Peter Maiwald: Springinsfeld

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Maiwald: Springinsfeld

Maiwald-Springinsfeld

BITTE UM NACHLASS

Bevor ich aus der Welt verschwind
wem soll ich überlassen
mein Wolfsgebiß mein Mörderherz
die Diebeshand das Hassen
mein Jammertal mein Zorngebirg
das Mundhand-Handmund-Leben
den Trauerkloß an dem ich würg
das unselige Geben
mein Winkelglück mein Unbehaust
das Hastebistehaben
der Mensch dem vor dem Menschen graust.
Kein Kind will meine Gaben.

 

 

 

Springinsfeld ist kein Titel,

sondern eine Einladung an den Leser. Er wird gebeten, mit den Gedichten dieses Bandes ,ins Feld zu springen‘ – sich also in sie hineinziehen zu lassen und sich in ihnen wiederzuerkennen. Peter Maiwald war immer ein politisch denkender, aber sinnlich schreibender Schriftsteller. Durch die politischen Umbrüche der vergangenen Jahre erschließen sich seiner Lyrik neue Dimensionen. Die seither entstandenen Gedichte sind sowohl in sprachlicher wie in formaler Hinsicht virtuose Kabinettstücke. Sie verbinden politische Intelligenz mit Lebensfreude, Geistes-Gegenwart mit Traditions-Bewußtsein. Dabei sind sie nie verrätselt oder dunkel. Maiwald sagt, was er denkt – aber er sagt es so kunstvoll, daß sich die Zeilen wie von selbst einprägen. Die erotischen Gedichte des Bandes sind wahre Wortwunderwerke: Sie benennen deutlich, wovon sie erzählen, werden aber nie peinlich genau. Sie sind anmutige Liebes-Erklärungen, die drastische Details nicht nötig haben. Sie sprechen von beidem: vom Genuß und vom Ernst der Sache.

Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1994

 

 

Neue Denkbilder

– Peter Maiwalds Gedichtband Springinsfeld. –

Springinsfeld? Das ist einer, der unbekümmert daherkommt und unbefangen ins Leben ausgreift; sich spontan den Erfahrungen ausliefert, die sich anbieten, und erst dann die notwendigen Schlüsse zieht; Erfahrungen am eigenen Leibe sammelt und sich nicht durch vorgefasste Urteile beeinflussen lässt. Springinsfeld ist der Titel der neuen Gedichtsammlung des deutschen Lyrikers Peter Maiwald. Er signalisiert gleichzeitig ein poetisches Programm. Maiwald hat sich der kontrollierten Regression verschrieben und macht sich das Erkenntnispotential des zwanglos naiven Blicks zunutze; es ist eine Optik, die ebenso intuitiv wie durchdringend ist und die Welt unbeeinflusst von Vorurteilen einordnet.
Der Dichter schliesst aber auch mit seinem poetischen Instrumentarium an frühe Lebenserfahrungen an: in seinen Gedichten tauchen Figuren und Motive aus Märchen und Sagen auf, Kinderphantasien kommen ihm geläufig von der Zunge, und nicht selten unterlegt er seinen Strophen ein klanglich-rhythmisches Gerüst, das wir von Abzählversen und Kinderreimen kennen. Natürlich ist dieses Vorgehen nicht etwa Resultat wiedergewonnener kindlicher Spielfreude, sondern Ausdruck raffinierten dichterischen Kalküls. Rückversetzung in eine vergangene Lebensphase bedeutet bei ihm nicht einfach ungebrochenes Einssein mit dem Kosmos oder eine blinde Rückkehr in die ungestörte Kinderwelt mit ihrem symbiotischen Geborgenheitsversprechen. Das Kindliche ist immer Mittel der Entlarvung. Einlullen heisst bei Peter Maiwald gleichzeitig herausreissen; zeigt er eine Idylle, hat er ihre Zerstörung im Sinn; führt er unendliche Freiheiten vor, zielt er im Grunde auf die wortlos einbeschriebenen Verbote. Seine Strategie zielt darauf ab, den Leser aus der erstarrten Erwachsenenperspektive herauszuholen und diese durch eine weiche, flexible, neue Sehweise zu ersetzen.
Das Titelgedicht „Springinsfeld“ ist eines der knappsten und überzeugendsten Beispiele dieser poetischen Anordnung. Peter Maiwald projiziert das helle Leuchtbild (die Wünsche, Träume, Hoffnungen des lyrischen Ichs) gleich neben das dunkle Komplementärbild (das Hässliche, Böse, Hoffnungslose, die Verbote, mit denen das lyrische Ich sich konfrontiert sieht) und illustriert mit den sich Schlag auf Schlag folgenden Zweizeilern anschaulich die Doppelung von unbarmherziger Realität und erträumter Utopie, aber auch von stumpfem, unempfindlich gewordenem und immer noch lebendigem Zugriff auf die Welt.

