mir auch menschlich nicht besonders sympathisch, aber natürlich saßen wir im Mosaik zusammen am Tisch und unterhielten uns auch. Mit Kolbe war es etwas anderes, ich war längere Zeit mit ihm richtig befreundet. Ich schätzte ebenfalls nicht besonders, was er schrieb, und fand auch seine Position ein bißechen opportunistisch, aber wenn diskutiert wurde, ob man mit offiziellen Stellen – Schriftstellerverband, Verlage usw. – zusammenarbeiten soll oder nicht, bezog auch ich immer die Position, man muß an allen Fronten arbeiten. Und wenn es möglich ist, über den Schriftstellerverband oder über Verlage Einfluß zu nehmen auf die Literaturpolitik, dann sollte man es tun. Kolbe überlegte zu der Zeit, ob er in den Schriftstellerverband eintritt oder nicht. Ich hatte mich auch beworben, war aber abgelehnt worden.
Von mir sind zu DDR-Zeiten nur ein paar Texte offiziell erschienen: 1977 in der Zeitschrift Temperamente und 1978 zwei in der Auswahl 78. Und 1980 veröffentlichte Karl Mickel in der ndl einen Text über Wilhelm Tkaczyk, Bernd-Dieter Hüge und mich und stellte uns anhand jeweils eines Textes als proletarische Schriftsteller dar, das war alles. Das nächste war dann erst wieder der Band in außer der reihe bei Aufbau – im Impressum steht 1988 als Erscheinungsjahr, aber ausgeliefert wurde er erst 1989. – Die Veröffentlichung in Temperamente kam folgendermaßen zustande: Ich hatte schon während der Lehre in Greifswald angefangen zu schreiben. Als ich danach in Schwerin war, stellte ich das erste Manuskript mit dem Titel naif zusammen der Band erschien mit zwanzigjähriger Verspätung bei Janus press – und schickte es an den Verlag Neues Leben für die Reihe Poesiealbum, also an Bernd Jentzsch. Richard Pietraß antwortete mir in dessen Vertretung, und im Sommer 1976 trafen wir uns. Er schlug vor, einen Auszug in der damals gerade neugegründeten Zeitschrift Temperamente abzudrucken. Das brachte ihm aber sogleich Probleme. Heute sagt er, daß diese Veröffentlichung eine ganz entscheidende Sache für ihn war, weil sie die Konsequenz hatte, daß er dort rausflog.
Dann kam der Kontakt zum Aufbau Verlag zustande. 1977 hatte ich drei Gedichtmanuskripte fertig, die ich Stefan Ret zu lesen gab. Der zeigte sie seinem Vater Joachim, der wiederum gab sie Karl Mickel, und der wiederum Gerhard Wolf – jedenfalls gab es schließlich ein paar Leute, die das gut fanden und sich dafür einsetzten. Karl Mickel und Gerhard Wolf lancierten das Manuskript zum Aufbau Verlag, wo sie Interesse bekundeten, und ich wurde zu einem Lektor gerufen. Es wurde diskutiert, ob man aus den drei Bänden eine Auswahl trifft. Ich stellte den Band zusammen und wurde danach immer wieder vertröstet. Wie ich heute aus den Stasiunterlagen weiß, gab es niemals einen ernsthaften Plan, überhaupt etwas zu drucken, ganz im Gegenteil, es ging immer darum, alles hinauszuzögern und mir gegenüber keine klare Position zu beziehen. Der Verlag hatte auch Außengutachten eingeholt, unter anderem von einem Stasimitarbeiter, der schrieb, die Texte seien wichtig, um die Zuverlässigkeit von Lektoren zu prüfen. Je ablehnender sie meinen Sachen gegenüber stünden, desto zuverlässiger seien sie. Dieser Text wurde jetzt auch veröffentlicht, in dem bei Janus press erschienenen Band Traktat zum Aber. Gerade heute habe ich vom Verlag die Abrechnung gekriegt. 700 Stück haben sie gemacht, vor einem Jahr hatten sie davon noch 300, und im letzten halben Jahr verkauften sie exakt 66 Exemplare. Das ist wahrscheinlich eher gut für den Verlag.
Von dem Stasigutachten ahnte ich damals nichts. Mein Manuskript lag bei Aufbau, und ich wurde jedes halbe Jahr hinzitiert, manchmal auch zum Verlagsleiter. Dort gab es eine Cheflektorin und noch ein paar nette Unterlektorinnen, die immer Kaffee kochten, wenn man kam, Sascha wurde ab und zu aus Dresden eingeladen, das war ein gemütliches, gut organisiertes Plauderstündchen. Die reine Hinhaltetaktile.
