René Char: Poesiealbum 74

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von René Char: Poesiealbum 74

Char/Sagert-Poesiealbum 74

DIE BURGHERREN VON MAUSSANE

Einer nach dem andern haben sie uns eine glückliche
aaaaaZukunft vorhersagen wollen,
Mit einer Sonnenfinsternis mit ihrem Maß und aller
aaaaaAngst, wie sie uns gebührt.
Wir haben diese Gleichheit von uns gewiesen,
Ihren eifernden Worten ein Nein entgegengesetzt.
Wir sind der Schotterstraße gefolgt, wie unser Herz
aaaaasie sich vorgezeichnet hatte,
Bis zu den Ebenen des Windes und der
aaaaaunvergleichlichen Stille.
Bluten ließen wir unsre heischende Liebe,
Ankämpfen unser Glück gegen jeden Kiesel.

Jetzt sagen sie, jenseits des Absehbaren
Sei ihnen der Hagel schrecklicher als der Schnee der
aaaaaToten!

Übertragen von Gerd Henniger 

 

 

 

Den Lesern

ist die Entdeckung eines Vokabulars vorbehalten, mit dem das Porträt eines eigenwilligen Mannes – eines Dichters – gezeichnet wird, energisch, von schöpferischer Ungeduld, unruhig, von erregender und bedeutender Kraft. Nichts provoziert ihn mehr als Unbeweglichkeit, daß heißt: das Hinnehmen, der Status quo, die Resignation… René Char oder die Jugend der Worte, der Welt… Man muß ihn lesen und immer wieder lesen, um in sich selbst nach und nach das Verhängnis alter Hindernisse zu spüren.

Yves Berger, Klappentext, 1973

 

(…)

Hart lastet auf jedem Tag die Apokalypse der Jetztzeit. Sie zeigt sie an mit ihren tragischen Wolken, ihrem bleiernen Licht. Nun vermag Char gerade im schlimmsten Sturm seinen Mitmenschen am stärksten zu packen, seinem Dasein auf den Grund zu gehn, seine Angst zu teilen und ihn als Bruder zu lieben.

Die Ausübung des Lebens, etliche Kämpfe, zwar ausgegangen ohne Lösung, aber aus gültigem Anlaß geführt, haben mich gelehrt, die menschliche Person unter dem Himmelswinkel zu betrachten, dessen Gewitterblau ihr am förderlichsten ist.

Doch das Unheil, das er ankündigt und für das der Mensch verantwortlich ist, hindert ihn nicht, andererseits auf jenen heimlichen Gefährten zu zählen, zu dem er sagt:

Du bist in deinem Wesen beständig Dichter, beständig im Zenit deiner Liebe, beständig dürstend nach Wahrheit und Recht.

Dieser Mensch, der an das von sich weist, was ihn heute verfälscht, dieser „poetische Mensch“, muß mit Inbrunst und Kraft begabt sein. „Wir brauchen einen Atem, der Scheiben zerbricht. Und trotzdem einen Atem, den wir lange anhalten könnten.“
Wahrlich, Char ist ohne Illusion. Der Dichter hat teil an der Zerrissenheit menschlichen Wesens. Er kennt die Kraft und die Ohnmacht des Menschen. Er sieht ihn unstet, vereinsamt, zerbrechlich.

Bald üppig wuchernder Hügel, bald trostloser Fels, leichtes Obdach, so ist der Mensch, der liebe verwirrende Mensch.

Doch schöpft seine Ethik eine paradoxe Kraft aus dem Bereich, den sie der Verwundbarkeit anweist. Ja, gerade in dieser streitbaren Spannung findet er schließlich eine Kraft, die ihm Halt gibt: die „Gesundheit des Unglücks“.

Wenn ich soviel Achtung vor der Verwundbarkeit und Schwäche, der Bangigkeit und der Angst habe, so deshalb, weil die ersten nicht Macht über mich besitzen in dem Maße, wie die zweiten mich geprägt und genährt haben.

Vor dem Hause der Familie in L’Isle lag eine Wiese, die bis an den rauschenden Schilfrain am Ufer der Sorgue reichte. Heute liegen vor dem Fenster des Dichters ein Lavendelfeld mit zwei ehrgeizigen jungen Ölbäumen und der Horizont, der sich im glücklichen Lichte des Morgens verliert. Char liebt den Menschen:

Nur meinesgleichen, Gefährtin oder Gefährte, kann mich aus meiner Starre wecken, die Poesie auslösen, mich an die Grenze der alten Wüste schleudern, daß ich sie besiege. Kein anderer. Nicht Himmel, noch begnadete Erde, noch Dinge, vor denen man schaudert. Fackel, tanze ich nur mit ihm.

