Raoul Schrott: Hotels

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Raoul Schrott: Hotels

Schrott-Hotels

XXIX

der louisdor der sonne fällt in den schlitz der berge
und die ganze maschinerie der nacht setzt
sich mühsam in bewegung · an der zarge
des fensters in seinem bretterverschlag bestimmt
lacaille die position der sterne im netz
seines okulars · aber der himmel hier ist leer
der flansch in dem sich die südliche hemisphäre
dreht ausgeleiert wie die schraube des refraktors
die er für jeden winkel mit einem kienspan
ans gestänge klemmt · dort beginnt
die achse und sie endet irgendwo beim äquator
oder vielleicht im zeltlager unten am kap · seit zwei
tagen geht kein wind mehr · die nacht
ist eine zu kurze spanne für einen spann
am quadrant und ich wünschte mir es bliebe dunkel
und die sonne in europa – manchmal
oder daß wir wenigstens zu zweit
wären einen gehilfen der die zahlen übertragen
und auch kochen kann · so laß ich mir eier mehl
und wein heraufbringen dafür aber hält sie
mich am tag vom schlafe ab · fast drei wochen regen
und das ist als hätt ich mir einen schenkel
abgebrochen vom zirkel · doch nichts was hellenophil
wäre in diesem himmel oder fast
welchem gott auch immer sei gedankt
sie ist nicht häßlich nur um die hüften etwas fest
und bevor sie zu abend geht sage ich ihr
sie soll die reste auf dem teller dem tukan
vor die türe stellen · ob sie sich etwas dabei denkt
bezweifle ich aber dies getier
ist mir die einzige gesellschaft nachts
der paradiesvogel das chamäleon ein fliegender fisch
und die anderen acht
eingerechnet der fliege ja die fliege · das ist de houtman
frederik mit den konstellationen über sumatra
im zweiten jahr seiner gefangenschaft sechzehnhundert
und eines der vier bücher in der nische
das malayisch-madegassische diktionär – und
hintangefügt die deklinationen
von fixsternen um den südpol
die man nie zuvor gesehen
ha! ordinär wie die aureolen
seiner zuckerbraunen matrone
er dabei aber ohne einen schuß pulver · einen halben
ist auch nur der schiffsarzt wert
der mich und meine lues kurt · er hat mir auch die pendeluhr
heraufgeschleppt und so steh ich nun bei ihm im wort
einen stern nach ihm zu nennen –
dabei kann er in seiner sinekure
venus nicht von merkur unterscheiden · die lange nacht
des astronomen – so redet er mir nach dem maul
noch dazu im patois · aber diese hier ist nackt
und wenn ich die positionen von gestern
noch einmal überprüfe scheint’s als wär sie eine haut
die langsam atmet wie ein embryo in der fruchtblase
so haben sich die millimeterstriche der sterne
wieder verschoben · heute ist es gut – die metastase
des mondes geht erst um 5 uhr morgens auf
winter ist in zwei monaten und das schiff
auf ende juli vorbestimmt · der pol aber bleibt
unsichtbar irgendwo in der großen magellanschen wolke
die sich am tafelberg aufstaut
direkt unter meinem dach das so windschief
und löchrig ist daß ich fast die wale im geleit
nach madagaskar blasen hören kann · im gebälk
hausen zwei ratten und es wird zeit daß ich mein gerät
und ihr latein noch unter diese sterne räume
bevor ich reise
alles was in der baracke steht
wird die jungfrau dieses himmels dann verbrämen
der ofen der nie zog schlegel und meisel
für den schwarzen marmorbruch der nacht
von jedem steinblock meine pausen auf papier
eine arbeitsplatte so gut wie eine staffelei
und neben alle dem was so verdammt exakt
war das gravierwerkzeug und meinen grabstichel
antlia pneumatica · caelum scalptorum · circinus
fornax · horologium pendulum · mons mensa
norma et regula · octans · equuleus pictor · pyxis
reticulum · apparatus sculptoris · telescopium

 

 

 

Hotels sind Monumente

von epochen, die an den ornamenten ihrer architektur erkennbar werden und sich an den bröckelnden fassaden verraten. Sie sind die fluchtpunkte jeden zeitalters und ihre zufälligen mittelpunkte zugleich; spuren jedoch läßt allein das zurück, was man pauschal als die geschichte bezeichnet. Man geht die fluchten der gänge ab und ist da, ohne wirklich hier oder jemals angelangt zu sein, das paradoxon der passage, eines lebens, das nach spuren sucht und seine eigenen an den dingen hinterlassen will, während das zimmermädchen am nächsten tag jeden fingerabdruck entfernt hat und die laken flach gestreift. Die zimmer eines hotels aber bleiben trotz der genrebilder im gang leer. Man hört die geräusche durch die wände, das atmen und einzelne worte, doch auch das wirft einen schließlich nur auf sich selbst zurück; zwischen tisch, bett und stuhl reduziert sich das leben auf die anzahl der schritte dazwischen, in diesen ewig weißen mauern unter der zerschlissenen tapete, welche die kahle nüchternheit einer cella und ihrer peristasis nicht zu verleugnen vermögen. In diesem sinn sind hotels die eigentlichen tempel unseres jahrhunderts.

ES IST NICHT nur die etymologie, die auf Hestia und Hermes verweist. Mit diesem götterpaar erschließt sich auch der begriff der reise, jener grand tour, die immer nur auf der suche nach dem bürgerlichen arkadien voriger jahrhunderte war. Man mochte sie als eine peregrinatio academica verstehen, aber diese bildungsreise führte immer zurück zum griechenland Winckelmanns, dessen stelen und säulen man allein für wahr hielt, weil die zeit ihre farbe zu einem blendenden weiß ausgebleicht hatte. Man zeichnete sie ab und hielt seine eindrücke mit den summarischen tabellen der observation und den synapsen der aufzeichnungen fest. Man reiste, es war einmal, chronometer und achromatische teleskope im gepäck, diverse sextanten, quadranten, graphometer und magnetometer, und eignete sich diese künstlichen horizonte an, standortbestimmungen einer anderen einsamkeit.
Sextanten und chronometer: die komplikation des gedichtes. In seiner poetik greifen die worte ineinander wie in einem uhrwerk, mit den zahnkränzen seiner assonanzen und konsonanzen; sein quarz, das sind seine unablässig oszillierenden bilder, sein anker und seine triebfeder, die schmale spirale der sätze. Daß sein mechanismus wie unter einem ziffernblatt unsichtbar bleibt, darin mag seine perfektion liegen; was an ihm dann aber ablesbar wird, im kreuz der breitenkreise und meridiane, ist nur ein ort und die koordinaten seiner zeit. Und mit ihnen auch eine andere geschichte der poesie und der kunst: die entstehung der astronomie in den sternbildern und zeichen des zodiakos – den häusern der sonne –, der präzession der sterne und der präzision der beobachtung.

AUCH DESHALB SIND diese gedichte die geschichte einer aneignung. In ihrer chronologie folgen sie jener tour d’horizon und gehen ihre stationen noch einmal ab, mit den abszissen des mythos und der gegenwart, die sich im gedicht treffen. Am schnittpunkt der geschichte und der eigenen biographie konjugieren sie beides gleichzeitig und deklinieren dabei einen standpunkt, nicht mehr. Darin sind sie als zyklus angelegt: ein kreis, der sich nicht schließt.

Raoul Schrott 1995, Vorwort

 

Eine poetische Reise

vom Maghreb über Italien bis nach Griechenland, Frankreich, Irland und Großbritannien: Eindringlich und sinnlich beschreibt Raoul Schrott in seinem Gedichtzyklus Hotels Szenen und Bilder der zahlreichen Stationen und erforscht die Faszination der Orte und Räume, „in denen die spuren einer gegenwart jeden morgen mehr oder weniger sorgfältig getilgt werden“.
Jedes Gedicht steht Seite an Seite mit Tagebuchaufzeichnungen, Glossen und kurzen Notizen – gemeinsam geben die poetischen Sprachbilder tiefe Einblicke in kulturelle und mythologische Hintergründe sowie die besondere Atmosphäre der Orte.

Haymon Verlag, Klappentext, 2014

 

Kap ohne Hoffnung

– Raoul Schrott am Ende der Welt. –

Seine Kurzbiographie klingt, als wäre sie gut erfunden: Geboren auf einem Schiff unterwegs nach Brasilien, wuchs er in Tunis und Tirol auf. Er studierte an mehreren Universitäten Europas, war Privatsekretär des greisen Surrealisten Philippe Soupault, später Lektor in Neapel und lebt heute in der Provençe – in einem Haus, das einst Max Ernst gehörte. Damit nicht genug, ist der Österreicher Raoul Schrott, Jahrgang 1964, ein Musterexemplar der heute beinah ausgestorbenen Gattung des „poeta doctus“. Der Dada-Experte und Sprachwissenschaftler beherrscht nicht unbedingt geläufige Idiome, darunter das Okzitanische und das Bretonische, er hat zudem – wie sich an Übersetzungen von Derek Walcott und Seamus Heaney zeigt – einen untrüglichen Instinkt für jene Qualität, der Nobelpreise zuwachsen.
Schrotts außergewöhnliche Begabung blieb weder unbemerkt noch ungewürdigt: Stipendien und Auszeichnungen säumen seinen literarischen Weg. Für Gedichte aus dem Band Hotels erhielt er beispielsweise im heurigen März den Leonce-und-Lena-Preis. Raoul Schrott, so behauptet er zumindest im Vorwort, betrachtet die Hotels als „die eigentlichen tempel unseres jahrhunderts“. Eine hochgemute Definition, gewiß, und vor Erlesenem hat der Dichter – so beweist die Sammlung, in der sich „anus“ auf „janus“, „prämissen“ auf „pissen“ und „hippokrene“ auf „fontäne“ reimen – auch sonst keinerlei Scheu.
Obendrein stellt er seinen poetischen Texten gerne Journaleintragungen, Kommentare oder Notizen teils etymologischer Natur voran. Sich dem nicht eben beeindruckenden Bildungsniveau der Gegenwart anzugleichen, verschmäht er stolz. Trotzdem hat man bei Schrott und seinen mythologischen und allegorischen Ausflügen nie den Eindruck des Protzens und schon gar nicht jenen herkömmlicher Reiseschriftstellerei. Raoul Schrott wandert, von Ort zu Ort, durch die Begriffe und ihre Schichten, ihn prägt das historische Bewußtsein für den Augenblick. Die Bildsprache benützt er dabei, wie es die alten Seefahrer mit ihren Instrumenten und dem gestirnten Himmel taten: zur Orientierung, zur „standortbestimmung einer anderen einsamkeit“. Fremd, mehr noch: verhaßt ist ihm freilich die touristische Perspektive, die alles einebnet, das Unbekannte den Sehgewohnheiten und Denkklischees anpaßt. Strenge Romantik hat es dem polyglott Unbehausten eher angetan:

der louisdor der sonne fällt in den schlitz der berge
und die ganze maschinerie der nacht setzt
sich mühsam in bewegung

Einer der sieben Abschnitte von Schrotts lyrischem Zyklus nennt sich „de finibus terrae“.

Ulrich Weinzierl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.1995

HOTELS

Kaum zu glauben, daß das wichtigste Buch der Saison so gewöhnlich ausschaut: Raoul Schrotts Hotels sind ein schlichter, schwarzer Band, der mit etwas Suggestion einen Hauch von Gotteslob zuläßt.
Wie bei jeder guten Literatur ist das Konzept verblüffend einfach. Die Hotels gehen womöglich auf den antiken Gotteskreis von Hestia und Hermes zurück. Hotels sind Altäre des Alltags, in deren Kammern das Bewußtsein sich findet oder verliert.
Hinter dieser Mythologie, der Schrott auf die Schliche gekommen ist, werden jeweils Hotelbeschreibungen gesteckt, wie man vielleicht einem Liebespartner eine Botschaft in den Rahmen steckt. Zwischen Ritten und Landeck, Griechenland und Algerien gibt es kaum ein Nest, das nicht einen Hotel-Kult zuließe.
Schrott, der promovierte DADAist, scheißt sich wenig um die Wirklichkeit und dichtet, wie in alten Zeiten es die Griechen getan haben. Ein Singsang, sag ich dir, daß du Angst um die Wirklichkeit hast.
Nun kann man streiten, ob die Hotels ähnlich wie Fotografien oder mehr wie Schüttbilder ausgefallen sind. Auch die Blindprobe, ob man ein Hotel am Singsang erkennen kann, ist nicht leicht anzutreten. Aber ein wunderbarer Eindruck hinterm Augenlid (oder Lid vorm Augenhintern?) bleibt schon.

Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. I, 1982–1998, Sisyphus, 2015

Keine Witze mehr mit diesem Namen!

Raoul Schrotts Gedichte atmen Erhabenheit. In den Sprüngen ihrer Bilder liegen die Spannungsbögen, welche die Lyrik des Österreichers besonders machen, packend.
Seine Hotels scheinen Tagebuch zu sein. Aber sie sind mehr, tages- und zeit-, sogar ortsunabhängig. Das Fascinosum dieser Sammlung liegt im Thema: Hotels – wo immer sie auch stehen – bilden jeweils einen eigenen Bereich der Wirklichkeit; Refugien, die sich gegenseitig annähern und die Wirklichkeit vor ihren Fenstern atmosphärisch verändern.
Der Dichter muss die Bilder nur noch in Worte einfassen. Raoul Schrott ist ein heute unerreichter Meister dieser Schmiedekunst.