(…)
Als ich mich am Strohhalm hielt
hiess ich Schuft, der nicht mitspielt.

Als ich griff zum Sternenrand
schlugen sie mir ab die Hand.

Als ich nach der Liebe schrie
riefen sie: Die gibt es nie!

Als ich mich am Ende sah
lobten sie: Er ist uns nah.

Als ich ihre Gräber floh
sagten sie: Der Mensch ist roh.

Als ich starb ins Springinsfeld
sprachen sie: So ist die Welt.

Naturgemäss kreisen viele Gedichte Maiwalds um die Befindlichkeit des Ichs und erkunden die Bedingungen des eigenen Lebens; dies aber nicht etwa, um in narzisstischer Nabelschau zu verharren. Dem Autor geht es vielmehr darum, aus der Analyse des privaten Schicksals Erkenntnisse über die Bedingungen menschlicher Existenz zu gewinnen. Zu welchen Ergebnissen kommt der Lyriker? Es sind zynische Einsichten, die er sich im Laufe seiner Erkundungen abringt; mit grellen Dissonanzen und maliziösen Lauten künden seine Verse davon. Der hier spricht, wundert sich schon lange über nichts mehr; weder Bösartigkeit noch Unrecht können ihn überraschen; er hat abgerechnet mit falschen Träumen und sich illusionistischer Idealbilder entledigt. In „Triptychon“ heisst es:

Aus einer Mutter in die Welt gebettet
versorgt mit Mangel heimgezahlt mit Liebe
belehrt: Das Leben eine Folge Hiebe
und dass wer stark ist sich alleine rettet.

Peter Maiwald macht uns mit den Machtmechanismen, die das Leben regieren, bekannt: Es gibt nur Opfer und Täter, nur Sieger und Besiegte, und wer sich nicht wehrt, ist selber schuld.

Aus einem Vater in die Welt gesprungen
gehegt mit Dornen in ein Herz geschlossen
belehrt: Wer lebt der hat zuerst geschossen
und dass die Armen wie die Reichen sungen.