Bei Uwe Kolbe war das anders. Aus dieser Poetenbewegung mußte ja irgendwas Vorzeigbares und Kritisches entstehen, und dieser Part ist irgendwie auf Kolbe gefallen. Wobei noch erleichternd dazu kam, daß sein Vater Kulturoffizier der Staatssicherheit war, zuständig unter anderem für den Aufbau Verlag. Der verschaffte Uwe dort einen Volontariatsposten, und dann erschien auch sein Band da. Ein bißchen suspekt war uns das schon. Wir kriegten ja unmittelbar mit, wie das ablief. Aber ich bin kein Verschwörungstheoretiker oder von Neid geplagt. Ich erfaßte eher die schwierige Position Uwes, der sich wegen jedem Schritt eine Platte machte von wegen: Darf ich das jetzt, und: Jetzt sitze ich hier und bin offizieller Autor, was denken meine Freunde von mir.
Er war aber auch die richtige Person, die es verdient hatte, darunter ein bißchen zu leiden. Sein Vater kannte mich schon aus Schwerin, weil er zusammen mit seiner Frau dort eine Zeitlang die Subkulturforschung betrieb, und für die war ich ein ganz böser Lümmel. Uwe hatte mir von Anfang an gesagt, vergiß das mit Aufbau, mein Vater haßt dich wie die Pest und wird eine Veröffentlichung zu verhindern wissen. Eigentlich fand ich den Typen ganz witzig. Uwe und ich hatten Anfang der achtziger Jahre eine Lesung im Krausnickklub, und sein Vater kam da mit ein paar Kollegen hin und war ganz nett und freundlich zu uns. Nach der Lesung ging ich in den Klubleiterraum, um mein Zeug rauszuholen, da standen die da drin, ich nahm sie nur im Vorbeigehen wahr, und am nächsten Tag stellte sich heraus, daß sie gerade dabei waren, die Klubhausleiterin rauszuschmeißen, wegen der Lesung. Die arbeitete hinterher noch ein bißchen im Colosseum, bevor sie in den Westen ging.
Die meisten von uns hatten nebenbei noch einen Job. Viele arbeiteten als Heizer bei der Firma REWI, Rechnungs- und Wirtschaftsführung. Die hatte am Hackeschen Markt ihren Hauptsitz, aber die Büros waren im ganzen Stadtgebiet verteilt, und je nachdem, wo man wohnte, hatte man sich ein Büro möglichst in der Nähe ausgesucht, dort ging man nachts hin und fegte und heizte. Die meisten waren sehr lange dort beschäftigt, Reichmann ewig, Feix glaube ich auch, Döring nicht ganz so lange, aber mich schmissen sie schon nach ein paar Monaten raus, weil ich es einfach nicht packte, die Räume warmzukriegen. Ich war zu der Zeit in einer extremen Nervensituation. Cerstin und ich waren gerade dabei, uns zu trennen, und ich hatte die Stasi auf dem Hals, also richtig auf dem Hals. Manchmal war es doch unangenehm mit der Stasi, muß ich sagen. Im Nachhinein kann man gut darüber lachen, aber damals hatte es mich manchmal schon sehr genervt, wenn die ständig vorm Haus standen und mich zur Arbeit begleiteten. Es lag Schnee, ich war von der Kochhannstraße losmarschiert Richtung Boxhagener, und die fuhren im Auto langsam hinter mir her, wahrscheinlich wollten sie stoppen, wie lange ich da zu tun habe. Dann zog ich zu Hause aus und wohnte eine Weile bei Stefan Ret, die Büros waren dementsprechend mangelhaft beheizt, und dann schmissen sie mich raus.
Anfang der achtziger Jahre ging es mit den Lyrik-Grafik-Editionen los, die oft Sascha organisierte, aber es gab auch welche, die von Dresden oder Karl-Marx-Stadt ausgingen. Meine ersten Sachen, Siebdrucke, machte ich in den siebziger Jahren mit Zabka. Das war immer schon ein bißchen eine Nebeneinnahmequelle. Richtige Dimensionen hatte das aber noch nicht angenommen, die Sachen wurden mitunter für fünf Mark verkauft, doch seit Anfang der achtziger Jahre gab es echte Sammler für diese Sachen, da kam schon etwas Geld rein.
Wir gingen auch in Studios und nahmen dort Kassetten auf, die dann verkauft wurden. Das waren ebenfalls keine Unsummen, aber es war eben Geld, das irgendwie reinkam. Die meisten Studios waren illegal in der Garage oder in der Wohnung. Leute mit Beziehungen konnten außerhalb der Zeiten ihr Zeug auch in offiziellen Studios aufnehmen. Daneben gab es gestandene Rockmusiker wie die von City, die ein Studio zu Hause hatten und es zur Verfügung stellten.