Ein Kunde, amazon.de, 15.9.2001

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Konstanze Fliedl: Wörter im Hotel
Literatur und Kritik, Heft 295/296

Karl-Markus Gauß: Gedichte wider die Flüchtigkeit
Neue Zürcher Zeitung, 18.4.1995

Thomas Kraft: In den Durchhäusern der Epochen
Rheinischer Merkur, 28.4.1995

Rüdiger Görner: Zimmer mit Aussicht
Die Presse, 20.5.1995

Daniel Rothenbühler: Das Logbuch einer langen Reise
Tages-Anzeiger, 23.6.1995

Klaus Konjetzky: Die Rechnung bitte!
Süddeutsche Zeitung, 29./30.7.1995

Beitrag zum Hörspiel:

Frank Olbert: Rastlos
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3./4.2.1996

 

Ein Gespräch mit Raoul Schrott

Olga Olivia Kasaty: Kein geringerer als Hans Magnus Enzensberger schwärmte während Ihrer gemeinsamen Mutmaßungen über Poesie von Reichtum und Fülle Ihrer Ideen. Wodurch ist dieser schier unerschöpfliche Fundus gespeist?

Schrott: Wahrscheinlich interessiert Sie jetzt: warum? Aber man betrachtet sich selber nur schlecht von außen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Literatur für mich eine Art des Definierens ist. In einem dreifachen Sinn – dass Literatur sprachlich definiert, was die Welt ist; dass sie im Sinne von finis die Welt zu Ende führt – und das Chaotische, Hastige, Willkürliche oder Zufällige des Realen sinnvoll zu Ende bringt; und dass sie dabei aber auch tautologisch ist, wie sie Literatur wiederum über Literatur definiert. Es ist eine Engführung, in der die verschiedensten Dinge symbolisch umfasst und auf einen Punkt gebracht werden. Man kann es aber auch anders sehen: die Literatur als Erzählen und Unterhalten, das Wissen transportieren – und nicht nur definieren kann. Als Maxime formuliert ist Literatur die genaueste Art des Nachdenkens, die ich kenne; die genaueste Art sich mit der Sprache auseinanderzusetzen und über Sprache die Welt zu definieren. Das heißt für mich, dass die Literatur eine Art von Abschreiten eines Horizontes darstellt, eine Art von Welterfassung. Doch insoweit Literatur ein Mittel ist, sich Klarheit über die Welt zu verschaffen, ist sie dies in erster Linie privat – ohne eine Frage des Ehrgeizes zu sein. Sie ist letztlich getragen vom Versuch, Sprache zu benutzen, und zu denken, was diese Welt ist, zu erfassen, was um mich herum geschieht; Neugier – die sich bei mir auf vieles richtet: Naturwissenschaften, das Interesse für die Antike, auch das Interesse für verschiedene Genres. Denn ich sehe in den Naturwissenschaften – in einem ebenso poetischen wie etymologischen Sinn – ein ähnlich aus dem Nichts schaffendes Prinzip wie in der Poesie: im Aufspüren von Analogien und in ihrem permanenten Vergleichen. Was wir für eine Definition halten, ist letztlich bloß eine metaphorische Struktur – aber darin auch eine Grundstruktur unseres Denkens: unser Gehirn arbeitet grundsätzlich assoziativ.

Kasaty: Sie haben gerade die Frage – warum – beantwortet. Erzählen Sie vielleicht jetzt auch noch ergänzend, woran Sie aktuell arbeiten?

Schrott: Im Augenblick habe ich gerade ein Gedicht über Fußball für Die Zeit geschrieben; ich sitze an einer neuen Übertragung der Ilias, bin dabei, das Manuskript für ein Buch abzuschließen, das sich mit den gemeinsamen Grundlagen von Poesie und Neurologie beschäftigt – inwieweit kognitive Prozesse, die die Neurologie identifizieren kann, sich an der Poesie demonstrieren lassen; vor allem aber muss bis Januar /Februar ein Theaterstück für das Burgtheater in Wien fertig werden.

Kasaty: Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch beherrschen Sie fließend, aber Ihr eigentliches Interesse gilt den sogenannten kleinen Sprachen wie Korsisch, Okzitanisch, Bretonisch, Baskisch oder Gälisch. Woher entspringt dieses Interesse an Orchideensprachen?

Schrott: Sich damit zu beschäftigen, heißt nicht, sie perfekt zu beherrschen. Ich kann die meisten dieser Sprachen lesen, mit Grammatik und Wörterbuch umgehen, sie – was am wichtigsten ist – aussprechen: Zweck und Ziel war jedoch stets, sich dadurch die jeweilige Poesie anzueignen.
Ich habe in Tunis in einer Volksschule Schreiben und Lesen gelernt, mal auf Französisch, mal auf Arabisch – Sprachen, von denen ich nichts verstanden habe, kein Wort. Fassbar waren da zuerst nur Laute, Gesichtsausdrücke – um an der Intonation nach und nach zu erraten, wovon die Rede ist. Ich lernte auch das Schreiben erst über den Klang der Worte, deren Bedeutung sich erst langsam zu klären begann. Diese Faszination ist mir geblieben; sie hat mich wahrscheinlich zur Poesie geführt, zu ihrer Musikalität und auch ihrem angeblich schwierigen Sinn.
Der eigentliche Punkt aber ist, dass die Wirklichkeit von jeder Sprache immer anders seziert wird. Das Vokabular, die Begrifflichkeit einer jeweiligen Sprache unterteilt die Welt in andere Segmente. Dass die Nacht auf Englisch night und auf Französisch nuii heißt, bedingt immer einen unterschiedlichen Assoziationsrahmen, der die Dinge anders zentriert. Und das bedeutet: durch eine andere Sprache in und auf die Welt und die Welt zu sehen; sie sich quasi wie eine Maske aufzusetzen, und die Dinge dadurch in einem ganz anderen Licht zu sehen… – das ist einer der Gründe, weshalb ich mich auch mit den sogenannten kleinen Sprachen beschäftige; der andere ist, dass alles, was in einer Fremdsprache ausgedrückt ist, oft suggestiver, interessanter, und eindrucksvoller klingt als in der eigenen. Eine Art von Travestie, das gewiss auch… Aber zugleich hat es etwas mit der Suggestionskraft der Literatur zu tun – dass sie Rätsel schafft, die sich auf dem Papier zumindest lösen lassen.
Dazu kommt natürlich, dass ich zum ersten Mal über H.C. Artmann drauf gestoßen bin, dass es diese kleinen Sprachen wie das Gälische gibt. Und dann, dass jede dieser Sprachen auch ihre eigenen poetischen Traditionen und Poetiken besitzt, die oft genug entweder im akademischen Bereich verstauben oder vergessen sind.

Kasaty: Als Sie mit zehn Jahren aus Tunis nach Österreich übersiedelten, empfanden Sie diese Rückkehr nicht als Rückkehr in eine gewohnte Sprachumgebung. Im Gegenteil – das Hochdeutsch, das Sie in der Schule sprechen und lernen mussten, war Ihnen fast so fremd wie das Arabisch, das man in Tunis auf der Straße oder beim Einkaufen hörte. Wie hat es sich weiterentwickelt? Ist Ihnen mittlerweile doch Deutsch am vertrautesten?

Schrott: Streng genommen, nein. Meine eigentliche Muttersprache ist der Tiroler Dialekt. Das Deutsch, das Sie meinen, ist für mich eher eine halbe Fremdsprache, die man hier in der Schule lernt, die man nach sehr vielen Jahren halbwegs und nicht immer richtig anwendet und die eine Art von Distanz schafft, so dass man die Sprache leichter als Instrumentarium sieht. Deutsche Schriftsprache ist ein Mittelding zwischen Dialekt und Fremdsprache – ich versuche eigentlich immer noch – und das sage ich ohne Koketterie – richtig Deutsch zu lernen, das Stilregister des Deutschen zu beherrschen, und wenn man sich überlegt, wie dick das Grimmsche Wörterbuch ist…

Kasaty: Jede Sprache birgt in sich/verbirgt eine eigene Welt und verschafft damit vielfältige Möglichkeiten, sich eine Maske aufzusetzen, individuelle Befindlichkeiten und soziale Rollen auszudrücken.

Schrott: Ja, wie die Lautpoesie zeigt, kann sich schon über Intonationen genügend Komplexes und Emotives mitteilen; die Botschaften sind sozusagen subkutan… und davon bestimmt, wie etwas in einer anderen Sprache klingt, wie aggressiv, wie weich, wie weit hinten in der Kehle, wie weit vorne an den Zähnen. Alle Machtsprachen beispielsweise werden stets vorne ausgesprochen, meist nasalisiert, weil dies die Mimik verringert und dem Gesicht erst die zurückhaltende Maske verleiht, die Macht mit Unberührbarkeit, Ausdruckslosigkeit und Emotionslosigkeit verbindet. Dialekte dagegen werden weiter hinten ausgesprochen, sie artikulieren mehr und in ausdrücklicheren Bögen. Auf der anderen Seite besitzt jede Sprache aber auch eine eigene Syntax und baut damit die Welt anders, in unterschiedlichen Kombinatoriken von Begrifflichkeiten – sie rastern das, was wir vor Augen haben, auf immer andere Art. Sich mit anderen Sprachen auseinanderzusetzen, heißt neue, andere Zugänge zur Welt zu bekommen, Vordergründe und Hintergründe anders auszuleuchten.

Kasaty: Sie glauben an die sogenannten Blitze – „entweder leuchtet ein Gedicht schlagartig ein, oder seine Sache ist nichtig. Die Schönheit überrascht oder ist keine“, haben Sie einmal aus dem surrealistischen Manifest zitiert.

Schrott: Das Zitat stammt von André Breton. Ich fand es lange Zeit sehr schön, aber es ist natürlich etwas eng und etwas simplifizierend – gerade weil aus Sätzen, die sich erst als obskur verschließen, nach einiger Zeit auch noch etwas werden kann… Aber grundsätzlich denke ich, dass das, was von Texten übrig bleibt, oder was gute Texte allgemein auszeichnet, Anschaulichkeit, Eindrücklichkeit und Einprägsamkeit ist, die sich handwerklich durch ein Bemühen um Konzision und Präzision herstellen lässt. Erst wenn man es auch auf Kohärenz angelegt hat, wird das, was man sagen will, oft genug plötzlich als prägnantes Bild präsent – und gewinnt durch das Bemühen um Mitteilbarkeit erst richtig Gestalt. Insofern ist Literatur nichts anderes als ein Versuch, möglichst reibungslos über das Medium Sprache Eindrücke wiederzugeben, ohne dass das Medium Sprache selbst allzu sehr in den Vordergrund tritt. Die Sprache ist eine Art Leitung, und Literatur sollte möglichst reibungsfrei hindurch fließen – wie bei einem Verstärker, der ja auch nicht die Musik verändern, sondern sie einfach auf die Bühne des Wohnzimmers bringen soll.

Kasaty: Mancher Leser mag sich mit Ihrer Biografie noch nicht befasst haben. Würden Sie diese Lücke schließen helfen, indem Sie zunächst ein wenig von Ihrem Elternhaus und Ihrer Kindheit erzählen?

Schrott: Das tue ich solange äußerst ungern, bis Sie mir sagen, welche Relevanz das für mein Schreiben haben soll. Es ist der übliche Reflex – der aber eigentlich nur voyeuristische Neugier transportiert. Aber ich will nicht unhöflich sein – und ihre Frage unter einem anderen Aspekt zu sehen versuchen. Viele Schriftsteller gehen von sich aus, um über die Welt zu schreiben. Ich sehe das komplementärer – es gibt eine Stelle im Briefwechsel zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt – Dürrenmatt schreibt sinngemäß: Du bist immer derjenige, der sein Ich zum Fall für die Welt macht; mich interessiert es eher, die Welt zum Fall für mich zu machen – das signalisiert zwei verschiedene Schreibpositionen. Entweder geht man von sich aus, was in der deutschen Literatur der 1970er und 1980er Jahre meistens zu einer sehr esoterischen Nabelschau geführt hat. Mich interessiert eher, von der Welt aus mein Ich zu entwerfen. Das Biografische daran finde ich vollkommen uninteressant. Diese Unsitte, Bücher mit einem Klappentext zu versehen, der auch ein Foto des Schriftstellers enthält – der dann auch so aussieht, als ob er das Gewicht der Welt auf seinen Schultern trägt –, da frage ich mich jedes Mal, was mir sein Gesicht zu dem wohl sagen soll, was er schreibt? Nichts. Oder was sein Geburtsort… wenn Literatur doch etwas lokal Übergreifendes, eigentlich allgemein menschlich Gültiges formulieren sollte. Ich tue mich schon mit der Einordnung „österreichischer Schriftsteller“ schwer. Die Sprache, die ich gebrauche, ist Schriftdeutsch – und ich freue mich zwar, wenn ich einen Regionalismus unterbringen und das Monopol des Bundesdeutschen brechen kann, aber auf der anderen Seite wüsste ich auch nicht, was an meiner Literatur österreichisch wäre. Natürlich gibt es das Österreichische an der Literatur – wie es Bernhard verkörpert hat und jüngere nach ihm zu verkörpern versuchen, die ich jetzt gar nicht qualifizieren oder aufzählen will – weil das meiste davon Pose ist und im eigenen Saft kocht: Die Hysterie des Lokalpatriotischen, die sich aber jedem Patriotismus als Thema immer verweigern muss und unter Lokal vor allem Wiener Beisl versteht. Mich hat Österreich als Thema immer wenig interessiert, mich interessiert eher Europa oder der Mittelmeerraum. Andererseits jedoch gibt es nichts Privateres als die Sprache, die man benutzt – jedes Wort, das man setzt, verrät viel mehr über Privates und Intimes – über Temperament, Haltung, Denken und den Blick auf die Welt – als jede Art von Biografie. Insofern kann ich Ihnen gern die normale Vita erzählen: Ich bin 1964 geboren – und da muss ich mich wieder fragen, was mein Alter mit meinem Schreiben zu tun hat – in Tunis und Zürich aufgewachsen, auch in Österreich – dahin bin ich mit 10 Jahren gekommen. Mit 17 habe ich Österreich verlassen, um in England, in Norwich, zu studieren.