Der Dichter ist vor allem brüderlich. Nichts kann seine Liebe zum Menschen schmälern.

Der Mensch ist nur eine Blume der Luft, von der Erde getragen, von den Sternen verflucht, vom Tode eingeatmet; Hauch und Schatten dieser Verbindung heben ihn manchmal darüber hinaus.

Dem Menschen – „dem irdischen Menschen, dem Schreitenden, dem Bürgen, der Raum schafft“ – bietet Char die Dichtung, denn er kennt seinen Durst nach Gerechtigkeit und Wahrheit. Gabriel Bounoure schreibt, das Charsche Gedicht sei „durchdrungen von einer Bewegung zur Wahrheit“. Und weiter: „Die Bewegung zur Wahrheit, die Chars Gedicht beseelt, ist das Bedürfnis nach Totalität: das bedeutet, daß die Dinge bei sich selbst sind nur in der Poesie und daß die Poesie bei sich selbst ist nur in den Dingen, allen Dingen.“ So versöhnt der Dichter den „verwirrenden“ Menschen und die Schönheit, verleiht ihnen eine gemeinsame Sprache. Er schafft ein Gleichgewicht, das die Gegensätze des Menschen mit einbezieht und rings das Scheitern des physischen und menschlichen Universums wettmacht. In diesem Sinne ist der Dichter unablässig und instinktiv Verteidiger. „Man könnte sagen, die Poesie sei eigentlich die Welt an ihrem rechten Fleck“, hat Char einmal auf die Frage eines Journalisten geantwortet.
René Ménard hat darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, die Poesie vor Kompromissen und dem allzu Gefälligen zu bewahren:

Die Poesie – und ich finde (meiner Meinung nach) eine Definition dafür in einem Texte René Chars: „Dieser Augenblick: die Schönheit tritt, nachdem sie lange auf sich warten ließ, auf einmal aus den gewöhnlichen Dingen hervor, geht mitten durch unser strahlenhelles Feld, bindet, was gebunden werden kann, entfacht alles, was leuchten soll an unserer Garbe Finsternis“ – ist ein rein menschliches Gut, das es zu bewahren und, wo es gefährdet ist, zu retten gilt, selbst wenn man Zugeständnisse, die man dem Leben machen kann, opfern müßte.

Auf Fragen des Literaturkritikers antwortete Char mit dem Hinweis auf den hohen Anspruch der Poesie: „Es gibt Poesie oder Leben ohne Hoffnung. – Poesie: höchste Hoffnung; Existenz: relative Hoffnung.“ Und er führt den Gedanken fort:

Zu der Zeit, in der wir leben – und ich denke vor allem an jene, die in dieser eigentümlichen Hypnose leben, die aus dem Klima unserer Epoche erwächst – ist die Hoffnung tatsächlich die einzige wirksame Sprache und die einzige Illusion, die sich in gute Aktivität verwandeln läßt.

Das Unheil kann das tägliche Geschehen mit seinen trüben Farben überziehen, der Mensch kann stets vom schmutzigen Scheitern bedroht werden. Der Dichter verkündet, inmitten dieses Lebens, einen grenzenlosen Glauben:

Beim Bersten der Welt, das wir erleben, sind, o Wunder! die Stücke, die niederstürzen, LEBENDIG.

Zu dem doch so hinfälligen Menschen hat René Char Vertrauen:

Wir sind stark. Alle Kräfte sind gegen uns vereint. Wir sind verwundbar. Viel weniger als unsere Angreifer, die zwar das Verbrechen haben, doch nicht den ZWEITEN Atem.

Der „zweite Atem“, das ist die Geduld und der Einsatz René Chars und das, was in ihm weder Zweifel noch Unsicherheit aufkommen läßt, wenn man auch noch so sehr den Wert des Menschen und seinen Sieg in Frage stellt. Eine Rose, damit es regne. Das ist, am Ende unzählbarer Jahre, dein Wunsch.

Hoffnung braucht, um fruchtbar zu sein, weder Form noch Formel. Sie ist Elan, Steigerung, die uns immer zur Verfügung steht. Der eigentliche Antrieb der Ethik.