Eine Zeitlang war ich im Besitz einer Steuernummer, die mir aber wieder aberkannt wurde, denn man mußte eine gewisse Summe Geldes verdienen, ich glaube, als ich anfing waren es dreitausend Mark im Jahr. Das hatte ich nie geschafft, offiziell verdiente ich vielleicht tausend Mark. Die Honorare waren selbst bei offiziellen Lesungen gering. Das Geld dort kriegte ich ja meistens dafür, daß die ausfielen. Ein Beispiel: lnes Eck lud mich nach Jena zu einer Lesung ein, das Honorar betrug 125 Mark, Steuern schon abgezogen. Und ich komme da hin und es heißt, die Veranstaltung fällt wegen Wasserrohrbruch aus. Sie zahlten mir mein Honorar aus, und ich konnte wieder nach Hause fahren.
Als ich 1983 von der Armee kam, gaben sie mir noch einmal eine Steuernummer, aber die Summe, die man verdienen mußte, wurde nun auf sechstausend Mark erhöht. Und das war gar nicht mehr zu schaffen, und so war ich eben nicht versichert. Ich ging dann eine Zeitlang als Stefan Döring zum Zahnarzt, er hatte mir sein SV-Buch geborgt. Aber als er mal selbst zum Zahnarzt mußte, wurde das schwierig. Da habe ich mich 1986 oder 1987 pro forma bei Elke Erb anstellen lassen und war bei ihr mitversichert.
Zu dieser Zeit hatte die Stasi solche Scheinarbeitsverhältnisse nicht mehr interessiert. Wir haben uns nach der Wende mit dem Stasioffizier unterhalten, der für die Literaten zuständig war, seinen Namen habe ich jetzt vergessen. Eberhard Häfner hatte seinerzeit mit dem gesprochen und wurde deswegen als IM geführt, Ekke Maaß hatte mit ihm Schach gespielt und wurde zum IM-Vorlauf. Der Typ mußte ja seine Zeit, die er beim Schach rumsaß, irgendwie abrechnen. Als Björn Cederberg 1991 nach den Enthüllungen seinen Film über Sascha Anderson machte, wurde der Exoffizier hinter einer Leinwand, so als Schattenriß, gefilmt. Döring und ich gingen mit ihm ins Übereck, und da erzählte er uns, daß in den achtziger Jahren zwar noch alles observiert wurde, aber daß es gar keine strafrechtliche Relevanz mehr hatte; sie hätten ziemlich herumbasteln müssen. Der Apparat funktionierte allerdings weiter. Wenn man ins Wiener Café ging, stand des öfteren ein Auto auf der Schönhauser Allee, und die Typen brachten uns bis zum Eingang. Das war vor allem nervend, wenn man im angespannter Stimmung war, andererseits machten wir uns darüber lustig oder fanden es besonders attraktiv, unsere eigenen Stasileute zu haben. Man kannte die vom Sehen, besser gesagt, die anderen kannten sie, ich bin ja kurzsichtig.
Daß die Observation keine strafrechtliche Relevanz mehr hatte, betraf allerdings nur uns. Für die jungen Punks, mit denen ich recht viel zu tun hatte, war das anders. Die sind schon noch in den Knast eingefahren, einfach weil sie nicht arbeiten gingen. Die Punks waren ungefähr seit 1981 eine massiv merkbare Bewegung in der Hauptstadt. Es gab natürlich auch welche in Halle, Magdeburg, Erfurt, Weimar, Jena, Dresden und Leipzig, aber Berlin war der Treffpunkt. In den anderen Städten hatten die eher zu leiden und krochen dann zwangsläufig bei der Kirche unter.
Ich hatte mit achtzehn den Waffendienst verweigert. Damals war ich noch in der Lehre, und es gab natürlich eine Diskussion mit meinem Vater darüber. 1975 kam er im Auftrag seiner Dienststelle, dem Ministerium für Nationale Verteidigung, zu mir nach Schwerin, um die Sache mit seinem Sohn zu regeln. Ich machte ihm meine Position noch mal klar, daß ich dabei bleibe, und daraufhin brach er offiziell den Kontakt zu mir ab. Wir hatten uns danach zwar noch mal gesehen, aber für ihn war das damit offiziell geklärt. Für mich hatte es die Konsequenz, daß sie mich erstmal nicht zogen. Es war ihnen irgendwie peinlich, daß der Sohn eines hohen Offiziers den Waffendienst verweigerte. Sie holten mich dann erst mit sechsundzwanzig und probierten vorher noch, mich von meiner Entscheidung abzubringen. Sie sind doch junger Familienvater, haben sie gesagt, und Sie wollen doch sicherlich in der Nähe Ihrer Familie bleiben, wir können Ihnen einen guten Posten in Berlin verschaffen, Sie müssen nicht irgendwo als Bausoldat dienen. Das wollte ich aber.