Kasaty: Sie kamen an Bord eines Schiffs auf die Welt, und schon als Kind wechselten Sie wiederholt den Wohn- und Lebensort. Literatur hat Sie geprägt, Bücherregale und Zeitungen gehörten im jeweiligen Haus zum Alltag. Was hat Ihre Kindheit inmitten dieser Dialektik und Ortswandel einerseits und der Konstanz geistiger Nahrung andererseits am meisten geprägt?

Schrott: Reisen und Bücher. Da meine Eltern notgedrungen sehr viel gereist sind, es immer noch tun, bin ich sehr früh sehr weit herumgekommen. Betrachtet man’s aber recht, ist eigentlich die Sesshaftigkeit eine historische Anomalie! Die Menschheitsgeschichte zeigt, dass die Menschen erst sehr, sehr spät sesshaft geworden sind, und selbst heute noch ein großer Teil nomadisch lebt…

Kasaty: Dies bestätigt auch Ihr Lebensweg. Sie haben Ihr Studium beispielsweise in Innsbruck angefangen, in Norwich dann beendet. Der Wechsel nach England war die Folge einer Begegnung mit W.G. Sebald. Sie haben dann aber in England paradoxerweise nie bei Sebald studiert, sondern die meisten Seminare bei Richard Sheppard belegt. Was hat Sie an W.G. Sebald dermaßen beeindruckt, dass Sie ihm nach England gefolgt sind?

Schrott: Studiert habe ich hier in Innsbruck – fürs Lehramt zunächst; ich habe auch das sogenannte Probejahr als Deutsch- und Englischlehrer absolviert. Danach bin ich nach England gegangen, von England nach Paris, habe mein Doktorat gemacht und bin mit einem DAAD-Stipendium zu einem Postgraduate-Jahr nach Berlin, um Semiotik zu studieren. Dann habe ich in Neapel am Germanistischen Institut unterrichtet und bin danach nach Frankreich gegangen – diesmal mit der Absicht, Schriftsteller zu werden. Meine Beschäftigung mit dem Dadaismus hat mir den Kontakt zu Max Ernsts Erben gebracht – in dessen Haus ich dann ein paar Jahre wohnte und arbeitete. Von Südfrankreich ging’s dann nach Irland, wo ich seit sechs Jahren lebe.
Sebald hatte an der Universität Innsbruck eine Gastvorlesung über Stifter gehalten – und mir hat sein Umgang mit der deutschen Literatur damals sehr imponiert, der ganz anders als der übliche akademisch-germanistische war.
Der Unterschied wurde mir dann aber erst in England nachvollziehbar – dass es bei uns akademisch darum geht, abfragbares Wissen zu produzieren, während es in England um Argumentationsfähigkeit geht, darum selber denken zu lernen – auf sehr pragmatische Art und Weise. Sebald habe ich als Lehrer geschätzt, weil er Germanistik mit Lust an Sprache, Anekdote und Bildlichkeit betrieb. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich in Norwich keines seiner Seminare besucht habe – ich ging ja gerade nach England, um von Kafka und Stifter wegzukommen, einer Art von Literatur, die mir bloß klaustrophobe Gefühle verschaffte. Dagegen habe ich einen seiner Kollegen kennen gelernt, Richard Sheppard, der Seminare über Dadaismus und Expressionismus anbot. Seine Seminare haben mir sehr viel geöffnet. Als ich in Norwich war, hat Sebald übrigens gerade erst mit dem Schreiben begonnen und sein Naturgedicht veröffentlicht. Ich mag seine Bücher – weniger vom antiquarischen Sammler-Aspekt her, er ist mir zu germanistisch, zu literaturverliebt; aber ich schätze seine Sprache, die Worte aus dem 19. Jahrhundert zu benutzen versteht und ihnen einen Glanz zurückgibt – als würde man eine Kirchturmspitze zum ersten Mal wieder polieren, damit der Wetterhahn oben wieder aufleuchtet und sich dreht, als wäre es das erste Mal… Er war ein sehr genauer Beobachter, von einer Wachheit, die ich höher schätze als sprachliche Kunstfertigkeit – weil sich in ihr erst eigentliche Intelligenz ausdrückt.

Kasaty: Aus einem Ihrer Essays weiß ich, dass Ihr erstes Gedicht ein spielerischer Versuch war, Verszeilen zu bilden, die auf denselben Vokalen aufbauen. Mit 14 oder 15, von Celan inspiriert, schrieben Sie Gedichte, die von der Lust an obskuren Metaphern getragen waren. Können Sie sich noch an den originären Antrieb für Ihr literarisches Schreiben entsinnen, und wann genau haben Sie angefangen zu schreiben?

Schrott: In der Schule. Aber jetzt ohne Ironie: Ich hatte dabei stets große Schwierigkeiten mit den Deutsch-Aufsätzen – weil ich nie recht wusste, wie das geforderte Pensum erfüllen. Die Bücher, die ich las, hatten ja alle spannende Begebenheiten zum Inhalt. Meine Vorstellung vom Aufsatzschreiben leitete sich automatisch davon ab, ohne dass ich jedoch über den entsprechenden Fundus von Geschichten verfügt hätte. Was sollte man auch schreiben, was man zu Ostern getan hat? Ostereier gesucht, Schokolade gegessen – und fertig. Also dachte ich mir Sachen aus, die natürlich alle bei den Haaren herbeigezogen und unglaubhaft waren. Die schlechten Noten, die mir das eintrug, führten aber letztlich dazu, dass sich mein Respekt vor der Literatur in dem Maß vergrößerte, wie ich dadurch angespornt wurde und dieses Fach dann auch studieren wollte, um hinter die Geheimnisse ihrer Produktion zu kommen. Das hatte den Vorteil, dass ich dadurch die Mechanismen der Literatur verstehen lernte, mit Archiven und Sekundärliteratur umgehen, und mich das schließlich zur Komparatistik gebracht hat – bis zu meiner Habilitation in diesem Feld. Trotzdem war’s dann keinen Deut leichter, mit dem Schreiben zu beginnen. Denn da war zwar viel Meta-Wissen – und eine nicht zu unterschätzende Schulung des Geschmacks, der Wertung und des Differenzierens; aber von diesem Analytischen abgesehen, hat das Schreiben ebenso viel mit der Synthese zu tun, die auch eine gewisse Unvoreingenommenheit voraussetzt, eine Frische des Blicks, die das Hinterfragen jedes Wortes hinauszuzögern versteht, nicht zu vergessen: eine gewissermaßen kindliche Naivität. Auf der anderen Seite habe ich durch das Akademische aber auch wieder viel an Respekt vor dem Literarischen verloren – nicht zuletzt durch die Dadaisten. Das war eine gute Schule, um mit dem Schreiben zu beginnen – dieses unbekümmert Freche, auch das Betonen des Absurden und Existenzialistischen, das Spielerische in der Literatur, die Inszenierung der Provokation – das alles war eine sehr gute Basis, um ihr die bürgerliche Aura des Genialischen zu nehmen.
Nach meinem ersten Buch über die Dadaisten waren dann eine ganze Reihe von Lesungen angesetzt, die wiederum zu eigenen epigonalen dadaistischen Texten führten, die man aber wiederum vor Publikum erproben konnte, was ebenfalls keine schlechte Übung ist. Einfach aufzustehen und vorzulesen – wobei ich sehr schnell festgestellt habe, dass das alles nur dann funktionierte, wenn die Leute lachten, weil bei Dada-Texten die kabarettistischen Elemente im Vordergrund stehen. Wenn ich dann aber Texte hatte, bei denen nicht gelacht wurde, wurde ich unsicher: Ist das jetzt schlecht, finden das die Menschen ganz langweilig oder dumm? Ob man mit einem Text einen etwas stilleren Punkt getroffen hatte, war da noch schwer auszumachen. Heute erkenne ich es eher am Stühle-Rücken – je lauter die Hintergrundgeräusche, desto schlechter der Text – oder der Vortrag. Das Vorbild der Dadaisten aber hatte auch andere Auswirkungen. Deren Vorliebe für viele bibliophile Bücher, in denen sie ihre eigenen Texte nicht nur sehr edel druckten sondern, meist auch noch von Künstlern illustrieren ließen, ließ auch mich mein erstes halbes Dutzend Bücher mit allen drucktechnischen Möglichkeiten ausstatten, teuren Papieren, Prägungen, Stanzungen. Ich half beim Druck mit – meine Nachbarn besaßen eine Druckerei –, machte Lay-Out und Typografie, all das in völliger Handlungsfreiheit auch von Seiten meines damaligen Verlags, dem Haymon-Verlag. Das erste eigene Buch, die Makamen, war aus handgeschöpftem Büttenpapier, in einer Kirschholzkassette gesammelt – und es entstand, wie auch das nächste, Die Legenden vom Tod in Zusammenarbeit mit einem Maler, dem Wiener Aktionisten Adolf Frohner – später dann mit Arnold Marie Dall’O, ein Künstlerbuch ums andere, die alle irgendeinen Preis für ,schönste Gestaltung‘ erhielten – aber nie rezensiert wurden; trotzdem eine mehr als schöne Visitenkarte für den Anfang. Umso mehr als man ja immer zu schreiben beginnt, indem man imitiert und sich so an den Vorbildern misst und lernt; wahrscheinlich beginnt man erst nach den ersten 1000 Seiten etwas Eigenes zu machen…

Kasaty: In Ihrem Fall war das wahrscheinlich der Gedichtband Hotels (1995), für den Sie den Leonce-und-Lena-Preis zugesprochen bekamen?

Schrott: Ja, das war der Wendepunkt. Bis dahin war meine Art zu schreiben, ein Sich-von-der-Sprache-Tragen-Lassen, zu sehen, wohin einen die Assoziationen führen – das, was Coleridge fancy genannt hat. Aber bei Hotels kam in mir der Ehrgeiz auf, Reales zu definieren, über eine sich am Wirklichen orientierende, die Dinge in ihrer konkreten Komplexität darstellen wollende Imagination. Es wurde ein Gedichtband, in dem ich über Hotels schrieb, über Räume und Orte, im Koordinatenkreuz von Geschichte und privater Geschichte. Gedichte daraus trugen mir den renommierten Leonce-und-Lena-Preis ein; zugleich hatte ich auch beim Bachmann-Wettbewerb mit Auszügen aus einem ersten Roman, Finis Terrae, Erfolg. Das öffnete mir dann die ersten Türen – erst nach einer ganzen Reihe von echolos publizierten Büchern folgten Einladungen zu Lesungen, erste große Rezensionen, weitere Preise…

Kasaty: Haben Sie sich bei diesem Erfolg, der als Bruch daher kam und eine eindeutige Wende in Ihrem Schaffensprozess einleitete, die Frage gestellt, warum Sie schreiben?