Zu leben vermögen wir nur im Halboffenen, genau an der hermetischen Scheidelinie von Schatten und Licht. Doch unwiderstehlich reißt es uns vorwärts. All unser Wesen leiht diesem Drange Hilfe und Rausch.

Die Hoffnung kehrt die Vorzeichen um. Sie ist für Char „das unzähmbare Gegenteil vom Schicksal“, all denen zugänglich, die nicht zögern, in schwersten Stunden darauf zu bauen.

Erst wenn du von Kummer trunken bist, spürst du vom Kummer nicht mehr als der Kristall.

Man muß sich ansiedeln außerhalb seiner selbst, am Rande der Tränen, dort, wo der Hunger kreist, wenn etwas Außergewöhnliches Wirklichkeit werden soll, etwas, das uns nur bestimmt ist.

Und der Dichter kann hinzufügen, nachdem er uns aufgefordert hat, uns eine „Gesundheit des Unglücks“ zu schaffen:

Sollte ihr gleich etwas anhaften von der Arroganz des Wunders.

Dies ist seine Herausforderung an die Gegenkräfte. Er weiß, daß sich dadurch, und vielleicht dadurch allein, aus dem Mittelmaß unserer Tage die höchste Triebkraft erhebt.

Die Wirklichkeit stillt zuweilen den Durst der Hoffnung. Deswegen lebt, wider alles Erwarten, die Hoffnung fort.

So macht es wenig aus, daß der Tag grausam, die Unterdrückung vollkommen und die Erde traurig und bitter ist. Für den Menschen gibt es eine Zuversicht, die ins Morgen strahlt.

Auf jeden Zusammenbruch der Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft.

—————

Häufiger als die anderen Bände beruft sich A une sérénité crispée auf jenes Unbekannte, das sich vor dem Menschen ausdehnt, das aber doch im Laufe der Zeit in ihm nur ein verblaßtes Bild erweckt.

Wer aber hüllt uns wieder in dies Unermeßliche, Dichte, wirklich für uns geschaffen, das uns von allen Seiten, ungöttlich, umflutete?

Es handelt sich um das menschliche Werden, diese mächtige Achse, die vom Vergangenen ausgeht und in die Zukunft weist, eine Kraft ähnlich der Schwerkraft im All und eine grenzenlos verfügbare Macht, die dem Künftigen das ganze Gewicht des Gewesenen zuweist. Das Werden, das immer mit der Tat verschwistert ist, ist zugleich deren Basis und deren Schwung.

Das Werden vollzieht sich einhellig in uns und um uns herum. Den Äußerungen der Natur ist es nicht unterworfen; es tritt zu ihnen hinzu und wirkt auf sie ein. Unversehrt sind die Verflechtungen der magischen Vorkommnisse, die sich dennoch vor unseren Augen abspielen können. Sie verwirrn und erweitern eine allzuoft schnöde Ordnung. Das Gefühl des Verhängnisvollen, die ununterbrochene Nähe der Gefahr und jenes Stück Dunkelheit, das wie ein großes Ruder ins Wasser taucht, halten die Stunde in Atem und uns in Bereitschaft auf der Höhe der Stunde.

In der Unruhe und Unsicherheit, in der wir uns befinden, spüren wir das Bedürfnis, der Gegenwart die Fülle ihres Sinns zu verleihen. Auf dem Inhalt des Vergangenen, seiner Sicherheit, beruht jene Zuflucht, für die Char mehr als jeder andere empfänglich ist. Doch er weiß Abstand zu halten von der Geschichte und ihr, wenn’s sein muß, ins unerbittliche Auge zu blicken.

Die Geschichte ist nur die Kehrseite der Haltung der Herrschenden. Sodann eine Erde voll Schrecken, wo der Lykaon jagt und die Viper Furchen reißt. Trauer ist im Blick der menschlichen Gemeinschaften und der Zeit, neben aufsteigenden Siegen.

Diese Beziehung auf die Geschichte rührt keineswegs von einer intellektuellen Forderung her. Der Dichter verläßt sich vielmehr auf eine Art von historischem Unterbewußtsein, auf einen Instinkt für die Vergangenheit. Keineswegs kann natürlich die Rede sein von einer herrischen Tradition, die dem Menschen auf den Wegen ins Abenteuer Einhalt geböte.

Verbrecher ist, wer die Zeit im Menschen anhält, um ihn zu hypnotisieren und ihm die Seele zu töten.