Cerstin hatte schon eher ein Problem damit. Sie insistierte immer, daß ich mich ein bißchen kümmere, es war ja eigentlich gar kein Problem. Wir kannten genügend Ärzte, von denen ich mir hätte Atteste besorgen können, ich tat es aber nicht. Einerseits spekulierte ich ein bißchen darauf, daß sie mich gar nicht ziehen. Andererseits wollte ich auch ein bißchen hin. Die erste Zeit bei der Armee fand ich dann auch interessant, ich mußte einfach mal erleben, wie ich in soldatischem Zusammenhang funktioniere. Ich war ja in Kasernen aufgewachsen, erst in Drögeheide und dann in Greifswald und Leningrad. Wir hatten immer in Offizierskasernen und Batzensilos gewohnt. Jetzt den Soldatenalltag am eigenen Leibe zu erfahren, war schon wichtig. Nur, sämtliche Erfahrungen waren nach zwei, drei Monaten gemacht, den Rest über mußte man einfach durchhalten. Die Armee hat etwas Männerbündisches, das ich nie richtig hatte ausleben können, weil ich wahrscheinlich zu früh mit Frauen angefangen hatte. Seit ich fünfzehn war, waren Frauen das A und 0, und dann hatte ich gleich Familie. Zwar bedeutete es mir nichts, verheiratet zu sein, aber irgendwie liebten wir uns, und wir bekamen ein Kind. Dieses Nur-unter-Männern-Sein mußte ich nun endlich mal ausleben. Damals hätte ich das nicht so klar formulieren können, aber es war mit Sicherheit so. Es war eine neue Erfahrung, eine Weile von Frauen weg zu sein.
Von den Bausoldaten waren neunzig Prozent wirkliche Christen, und zwar aller Couleur, auch Sekten wie Siebenten-Tags-Adventisten, Pietisten und so weiter. Leute, die aus politischen Gründen verweigert hatten, gab es ganz wenige, und die waren auch noch sehr unterschiedlich. Ein paar waren dabei, die lange im Knast gesessen hatten und kurz vor der Wehrunwürdigkeit waren, die hatte man gerade noch als Bausoldaten genommen. Wenn man sie gelassen hätte, wären sie lieber zur regulären Truppe gegangen. Dann gab es noch ein paar Homosexuelle. Aber jemand wie ich, der sich als Anarchist bezeichnete, war schon eine Ausnahme. Das Verhalten untereinander war relativ solidarisch, das war überhaupt das Angenehme bei den Bausoldaten. Es gab keine ernstzunehmende EK-Bewegung. Durch mein vergleichsweise hohes Alter war ich Zugältester und kannte mich natürlich außerdem im Militärischen ganz gut aus, doch meine Position zu all dem war klar: Ich war dagegen. Es war eine Zeit ohne große Ablenkungen, ich konnte lesen und schreiben und beschäftigte mich mit sehr verschiedenen Sachen. Die Texte, die ich dort schrieb, finde ich heute nicht mehr gut, die sind mir zu konzentriert, zu verstiegen. Sie sind auch nie richtig veröffentlicht worden, jedenfalls keine größeren Zyklen.
Ich kam als Schriftsteller zur Armee, man mußte ja seine Tätigkeit angeben, und wurde folgerichtig Schreiber. – Von den dreißig Leuten im Zug waren zwei bei der Stasi, und die hatten den Auftrag, meine Texte, die ich schrieb, einzusehen. Da wurde konspirativ mein Schrank geöffnet und nichts gefunden. Weil ich es „immer an Mann“ trug, wie mein IM so schön berichtete, komme er an das Material nicht ran. Den Ausgang benutzte ich meist, um nach Berlin zu fahren – ich war anfangs in Storkow und später in Neuseddin, beides nicht weit weg von Berlin —, oder jemand besuchte mich, und alles was ich geschrieben hatte, schaffte ich dabei raus.
Als ich nach anderthalb Jahren wiederkam, hatte sich einiges in der Szene geändert. Sascha Anderson war inzwischen zum Szenepapst stilisiert worden. Er war ungefähr 1980 nach Berlin gekommen und hatte ähnlich wie Rathenow gearbeitet, also unter extremer Hinzuziehung des westdeutschen Feuilletons. Während ich bei der Armee war, war Sascha zum neuen Biermann gemacht worden. Das wurde von uns kritisch wahrgenommen, aber nie offen formuliert. Nur Stefan Döring war dann so kühn, 1992 ihm zu sagen, daß das damals doch wohl nicht hätte sein müssen. Wenn doch mal darüber gesprochen wurde, dann wand Sascha sich und versuchte, eine ambivalente Position einzunehmen und sich von der reinen Mediengeilheit zu distanzieren, wie sie Rathenow zugeschoben wurde. Bei ihm selbst sei das etwas anderes.