Schrott: Um die Welt über das Schreiben auf den Punkt zu bringen. Auf den Punkt! Andere fotografieren, bedienen sich ihrer Videokamera und fixieren damit; ich kann das Verzerrte und Unscharfe darüber hinaus aber noch korrigieren und das oft genug versteckte Wesentliche herausarbeiten. Schreiben heißt, den Zusammenhang von Dingen aufspüren, mittels Sprache zu entdecken – man überrascht sich dabei ja auch oft genug; das Gemeinsame an all den Phänomenen in einem bestimmten Augenblick zu erfassen; zu identifizieren, wovon etwas ausgeht, wohin es zielt, was sein Mittelpunkt, was sein Radius ist – und welche Stelle der Mensch dabei einnimmt. Das ist das Eine. Zum anderen, was die Gedichte betrifft, ist es die Lust der Inspiration – Gedichte entstehen immer in einem Augenblick, in dem man eine dünne Haut hat, dass man plötzlich etwas Neues spürt – es fließt etwas durch einen hindurch, es gibt etwas, was man nicht benennen kann, obwohl man es früher als Musen bezeichnet oder heute als Unbewusstes versteht. Diesen Moment mit seinem plötzlich so wach differenzierenden Blick will ich mit Sprache festhalten – weil es Augenblicke einer Totalität sind, wo Mensch und Welt gleichsam konzentrische Kreise bilden, ein gemeinsames Zentrum finden, ein Konnex fassbar wird – den es dann mit dem Artifizium der Sprache zu rekonstruieren gilt. Stößt mir ein Gedicht so zu – dann nehme ich den erstbesten Zettel und schreibe es auf, was mir gerade durch den Kopf geht. Es ist in diesem Moment vollkommen egal, ob es schöne oder gute Sätze sind oder nicht; ich schreibe einfach den Fluss der Gedanken durch den Kopf mit. Diese Zettel später in die Hand zu nehmen, vergegenwärtigt mir dann seltsamerweise die beschriebenen Augenblicke auch wieder. Es reicht, dieses Gekritzel zu sehen, und ich weiß ganz genau, wie etwas ausgesehen, geschmeckt, gerochen und sich angefühlt hat. Ein Sprachkunstwerk zu machen, Sätze daraus zu machen und ihnen eine Form zu geben, objektiviert dieses Subjektive dann. Der Mitteilungscharakter, den Kunst auch besitzt, verleiht ihm eine andere, auch pragmatische Ebene: Man schreibt nicht nur für sich allein, sondern will auch jemand anderem etwas sagen. Mehr kann Literatur eh nicht tun, als etwas mitzuteilen, zu kommunizieren; dabei erhält sie auch eine objektive Härte, die das Ganze zum einen verfremdet, zum anderen bannt: So erhält das Gestalt, was im Moment der Inspiration nicht nur einem nur auf der Zunge lag. Je strenger die Form dabei ist, desto besser ist sie als Dialogpartner – die Schwierigkeit der Form zwingt einen, alles zehnfach so genau zu überlegen, und sie bewahrt einen vor dem Solipsistischen, das der Literatur naturgemäß anhaftet. Form heißt, dass die Gedichtzeilen ein Gleichmaß erhalten, ein optisches und ein auditives; dass es Gleichklänge gibt, nicht unbedingt nur Reim, sondern auch Diskreteres – wie auch im Russischen –, wo man nur die Vokale tauscht. Es werden daraus dann ,diskrete Kombinationen‘, wie die Linguisten – in einem anderen Sinn – sagen würden. Irgendwie aber kommt man sich dabei auch wie ein Schachspieler vor, der gleichzeitig auf mehreren Ebenen eine Partie entwickelt. Sind die kombinierten Züge gelungen, das Spiel konzise und elegant, hat man auf seine Art und Weise etwas Überzeitliches bewahrt, erstellt oder suggeriert, etwas zumindest über das Ephemere Hinausgehendes. Das ist das eigentlich Befriedigende und Schöne daran – und dass es sich mitteilen lässt. Was man nur für sich behält, stumpft ab.

Kasaty: Literatur macht Ihren Lebensinhalt aus, aber selbstverständlich ist sie nicht mit dem Leben selbst identisch. Was bedeutet und wie wichtig ist Ihnen das Schreiben?

Schrott: Lange nicht so wichtig wie das Leben. Schreiben ist allerdings das, worauf ich mich handwerklich am besten verstehe. Ich wäre ein schlechter Tischler, vielleicht ein etwas weniger schlechter Lehrer, trotzdem ginge es mir schnell auf die Nerven, lebenslang Schulunterricht an einem Gymnasium zu geben. Deshalb ist schreiben zu können, es sich leisten zu können, ein Privileg – dem man dann umso mehr Arbeit opfert: Ein Lehrling, der in einer Fabrik arbeitet, muss auch um 7 Uhr aufstehen. Ich glaube an die Intensität der Erfahrung und die Intensität der Arbeit. Sie ist letztlich auch ein Ausdruck von Rebellion, wie jede Art von Fiktion eine Art von Rebellion gegen das Sinnlose ist – ein Sich-Behaupten gegen das Absurde der Existenz. Ob sie er- oder entmutigt, weiß ich nicht – aber es ist eine Herausforderung.

Kasaty: Sie sind nicht nur Poet, Sie schreiben auch Prosa, Essays, übersetzen und forschen auch. Wo liegt der Schwerpunkt Ihres Schaffens?

Schrott: Letztlich ist alles Poesie. Ich fasse den Begriff bloß weiter; Poesie heißt: genau, konzentriert, reflexiv, am reflektierendsten mit der Sprache umzugehen. All das, was sich in der Poesie an Denk- und Stilfiguren findet – von der Metapher bis zur Metrik usw. – findet sich in der Prosa ja auch, nur breitgetreten und vereinfacht. Poesie zu begreifen, heißt dann auch Prosa verstehen – und zwar mit Leichtigkeit. Worauf Poesie sich reduzieren lässt, ist die Metapher – als Vergleich, der eine Sache einer anderen ähnlich macht –, und sie ist ein so elementar-sinnstiftender Mechanismus, dass sich von ihr aus eigentlich unsere Sprach- und Denkwelt erklären lässt. Zu glauben, dass etwas Sinn macht, heißt letztlich nur, dass wir in der Lage sind, etwas mit dem Anderen zu, vergleichen – das Neue mit dem bereits Bekannten, einen Bereich mit einem anderen…
Und dies verkörpert die Poesie nun par excellence… Außerdem ist da aber auch noch ein gewisses Maß an Metaphysik dabei; das zeigt sich an der Geschichte der Poesie – wie lange sie gebraucht hat, um sich aus der Umarmung des Religiösen zu lösen. Eine Metapher verbindet zwei Worte miteinander, die real verhandelbar und definierbar sind – was Erde ist, lässt sich definieren, was Blau ist, lässt sich definieren, was eine Orange ist, lässt sich auch definieren – wenn ich aber diese Dinge kopple und sage, „die Erde ist blau wie eine Orange“, dann bekomme ich ein Bild, das sich weder zeichnen, noch fotografieren, noch auf dem Computer darstellen lässt. Das oszilliert zwischen groß und klein, zwischen blau und orange, zwischen dem Blick vom Mond und dem Blick von der Erde zum Mond – und das verleiht letztlich jeder Metapher einen meta-physischen, transzendenten Charakter, sie verweist auf eine Wirklichkeit, die über das Konkrete hinausgeht. Das kommt dem, was wir permanent in unserer Sinnstiftung betreiben, am nächsten. Wir glauben von realen Dingen zu reden oder über reale Dinge zu verhandeln, erstellen aber nichts als ein tertium comparationis, einen nur angedeuteten Fluchtpunkt unserer Perspektiven, der erstaunlicherweise etwas Jenseitiges hat – ob ich will oder nicht. Insofern kenne ich nichts, was umfassender wäre als die Poesie – und dabei haben wir jetzt bloß vom semantischen Aspekt gesprochen, und den musikalischen wie den bildlichen Aspekt ignoriert.

Kasaty: Poesie wird als Flaschenpost, Widerspruch, Verdichtetes, Lied, als Kunst des Unvorhersagbaren, als Weltsprache bestimmt. Michael Lentz nennt sie einfach „Lebenselixier“. Wie definieren Sie Poesie?

Schrott: Poesie ist ein Gestus. Poesie ist ein Blick. Poesie ist eine Haltung, um die Welten, die noch unausgeschöpft sind, zu betrachten – mit einem Blick auf das Erhabene, mit einem Blick auf das Heilige, mit einem Blick auf die Frau, usw. … Sie ist etwas Schönes, weil sie Dinge aufzeigt, die man sonst übersieht.

Kasaty: Der Begriff Poesie tauchte zum ersten Mal im 5. Jahrhundert auf und erfuhr damals eher eine pejorative Auslegung: Man verstand darunter das schlichte Versemachen, ohne auf die Muse zu warten.

Schrott: Ja, Plato benutzte den Begriff sehr abschätzig, weil er eben die Poeten – poiein bedeutet, so viel wie ,Macher‘ oder ,Handwerker‘ – weil er sie im Vergleich zu den Aoiden von früher, die durch Musen inspiriert waren, negativ definierte: Statt Seher und Propheten waren es nur noch Männlein, die ausschließlich von sich selber redeten. Das, was von der Inspiration der Musen zu diesem Von-sich-selbst-Sprechen geführt hat, war die Schrift. Die war die größte Revolution in der menschlichen Kultur überhaupt, weil da ein ganz anderes Denken beginnt. In einer oralen Kultur ist das gesprochene Wort der wichtigste Bedeutungsträger – aber die Flüchtigkeit seines Klanges erlaubt keinen Überblick. Wenn ich das Wort Se-gre-ga-tion ausspreche, weiß ich erst, wovon die Rede ist, wenn der Laut bereits nicht mehr existiert; und ich kann ihn durch nichts festhalten. Es aber in Buchstaben aufschreiben zu können, heißt auch, ihm letztlich eine Konkretheit zu verleihen, eine Begrifflichkeit – und die wieder führt zu Syntax, Grammatik – einer Übersichtlichkeit von Begriffen, mittels derer die zuvor so ephemeren Worte plötzlich so real wie Bausteine werden, mit denen sich erst dann ganze Theoriegebäude erstellen lassen. Intelligenz verkörperten in einer oralen Kultur Menschen mit großen Ohren etwa und guten Mündern – doch über das Lesen wird unser Verstehen eine Sache des Sehens: ein vollkommener Paradigmenwechsel. der vom Gehörten zum Auge führt. Gleichzeitig neutralisiert Schrift und macht die Botschaft mehrdeutig; es gibt da keine Dialogsituation mehr, die Ambiguitäten ausräumt; man selbst ist beim Schreiben anonym. Intonation und all die anderen Mechanismen der Kontextualisierung fallen vollkommen weg. Die Schrift schafft gerade jene Ambivalenzen, diesen Autoritätsverlust, den Platon kritisiert. Diese Art von Mehrdeutigkeit geht geschichtlich parallel mit der Erfindung des Geldes – die auch eine vollkommen neue Ökonomie des Hypothetischen ist: Geld oder Buchstaben sind gleich irreale – und gleich kulturelle Tauschmünzen. Und gleichzeitig entsteht dabei auch Demokratie, die ursächlich etwas mit Autoritätsverlust zu tun hat.

Kasaty: Einmal sagten Sie, dass jemand, der Poesie verstanden hat, nur eher ungern Prosa lesen wird. Halten Sie Poesie der Prosa gegenüber für die überlegene literarische Gattung?

Schrott: Was ein Gedicht in 20 Zeilen entwerfen kann, dazu braucht Prosa 20 Seiten – wozu also diese lesen? Aber im Ernst: Bei Prosa kommt es aufs Erzählen an, auf das Element der Spannung, des Vorenthaltens von Information – und diese Strategien sind von „1001 Nacht“ bis zur amerikanischen Seifenoper gleich geblieben. Poesie dagegen hat eher den Charakter einer Fotografie, deren Tiefenschärfe die Sprache leistet, Rekonstruktionen von Augenblicken…

Kasaty: Sie haben mit dem Buch Erfindung der Poesie ein phänomenales Plädoyer für die Lyrik verfasst. Was hat Sie überzeugt, an diesem Projekt zu arbeiten?

Schrott: Eine Literaturagentin kam in Berlin auf mich zu mit der Frage, ob ich nicht ein Projekt hätte – wobei mir aber Aufgaben und Funktion einer Literaturagentin nicht ganz klar waren. Um sie höflich abzuwimmeln, habe ich ihr eine langgehegte Idee geschickt, die ich für vollkommen unverkäuflich hielt. Sie hat es an Hans Magnus Enzensberger weitergeleitet – und der hat sich binnen zwei Tagen dafür entschieden, worauf der Vertrag gleich fertig war… aber eben über diese Literaturagentur, inklusive 15% Provision. Es wurde mir erst sehr viel später klar, dass damit 15% von allem, jeder Auflage usw. gemeint waren – und das für einen einzigen Telefonanruf… Trotzdem war’s letztlich in Ordnung – ich hätte das Projekt sonst nie an Enzensberger geschickt.
Der eigentliche Grund jedoch, diese Anthologie zu machen, war zum Einen, dass ich in einer Zeit groß geworden bin, in der die Genitiv-Metapher als verpönt, der Reim als reaktionär galt und die Idee eines Gedichts kaum mehr war als die eines weißen Blattes, d.h. die Tradition des Gedichts betreffend eine riesige Ignoranz bestand. Es gibt auch heute noch kaum Kollegen, mit denen man fachsimpeln könnte – wie’s jeder Briefmarkensammler oder Baustatiker tut, was sicherlich mit einem Desinteresse an der Poesie zu tun hat, als genügten die paar eigenen Ideen, die man hat – der Rest soll bloß nicht hinterfragt werden… jener Esoterik gemäß, die man Lyrik zuschreibt. Doch wer das Gedicht erfunden hat, wozu und welche Formen es gibt – all diese Fragen haben mich interessiert, besonders zu Beginn des Schreibens: Es war die Neugier eines Lehrlings, der sich sein Fach erarbeitet.
Man lernt das Dichten ja auch, indem man übersetzt; man lernt so ein Gedicht lesen, verstehen – und die Kunstgriffe, die man dabei entdeckt, in die eigene Sprache zu übertragen. Das Musizieren lernt man ja auch, indem man Partituren von Bach oder Beethoven nachspielt. Bei uns aber glaubt man, mit dem freihändigen Improvisieren gleich beginnen zu können. Eine halbgare Idee des Geniekults hat dabei wohl die Hand im Spiel – und deswegen wundert’s einen auch nicht, dass soviel Scheiß dabei herauskommt… Kurz: das Übersetzen war für mich eine Gesellenarbeit; und dabei wollte ich wissen, wer den Reim erfunden hat und warum; wer die Strophe… beides kommt übrigens aus dem arabischen Raum zu uns.

Kasaty: Mit der sumerischen Dichterin Enheduanna (24. Jahrhundert vor Chr.) eröffnen Sie Ihre Anthologie Die Erfindung der Poesie, und der gewaltige Bogen spannt sich bis zum 14. Jahrhundert nach Chr. und endet mit Dafydd ap Gwilym und der walisischen Poesie. Anhand welcher Spuren konnten Sie die Lyrik aus der Zeit von vor 4.000 Jahren aufspüren? War das nicht orale Poesie, von der es keine Zeugnisse gibt?