Die Einführung der Zeit in die Moral ist eine wohlüberlegte Maßnahme René Chars; sie macht den Kern seiner Ethik aus. Denn wo heute so mannigfache äußere Knechtschaft immer härter auf dem Menschen lastet, ist man sich darüber klar, daß die Freiheit nicht ohne Mithilfe, ja Mittäterschaft der Zeit aufblühen könne. Der Dichter bringt sie oft in Zusammenhang mit der Freiheit, die sich Raum schafft. So ist es nicht verwunderlich, daß er sie enthusiastisch begrüßt.

Herrscher Zeit! Wuchernde Gräser! Machtvolle Wanderer!

René Chars Dichtungen appellieren beständig an jenen Begriff des Werdens, der Sinnbild des Lebens und der Zeit ist, Bewegung, unerläßlich für die Vollendung des Menschen. „Die Poesie des Werdens“, schreibt G. Bounoure, „tangiert an ihrem Punkt äußerster Dichte und auf der Höhe des Augenblicks einige Ewigkeit.“ Das lautet beim Dichter:

Bewohnen wir einen Blitz, so ist er der Ewigkeit Herz.

—————

Man könnte in der Ethik René Chars vielleicht Züge einer Epoche sehen, die an das Tragische rührt, wenn die Leidenschaft nicht immer so gezügelt wäre und die Klarheit so überwältigend. Unmaß vermag hier nichts. Wenn Char an das Gute glaubt, so kennt er auch das Böse im Menschen. Doch er liebt ihn. Er glaubt, daß es immer, unter allen Umständen, einen Augenblick gibt, wo der Mensch antwortet. Für ihn verfügt der Mensch immer noch, selbst in der heikelsten Lage, über unerschöpfliche Hilfsquellen. In einer Zeit, in der man durchaus Befürchtungen für die nächste Zukunft hegen durfte, führte Char gegen alle Entmutigung die menschliche Hartnäckigkeit ins Feld:

Glauben Sie doch nicht, ich wolle über meine Zeit den Stab brechen. Nicht ohne Verantwortlichkeit und Skrupel beobachte ich, wie sie ihrem Schicksal verfällt, in dem wahrlich nicht die Großzügigkeit regiert, wahrlich nicht das Böse in harmlosen Grenzen bleibt. Aber ich weiß, daß mein Nächster, inmitten unzähliger Widersprüche, herzbewegende Kräfte besitzt. Man darf ihn nur nicht zwingen, bevor er sie anwendet, über sie zu erröten.

Warnen allein genügt nicht, wenn die höchste Gefahr droht, sagt Char. Man muß sich an die Menschen halten, an ihren Mut.

Ach! wenn jeder, edel von Natur und so bindungslos, wie er kann, sein eignes Gebirge erhöbe, gefährdend Habe und Herz, dann würde von neuem der irdische Mensch erscheinen, der Schreitende, der Bürge, der Raum schafft, während die Besten das Wunder säen.

Aber dann müssen sämtliche Vorzeichen wechseln.

Der ganze Unterbau ist trotzdem neu zu erfinden. Das verfehlte Leben ist neu zu fassen mit dem ganzen Gold des verlöschenden Gestirns und mit dem Versprechen des Wiedererweckens, nacheinander.

Unter den verfügbaren Mitteln reicht die bloße Geduld nicht aus. Eine umfassende Weigerung ist dem gegenwärtigen Stand der Revolte angemessen.

Immer wenn man uns zwingen will, mit unseren besten Möglichkeiten, mit unserer Moral zu brechen und uns in ein vereinfachendes Schema zu fügen, mahnt uns das, was dem Menschen nichts schuldet, aber uns wohlwill: Aufruhr, Aufruhr, Aufruhr…

Die Revolte, man sollte besser sagen der Aufstand, da er mehr Heftigkeit fordert, ist die natürliche Bewegung des Herzens und der Poesie; sie richtet sich gegen jeden Konformismus, sie vermag dem Menschen die Kenntnis und den Gebrauch seiner Kräfte wiederzugeben. Die Dichtung verleiht ihm diese „aufrührerische Ordnung“, die der Dichter aus innigster Erfahrung kennt. Revolte in ganzer Reinheit, deren Glanz weder Trübung noch Erbitterung noch Niedertracht entstellen:

Die wahre Gewalt (die Revolte ist) hat kein Gift.

Sie schützt den Menschen, richtet ihn auf, einzeln oder geschart, angesichts der feindlichen Kräfte und bewahrt ihn vor völliger Entmutigung.