Sascha hatte seine ersten Bände im Westen veröffentlicht und war also zum Idol aufgestiegen. Jeder Satellit hat einen Killersatelliten war inzwischen ein Kultbuch. 1982, 83 kamen noch ein oder zwei Bände. Er hatte dann irgendwie einen festen Vertrag mit Rotbuch, das Geld floß, nicht zuletzt durch diese Lyrik-Grafik-Verkäufe im Westen. Die Sachen wurden hier hergestellt und im Westen verkauft, das Westgeld wurde in Ostgeld umgerubelt, und so gab es hin und wieder große Mengen Geldes. Und dann fing er an, diese Reihe großformatiger originalgrafischer Bücher herauszugeben, die relativ teuer waren. Döring hatte eins gemacht mit Fotos von Florschuetz, das war ziemlich dünn und kostete hundertfünfzig oder zweihundert Mark, und ich hatte eins gemacht mit Handzeichnungen von Strawalde, damals schon ein berühmter Künstler, das kostete fünfhundert Mark. Es reichte, zwei oder drei davon zu verkaufen, um Geld über einen längeren Zeitraum zu haben. Fünfzehnhundert Mark waren ja ein Haufen Geld. Obwohl wir damals auch sehr gut ausgeben konnten – eine Flasche Falkner-Whisky kostete im Wiener Café achtzig Mark.
Die Wohnung von Ekkehard Maaß spielte eine nicht unbedeutende Rolle. Er hatte Ende der Siebziger mit Lesungen von Leuten angefangen, die uns damals formal wenig interessierten, die wir auch gar nicht kannten, Transportpaule Gratzig beispielsweise. Auch Adolf Endler war mir noch unbekannt, ältere Leute eben. Aber Ekke Maaß verehrte sehr Anderson, als Dichter und als Menschen, er ist ja Philanthrop, und selbst als Anderson mit Wilfriede ein Verhältnis anfing, hatte er das, glaube ich, in der ersten Zeit mit Wohlwollen gesehen, es war ihm wahrscheinlich eine Ehre. Sascha machte dann Ecke auf diese Gruppe von neuen Dichtern aufmerksam. Erst las Sascha dort selber und zog uns dann nach. Mit uns meine ich Döring, Häfner und mich, Jan Faktor gehörte später auch dazu.
Eberhard Häfner kannten wir durch Reinhard Zabka, der wie er aus Erfurt kam. Es gab einen engen Zusammenhang in dieser ganzen Erfurter Szene, Gabi Kachold war oft in Berlin, Uta Hünniger und Gundula Schulze wohnten hier, und wir waren auch oft dort. Erfurt und Dresden waren wichtige Orte. Wir kannten viele Leute, bei denen wir oft auch eine Weile wohnten. Wir wollten sogar mal für ein Jahr mit Leibergs in Dresden die Wohnung tauschen. Es gab auch Beziehungen nach Leipzig und Karl-Marx-Stadt zu den bildenden Künstlern von Clara Mosch und der Galerie Oben, die waren sehr literaturinteressiert und machten oft Lesungen. Sie hatten auch Lyrik-Grafik-Editionen. Wir machten dann öfter mal Ausflüge. Roland Manske war der einzige aus unserem Bekanntenkreis, der ein Auto hatte. Mit Manske hatten wir ein Problem, weil der so schlechte Texte schrieb. Der war jemand, der ein Lektorat gebraucht hätte. Aber wir fühlten uns als Wildwuchs, als selbstbestimmt von Anfang an und waren der festen Überzeugung, keinen Lektor zu brauchen. Manske konnte sich hinsetzen und in einer Nacht, was weiß ich, hundert Texte schreiben, und die dann auch noch in jeweils zwei bis vier Versionen. Wir konnten die Arbeit nicht leisten, daraus ordentliche Texte zu machen. Obwohl, nicht alles von ihm war schlecht, aber ziemlich zerquatscht.