Schrott: Ja, eine andere Form hatte sie kaum – denn die Lyrik bezieht ihre Formen eben aus der oralen Tradition. Trotzdem ist uns nur wenig rein Orales überliefert: Bei Homer wie bei Sappho, bei Catull wie bei den Sumerern schlägt sich das Schriftliche bereits auf die eine oder andere Weise nieder… Dem Paradoxon, dass orale Dichtung (vor der Erfindung des Aufnahmegeräts) nur schriftlich fixiert wird, entkommen wir leider nicht.

Kasaty: Welche Kriterien qualifizierten zur Aufnahme in Ihre Anthologie?

Schrott: Das Auswahlprinzip war einfach: Bei jeder Kultur, die europaweit Bedeutung erlangte, wollte ich ihre ersten poetischen Vertreter vorstellen… Das beginnt bei der ersten Schriftkultur, den Sumerern und über Catull hinauf zu den keltischen Traditionen (die uns ja damals missioniert haben und uns erst das Lesen und Schreiben samt christlicher Gottesfurcht beigebracht haben). Von da an ist das Subjektive in der Dichtung schon rein ausgeprägt. Das ist quasi die vergessene Tradition. Denn trotz aller Philologie wird bei uns ja kaum etwas davon gelesen… Das hat indirekt mit der Klassik zu tun. Da sie die Antike erstmals breitenwirksam vermittelte, glaubt man heute immer noch, alle Übersetzungen im Winckelmann-Deutsch vorlegen zu müssen. Dass man damit das Publikum verschreckt, ist ebenso klar, wie dass es sich dabei nur um eine billige sprachliche Travestie handelt, eine Klamotte eigentlich: Griechen so reden zu lassen wie am Weimarer Hof – und das von heute aus gedacht! Dem wollte ich etwas entgegensetzen.

Kasaty: Nimmt der römische Dichter Properz wegen seiner ausnehmend tiefen und komplexen Liebesgedichte einen beachtlichen Rang in Ihrem Buch ein?

Schrott: Properz war der erste Dichter, der eigentlich nur über die Liebe geschrieben hat. Nicht zuletzt deswegen ist bei ihm auch zum ersten Mal eine Frau deutlich auch als Person zu erkennen: selbstbewusst, klug, unberechenbar – das reale Vorbild dahinter ist klar zu erkennen. Sprachlich ist er dabei ein äußerst komplexer Dichter, der seine Texte mit vielen Fäden webt, ohne einen davon fallen zu lassen. Kein Wunder, dass Brodsky in ihm einen Seelenverwandten sah.

Kasaty: Mit Ihren Übersetzungen holen Sie die fast 4.000 Jahre alten Gedichte herüber in die Gegenwart. Übersetzen ist einerseits Übernahme des Traditionellen, andererseits aber auch die Aktualisierung der ewig bestehenden und wiederkehrenden Formen und Themen. Wie integrieren Sie die verschiedenen Stränge bei Ihrer Aufgabe der Vermittlung zwischen Zeiten und Sprachen?

Schrott: Alten Gedichten ein zeitgenössisches Gewand zu geben, die Tradition in die Gegenwart zu holen, müsste eigentlich die Aufgabe jeder Dichtergeneration sein – denn Sprache wird schnell alt. Andererseits steht diesem Vergänglichen aber auch das Zeitlose der Form gegenüber – insofern als sich in einem Gedicht Inhalt und Form gar nicht trennen lassen. Wie der Inhalt arrangiert ist, macht den Genuss eines Gedichts aus. Wenn ich aber in einer philologischen Übersetzung nur den Inhalt anbiete, ist das, als ob ich von einem Essen nur das Rezept wiedergebe. Die poetische Übersetzung dagegen kocht es nach. Das Problem, das sich dabei ergibt, ist jedoch eines der Zutaten – der Sprache also. Will ich in Irland thailändisch kochen, und ich kriege kein thailändisches Basilikum, der Fisch ist anders, die Nudeln ebenfalls, kann ich nur versuchen, mit dem, was ich in Irland finde, möglichst nahe an das Thailändische heranzukommen. Dass es dabei Verfälschung gibt, ist klar. Doch, was ich dann auf dem Teller habe, ist essbar und schmeckt – während es im Akademischen beim Kochbuch bleibt. Ohne philologische Studien, ohne dieses Rezept, könnte ich mir andererseits ein Gedicht aber auch nicht erschließen. Die Philologie ist die Hilfswissenschaft der Poesie, könnte man ironisch sagen.

Kasaty: „Das Gelingen eines Gedichts ermisst sich daran, wie genau seine Bilder zu Ende gedacht werden, wie sich seine Logik aus ihnen und mit ihnen zwangsläufig über die Zeilen hinweg entfaltet.“ Könnten Sie das kurz erläutern?

Schrott: Das Zitat setzt das allegorisch Konzise eines Gedichts als Kriterium – dass es weder zu Bildsprüngen noch zur Aneinanderreihung beliebiger Metaphern kommt (obwohl man natürlich auch dies zur Formel eines Gedichts machen kann). Das Eine nahtlos auf das Andere, Fremde zu projizieren – Analogien herzustellen, ohne dass man dabei an Komplexität einbüßt oder der Vergleich sich als hinkend herausstellt, wenn man ihn zwei, drei Stufen weiter denkt, darin liegt auch die Kunst des Gedichts, das sich dann als Allegorie definiert.

Kasaty: „Übersetzen dagegen heißt, diese Bilder zu sehen, bevor sie geschrieben werden, und sie dann, weil sie sich nie nur kopieren lassen, mit den Utensilien der eigenen Sprache freihändig nachzuzeichnen und neu zu skizzieren.“

Schrott: Der Satz geht davon aus, dass selbst noch die Sprache eines Gedichts bloß ein Vehikel ist – ein sehr grobes, verglichen mit dem, was unser Hirn zu differenzieren imstande ist. Sie transportiert nur schlecht, was wir in aller Nuanciertheit sehen, fühlen, riechen etc. – und kann es immer nur durch rhetorische Kunstgriffe suggerieren. Wo Sprache sich aber – noch dazu permanent – verändert, bleiben wenigstens die ,Welt‘ und der ,Mensch‘ in der Wurzel jedoch die gleichen – ein paar Tausend Jahre sind im Vergleich zu unserer Evolutionsgeschichte einfach nichts. Das heißt nun aber einerseits, dass das, was Sappho oder Catull schrieben, aus derselben Wurzel kommt – und dass es von ihnen wie von uns immer nur suggestiv vermittelt werden kann. Und das bedeutet wiederum, dass wir heute dasselbe sehen wie sie damals und dass es nur die jeweilige Sprache anders inszeniert.

Kasaty: Wie würden Sie Ihr Thema benennen, wenn man das überhaupt auf einen Nenner bringen kann?

Schrott: Die Welt und alles, was da passiert.

Kasaty: Ein gutes Beispiel dafür ist Ihr Roman Tristan da Cunha (2003). Tristan da Cunha, der Schauplatz dieser Liebesgeschichte, ist die entlegenste und zugleich einsamste Insel der Welt.

Schrott: Der erste Reiz lag wohl im Klang des Namens „Tristan da Cunha“, der etwas so mysteriös Verheißungsvolles hat wie alle legendären Paradiese auf dieser Welt, Eldorado, Shangri-La, Zanzibar… Orte, die nichts anderes tun, als ein Paradies zu versprechen, das immer auf der anderen Hälfte der Erde bleibt.
Aber es gibt die Insel wirklich. Vor 500 Jahren ist sie entdeckt worden (nächstes Jahr wird das Jubiläum gefeiert), ein paar Hundert Menschen leben auf ihr. Und als fernstem, entlegenstem bewohnten Ort auf dieser Erde kann man auch 500 Jahre europäischer Geschichte an ihr festmachen, die ganze Globalisierung, die mit den großen Entdeckungen und mit den Portugiesen und Spaniern im 16. Jahrhundert begann. Zu aller allegorischen Symbolik einer Insel kommt bei ihr noch die Tatsache, dass sie auch die einzige christlich-kommunistisch-funktionierende Utopie dieser Welt ist – und es zudem einen Fundus an Seemannsgeschichten, Schiffbrüchen, Piraten, vergrabenen Schätzen gibt – all das, was das Erzählen erst spannend macht. Insofern war sie wirklich ein Glücksgriff; ich wollte immer schon aus einer Muschel eine ganze Welt entwerfen, einen Minimundus. Denn alles, was die Welt im Großen zu bieten hat, findet man in ihr im Kleinen – auch topografisch. Einen Vulkan, der 8.000 Meter vom Meeresboden hochsteigt und dann noch mal 300 Meter zu einem schneebedeckten Gipfel, gibt es auch: Stadt, Land, Berg, Fluss, Ufer, Küste, Meer – das Große im Kleinen, samt einem gesellschaftlichen Spannungsfeld. Sie ist also eine Art archimedischer Punkt, von dem man glaubt, die Welt aus den Angeln heben zu können.

Kasaty: War es wesentlich, gar notwendig, eine eigene Reise an „das Ende der Welt“ zu unternehmen, um authentisch und plastisch über diesen Ort schreiben zu können?

Schrott: Ja. Es war eine etwas umständliche Reise, weil es nur ein Mal im Jahr eine Schiffsverbindung dorthin gibt, ein englisches Postschiff. Nachdem Die Erfindung der Poesie sich gut verkauft hatte, konnte ich mir die Reise auch leisten – und fuhr mit dem Schiff fünf Tage von Kapstadt nach Tristan da Cunha. Zwei Tage Aufenthalt waren geplant, aber am ersten Tag konnte man nicht ausschiffen, weil die Dünung zu hoch war, erst am nächsten Tag ging’s dann; es blieben also nur wenige Stunden – um danach wieder fünf Tage zurückzuschippern.

Kasaty: Figuriert für Sie die Insel Tristan da Cunha ein Symbol für die ungestillte Sehnsucht nach Liebe?

Schrott: In einem größeren Kontext, ja. Die Liebe ist eine Art von Projektion, ein Gestus der Sehnsucht, wie ihn die Griechen in Eros verkörpert sahen. Man versucht die Finger nach etwas auszustrecken, was sich nie berühren lässt, und tut es trotzdem; man versucht etwas, was verborgen ist, zu enthüllen, zu erreichen, zu erhalten und zu erlangen, insofern zählen auch Sexualität oder Hunger dazu und die Literatur – indem sie dies widerspiegelt und Dinge verhandelt, die sich nur andeuten lassen. Die Rätsel, die Literatur stellt, sind dann nur scheinbare Rätsel, die auf das eigentlich Enigmatische der Welt verweisen. Wenn man Liebe als Projektion begreift, dann ist diese Art der Projektion vergleichbar mit jener der Religion, die sich ebenfalls auf eine projizierte Figur richtet, in deren Nähe man gelangen will, ohne dass man je in ihre Nähe gelangt. Das Gleiche gilt für die Sprache – auch mit Worten etikettiert man Dinge, ohne sie zu berühren. Jeder unserer sinnstiftenden Mechanismen ist so gesehen eine illusionäre Geste, eine Projektion, die uns auch eine Aporie vor Augen führt.
Als fernste Insel bot sich Tristan da Cunha geradezu an, diese Aporie zu verkörpern und auf den Punkt zu bringen. Die vier Figuren, die ich mir dazu ausgesucht habe, sollten dafür möglichst konträr sein, einander diametral entgegengesetzt wie die vier Punkte eines Rechtecks, als Rahmen rund um die Mitte dieser Insel: Der Funker, der seine Botschaften in den Äther schickt und nicht weiß, ob man ihn hört, trotzdem aber auf Antwort wartet, ähnelt dabei dem Priester, der seine Gebete in die dunkle Nacht schickt und glaubt, dass er irgendwann vielleicht doch erhört wird; die Wissenschaftlerin, die versucht, einer komplexen Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, aber dabei mit ihren Nordlichtern ein ähnlich illusionäres Bild vor Augen hat wie es die Engel für andere sind. Auch der Briefmarkensammler ist darin mit dem Schriftsteller vergleichbar, der eine Welt im Kleinen abzubilden trachtet, ihre Episoden wie Briefmarken sammelt, um sie zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Auch für ihn gibt es – derart allegorisch gesprochen – nichts Schlimmeres, als wenn ein Teil fehlt oder umgekehrt die Sammlung vollständig ist und er wieder von vorn beginnen muss, mit einem neuen Album. Insofern prägt der Gestus der Projektion alle Figuren des Romans – und etabliert eine kleine Erzählmaschine.

Kasaty: Ihre Figuren aus Tristan da Cunha scheitern in der Liebe – exemplarisch für Ihre Geschichten, die die Suche nach der Liebe und ihre Unmöglichkeit aufzeigen, und somit das Illusionäre ihrer Natur betonen. Vielleicht gibt es die Liebe nicht, sondern sie entlarvt sich nur als ein uneinlösbares Bild, ein verführerischer Traum, eine trügerische Illusion?