Wie kommen wir, angegriffen von allen Seiten, zerbissen, gehaßt, gerädert, trotzdem dazu, zu genießen, aufrecht, aufrecht, aufrecht, mit all unserm Abscheu, mit unseren Lenden?

„Aufrecht“, dieses Wort, das Char dreimal nennt, ist wie ein Echo auf das dreifache „Aufruhr“ im eben zitierten Satz aus „Rougeur des Matinaux“. Hier finde ich die beiden Pole der Revolte, zugleich Anlage des Menschen und Verpflichtung für den Menschen, Mahnung und Notwendigkeit. Das Recht und die Pflicht zur Revolte. Sie ist so etwas wie ein unantastbarer Vorzug, eine unkündbare Berufung, eine unerläßliche Forderung, die unterschiedslos gegen jede Art von Zwang einzuschreiten nötigt.

Wir wachsen in offener Revolte, fast ebenso zornig auf das, was uns mitreißt, wie auf das, was uns hemmt.

Aber die Revolte ist nur die Zuflucht der Freiheit. Wenn Char das Wort „frei“ viermal in einem Gedicht aufruft, gibt es eine unendliche Resonanz, gleich der Luft- und Lichttrunkenheit des Vogels:

Sommer, Fluß, Weiten, Liebende im Versteck, ein ganzer Wassermond – die Grasmücke singt und singt: „Libre, libre, libre, libre…“

Die Freiheit steht genau im Mittelpunkt der Charschen Ethik, sie bildet deren Kern. „Die Freiheit muß sich überall zeigen.“ Als letzt gültiger Wert, als Begründung des Menschen steht sie noch über seiner Würde und seinem Mut.

An Regentagen reinige dein Gewehr. (Was heißt, die Waffe, die Sache, das Wort instand halten? Freiheit von Lüge zu unterscheiden wissen, Tötung von Mord).

Man glaube aber nicht, die Freiheit sei bei Char leidenschaftlicher, unüberlegter Schwung, totale Freisetzung, Anarchie. Sie ist vor allem Kontrolle, Urteil und Sieg. Es kommt darauf an, den Menschen nicht mutwillig in Gefahr zu bringen, ihn nicht zu belasten, nicht seiner zu spotten. Die Freiheit ist ebenso sehr Verständnis des eigenen Wesens wie der anderen.
Fortschreitende Evidenz ist die absolute Richtschnur des Seins: das Freie und das Lebendige sind im Grunde so sehr eines, daß es in jedem Wesen so etwas wie ein heiliges Recht auf Widerspruch gibt, das alle Arten von Gegensätzen erlaubt. „Pro und contra sind unerläßlich“, hat Char bei einem Gespräch erklärt.

Der Vogel und der Baum sind in uns vereint. Der eine kommt und geht, der andre grollt und wächst.

Der Dichter ist der erste, in dem sich diese feindlichen Kräfte begegnen:

Ich liebe, ich nehme und ich gebe weiter. Ich bin Pfeil und ich tränke mit Licht den Gefangenen der Blume. Das sind meine Widersprüche, meine guten Dienste.

Der Dichter ist der Ursprung eines Wesens, das vorstößt, und eines Wesens, das innehält.

Weil die Freiheit die Grundlage seiner Moral bildet, sind die Gegensätze darin bewundernswert harmonisch eingebettet.

Niemals endgültig ausgeformt, schließt der Mensch sein Gegenteil in sich ein.

Dieser eine Satz aus Feuillets d’Hypnos enthält, glaube ich, in hohem Maße den Leitgedanken Chars. Wie er nämlich gegen die Verfolger und Henker ist, so ist er auch gegen alles Zerreißen, Zerbrechen und Ausrotten. Die Dinge und die Wesen müssen sich im Lauf der Zeit unablässig ausformen. Diese schwierige Arbeit findet nie ein Ende. Die Formen werden immer wieder nachgebessert, durch das Spiel der Kontraste ergänzt. In ihnen sieht er, schreibt Char von Heraklit, „die vollkommene Voraussetzung und den unerläßlichen Motor, um Harmonie zu erzeugen“. Und aus diesem Grunde ist seine Freiheit eher duldsam als aggressiv.
So ist der Dichter überzeugt, daß die Ausübung der Freiheit dem Leben, seiner Mannigfaltigkeit, seinen Widersprüchen zugute kommt.

Wer der Sonnenblume vertraut, wird nicht im Haus meditieren. Alle Gedanken der Liebe werden seine Gedanken.