Das war eben eine autonome Domäne, die galt es zu hüten, und man hütete sich, anderen mit Kritik in den Rücken zu fallen. Das änderte sich erst nach 1985, da erschien die Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, in der Elke Erb und Sascha Anderson als Herausgeber genannt sind, aber eigentlich war Elke die Herausgeberin. Sascha hatte den Bildteil gemacht und Elke etliche Texte von jungen Autoren zugespielt, die sie aufnahm, weil sie darin einen anderen Ton fand, aber nicht unbedingt, weil sie richtig gut waren. Dieses Buch dokumentiert das Schreiben dieser Szene zwischen 1982 und 1985. Es ist viel Scheiße dabei, nur ein paar Sachen sind ganz gut, die meisten ziemlich verstiegen. Durch dieses Buch wurde jedoch Elmar Faber, damals schon Verlagsleiter bei Aufbau, aufmerksam. 1986 wurde ich zur Akademie der Künste zitiert, wo man mich bei der Abteilung Literatur und Sprachpflege quasi rehabilitiert hatte. Faber wollte die definitive Anthologie mit neuen Stimmen aus der DDR machen. Wir schlugen ihm vor, alle Leute einzuladen, die an Berührung ist nur eine Randerscheinung beteiligt waren und noch in der DDR lebten, viele waren ja mittlerweile ausgereist. Es entstand eine Diskussion, ob man die, die einen Ausreiseantrag haben, auch einladen darf oder nicht. – Schließlich schlugen auf dieser Sitzung Kolbe und ich – wir hatten uns vorher abgesprochen – vor, eine ganze Reihe zu gründen und nicht nur einen einzelnen Band zu machen, das Potential sei groß genug. Mit einer Anthologie wären wir alle auf Jahre hinweg abgespeist gewesen, wir kannten ja die Veröffentlichungspolitik in der DDR. Es hatte noch einmal zwei Jahre gedauert, bis es wirklich eine Reihe gab, außer der reihe. Gerhard Wolf wurde mit der Herausgeberschaft betraut, und allmählich erschien ein Band nach dem anderen. Seitdem wurde auch in den Zeitschriften ein bißchen mehr auf Qualität geachtet.
Eigentlich ist es ja normal, daß Leute weggehen, ob in den Westen oder wer weiß wohin, die Szene lebt von Fluktuation und Neuzugängen. Aber die Ausreisewelle der Achtziger war penetrant. Meine Haltung in den siebziger Jahren war, wir sind hier unzufrieden mit den politischen Verhältnissen, dann müssen wir genau hier was dagegen tun; ich gehe nicht irgendwohin, wo günstigere Kampfbedingungen herrschen. Andererseits verstand ich bei vielen Leuten durchaus, daß sie in den Westen gingen, weil die Gründe oft so einfach, so profan und auch so einleuchtend waren. Also Kerbach sagte zu mir, ich bin Maler, ich muß das Mittelmeerlicht sehen. Und wenn es nicht im Guten geht, dann eben im Bösen. Da sagte ich, okay, mach. Aber irgendwann wurde es eine ziemlich alberne Massenbewegung. Leute, die mit sich nicht klarkamen – oft reichte Liebeskummer —, fühlten sich bemüßigt, einen Ausreiseantrag zu stellen. In unserem Fall war das ähnlich, die Beziehung zwischen Cerstin und mir war im Arsch, und wir dachten uns, wir gehen in den Westen und fangen noch mal neu an. Bis mir dann klar wurde, daß besser ist, nicht noch mal neu anzufangen. Also zog ich den Ausreiseantrag zurück, und Cerstin ging mit Leila alleine nach Westberlin. Oft hatte es auch etwas Merkantiles, es ging einfach darum, Geschäfte zu machen. Viele Leute durften dann ja auch wieder einreisen in die DDR und nutzten die Gelegenheit, um irgendwelche Deals zu machen. Es wurde also langsam unattraktiv, ebenfalls einen Antrag zu stellen. Aber ich hatte ja auch schon 1987 meine erste Westreise. Etwa seit 1980 gab es Literaturwissenschaftler, Journalisten, Dichter und Verleger wie von Rotbuch oder Wagenbach, die sich für die Subkultur im Osten ein bißchen interessierten. Und so wurde man hin und wieder eingeladen, durfte aber nie fahren. 1982 hatte ich die erste Einladung nach Wien, irgendwer hatte den Wiener Leuten um Jandl Texte von mir gezeigt. Das war auch so ein Mittel, im Kulturministerium auf sich aufmerksam zu machen, nach dem Motto, ich bin hier ein verfemter Autor, aber im Westen bin ich schon eine große Nummer. Rathenow hatte sehr damit gepokert, daß er hier gar nichts veröffentlichen durfte – er konnte ja nur seine paar Gedichte aus der Anthologie Vogelbühne vorweisen —, aber im Westen war er bereits ein Kultautor und wurde ständig eingeladen und durfte nicht hin. – 1986 hätte ich das erste Mal fahren können, da wurde eine Einladung in die Westberliner Autorenbuchhandlung bewilligt. Ich sollte in die Hauptverwaltung Literatur kommen und mir meinen Paß abholen, aber ich war gerade nervenschwach und überhaupt nicht transportfähig. Annette Simon hatte mich erstmal ein bißchen psychotherapieren müssen, damit ich wieder auf die Füße kam.