Schrott: Doch, die Liebe gibt es, aber der idealisierende Aspekt daran ist der Teil, der viel mit den Projektionen zu tun hat; geht dieses Idealisierende verloren, gibt es nur sehr wenige Lieben, die überdauern. Konditionierung, Gewohnheit und Gewöhnung ist ein Aspekt der Liebe, ein quasi biologischer; der andere jedoch ist ein kulturell geprägter – was wir in der westlichen Welt mit Liebe verbinden, stammt beispielsweise aus dem arabischen Raum. Die Liebesschulen der Araber, verbunden mit dem Platonischen, dem Christentum und den Katharern führt dann zur Liebesethik der Minnesänger und zum Petrarkismus, der Gestus ist jedoch derselbe geblieben: das Zelebrieren des Unerfüllten und Unerfüllbaren. Romeo, der unter dem Balkon von Julia singt und wartet, bis er erhört wird oder nicht, verkörpert doch den klassischen Gestus der Liebe – in einem kulturell geprägten Rollenspiel. Die Insel symbolisiert dabei das Idealistische, Obskure an all unseren Objekten der Begierde ebenso wie das Biologische, Reale.

Kasaty: Liebe ist wahrscheinlich das am meisten überschätzte Gefühl der Welt. Sie wird als eine Art Passepartout betrachtet, und man setzt voraus, dass der Mitmensch automatisch weiß, worum es geht. Daniel Kehlmann sagte in unserem Interview 2004: „Liebe ist etwas Wunderbares, sie ist möglich, sie kann gelingen.“ Wie lautet Ihre private Definition der Liebe?

Schrott: Über das Gesagte noch hinausgehend? Vorstellungen von Liebe sind ja selten privat, sondern meist von Kindheit an vorgeprägt. Als Schriftsteller aber ist man damit konfrontiert, dass das gesamte Vokabular der Liebe verbraucht ist – schon das Wort Sehnsucht klingt nach einem Groschenroman, Begierde nach den erotischen Szenen darin – und Vertrauen, Zuneigung und Zärtlichkeit sind ebenfalls – öffentlich geäußert – seltsam desavouiert. Schon allein deswegen ist es schwierig, eine Definition für die liebe zu erstellen, weil sie diese Begriffe vollkommen neu definieren müsste, um sie neu in ihrer Bedeutungspyramide zusammenzusetzen, neu in ein symbolisches Gefüge zu fassen. Auf der anderen Seite aber lässt sich auch behaupten, dass das, was man als Schriftsteller oder als Dichter tut, nur gelingt, wenn man das, worüber man schreibt, ,liebt‘. Wobei Hass – wie bei Thomas Bernhard z.B. – nur die Umkehrung des Prinzips wäre. So oder so benötigt man Empathie mit einem Gegenstand, um ihm möglichst nahezukommen und sich in ihn hineinzudenken.
Sich in Anderes oder Andere hineinzuversetzen, ist wahrscheinlich das Grundsätzlichste der Liebe. Dabei gibt es zwei konträre Arten damit umzugehen – eine verkörpert durch Don Juan oder Casanova, die andere durch Troubadour oder Minnesänger. Der eine sieht – auf Frauen bezogen – in vielen die eine; die anderen in einer die vielen. Das erstere ist wohl das Benützendere – obwohl das bei der Liebe oft genug zutrifft, sie ist auch immer ein Vereinnahmen des Anderen. In einer Frau hingegen alle zu sehen, kann dagegen eine oft auch mühsame Aufgabe sein – einfach weil wir uns an allem so schnell satt sehen. Das eigentliche Rätsel ist dabei, warum wir all das, woran wir uns gewöhnt haben, so gering schätzen.

Kasaty: Erhebend ist, wie Sie in Ihrem Gedichtband Weissbuch (2004) über die Rolle der Frau schreiben, als ob sie etwas Heiliges verkörpere…

Schrott: Ja – im Sinne der Aporie – und wenn man das Heilige als eine Art Potenz definiert, als Macht, Kraft und Intensität, die zu den unterschiedlichsten Metamorphosen fähig ist – und somit über das Verhältnis Mann-Frau hinausgeht. Es ist nicht von ungefähr, dass man in diesem Rahmen der Frau stets solche Eigenschaften wie Gewalt, Schönheit, Absolutheit zugeschrieben hat; das zählt zum klassischen Bild der Frau. Historisch gesehen hat es andere Ausformungen des Heiligen abgelöst, die sich zuerst an theriomorphen Gestalten, Mensch-Tier Verkörperungen zeigte. Bei Figurinen wie der Venus von Willendorf wird das Heilige aber bereits in einen anthropomorphen Kontext situiert – in Gestalt einer Frau eben. Sie verkörpert dann das Fruchtbare, die Erde – als transzendentale Gestalt. Der erste namentlich bekannte Gott war eine sumerische Göttin namens Inanna, die Göttin des Abend- und Morgensterns, (die spätere Venus also), zugleich aber auch die Göttin der Fruchtbarkeit, die Einfluss auf die Fruchtbarkeit eines Ackers und eines Feldes hatte, dazu der Sexualität und der Liebe, und darüber hinaus noch eine Göttin des Krieges. Das ist eine äußerst explosive Rolle, die auch nur in einem bestimmten Kulturkreis Bestand gehabt hat, nämlich im Nahen Osten: Da ist aus dieser Inanna die Ishtar der Babylonier geworden, aus dieser Ishtar die Astarte der Phönizier. Die Griechen haben sie daher übernommen – aber da sie eine sehr frauenfeindliche Gesellschaft hatten, wurde diese Potenz einer einzigen weiblichen Gestalt – die gleichzeitig Astronomie, Fruchtbarkeit, Sexualität, Liebe und Krieg, Gewalt und Aggression verkörperte – beschnitten und aufgespalten: Aus der Astarte wurden gewissermaßen Pallas Athene, Aphrodite und Artemis. Bei den Römern blieb davon nur mehr eine sehr blasse Venus übrig, die mit nassen Haaren aus dem Meer steigt, ansonsten aber relativ schal und schmal ist. Wenn man sich fragt, was davon im Mittelalter zu finden ist – da bleibt nur die Marien-Verkörperung übrig. Die Surrealisten versuchten, diese Figur wieder zu beleben – heute aber ist alles, was davon übriggeblieben ist, das Model auf dem Cover eines x-beliebigen Magazins. Madonna wäre da vielleicht noch ein mögliches Beispiel – aber sie ist halt auch nur eine Kommerzversion, eine oberflächliche Inszenierung. Es bleibt nur mehr ein Bild übrig, nicht aber die Haltung – das Rollenbild der Frau, wie es von Inanna einmal gespiegelt wurde, verkümmert zu einem hübschen Gesichtchen, ein bisschen Sex und Kosmetik. Man versucht nur mehr, etwas Äußerlichem zu entsprechen – zum maximalen Preis einer Schönheitsoperation. Das macht aber das Schönheitsideal heute so langweilig, weil es standardisiert ist – während die Spannung zwischen Ideal und Realem das eigentlich Interessante wäre, das was interessiert, weil es eigenständigen Charakter verrät. Je mehr ich aber einem hochgradig standardisierten Ideal – wie es Barbie zum Beispiel darstellt – zu entsprechen versuche, desto austauschbarer wird alles – im Sinne von Walter Benjamins Begriff des Auratischen und seiner Marktmechanismen. Es geht hier um die Reproduzierbarkeit eines Ideales, während die Liebe sich doch ihr Ideal selbst schafft und aus den Abweichungen erst seine Gestalt entwirft. Die femmes fatales der 1920er oder 1930er Jahre dagegen – Kiki, Gala, Alma – waren weniger ,schön‘ als interessante Persönlichkeiten, eigenständige Charaktere. Und was haben wir jetzt? Ein sehr anämisches Bild, das in seiner ebenmäßigen Symmetrie kaum noch Konturen besitzt und in seiner Hypersexualisierung schon beinahe asexuell wirkt. Und bei diesem Aspekt müsste nun die eigentliche Analyse beginnen…

Kasaty: In Ihrem Buch Die Wüste Lop Nor (2000) erzählt Raoul seiner Partnerin Arlette eine Liebesgeschichte zwischen der Sichel des Mondes und dem Maler Sha-Shan-Ze, in der der Traum von der Liebe in Erfüllung geht. Sind Sie der Erzähler, der Raoul?

Schrott: Das Buch hat einen doppelten Boden. Der Protagonist ist weniger ein passionierter Charakter als ein obsessiver, der nur ein einziges Objekt der Begierde – seine ,Singenden Dünen‘ – im Kopf hat, und dem die Frauen deswegen eine nach der anderen davonlaufen, ohne dass er begreift, warum. Einen unsympathischen Protagonisten als handlungstragende Figur einzusetzen, ist in einem Buch jedoch schwierig, weil man sich mit ihm als Leser ja zunächst identifiziert. Deswegen habe ich ihm meinen Vornamen gegeben – um die üblichen biografischen Kurzschlüsse einmal erzählerisch auszunutzen… denn es stellt sich erst in den letzten Kapiteln heraus, dass dieser ,Raoul‘ nicht das erzählende ,Ich‘ ist – und ich bin es schon gar nicht. Dem gegenüber aber zeigt das Buch auch das Positive auf, die gelungenen Augenblicke der Liebe – wie sie von einem Cri-Cri, einem Stein oder einem Pinienzapfen symbolisiert werden. Und dann ist es die Definition der Liebe anhand von naturwissenschaftlichen Exkursen als Allegorie. Über die Physik des Sandes zu schreiben – wie sich Dünen aufbauen, wie sie wandern oder bleiben, unter welchem Winkel sie abbrechen etc. –, heißt über die Liebe zu reden, mit einer Konkretheit, die sonst schwer möglich ist.
Über mich selbst schreiben, über das, was ich selbst erfahren habe, mag ich dagegen nicht – auch weil das Schreiben über Autobiografisches eine Eindeutigkeit verleiht, die ich gar nicht will.
Für mich hat das Schreiben eher damit zu tun, in Biografien Anderer zu schlüpfen.

Kasaty: Können Sie darauf noch näher eingehen? Auf das Verhältnis von Biografie und Fiktion?

Schrott: Was Literatur präsentiert – insbesondere die Poesie – ist Form. Und jede Form objektiviert und verändert auch, was heißt: Sobald ich mich der Sprache bediene – die ja generisch ist, von allen geprägt –, wird alles Subjektive umgewandelt; die poetische Diktion und ihr Formenrepertoire verstärkt dies noch und lässt so ursprünglich Privates zu Exemplarischem werden, das dann hoffentlich für viele gültig ist. Das Subjektive existiert dann nur mehr im Anlass und Versuch, etwas Objektives auszusagen. Insofern ist die Verwechslung von Autor und Ich-Erzähler ein Kurzschluss, der falsch ist – und den ja auch in der Malerei oder der Kunst kaum jemand so zieht. Trotzdem wird man permanent damit konfrontiert, was wahrscheinlich an dem Irrglauben liegt, Sprache wäre weniger ein Artifizium als Töne oder Farbe.
In meinem ersten Roman wollte ich etwa über einen Mann schreiben, der weiß, dass er bald sterben wird, um abzutasten, wie man mit dem eigenen Tod fertig werden kann. Die Krankheit wurde sehr dezent und diskret eingesetzt, die Vokabel „Aids“ fällt kein einziges Mal. Trotzdem wurde ich nach jeder Lesung – einmal mehr, einmal weniger durch die Blume – gefragt, wie lange ich noch zu leben hätte, und auf Homosexualität angesprochen. Das verblüffte mich umso mehr, als ich Literatur ja für ein allgemein anerkanntes Maskenspiel hielt – und eigentlich nie mit einem Bekenntnischarakter in Verbindung gebracht habe. Das war etwas naiv – aber das Tagebuchschreiben ist mir auch schon deshalb zuwider, weil ich nicht der Buchhalter meiner selbst sein will. Für mich ist das Schreiben weit eher ein Instrument, um Welt zu (v)ermessen.

Kasaty: Ist nicht mal bei Gedichten der Anlass biografisch?

Schrott: Bei den Gedichten ja. Es ist immer ein Versuch, über ein Gedicht diesen einen Augenblick des „Glücks“ zu rekonstruieren, der eine Art von Totalität suggeriert hat, bei der man selbst im Mittelpunkt einer Welt stand, die sich überall zum Kreis schloss – wie man glaubte. Das Biografische ist dabei aber immer mit einem Anspruch auf Realität verknüpft: Deswegen sind die Gedichte immer datiert – um zu zeigen, auf welchen Ort zu welcher Zeit sich das Gedicht bezieht. Das Reale an diesen Gedichten ist nachprüfbar – sie wollen zumindest kein fiktives Konstrukt sein. Der Maßstab, an dem man das misst, ist jedoch man selber – ich kann beim Gedichtschreiben nicht anders, als auf meine eigenen Emotionen zurückzukommen und sie zu sezieren, da bleibe ich in mir. Was aber daraus wird, ist eine ganz andere, zum Realen und Objektiven hingewandte Geschichte…

Kasaty: Viele Schriftsteller berichten, dass ihr Schreiben oft mit einem fertigen Gedanken, einem ersten Satz oder aber mit einer initialen Situation anfängt, die sie sich einprägen und um die sie dann weiter herumschreiben. Wo liegt bei Ihnen der Anfang einer Geschichte, eines Romans?