Ein Sammelsurium zusammenhangloser Einzelteile, diesen Eindruck macht das Triptychon- Gedicht auf den ersten Blick. Schaut man genauer hin, sieht man, dass das Verfahren Methode hat und ein geschicktes lyrisches Arrangement verrät. Und: es dokumentiert exemplarisch die handwerklichen Gesetze, nach denen Peter Maiwald in Springinsfeld immer wieder verfährt. Sein Prinzip ist die Unterhöhlung altbekannter Sprachmuster und die Zertrümmerung gängiger Redewendungen, aber auch durch die Erzeugung von produktiven Spannungsfeldern durch die Verbindung unvereinbarer Gegensätze. Er redet von den Anfängen, von der Geburt und evoziert so die allerursprünglichste Idylle: nur, um das schöne Bild dann Zug um Zug zu zerstören und in eine Schreckensvision von Krieg und Unterdrückung umzubiegen. Das ursprünglich Gute wird dem tatsächlich realen Schlechten entgegengesetzt. Vater und Mutter, die üblicherweise Inbegriff kindlicher Geborgenheit sind – Maiwald evoziert diese Aura mit einer Reihe von emotionalen Signalen –, stehen jetzt plötzlich da als Geburtshelfer des Schreckens und des Terrors.
Noch eine weitere Ebene unterlegt Maiwald seinem „Triptychon“: indem er den gravitätischen Sprachduktus der Bibel imitiert und seine Verse mit biblischen Urbildern und Assoziationen durchsetzt (die er wiederum ganz locker mit positiv besetzten Redewendungen aus dem Gestirnsbereich verbindet) – „mit Dornen in ein Herz geschlossen“; „Aus einem Leben in die Welt gestossen / gehasst von Gott und seinesgleichen Leuten“ bindet er sich in eine religiöse Tradition ein und gibt dem Gedicht eine allgemeingültige Dimension: es zielt, ebenso provozierend wie lakonisch, auf die Frage nach dem Sinn und der Wahrheit. Sein „Triptychon“ wird so tatsächlich zum aufrüttelnden Tableau der menschlichen Leidensgeschichte.
Überhaupt versteht es Peter Maiwald in seinem neuen Gedichtband Springinsfeld, sich mit winzigen Chiffren und klug gesetzten Metaphern in die Literaturgeschichte einzuschreiben oder traditionelle lyrische Muster neu zu variieren. Bald stolpert man über eine versteckte Zeile Gottfried Kellers oder Rainer Maria Rilkes, bald trifft man alte Bekannte wieder wie Mutter Courage, Gregor Samsa, Baal, Laura, Melusine, bald geistern Figuren aus Mythen und Sagen durch seine Verse und Strophen. Maiwald setzt alten Denkbildem ironische Tupfer auf und persifliert eingerasterte lyrische Vorlagen oder erzählt in seinen Gedichten Mythen neu; häufig geht es ihm darum, die Verwaschenheit geläufiger Motive aufzudecken oder den oberflächlichen Umgang mit gebräuchlichen Kulturstandbildern zu entlarven.
Hie und da geht Maiwald die Pointe aber auch daneben. Das Verkleben moderner Erfahrungen und Verhaltensweisen mit alten Mustern verschafft nicht immer neue Einsichten. In den Gedichten „Gregor Samsa sucht Gott“, „Ensemble aus Sezuan“, „Circe“ etwa wird das Entleeren alter Formeln und das Wiederauffüllen mit neuen Inhalten zum leichtgewichtigen Spiel mit Klängen, Reimen und Requisiten aus der Rumpelkammer der Literaturgeschichte. Diese Beispiele gehören zu jenen Gedichten, die es in „Springinsfeld“ natürlich auch gibt: virtuose Fingerübungen eines erfahrenen Technikers, der sein Handwerk versteht. Gegenbeispiele dazu finden sich unter den vielen schönen Liebesgedichten: da gewinnt der Lyriker seine vollendete Form, die Phantasie lodert, und die Ideen gehen ihm nicht aus. Aurora, die Göttin der Morgenröte, winkt aus der Ferne; Melusine, die verführerische Meernixe, steigt leibhaftig aus der französischen Sage heraus, wird nochmals zur Menschenfrau, umgarnt in modern-aufgeklärter Manier den Mann – und entschwindet für immer; Penthesilea tritt auf, leicht feministisch grundiert: dem Dichter als Liebesgöttin erscheinend und als verderbtes Kontrastbild zur unschuldigen Gegenfigur, Nadine, die er beide, Hure und Heilige, in schönster Eintracht und altbewährter patriarchalischer Manier in seine Liebe einschliesst. In den Liebesgedichten Peter Maiwalds werden eingefahrene lyrische Stereotypen konsequent aufgebrochen; überlieferte Geschichten und private, modernste Erfahrungen durchdringen sich dynamisch und finden zu überraschender Synthese: ein Ergebnis, das für die Innovationskraft und die schöpferische Phantasie dieses Lyrikers steht.

Pia Reinacher, Neue Zürcher Zeitung, 3.9.1992

 

Das „Handwerk des Melancholikers“

– Lyrik, Poetik und Autorschaft bei Peter Maiwald. –

Mitte der 1960er Jahre beginnt Peter Maiwalds Arbeit an der Literatur, ab 1968 gibt der damals 22 Jahre alte Maiwald seine Profession als „freier Schriftsteller“ an – erst noch in München, ab 1970 in NRW. Diese wenigen biographisch anmutenden Informationen zu Maiwald eröffnen zugleich Fragen nach seiner Position in der Zeit und in der Literatur, denn sie verorten ihn im 20. Jahrhundert: 1968 als Formel der linksintellektuellen und generationellen Revolution und NRW als zentralem Bundesland der ,Bonner Republik‘ mit Düsseldorf als Landes- und Bonn als Bundeshauptstadt und Regierungssitz. Dieser Beitrag untersucht die literarischen Mittel und poetologischen Konzepte, mit denen sich Maiwald als Schreibender in der Debatte um die Relevanz von Literatur nach 1945 verortet.

1
Einige der frühen Texte Maiwalds versammelt sein erstes Buch Geschichten vom Arbeiter B. Haltungen und Redensarten.1 Die Gattungskennzeichnung im Untertitel gibt Fragen auf – wessen Haltungen? Welche Redensarten und in welchem Verhältnis stehen sie zu Haltungen? Was ist das für ein Autor, der Haltungen und Redensarten produziert?
Bereits 1972 hatte der Tintenfisch. Jahrbuch für Literatur Gedichte von Peter Maiwald unter dem Titel „Drei Geschichten vom Arbeiter B.“ publiziert,2 darunter das Gedicht „Über einen Standpunkt“.

Über einen Standpunkt
Nachdem der Herr
Im Hause
Zum wiederholten Male
Seinen Standpunkt
vertreten hatte,
(der hieß: Die Unternehmerwirtschaft
Ist unantastbar!),
forderte B. die Kollegen auf,
die Unternehmerwirtschaft
wie befohlen
nicht anzutasten
und der Betrieb
stand still.