1987 hatte ich eine Einladung nach Rotterdam zum Lyrikfestival. Christa Wolf hatte sich für mich eingesetzt und Klaus Höpcke angerufen, es wäre an der Zeit, ein Zeichen zu setzen und die junge Generation zu präsentieren. So war ich dort der Vertreter für Ostdeutschland und Sascha der für Westdeutschland. Er war ja 1986 ausgereist, hatte sich aber nicht so richtig wohlgefühlt im Westen. In Rotterdam ging er zur sowjetischen Botschaft und ersuchte um politisches Asyl. Das wurde abgelehnt.
1988 kriegte ich in Südtirol einen Preis. Da hatte ich schon ein Visum für drei oder sechs Monate, das sogar verlängert wurde. Ich pendelte nun immer zwischen West- und Ostberlin hin und her. Dieser Wechsel der Welten war für mich kein großes Problem. Die Leute, mit denen ich mich in Westberlin traf, waren meist ausgereiste Freunde. Andererseits arbeitete ich aber auch viel mit Leuten aus Westberlin zusammen, zum Beispiel mit Mario Mentrup und der Band Knochengirl. Die spielten auch bei uns, zum Anfang illegal, später schon mal halblegal im Club Gérard Philippe.
In der Zeit hatten schon viele von uns Pässe. Peter Brasch, Rainer Schedlinski und Eberhard Häfner, auch viele Rockmusiker gingen im Tränenpalast ein und aus. Man hatte, zumindest in unseren Kreisen, schon das Gefühl einer Öffnung. Ich hatte kein Problem damit. Rathenow sagte, er fährt erst in den Westen, wenn alle dürfen. Das war eine klare Haltung, damit konnte ich umgehen. Im großen und ganzen hat er sich wirklich daran gehalten. Aber ich fand es wichtig, ein bißchen für Kulturaustausch zu sorgen. Schon als ich nicht in den Westen konnte, hatte ich viel mit Engländern, Amis und Westberlinern zu tun und versucht, ihre Texte in den Untergrundzeitschriften zu veröffentlichen, und im Westen spielte ich den Mittler für Leute, die hier saßen.
1988/89 war ich mit Karen Margolis zusammen, wir wollten heiraten, und sie wollte zu mir in die Immanuelkirchstraße ziehen. Sie wollte the best of both worlds. Als Trotzkistin oder Extrotzkistin war es natürlich angenehm, dem Sozialismus nahe zu stehen und dort vor allem billig zu wohnen, und andererseits die Lebensqualität des Westens nicht missen zu müssen. Aber sie sollte erstmal ins Aufnahmelager Röntgental, und da sagte sie, das sieht aus wie ein KZ. Sie hatte irgendeinen Auftrag von Rotbuch, glaube ich, mit Aufbau zusammen etwas zu übersetzen oder rauszugeben. Elmar Faber fragte mich, ob ich vielleicht eine neue Wohnung brauche, so im Hinblick auf die neue Ehe, doch ich wollte keine, und der Verlag verwandte sich bei der Stasi oder dem Ministerium des Innern für Karen, so daß sie nicht ins Lager mußte. Sie sollte nur einmal hin und ihre Formulare dort ausfüllen, und schließlich einigten sie sich darauf, es kommt ein Beamter rein in die Stadt und sie übergibt dem die Formulare, damit das seinen Gang geht. Aber dann hatte sich die Sache sowieso erledigt, denn ich wollte nicht mehr heiraten.
1985 war ich in die Immanuelkirchstraße gezogen. Ich war nicht fixiert auf Prenzlauer Berg, und mir ist heute noch nicht ganz klar, was Prenzlauer Berg den Vorzug gab vor anderen Bezirken wie Mitte oder Friedrichshain. Vielleicht, daß sich Wiener Café und Mosaik als Literatencafés herausgebildet hatten, wo auch Rockmusiker und Maler verkehrten. Die Literaten waren ein bißchen auf diese beiden Orte fokussiert, wobei das Wiener Café seine Hoch- und Tiefzeiten hatte; eine Zeitlang war das völlig out, da war man gar nicht hingegangen. Aber mit Saschas Feuilletonkarriere kriegte das wieder so einen bestimmten Pfiff, weil er da Hof hielt. Es gab Leute, die nur im Mosaik, und welche, die nur im Wiener Café waren, und Leute, die in beiden verkehrten. Unser Weg war normalerweise erst Wiener Café, die machten um 24 Uhr zu, Mosaik dagegen erst um eins, also setzte man sich gegen 23 Uhr Richtung Mosaik in Bewegung. Und dann gab es die Schwulenlokale die Schönhauser hoch: Altberliner Bierstuben, Café Senefelder, Schoppenstube, und schließlich Nachtbars wie Lolott und Lotus.