Schrott: Bei mir ist es selten ein erster Satz, eher habe ich einen Titel im Kopf – oder das Ende. Finis Terrae saß mir bei meinem ersten Roman wie ein Leitgedanke im Hinterkopf, und mit jedem Satz, mit jeder Seite habe ich versucht, mich dem Rätsel – das dieser Begriff darstellt – immer wieder aufs Neue zu nähern, immer wieder andere Tangenten an seinen Kreis zu legen, um einen Mittelpunkt zu eruieren, der letztlich illusorisch bleibt. Bei den Gedichten geht es mir ähnlich – erste Sätze ergeben sich meist von selbst. Eine Phobie vor dem weißen Papier oder die sonst üblichen Schreibblockaden kenne ich nicht. Wenn mir nichts einfällt, dann wechsele ich eben das Genre und übersetze, schreibe ein Theaterstück oder recherchiere für den nächsten Roman – mir geht es um dieses Vielfältige, auch um das Spielerische dabei. Jede Gattung schafft dabei auch immer einen anderen Zugang zur Welt, nimmt sie mit anderen Regeln und Normen wahr, setzt andere Denkweisen und einen anderen Umgang mit Sprache voraus. Theaterstücke zu schreiben, heißt mit ganz anderen Mitteln und unter völlig anderen Aspekten etwas auf die Bühne zu stellen – und eben nicht darzustellen wie in einem Gedicht oder zu erzählen wie in einem Roman. Was Romane betrifft, so interessiert mich dabei die Psychologie von Figuren, das Problematische an ihnen. Der Aufwand beim Schreiben ist dabei groß – man beginnt, sich quasi jeden Tag von neuem wieder in eine andere, von mir selbst völlig verschiedene Figur, hineinzudenken. Beim Schreiben habe ich wirklich das Gefühl, dass sie fünf Meter entfernt von mir im Raum steht, und ich mich in sie hineindenken muss, von hinten in sie hineinkriechen, ihre Haltung einnehmen, den Bauch einziehen oder mich lang machen, und durch die Augen ihres Gesichts wie durch eine Maske schauen und mit ihrem Mund reden, mit ihrer Sprache. Das ist immer die eigentliche Herausforderung beim Schreiben. Was mir gleichzeitig hilft, diese Figuren zu erfinden – im Sinne von definieren, identifizieren, sie mir vorstellbar machen – ist ihre berufliche Tätigkeit. Ich könnte mir z.B. nicht vorstellen, über einen Naturwissenschaftler zu schreiben, der sich mit dem Nordlicht beschäftigt, ihm aber bloß ein paar banale Sätze über die Aurora in den Mund zu legen. Und je mehr sich einer mit seiner Arbeit identifiziert, desto selbstverständlicher wird für ihn das Fachwissen, über das er verfügt. Das ist für mich eine Gelegenheit, um es auszubreiten – und es Welt transportieren zu lassen. Das finden manche Kritiker vielleicht mühsam – nicht aber ein unvoreingenommener Leser. Über Seefahrt zu schreiben, bedingt beispielsweise für mich, dass das Vokabular vorhanden sein und richtig angewendet werden muss. Auch für mich als Leser sind Worte, die ich nicht verstehe, dann ein Anlass, mir darunter etwas vorzustellen – vom Klang her; oder ein Anlass, zum Lexikon zu greifen, um nachzuschauen, was dieses Wort bedeutet. Jedes Wort wird dann zum Schlüsselloch für eine andere Welt. Die Aufgabe des Schreibens dabei ist, diese Tätigkeiten, auch Fachbereiche, Spezialisierungen, möglichst anschaulich und einprägsam zu machen, sinnlich zu schildern – das ist die Schwierigkeit. Es ist jedes Mal eine ebenso große Herausforderung wie die Psychologie der Figur. Und man gerät dabei öfter in ein Dilemma zwischen Fakt und Fiktion. Die Geschichte Tristan da Cunhas etwa ist eine sehr labyrinthische – ein komplexes Wechselspiel von Episoden. Von der Dramaturgie her ist so etwas schlecht, weil ihm – wie jeder Wirklichkeit – der klar nachzuzeichnende ballistische Bogen fehlt. Gleichzeitig aber ist der Reiz und die Herausforderung für mich größer, dem Komplexen des treu zu bleiben und nicht fiktiv zu verkürzen und zu simplifizieren. Ich will mich an die Dramaturgie des Realen halten, auch weil dies interessanter ist als das, was man sich selbst einfallen lassen kann. Eigene Einfälle finde ich zumindest immer viel weniger komplex, berechenbarer als die Realität mit all ihren verschiedenen Ebenen. Sich am Realen abzuarbeiten aber heißt, einen roten Faden durch das Labyrinth zu ziehen. Doch wie? Rückwärts gedacht führt alles stets zu einem Ziel; vorwärts gedacht, ist alles nur im Bereich des Möglichen verhaftet. Beides miteinander in Deckung zu bringen, ist schwierig. Vor die Wahl zwischen Fiktivem und Faktischem gestellt, bleibe ich aber lieber bei letzterem.

Kasaty: Das bedeutet, dass Sie doch den realen Hintergrund mit den fiktiven Elementen verbinden. Es handelt sich um kein eindeutig realistisches und kein rein fiktives Schreiben.

Schrott: Nur insoweit, als Fiktion dann ein aufs Wesentliche gebrachtes Faktisches ist. Bei der Dichtung ist es anders – ein Gedicht lässt sich nicht fingieren.

Kasaty: Wie ist bei Ihnen die Relation zwischen dem ursprünglichen Schreiben und der kritischen Arbeit am Text? Wie arbeiten Sie an der Form?

Schrott: Ohne Hinsetzen geht gar nichts… – und meistens fällt mir am Vormittag noch wenig ein; je flüssiger ich aber im Denken werde, desto leichter schlüpfe ich in die Figuren. Ganz selten schreibt sich alles wie von selbst, und ich weiß während des Schreibens schon, dass es gut wird und hab dann nur die Angst, ich müsste pinkeln, weil durch die Unterbrechung der Faden reißen kann: Es ist eine Art von nüchternem Rausch, der so schön ist wie er selten ist. Ansonsten aber ist das Schreiben eher Knochenarbeit; man setzt einen Satz an den anderen und weiß noch nicht, ob der nächste Satz nach rechts oder nach links geht oder überhaupt woanders hin. Bei den Korrekturen dann muss man dieses Überstehende, diese Gussgrate abschleifen. Das Schleifen selbst ist eigentlich der angenehmste Teil der Arbeit – das Bearbeiten und Lektorieren des Textes, von der Stilistik bis zum Layout. Das ist dann ein wirkliches Umsetzen einer Idee (während die Idee auszutragen oft eine schwere Geburt ist). Bei der Korrektur arbeitet man analytisch und kalt, während des Schreibens dagegen muss man sich quasi alles aus der Nase ziehen, fühlt sich oft leer, vollkommen ausgepresst, hat nie das Gefühl der Befriedigung – ich rede von der Prosa –, weil die darzustellenden Figuren weit von mir entfernt sind und ich nie weiß, ob ich sie richtig im Griff habe. Das zeigt sich erst in der Retrospektive. Wenn ich mir die Texte im Nachhinein durchlese, bin ich oft überrascht, was die Figuren alles sagen, weil ich dann wieder ich geworden bin und nicht mehr in an diesen Figuren drinnen stecke. Manchmal graust einem ja schon beim Aufwachen der Gedanke – jetzt muss ich wieder zurück zu der und der Figur, wo bin ich bei ihr stehen geblieben, ich muss ja noch ein paar Monate in ihrer Haut stecken, bis ich sie wieder wechseln kann, ich stecke in ihr wie in einer Zwangsjacke – und das bei einer Figur, die oft wenig Angenehmes hat, die man aber trotzdem ,leben‘ muss.
Bei Gedichten dagegen ist es meine Stimme, und da ist Lust am Umgang mit der Sprache, eine gesunde Spannung und die Sicherheit, dass sich alles, was ich schreibe, auf mich beziehen kann. Ein Gedicht ist überblickbar und weit in sich geschlossener als Prosa – daher ist auch das Erfolgserlebnis größer als bei Prosa, ein Augenblick des Glücks, wenn man es sozusagen aus der Schreibmaschine ziehen kann. Nicht zuletzt deshalb werden Dichter sehr viel älter als Schriftsteller…

Kasaty: Was ist Sprache für Sie? Welche Definition für Sprache liegt Ihnen heute am nächsten?

Schrott: Ich glaube eher, dass die Sprache in der Literatur eher eine Art Suggestionskunst ist – es geht immer darum, die richtigen Worte, die richtigen Satzstellungen zu finden, um genau eine Art von Emotionellem auch Logischem, – eine Art von Eindruck und Erfahrung – weiterzuvermitteln – und das im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Das Kriterium ist letztlich nicht, was für mich richtig ausgedrückt ist, obwohl das eben auch ein Hauptpunkt für einen Schriftsteller ist, sondern dass ich mich so klar ausdrücke, dass es den Leser erreicht – das ist wahrscheinlich die entscheidende Instanz.
Dieses Sich-der-Sprache-Überlassen und Mal-Sehen-wie-weit-die-Sprache-reicht merkt man oft bei jungen Dichtern; man liest das Gedicht nur, um sich dann zu fragen, wovon denn überhaupt die Rede ist – und warum man sich mit jedem seiner Adjektive herumschlagen soll? Das macht den Freiraum der Dichtung aus – wie gleichzeitig auch das Beliebige. Die feine Grenze dazwischen zu erkennen, ist schwierig, besonders wenn man jung ist. Mangelndes Sprachgefühl aber ist indiskutabel. Seit zehn Jahren sitze ich jetzt in der Jury des Leonce-und-Lena-Preises und bin jedes mal wieder erstaunt, wie so etwas Grundlegendes wie Idiomatik falsch eingesetzt wird – das ist, als gäbe man sich als Musiker aus, ohne überhaupt einen C-Dur-Akkord sauber aufgreifen zu können. Es ist ein permanenter Mangel an Sprachumgang, Sprachkritik, auch an Selbstkritik – und vielleicht will man Sprache laufen lassen, um sich in etwas einzuschreiben, was unvorhersehbar ist. Das Überraschende daran, worauf man dann stößt, das Entdecken und Finden, auch der Zufall dabei, ist das, was beim Leser ankommt.
Aber es bedarf – wie bei jeder Arbeit – einer motivierten Ökonomie. Da ist Sprache wie Geld. Sie ist eine von allen benutzte Tauschwährung, die leicht abgegriffen, ersetzt und neu denominiert wird, sie ist der Inflation und der Deflation unterworfen. Aber das heißt – im Gegensatz zur Musik, die ihre absoluten Töne hat, auf die man sein Instrument stimmen kann, oder der Malerei, die klar fixierte Farbwerte einsetzen kann –, dass man als Schriftsteller nie ein Instrumentarium benützt, das objektiv für sich besteht. Ich bekomme andauernd ein von einem Kollektiv von Menschen geschaffenes Material vorgesetzt, Massenware, aus der ich dann was Einzigartiges machen soll. Zum einen erhält jede Aussage dadurch etwas über das Individuelle Hinausgehendes, Quasi-Objektives, auf der anderen Seite aber werde ich das Abgegriffene nie ganz los – und das ist wohl der Hauptgrund, weshalb bei Dichtung ein kritischer und konziser Umgang mit Sprache Voraussetzung ist – um dann aber wieder die damit auftauchende Pedanterie zu unterlaufen. Es ist ein ewiger dialektischer Prozess zwischen Normierung und Anarchie, der den eigentlichen Spielraum der Poesie bestimmt.

Kasaty: Ihre Sprache ist mitreißend und gewaltig. Treibt sie Sie auch manchmal in eine Art Enge oder Verzweiflung? Suchen sogar Sie bisweilen nach dem vermeintlich einzig richtigen Wort?

Schrott: Nein. Es nervt nur, wenn man weiß, dass ein Satz noch nicht sitzt und der zündende Funke in ihm fehlt. Jetzt zum Beispiel saß ich an einem Gedicht über Fußball, seit ein paar Tagen schon an vier Zeilen – aber erst heute Nachmittag ging’s plötzlich ruckzuck. Jetzt kommt aber wieder die Frage, ob das wirklich passt? Vielleicht erst in einem Monat oder einem Jahr, wenn ich wieder darauf schauen werde, kann ich sagen, ob es stimmig ist oder nicht – aber wem geht’s nicht so.

Kasaty: 14 Stunden am Stück am Schreibtisch zu arbeiten – wie Ihnen nachgesagt wird –, ist eine außergewöhnliche Leistung. Wenn Sie nicht gerade reisen, arbeiten Sie abgeschottet von der ganzen Welt in Cappaghglass. Mich würde interessieren, ob Sie besondere Ruhe- und Schutzzonen zum Schreiben benötigen und wie Sie arbeiten?