Im Vorwort legen die Herausgeber des Tintenfisch, Michael Krüger und Klaus Wagenbach, die Gründe für die Auswahl der Texte offen: So sind einerseits alle Texte 1971 „geschrieben oder veröffentlicht“ worden. Darüber hinaus lag der Textauswahl die Frage nach der jeweiligen Bezugnahme auf das Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit im Jahr 1971 zugrunde, wie die Herausgeber im Vorwort festhalten:

Einige der Texte haben bereits ihre Geschichte: Der Brief Hochhuths brachte dem Autor unflätige Beschimpfung und gerichtliche Klage ein gerade durch diejenigen, die für die von ihm kritisierten Zustände verantwortlich sind. Teile des Berichts von Wallraff mußten wegen Androhung einer einstweiligen Verfügung verändert werden. Die Hexenjagd gegen Böll seitens der reaktionären Presse, angeführt von der Springer-Journaille, ist in winzigen Ausschnitten auf Seite 40 dokumentiert, […].
Das sind nur einige Beispiele für einen finsteren Gesellschaftszustand, in dem beinahe jeder jedem zu jeder Zeit Erklärungen abverlangen kann darüber, wie fest er auf dem Boden des Grundgesetzes stehe.
[…] Die Bourgeoisie vermochte noch nie einzusehen, daß das bestehende Besitzunrecht Gewalt produziert; sie verdächtigte stets den Geist als Gewalt. […] Im Heinrich-Heine-Jahr schreit die deutsche Bourgeoisie nach eben der Zensur, die Heine aus dem Land trieb. 3