Im Café Nord allerdings war ich nie, wegen meiner Klamotten kam ich dort nicht rein. Die Schwulenkneipen hatten Lederjacke und Frisur halbwegs toleriert, bei den Nachtbars war es schon ein bißchen schwieriger, da gab es bis zum Schluß Probleme. Dort durfte man weder Turnschuhe noch Jeans anhaben, mußte ein bißchen unverfänglich aussehen, das lag mir nicht so. – Ende 1988 ging es los mit quasi illegalen Kneipen. Irgendwelche Leute hatten große Wohnungen und machten da einen Ausschank auf, wo es keine Sperrstunde und keinen Ärger mit Einlassern gab.
Ich dachte eigentlich nie ernsthaft daran, wegzugehen von hier, auch nicht nach 1989. Mir gefällt es hier gar nicht so besonders, aber Prenzlauer Berg, überhaupt Berlin garantiert mir ein Maß an Unzufriedenheit, das ich brauche. Ich bin hier nicht verwurzelt, die Stadtgeschichte interessiert mich auch nicht, und die paar Leute, die man so kennt, die hier geboren wurden, die reichen wirklich. Wenn ich mir vorstelle, daß es noch mehr davon geben würde und alle wären wie Feixi oder Klaus aus der Zunge oder Greiner-Pol, das würde ich nicht aushalten.
Es gibt Orte auf der Welt, die so ähnlich sind wie Berlin, aber ich würde mir nicht extra die Mühe machen, dorthin umzuziehen. Chicago ist vergleichbar mit Berlin, was die Szenestrukturen anbetrifft. Belfast schätze ich als Stadt. Und Leningrad.
Ich hatte nach der Wende bei Janus press einige Bücher gemacht. Janus press wiederum war eine Weile mit BasisDruck über den gemeinsamen Vertrieb liiert. BasisDruck gab die Zeitung die andere heraus und hatte gerade wieder eine Kulturredaktion verloren oder rausgeekelt, und so bat Stefan Ret mich, da einzusteigen. Es war eine sehr bewegte Zeit, man hatte auch sonst viel zu tun und konnte nicht den ganzen Tag in einer Redaktion abhängen, irgendwann schmiß mich also Klaus Wolfram raus. Aber das hat mich nicht weiter gekümmert. Es gab genug andere Sachen, die man machen mußte. Ich war nicht ambitioniert als Kulturredakteur und hatte wahrscheinlich auch keine Lust mehr. Dann saßen wir noch mal zusammen, weil ich mit Döring bei BasisDruck eine Reihe unverkäuflicher Bücher herausgeben wollte, aber das kam nicht zustande, und irgendwann kam Gerrit Schnabel an und sagte mir, daß Stefan Ret am Boden liegt, der sitzt ganz alleine in dem Verlag, und da muß man doch irgendwas machen. Und so ging es los mit ernsthaften Vorbereitungen für das Zeitschriftenprojekt SKLAVEN.
Das war ein ganz altes Projekt. Wir hatten ja immer gern die großen revolutionären Posen eingenommen. Stadtguerilla war so ein bißchen unser Ding, jedenfalls nach dem achten Bier. Joachim Ret war dann mal der Kragen geplatzt, und er sagte uns, was wir für Spinner sind, wir sollten uns mal mit der Biographie von Franz Jung auseinandersetzen, was der alles geschafft hat. Das wollten wir nicht auf uns sitzen lassen und beschäftigten uns mit Jung und stießen unter anderem auf sein Zeitschriftenprojekt SKLAVEN. – Die Idee, eine solche Zeitschrift zu machen, muß nach dem Zerfall der Zersammlung aufgekommen sein. Döring hatte sich gerade die Füße verstaucht, ich hatte Liebeskummer, ich würde also mal auf 1985 tippen. Der Anlaß war, daß damals die ersten nichtliterarischen Untergrundblätter erschienen, die Umweltblätter glaube ich. Die gefielen uns von der Qualität her gar nicht, und so machten wir uns Gedanken darüber, wie man das besser machen könnte, und zwar jetzt, sofort, gleich morgen früh. Und dann zog es sich doch neun Jahre hin, bis die erste Nummer erschien.
1998 im Gespräch mit Annett Gröschner, aus: Barbara Felsmann & Annett Gröschner (Hrsg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften, Lukas Verlag, 1999