Schrott: Solange Rückgrat und Bandscheiben es erlauben. Beschäftigung mit einem Thema hat etwas Dominierendes für mich. Ich kann mich sehr gut konzentrieren – und bin ich einmal in einer Figur, will ich nicht unterbrochen werden. Beim Schreiben gibt’s für mich nur ein Entweder-Oder. Ich könnte nicht nur morgens ein wenig schreiben, so zwei Stunden, dann den Briefwechsel erledigen, spazieren gehen, kochen, mich den Kindern widmen und mich dann abends für weitere zwei Stunden hinsetzen. Ich brauche größtmögliche Intensität beim Arbeiten, und die ergibt sich nur dann, wenn ich mich voll und ganz auf die Figur und auf das Thema, auf das, woran ich arbeite, einlasse. Das ist dann auch eine Art Abwesenheit von mir selbst. Das ist eins der schönen Dinge beim Schreiben, man sitzt am Schreibtisch und draußen vor dem Fenster wird Sommer, Frühling, Herbst und Winter, und man ist mit dem Buch immer noch nicht fertig, aber man hat diesen Ersatz, dass man andere Figuren lebt, andere Leben lebt, über andere Leben Rechenschaft ablegt. Vielleicht schreibe ich deshalb Romane nur alle sieben Jahre. Aber es gibt Dinge, die sich als Gedicht nicht machen lassen, die man erzählen muss. Trotzdem geht es mir bestens, wenn ich einen Monat lang keine Seite schreiben muss; ich leide nicht unter Schreibentzug, bei Gott nicht – Schreiben ist ein Beruf, nicht mehr, nicht weniger, keine Lebenseinstellung. Abgesehen vom Poetischen kann man auch Dichter sein, wenn man keine Zeile schreibt – zumindest war das immer noch die beste Art der Poesie – die am Leben geübte.

Kasaty: Viele Schriftsteller benötigen zum Schreiben die Einsamkeit, und gleichzeitig beklagen sie sie. Thomas Mann sagte einmal, dass das Schreiben eine Art Lebensverzicht sei…

Schrott: – ein Lebensentzug. Man gewinnt aber dadurch Zugang zu neuen Welten, man formt sich dabei jedes Mal anders – ich habe dabei das Gefühl, als wäre das ,ich‘ nur eine Wolke von Molekülen, die sich leicht in verschiedensten Formen sammeln kann. Jedes Mal eine andere Form anzunehmen, ist etwas Schönes – was aber mein Leben betrifft, fahre ich weit lieber nach Neu Guinea: Das Faktische der Erfahrung ist mir lieber als das Fiktive.

Kasaty: Haben Sie auch eine eigene Definition für Literatur? Eine erneute Diskussion über Bedeutung und Funktionen von Literatur wurde ca. 1968 ausgelöst. Damals verkündete man, Literatur sei überflüssig und bedeutungslos, es sei denn, sie diene der unmittelbaren Vorbereitung politischer Praxis. Den genauso einseitigen Gegensatz dazu bildete die These, dass Literatur l’art pour l’art sei, also selbstgenügsam in sich/um sich kreisende Kunst. Was ist Literatur für Sie? Welche Funktionen, welche Bedeutung hat sie für Sie?

Schrott: Literatur ist nur ein Segment der Kultur: Hoheitsanspruch kann sie da nicht stellen. Aber wozu Kultur gut ist – da fällt mir immer nur die Analogie zu den Sternen ein: Sie sind, wenn man nachts hochschaut, bloß ein vollkommen willkürlicher Haufen von Lichtpunkten. Darin aber Konstellationen zu entdecken und ihnen somit eine Gestalt zu verleihen, ihnen einen Namen und eine Geschichte zu erfinden, heißt letztlich – aus aller kosmischen Indifferenz eine humane Differenz zu machen. Das ist das Spiel der Fiktion, die jede Art von Kultur antreibt. Insofern definiert auch Literatur für mich Welt in menschlichen Termini; sie bringt das, was in der Natur oder im Alltag bloß ansatzweise erkennbar oder vorhanden ist, zu einem Schnittpunkt, der ,Mensch‘, ,Protagonist‘ oder auch ,Ich‘ heißt. Vergnügen an einem Buch besteht ja darin, dass zwischen zwei Buchdeckeln alles mit allem in Bezug steht, während in einer rein dokumentarischen Aufzeichnung eines Lebensabschnittes nur sehr wenige Dinge miteinander korrelieren. Dieses Definieren bedeutet, dass man etwas zu Ende bringt, dass man es abschließt – im Sinne einer Vollständigkeit und Vollkommenheit, die jedoch illusionär bleiben muss, weil jede Art von Vollkommenheit und Vollständigkeit absurd wäre, eine contradictio in adjecto ihrer Bedingungen. Nicht zuletzt deshalb bleibt Literatur bloß Zeitvertreib; den Menschen bessern kann sie nicht.

Kasaty: In den 1990er Jahren hat die deutschsprachige Literatur zahlreiche neue Gesichter bekommen und fand auch international in neuer Weise Beachtung. Wie würden Sie die Veränderungen nach 1989/1990 zusammenfassen?

Schrott: Hinsichtlich der deutschen Literatur bin ich der Meinung, dass sie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sehr viel besser geworden ist. Vor allem der Umstand, dass Ostdeutschland dazukam und einen Fundus von Geschichten mitbrachte, die Notwendigkeit des Erzählens als Form der Bewältigung demonstrierte – das hat das zuvor meist gekünstelte Schreiben auf den Boden geholt, egal, ob es vorher politisch ambitioniert oder neurotisch motiviert war. Aber ich gebe gerne zu, dass ich die deutsche Literatur im Grunde nicht mag – es ist für mich eine Temperamentsfrage. Die Idee von Literatur war für mich weit mehr mit dem romanischen Raum verbunden, besonders was ihren esprit betrifft.
Davon unabhängig aber ist es ein trauriges Faktum, dass die deutsche Literatur im Ausland nicht wahrgenommen wird; das, was im englischsprachigen Raum aus dem Deutschen übersetzt wird, ist erschreckend wenig – während die Deutschen im Übersetzen Weltmeister sind. Das hängt mit der neuen lingua franca, dem Englischen, zusammen – und gewiss auch mit handwerklichem Nachholbedarf von unserer Seite.
Dabei wird klarer, dass es jetzt hier zwei Arten von Literatur gibt. Das Gros davon hat mit dem Erzählen zu tun, wo es darum geht, wer wen umbringt und wer mit wem ins Bett geht – und dann ist das Buch gelesen und basta, es sind quasi Einwegbücher, die man nie mehr wieder lesen wird. Dem gegenüber steht eine epische Tradition, die nicht nur der Unterhaltung wegen erzählt, sondern mittels Sprache einen Querschnitt an Welt bietet; diese Art von Literatur erhält aber erst beim zweiten oder dritten Mal Lesen richtig Gestalt. Das sperrt sich gegen den Konsum, ich weiß, weil es nicht sofort zugänglich ist und dadurch zunehmend an Publikum verliert – obwohl sie die nachhaltigste Form menschlichen Gedächtnisses ist. Dadurch aber, dass die Schulen vernachlässigen, Zugang zu ihr zu verschaffen – und man zugleich die jungen Courts-Mahlers à la Judith Hermann zum Maßstab dessen erhebt, was Literatur ist, verliert man die jungen Leser. Das Anspruchsvolle erscheint ihnen dann zu elitär, das Komplexe nur mehr kompliziert. Die Einwegbücher haben aber auch ökonomische Gründe – je gehobener der Lebensstandard, desto weniger braucht man Literatur. Das Existenzielle, das ihr eigentliches Thema ist, verkommt dann zum Zeitgeist; das Utopische ihrer Entwürfe zum Konsum; der Bezug zur Natur, den sie herstellt, zum virtuellen Erlebnis.

Kasaty: Wie würden Sie dabei den Literaturbetrieb in Deutschland charakterisieren?

Schrott: Zum einen dadurch, dass die Kritik bei uns – anders als sonstwo in Europa – carte blanche besitzt und sich nur durch die Spritzigkeit ihrer Formulierungen, nicht aber durch die Genauigkeit des Lesens auszeichnen muss. Sie muss sich vor niemandem rechtfertigen – redaktionelle Eingriffe sind selten – ja, sie braucht nicht einmal Höflichkeit zu bewahren: All das korrumpiert sie letztlich.
Denken Sie doch an das Jungstar-Phänomen der letzten Jahre. Ein Kritiker kann sich durch eine „Entdeckung“ einen Erfolg auf die eigene Fahne schreiben: Er hat dabei das Recht der ersten Nacht. So werden junge Autoren schon mit dem ersten Buch hochgeschossen, um mit dem zweiten dann, als die shooting stars, als die sie gehandelt werden, wieder wie Sternschnuppen zu verglühen. Dann ist die Braut einmal beschlafen und wird uninteressant. Das ist ein Extrem, gewiss, aber eines, das sehr viel Einfluss hat. Dem gegenüber aber stehen – ebenfalls einzigartig in Europa – die Buchhändler, die eine quasi aufklärerische Funktion erfüllen: Sie bringen die Bücher auf ihre Weise unter das Volk – nirgendwo sonst gibt es so viele Lesungen, die von Buchhändlern unter meist großen finanziellen Opfern veranstaltet werden. De facto lebt man aber gerade von diesen Lesungen. Die Einkünfte von Büchern sind nur ein Viertel dessen, was man durch Lesungen verdient – es gibt also eine Art Umwegrentabilität. Ein Gedichtband verkauft sich in der Regel unter 1.000 Exemplaren – nur die bekanntesten Dichter erreichen Auflagen von etwa 7.000 Stück. Aber selbst das ist noch lächerlich wenig und bringt an Tantiemen nicht einmal die Lebenshaltungskosten während des Schreibens ein. Aber nach einer Veröffentlichung kann man mit dem Buch im Gepäck auf Lesungen gehen, erhält Aufträge vom Theater oder Radio; so macht man sich einen Namen. Es ist ein Gewerbe, das einem sehr viel Vielseitigkeit abverlangt – nicht nur in den verschiedenen Genres, sondern auch, was den Vortrag betrifft. Die Performance des Vortrags hat ja mit dem Schreiben nur wenig zu tun – viel mehr mit Schauspielerei und Sprechkunst. Zu lernen, wie man Gedichte vorträgt, dazu habe ich lange gebraucht: Man kann sich ja nur durch Praxis die nötige Routine erwerben. Wie man vor einem Publikum auftritt, was ein Publikum hören will, womit ein Publikum etwas anfangen kann, was eine gelungene Lesung ist, was einen gelungenen Abend ausmacht, ist bei jedem Buch immer wieder neu herauszufinden. Daran ist nichts Schlechtes und auch nichts Prostituierendes oder auf Aufmerksamkeit Schielendes – das Publikum wird dann auch zu der Instanz, vor der man sich beweisen muss; es klopft einem auf die Finger – ehrlicher und unvorhersehbarer als die meisten Kritiker. Vorzutragen heißt dann, auf dem Prüfstand zu stehen.

Kasaty: Das Schreiben ist ein sich selbst verstärkender Prozess, der ungestörte Kontinuität braucht, um sich entfalten zu können. Ist es also nicht ablenkend, wenn nicht gar schädlich, ständig gestört zu werden – sei es durch Lesungen, sei es durch Vorträge, die zu halten sind?
Lenkt die ganze Show öffentlicher Auftritte nicht allzu sehr vom Eigentlichen, dem Schreiben, ab?

Schrott: Ja. Es ist schwer, sich für längere Zeit vom Betrieb zu absentieren, um Zeit zu finden, am Stück zu arbeiten; andererseits aber ist man oft froh, nach vier, fünf Wochen Arbeit wieder vom Schreibtisch wegzukommen. Es ist ein unruhiger Rhythmus. Arbeit, eine Lesereise, eine private Reise später, dann Interviews und dann wieder Arbeit. Es ist ein großer Wechsel zwischen Wochen, in denen man nicht spricht und nur arbeitet und sich nur darauf konzentriert, und dann wieder Wochen, in denen man jeden Abend woanders ist und permanent redet – dieses Entweder-Oder ist sehr extrem – es gibt keine Mitte dazwischen, zumindest habe ich noch keine gefunden.
Der Betrieb schluckt und frisst einen aber auch durch den Ehrgeiz, den er anstachelt, Rivalität, Konkurrenz, auch Neid – mit all dem wird man konfrontiert. Sich davon wieder abheben zu können und zu sagen, ich mache, was ich will und was ich kann, ist auch Luxus, bei dem ich nicht weiß, wie lange man ihn aufrecht erhalten kann. Ebenso wenig wie ich sagen kann, wie lange ich etwas zu sagen habe, was von Belang ist – trotz der langen Sätze, die ich dabei mache.

Kasaty: Und zum Schluss, nach unserem 267 Minuten langen Gespräch, möchte ich Ihnen noch eine Frage stellen: Was ist Ihnen lebenswichtig, Herr Schrott?

Schrott: Luft. Luft und Wasser. Luft, Wasser und Brot; Luft, Wasser, Brot und Salz…

Innsbruck, 30. Juni 2005, aus Olga Olivia Kasaty: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche, edition text + kritik, 2007

 

KOLBES SELBSTANSPRACHE
MIT SCHROTTS GRANDIOSER AUSSICHT
Du hast einen Fehler gemacht. K.

Du hast einen Fehler gemacht
und schaust nicht aufs Meer, ätsch!
Früh war die Stunde des Fehlers,
Grau war die Farbe der Welt.

Du nicht, mit deinem Fehler
(im Grunde Geschmacklosigkeit),
du hast die Welt nicht gefordert,
mit keinem Gedicht.

Du gingst auf dein Außenklo
und drin lag die, immer eine
blind so wie du und hereingestolpert
wie du viel zu früh, früh sag ich.

Die Farbe der Häuser und Karren
war Grau, nicht drinnen noch draußen
Fehler zu machen, nur Kinder.
Nenn einer 1 + 1 = 3 einen Fehler.

Du hast einen Fehler gemacht,
wie du da stehst. Hallo! Hörst du
mich mit deiner Aussicht? Ich hab
meinen Pißpott immer geliebt.

Uwe Kolbe

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&D + ÖM + KLGIMDb +
PIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.

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