Der Tintenfisch möchte also keine Bestenlese sein, es geht nicht um eine literaturkritische Perspektive, sondern um nicht weniger als die Frage nach den Möglichkeiten einer Literatur in der BRD, die Texte dokumentieren das Spannungsfeld 1971. Die Textsammlung versteht sich als Seismograph und Warner des Status quo der deutschen Gesellschaft nach 1945. Damit sind Maiwalds „Drei Geschichten vom Arbeiter B.“ nicht singulär als Beispiele aus der Literaturproduktion 1971 zu verstehen, sondern exponierter Teil des Diskurses zwischen Literatur und Politik, Autor*innen und Gesellschaft, Dichter*innen und Staat. Entsprechend sinnfällig erscheint die Einordnung von Peter Maiwalds „Drei Geschichten vom Arbeiter B.“ im Tintenfisch hinter dem Beitrag von Günter Wallraff mit dem Titel „Einige Erfahrungen mit den Schwierigkeiten beim Veröffentlichen der Wirklichkeit hinter Fabrikmauern“.4 Erinnert der Titel Maiwalds doch an dokumentarische Ansätze im Umfeld Günter Wallraffs, Erika Runges,5 an die Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt in der Dortmunder Gruppe 61 und in den noch jungen Werkkreisen Literatur der Arbeitswelt. Mithin an die in der Öffentlichkeit spätestens seit Ende der 1960er Jahre präsenten Literaturdiskurse und literarischen Bewegungen. Die Typographie der drei Texte, sie sind links-rechts-links über nur eine Seite verteilt, macht sichtbar, dass sie die vermutete Nähe zur Dokumentarliteratur nicht einlösen werden, denn es handelt sich um Verse. Die drei Texte präsentieren sich als Gedichte und weisen den einzelnen Worten eine über das Syntaktische hinausgehendes semantische Ebene aus. Dies wird durch die Kürze der Gedichte verstärkt. „Über einen Standpunkt“ besteht aus 13 Verszeilen, die jeweils wiederum selten mehr als zwei bzw. drei Worte zählen und zumeist im Enjambement enden. Die beiden weiteren Texte verfahren ähnlich. Ungebunden und ungereimt wird der Rhythmus zusätzlich durch einen verlängerten Vers und auffällig viele Satzzeichen in der Mitte unterbrochen. Der Inhalt ist auf drei Teile aufgeteilt: These, erläutern  der Einschub und antithetische Wendung.
Die Worte selbst konterkarieren ihre lyrische Dimension – zwar lässt der „Standpunkt“ eine bildliche Ebene zu, doch spätestens bei „Unternehmerwirtschaft“ stockt die poetische Befragung. Weder die Wiederholung in der neunten Zeile noch die Auflösung als Synonym für Betrieb gibt dem Wort Unternehmerwirtschaft eine semantisch über den inhaltlichen Zusammenhang hinausweisende Dimension. Im Gegenteil, die Vermittlung des Inhalts benötigt keine Versform und die Worte können und wollen nicht anders als auf den Inhalt bezogen wirken. Die Unternehmerwirtschaft ist, das entlarvt die Aufforderung von Arbeiter B., kein demokratisches Mittel, sondern Träger eines kapitalistischen, antidemokratischen Narrativs. Die Verdichtung des Textes über die Begriffe und die antithetische Wendung zum Paradoxon erinnern bereits an Maiwalds Aphorismensammlungen.
Diese erscheinen ab 1984 in der Düsseldorfer Debatte, sind „Notizen“ betitelt und reflektieren das Schreiben und den Beruf des Schreibenden. Die „Notizen“ kommen jedoch ohne die Versform aus und auch im Fall der „Drei Geschichten vom Arbeiter B.“ stellt sich die Frage: wozu Gedichte? Denn wenn die Herausgeber die Frage nach dem Gestaltungsraum der Literatur und seinen bedrohten Begrenzungen 1971 zum Anlass eines Jahrbuchs machen, so findet dies im Rahmen des Diskurses um die Rolle von Kunst und Literatur in Deutschland nach der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg statt. Peter Maiwalds Entscheidung für eine Versform ist nicht textspezifisch – die „Drei Geschichten des Arbeiters B.“ brauchen sie nicht – sie ist zeitspezifisch. Peter Maiwalds Antwort auf die Frage nach der Gegenwart der Literatur 1971 ist der Verweis auf die Geschichte der Literatur und ihren Regeln. Dieser Anachronismus einer im 21. Jahrhundert an Regelpoetiken orientierten Literatur begleitet Maiwalds Arbeit weiterhin. Er scheut nicht vor einfachen Reimformen und Metren zurück, sucht die Nähe zum Volkslied und zum Kinderreim und die Symbolik historischer Ereignisse. Die Brecht’sche Poetik mit ihren Strategien der Verfremdung, des Epischen und des Zeitbezugs kann hier nicht als Einfluss, sondern als Referenz bezeichnet werden. Literatur und Literaturproduktion sind bei Maiwald professionelle Haltungen, deren Aktualität mit Wissen und Potenz der Poetik einhergeht und der Wirkungsabsicht verpflichtet sind. Das Gedicht „Über einen Standpunkt“ ist ein Gedicht, um die Grenze zu dem, was Gegenstand eines Gedichts sein kann, zu verschieben. Es exponiert über die Form seine Literarizität.
Vergleichbar der Referenz auf Heinrich Heine im Vorwort der Herausgeber des Tintenfisch geht es hierbei auch um das Offenlegen einer literarischen Zugehörigkeit, in der sich Maiwald verortet und die im Vergleich der Texte und Biographien Erkenntnisse über die Gegenwart zulässt, wie z.B. solche der Auswirkungen einer Zensur auf das gesellschaftsstiftende und -reflektierende Potential der Literatur. Maiwald eignet sich damit das Konzept des poeta vates an – als Schreibender versteht er sich als Mahner und wirkt hierüber gesellschaftskonstitutiv.
Auch Peter Langemeyer, der in seinem Essay zu Peter Maiwald im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur die Grundthemen und poetischen Strategien Maiwalds herausarbeitet, legt den Fokus auf das Verhältnis von Inhalt und Form bei Peter Maiwald sowie dessen Aktualität:

Zwar appellieren diese Texte an den mitdenkenden, kritischen Leser, der sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abfinden will, aber es fragt sich, ob sie mehr bewirken können als die Bestätigung und Bestärkung eines schon vorhandenen Einverständnisses mit dem sozialistischen Standpunkt des Autors.6

2
Die Begegnung mit der literarischen Stil- und Gattungsgeschichte des 20. Jahrhunderts sucht Maiwald auf verschiedene Arten. So bezieht er sich mehrfach auf Jakob van Hoddis, dessen Gedicht „Weltende“ 1911 erstmals erschien und stilprägend für den Expressionismus wurde.7 1984 und 1986 erscheinen in der FAZ die beiden auch 1987 in den Band Guter Dinge8 aufgenommenen Texte „Landschaft mit Engeln“9 und „Abendlied für Jakob van Hoddis“. Während das „Abendlied“ bereits im Titel die Referenz auf den Kollegen führt, erscheint Jakob van Hoddis als Sprecher im Parlament in „Landschaft mit Engeln“ in der zweiten Strophe. Beide Texte adaptieren das für van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ prägende Stilmittel der Simultanität – im Reihungsstil werden Ereignisse und Bilder aneinandergefügt, die im Präsens alle das Jetzt referenzieren. Doch während bei van Hoddis die Lesart der Bilder nicht klar aufgelöst wird, die Spannung, ob der spitze Kopf phantastisch oder symbolisch zu verstehen ist, bleibt bestehen, stärkt Maiwald die Lesart der Bilder als Gleichnisse. In „Abendlied für Jakob van Hoddis“ geschieht dies in der Dynamik zwischen drittem und viertem Vers, dem einzigen Verspaar im Text, in dem ein Satz über das Versende in die nächste Zeile reicht:

Die Welt ein blutgefüllter Krapfen
der nur die Satten stillt
.
10

Spätestens mit dem Bild der Satten, das die Hungrigen mitdenkt und einen biblischen Bezug transportiert, setzt das Gedicht einen Schwerpunkt in der Lesart als Gleichnis, ohne sein Verhältnis zur expressionistischen Lyrik vor dem Ersten Weltkrieg aufzugeben.
„Landschaft mit Engeln“ verweist nicht nur durch Stilmittel, sondern zusätzlich durch Überschneidungen in der Wortwahl auf seine Vorlage „Weltende“. Die inhaltlichen Verschiebungen – so sind es im Text von Maiwald die Flieger, die fallen, und die Brücken, die brechen im Vergleich zu der Zeile bei Hoddis „Die Eisenbahnen fallen von den Brücken“ – unterstützen die schon durch die namentliche Referenz auf van Hoddis die Reflexion über die Zeitgemäßheit expressionistischer Lyrik für die Gegenwart der 1980er Jahre. Warum die intertextuellen Bezüge, der Transfer poetischer Strategien und die namentliche Referenz auf das frühe 20. Jahrhundert? Was kann der diachrone Dialog in diesem Gedicht leisten?
In „Landschaft mit Engeln“ verstärkt Maiwald die Lesart als Gleichnis durch die erzählende Verbindung der Verse und durch die Form. Während „Weltende“ aus zwei Strophen zu je vier Versen im fünfhebigen Jambus besteht, ergänzt Maiwald ein Quartett und ein Couplet, das, der elisabethanischen Form des Sonetts entsprechend, eine Conclusio zu den vorangegangenen Quartetten enthält und offenlegt, dass die Verdichtung als Statusbericht über Deutschland zu lesen ist. Die Frage, ob es sich um das Land zu Beginn oder zum Ende des 20. Jahrhunderts handelt, bleibt bewusst offen, die Begegnung zwischen Moderne und Gegenwart ist eine Einladung zur gegenseitigen Befragung, wie sie z.B. im Rahmen der Bauhausjubiläen 1969 und 2019 stattfanden. Maiwald erweitert den Vergleich, indem er in „Landschaft mit Engeln“ im dritten Quartett die Schreibenden einbindet. „An den Ecken“ stehend, wie man sich die Zeitungsausträger von damals vorstellt, bieten sie ihre Profession an, ohne Gehör zu finden und der Befund, dass Bürger*innen und Staat zerfallen sind, steht im Verhältnis zur Ignoranz gegenüber den Schreibenden.

Jakob van Hoddis: WELTENDE

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

 

Peter Maiwald: ABENDLIED FÜR JAKOB VAN HODDIS

Die Sonne hat Strahlen aus Eiszapfen
Die Liebenden töten wie wild.
Die Welt ein blutgefüllter Krapfen
Der nur die Satten stillt.

Der Mond erbricht viele Sonette.
Der Clown ist der schlechteste Witz.
Der Wetter verliert jede Wette.
Den Wetterbericht schreibt der Blitz.

Die Sterne erlügen Geschichten.
Die Erde rollt sich noch mal aus.
Die Onkel ermorden die Nichten
Den Regen spürt jeder im Haus.

 

Peter Maiwald: LANDSCHAFT MIT ENGELN

Die Flieger falln wie Engel aus den Himmeln.
Die Brücken brechen und die Stadt verfällt.
Die besten Worte kaum gesprochen schimmeln.
Die guten Taten sind ein Wechsel der nicht hält.

Das Chaos sucht die Lage zu erklären.
Jakob van Hoddis spricht im Parlament.
Die Tiere sprechen ob sie Menschen wären.
Das Geldsackleinen ist das nächste Hemd.

Die Dichter stehen an den Ecken schreien:
Ich bin ein Mensch und das ist mein Geschäft.
Ich bin verletzt und biete Innerein.

Herz Leber Hirn wonach kein Hund mehr kläfft.
Der Bürger fällt mit Ach und Weh aus seinem Stand
Und greift ins Leere und hat Deutschland in der Hand.

