Peter Horst Neumann: Zu Guntram Vespers Gedicht „Tagebuch Anfang Februar“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Guntram Vespers Gedicht „Tagebuch Anfang Februar“ aus Guntram Vesper: Die Inseln im Landmeer. –

 

 

 

 

GUNTRAM VESPER

Tagebuch Anfang Februar

Große Kälte seit Sonntag. So zersprang
heute nacht im Schlafzimmer
während ich las
die Zentralheizung unter dem geöffneten Fenster.

Ihr Aufschrei.

Was wird aus einem Land, wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat.

 

 

Es entscheidet ein Wort

Wer den Verfasser dieses Textes nur als Erzähler kennt, mag trotzdem darauf vorbereitet sein, ihm andernorts auch als Lyriker zu begegnen. Denn Guntram Vesper berührt in seinen Erzählungen – etwa in dem Buch Nördlich der Liebe und südlich des Hasses – oft jene Sprachgrenze, die Prosa von Poesie trennt und in deren Nähe dann Sätze erscheinen, die weder Erzählung noch Lyrik, sondern lyrische Prosa sind. Komplementär zu diesem Lesebefund stehen Vespers Gedichte, von denen er sagt, sie seien „stark stilisierte, verkürzte und verdichtete Geschichten“.
Nun sind Erzählen und Dichten aber durchaus zweierlei. Für die Gedicht-Qualität eines Textes gibt es kein sicheres Indiz, als daß seine Botschaft sich gerade nicht in prosaischer Rede vermitteln läßt. Wen es vom Erzählen her zum Gedicht drängt, der sollte wohl wissen, daß man auf diesem Weg eher zu schwacher Prosa als zu Poesie gelangt. „Tagebuch Anfang Februar“ eignet sich gut zur Probe auf diese Regel, denn es bestätigt sie – ich meine: als Ausnahme.
Im ersten Abschnitt wird in der Art eines Tagebuch-Protokolls etwas Erlebtes mitgeteilt, „Prosa des Lebens“, sozusagen. Im Zerspringen der Zentralheizung konkretisiert sich eine große Februar-Kälte. Vom Sprechenden prägt sich uns ein – es ist vorerst nicht eben viel –, daß er lesend im Bett liegt und daß er gut getan hätte, wenigstens sein Fenster zu schließen. Das Personalpronomen „ich“, in der untergeordneten Stellung einer Zeitangabe, erscheint hier zum einzigen Mal.
Auf andere Art prosaisch liest sich der letzte Abschnitt. Es ist Denkprosa, und auch sie läßt den Sprecher nicht sonderlich kenntlich werden. Unverwechselbar wird hier gewiß nicht gesprochen. Im Understatement der rhetorischen Frage drückt sich Ratlosigkeit aus, eine verzweifelte Ratlosigkeit. Sie hat viele Subjekte, sie gehört jedem, der begriffen hat, welche Verdrängungsmentalität unser Leben und das Leben unserer Gesellschaft bestimmt.
Man könne fragen: Was hat diese Ratlosigkeit mit der zerspringenden Heizung zu tun? Gibt es eine Sinneinheit der disparaten Textteile? Aber uns bleibt keine Zeit, so zu fragen. Denn genau in der Textfuge steht ein Wort, das die Prosa davor und die Prosa danach blitzartig zusammenschließt – das Wort „Aufschrei“. Es nötigt uns, das nacheinander Gesprochene gleichzeitig wahrzunehmen, und mehr als nur dies.
Denn obwohl das Pronomen „ihr“ uns vorschreiben will, nur an die Heizung zu denken, als ob so ein Ding jemals „schreien“ könnte, haben wir im selben Augenblick begriffen – und dafür war kein anderes sprachliches Zeichen nötig –, daß hier in einer „großen Kälte“ anderer Art etwas ganz anderes zersprang und aufschrie. Ein Schrei, für den eine Menschenbrust nicht ausreichen möchte; vielleicht mußte er deshalb im Laut eines Dinges vernommen werden. Ich glaube, es ist der Aufschrei unserer immer wieder verdrängten historischen Verzweiflung. Jeder von uns wäre zu schwach, ihn zu schreien. Aber hier hören wir ihn – durch ein Gedicht, das zum Gedicht wird, indem es uns zwingt, ihn zu hören.
Durch dieses eine Wort gelangt der aus prosaischen Elementen geformte Text an jenen Punkt, der sich auf keine „vernünftige“ Weise vorausberechnen läßt: unsere Wahrnehmung greift weit über alles Gesprochene hinaus. Und auch der Sprechende ist nun – als Hörender – kenntlich geworden.

Peter Horst Neumannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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