Rainer Kirsch: Zu Karl Mickels Gedicht „Inferno XXXIV. Für Kirsten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Mickels Gedicht „Inferno XXXIV. Für Kirsten“ erschienen Karl Mickel: Schriften 1 –

 

 

 

 

KARL MICKEL

Inferno XXXIV. Für Kirsten

Gips-Smog in Weimar, Kirsten melancholisch:
Denn er obliegt dort deutscher Zeichengebung.

Und als die Wandrer zu der Stelle kamen
Die Dante nennt: der Hüfte größte Wölbung
Kletterten sie, an Haare wie Gestrüpp
Sich klammernd, unter Keuchen aus dem Felsloch:
Aber Dante (ja, ich hatte Angst
Wer mich tadelt, denke, wo ich steckte!)
Eh er heraus war, setzte sich in eine
Schrunde und fragte: Wo ist das Eisfeld?
Warum hält Der den Kopf nach unten? und
Wie ging die Sonne so schnell von dem Abend
Zum Morgen über? – Noch im Arsch des Teufels
Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.

1972

 

Zwiefache Höllenerfahrung

Die Welt, lehrt Hegel, bewege sich aus Widersprüchen; wahr oder nicht, Gedichte tun derlei bisweilen. „Inferno XXXIV Für Kirsten“ ist vierzehnzeilig und in Blankversen, beansprucht also die Würde eines Sonetts, für das die Regeln fordern, die Botschaft wachse aus der Spannung zwischen Anfang und Ende; der Leser findet aber zwei unverbundene Teile. Was macht er? Er mault, er stutzt, er gerät in Arbeitslaune; noch unwissend, hat er damit den Großablauf des Gedichts in der Seele.
„Gips-Smog“, die eröffnende Vokabel, scheint von unübertreffbarer Widerwärtigkeit: Sie läßt sich kaum aussprechen und malt atmosphärisch feinstverteilten, Schwefelatome enthaltenden Staub, der die Lungen zusetzt und, unlöslich, allenfalls mit Kratzeisen oder Hämmern zu entfernen geht. Quillt er aus einer Gipsfabrik? Nicht, wir befinden uns „in Weimar“ – die Verwalter Goethes und Schillers sind offenbar erfolgreich dabei, den klassischen Marmor umweltgefährdend zu zerkleinern. Der Lyriker Wulf Kirsten (geb. 1934) wird darob „melancholisch“, doch liefert der Autor für die Melancholie einen weiteren Grund: „Denn er obliegt dort deutscher Zeichengebung“. Verlagslektor Kirsten hat Manuskripte, die vermutlich den Gips-Smog weglügen oder gar miterzeugen, nach Duden zu verbessern, dabei ballt er auf schlecht deutsche Weise die Faust in der Tasche und jammert.
Nun hält Mickel aus tiefstem sächsischen Gemüt Jammern für der Bestimmung des Menschen zuwider und insonderheit dem Dichten abträglich; was soll er dem Kollegen flüstern? „He du, Jammerbold, Kopf hoch!“ oder Die Nation braucht dich!“ oder „Erwachsensein is beautiful!“? All das, weiß jeder Erziehende, zieht nicht; der Autor greift in die klassische Trickkiste und erzählt ein Beispiel. Passend wäre ein weimarisches, doch sind dafür Kirstens Ohren zugesmogt; so, unter deutschen Dichtern, empfiehlt sich das Sehnsuchtsland Italien: Dante.
Der „XXXIV.“ ist der letzte Höllengesang der Divina Comedia (dann kommen Fegefeuer und Paradies). Dante war bei Avignon eingestiegen und, von Vergil geleitet, dem Erdzentrum zu gewandert. Dort, Rumpf nordwärts, Füße südwärts, steckt in den gefrorenen Tränen aller Verdammten (dem „Eisfeld“) der einst vom Himmel gestürzte riesige Luzifer; da Gott Mathematiker ist, bildet die genaue Schwerkraft-Mitte, durch die allein „die Wandrer“ wieder ans Licht können, welche Körperhöhlung? (Die Preisfrage der vierzehn Zeilen, ahnt der gewiefte Leser, heißt: Enthält das Universum Widerwärtigeres denn Gips-Smog? Es müßte, weil Gips die Gnade der Geruchlosigkeit hat, etwas infernalisch Stinkendes sein.)
Vorerst freilich doppeln die Verse 3–6 nur die Weimar-Stimmung. Dreck hier wie da, die Erde, ob Kern, ob Oberfläche, ist die Hölle. Dann, plötzlich, springt das Metrum in den Trochäus: Die Mittelverse 7/8 werden als Drehzapfen des Gedichts kenntlich, sie sind ein einziges verlängertes „Aber“. Anders nämlich als Kirsten geht Dante, eben noch keuchend, unbeirrt dem Beruf nach – kaum daß er wieder (jambischen) Atem hat, „setzt“ er sich, „fragt, warum“ was wo und das Oberste zuunterst gekehrt ist, zeichnet auf für die Mit- und Nachwelt. Hochmerkwürdig, wie Mickel dem Trochäen-Einschub kontrasthalber reine Jamben folgen läßt (Vers 9), danach aber bei gleicher Silbenzahl eine metrische Herzrhythmus-Störung anrichtet, so daß das ganze Gebilde vibriert und wir mit Dante zittern. Erst die durch zwiefache Höllenerfahrung geläuterten Jamben der Schlußformel bringen das Gedicht zu sich, Ruhe schenkt es keine: Es sagt, was uns, sei es im nord-südlichen oder west-östlichen „Arsch des Teufels“, zu tun aufgegeben bleibt, solange die Mitwelt bloß stinkt und wir gegen alle Hochrechnungen auf eine Nachwelt hoffen.

Rainer Kirsch, 1988

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00