Referenzen auf die Lyrik der Moderne lassen sich auch in einer Reihe von Gedichten nachweisen, die Maiwald über Orte und Straßen in Düsseldorf geschrieben hat, so die Gedichte „Derendorf“, „Oberbilder Allee“, „Königsallee“, „Rheinpromenade“ und „Himmelgeister Sonett“. Er arbeitet hierbei mit der Verdichtung von Stadtbildern und Urbanität, wie sie aus Texten von Georg Heym, Alfred Wolfenstein, Theodor Däubler vertraut sind. Motive wie die Stadt als Moloch, das fremde der Stadt oder auch die Einsamkeit sind bei Maiwald aber keine Gegenwartsanalysen, sie dokumentieren keine veränderte Gegenwart, sondern sind appellativ. Eine Adaption moderner Motive in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts arbeitet mit dem sprachlichen Volumen der Vergangenheit, nutzt es aber, um zur Erkenntnis und Veränderung zu motivieren. Dementsprechend dient in dem Gedicht „Königsallee“ das tradierte Bild der tatsächlichen Königsallee als Meile der Reichen und Schönen als Gleichnis einer grotesken Künstlichkeit, in der „nachts […] die Luft eingezogen wird.“

KÖNIGSALLEE

Lauter Leute, die wie Menschen
aussehen oder Besserverdienende.
Unter den Armen kleine Gefühle
glänzend verpackt, sicher verschnürt
mit Goldfaden und Seidenband.
Ein Hals über dem Kopf studiert
die Wertpapiere. Das Glück druckt
auf Verlangen jeder Bankautomat.
An den Boutiquen steht: Pechmariechen
muß draußen bleiben. Aus der Luft
gegriffen werden neue Büros.
Die alten wandern in den Reißwolf.
Die Möwen sind aus Polyathylen

wie die Fische aus Gummi. Beide
können fliegen. In den Cafés
speist gelangweilt der Mietzins.
Davor flanieren sonntags die Mieter
oder drücken sich familienweise
an den Schaufenstern die Nasen platt.
Für den Strom der Lichter sorgen,
hört man, in den Kellern Ameisen
oder Asylsuchende. Bezahlen kostet
hier nichts. Gegen zwei Uhr nachts
werden die Tiere abgestellt und
die Luft wird eingezogen.

3
Die Aufgabe und Arbeitssituation der Schreibenden behandelt Maiwald verstärkt in den „Notizen“ in der Düsseldorfer Debatte. In dem Band Wortkino, der Rezensionen, poetologische Reflexionen etc. von Maiwald versammelt, sind diese Notizen nummeriert eingeschoben:

Dieses Gedrängsel unter den größten lebenden Dichtern!

Er erfand Klassiker, um mehr Zitate zur Verfügung zu haben.

Wer mit Herzblut schreibt, dem ist mit dem Rotstift schwer beizukommen.

Das Ausbleiben von Weltuntergängen als Berufsschädigung.

Wortkostüm: Der Arbeitslose spielt einen Freigesetzten.

Etwas, das Bände spricht, in einer Zeit.

Worte hören, die unter dem Joch des Satzes stöhnen.

Der Druckfehler als Autor.11

Mit Bezug auf die Geschichten vom Arbeiter B. und die Balladen von Samstag auf Sonntag12 stellt Peter Langemeyer fest:

Neu war die Hinwendung zum eigenen Ich, der Blick auf die Realität der Innenperspektive, losgelöst von aller Ideologie, der sich mit einem melancholischen Grundton verband.

Peter Maiwalds Texte arbeiten selbstreferentiell, der Autor und die Existenz des Schreibenden sind konstitutiver Gegenstand seiner Texte, in der Form der Aphorismen verstärkt, aber auch an anderer Stelle ist dieses Motiv so präsent, dass es als wesentlich im Werk des Autors betrachtet werden kann. Die in Wortkino versammelten Kritiken, Essays und Notizen sind eine Sammlung poetologischer Reflexionen zum eigenen Selbstverständnis im produktiven Verhältnis zu anderen Schriftsteller*innen.
1986 veröffentlicht Peter Maiwald in der Düsseldorfer Debatte den Text „Entweder und Oder. Der Schriftsteller Günter Kunert“.13 In der dialogischen Verflechtung mit Zitaten Günter Kunerts, die kursiv von den Passagen Maiwalds abgesetzt sind, entwirft Maiwald eine Poetik die einen zeitgebundenen Literaturbegriff mit der Rolle von Autorschaft verbindet. Er bleibt dabei im Begriffs  komplex von Schreiben als Handwerk und Arbeit, in der Folge Brechts. Der Text setzt mit dem Selbstverständnis Kunerts als Autor ein:

[…] wir müssen doch schon sagen, daß wir Egozentriker sind, daß wir pathologisch sind, daß wir an Schreibmanie leiden, daß wir ja nur für uns schreiben, daß der Leser uns total egal ist, […] Ein richtiger Dichter leidet an einer schweren traumatischen Versehrung, und das ist der Grund, warum er sich unnormal benimmt, indem er schreibt, denn ein normaler Mensch schreibt nicht.14

Den Fokus des zwanghaften, den Kunert auf das Schreiben legt, verschiebt Maiwald in der folgenden Passage hin zum Berufsbild. Das Selbstverständnis als Schriftsteller*in geht bei Maiwald mit einer Professionalisierung von Rolle und Tätigkeit einher, ohne dass er das von Kunert als Neurose bezeichnete, die Unerlässlichkeit des Schreibens für den Schreibenden verabschiedet:

Ein Schriftsteller, der sich die pathologische Zwangsjacke, die mißgünstige Leute gern der Literatur verpassen, als Berufskleidung anzieht; ein Autor, der sich nur mit sich und seiner Kunst solidarisiert, […].15

Teil dieses Selbstverständnisses ist das Bewusstsein des Scheiterns, auch das ein Motiv, das Maiwald an verschiedenen Stellen mit dem Bild des Schreibenden verbindet:

immer unterwegs, ohne Ziel, ohne Aussicht, irgendwo zu landen, aber mit der Gewißheit, allmählich zu verschwinden.16

Diese Gewissheit ist keine definitive, sondern an die Geschichte des 20. Jahrhunderts und die bestehenden politischen Systeme in der DDR und der BRD gebunden, wie Maiwald im nächsten Schritt an der Biographie Kunerts festmacht. Die Erkenntnis aus dieser Erfahrung, so gibt das Zitat Kunerts wieder, ist die Lösung aus den Trends der Gegenwart, den Ismen. Sie verstärkt gleichwohl die Aufgabe des Schreibenden als Gegenpol zu den Erfolgsnarrativen der Zeit: „Dies um so mehr, als in seinen Versen und Prosastücken unsere Sprachlosigkeit, unsere Entmündigung, unser Versagen zur Sprache kommt und eben nicht das von beliebig anderen.“17 Und mit dem Begriff des Pessimismus, der Literat*innen vorgeworfen wird, verbindet Maiwald das Motiv der Melancholia und des*r mahnenden Dichters*in. Erbauung, Erheiterung kann nicht Aufgabe der Literatur ein, so Maiwald, und reklamiert den Elfenbeinturm als Behausung des*r Dichters*in:

Auch unser Bild vom Dichter und unsere Vorstellungen von der Wirkung der Literatur haben sich relativiert, haben doch die Barbareien unseres Jahrhunderts den Eindruck erweckt, als wäre eine Weltbibliothek humanistischer Befürchtungen und Hoffnungen nie oder umsonst gewesen: Von seinen historischen Überschätzungen, vom praeceptor germaniae bis zum Moralapostel, vom Volkstribunen bis zum Ingenieur der Seele, ist der Dichter auf den Brettern, die heute die Welt bedeuten, auf eine realistische Position gerückt – auf die Beleuchterbrücke.18

Maiwalds Gedichte und kurzen Prosatexte stellen dementsprechend Leuchtkegel dar, die sich zur Gegenwart im Medium der Literatur unter Berücksichtigung ihrer Geschichte verhalten. Die Schreibenden sind Individuen, Chronist*innen und Beobachter*innen zugleich. Mit Maiwalds Engführung von Lyrik, Poetik und Autorschaft dokumentiert er die Entwicklung des Literaturbegriffs seit den 1950er Jahren und entwirft ein Gegenwartsprogramm, dessen lakonischer Tenor an den Sisyphos Camus’ erinnert. Der besondere Reiz der Poetik Maiwalds liegt darin, entweder und oder zu sein: ein Dichterseher ohne Geniekult, ein Arbeiter an der Zukunft, ohne Zukunftserwartungen auszusprechen, und ein poet laureate ohne Land.

Jasmin Grande, aus Enno Stahl (Hrsg.). „Ihn dauerte die leidende Kreatur…“. Der politische Lyriker Peter Maiwald, Edition Virgines, 2023

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope
Porträtgalerie:  Brigitte Friedrich AutorenfotosKeystone-SDA
Nachrufe auf Peter Maiwald: Westdeutsche Zeitung ✝︎ e-periodica ✝︎
Spiegel ✝︎ FAZ ✝︎ der Freitag ✝︎ Rheinische Post

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