Hinwegspringen über die Wirklichkeit kann man nur, wenn Sie emporragt.

Der Dichter geht niemals und auf keine Weise sparsam mit dem Leben um. Er ist ein Verschwender.

Man muß seine Leidenschaft unversiegbar machen, zweideutigen Entmutigungen zum Trotz, und wie dürftig die Befriedigung sei.

Char steht weder auf der Seite der Lauen und Sparsamen noch der Zaghaften:

Was zur Welt kommt, um nichts in Aufruhr zu bringen, verdient weder Rücksicht noch Geduld.

Die Menschen müssen, gleichsam auf endlosen Straßen bis an den Horizont, nachdrücklich ihre Chancen vorantreiben.

Das persönliche Abenteuer, das vergeudete Abenteuer, Gemeinschaft unserer Morgenröten.

Unaufhörlich appelliert der Dichter an die Unbändigkeit des Lebens. Diese Unbändigkeit ist keineswegs Verblendung. Wer mit Chars Werk nicht vertraut ist, könnte sich in der Tragweite dieser Botschaft irren, könnte glauben, sie leiste der Verwahrlosung des Individuums Vorschub. Aber der Dichter erklärt sich zur Genüge und läßt keine Zweideutigkeit aufkommen. Seine Klarsicht ist in jeder Beziehung unanfechtbar.

Weisheit ist nicht, sich zu scharen, sondern gemeinsam im Schaffen und in der Natur unsere Zahl zu finden, unsere Gegenseitigkeit, unsere Unterschiede, unsern Durchgang, unsere Wahrheit und dies Gran Verzweiflung, das darin Ansporn und Nebelschwade ist.

(…)

Pierre Guerre, aus Pierre Guerre (Hrsg.): René Char – Porträt & Poesie, Luchterhand Verlag, 1968

Vom Zauber schwieriger Lektüre

– René Char (1907–1988) mit Martin Heidegger (1889–1976). –

Wenn im Zusammenhang mit René Char – seiner Person, seinem Werk – von Philosophie die Rede ist, folgt fast unweigerlich der Hinweis auf Martin Heidegger, dem er über viele Jahre hin intellektuell wie freundschaftlich eng verbunden war.
Der dichtende Philosoph und der philosophierende Dichter als wortstarke Denkpartner?
Von wechselseitiger Beeinflussung oder gar Prägung gibt es kaum eine Spur. Die beiden Autoren hatten, als sie sich in den mittleren 1950er Jahren persönlich kennenlernten, wohl nur beiläufige Kenntnis voneinander, ausserdem hatten sie längst ihre eigene, unverwechselbare Statur und Stimme herausgebildet und waren auf Anregungen nicht mehr angewiesen, womöglich auch gar nicht mehr offen dafür. Char hatte sich international als „Dichterfürst“ etabliert und konnte es sich leisten, öffentliche Ehrungen abzulehnen, während sich Heidegger weithin – und speziell in Frankreich – als „Meisterdenker“ feiern liess.
Was beide einander zu sagen hatten, ist ebenso schwer auszumachen wie die Qualität ihrer gegenseitigen Sympathie: Auf welchem literarischen oder philosophischen Terrain konnten sie zusammenfinden? – Char, der einstige Partisanenführer im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht, und Heidegger, der einstige Mitläufer und Profiteur der NS-Diktatur? Es war der Dichter, der den Denker 1966 erstmals (und danach mehrfach) in seine provenzalische Heimat zu einem Symposion einlud, in eben jene Gegend, die er während des Weltkriegs als Kommandeur der Résistance gegen die militärisch weit überlegenen Okkupanten verteidigt hatte. Von Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus und dessen expliziter Judenfeindlichkeit scheint René Char kaum etwas gewusst zu haben – er hielt sie für einen kurzfristigen, durchaus verzeihlichen Irrtum, von dem das Heidegger’schen Denken in keiner Weise affiziert gewesen sei.
Dass dieser zeitgeschichtliche Hintergrund damals ausgeblendet blieb, ist durchaus bemerkenswert und lässt einerseits darauf schliessen, dass Char von seinen gut informierten Gewährsleuten (Jean Beaufret, François Fédier) darüber mit Absicht nicht aufgeklärt worden ist, andererseits darauf, dass er bei seinen mehrfachen Begegnungen mit Heidegger auf einer davon weit abgehobenen Gesprächsebene kommuniziert hat. Ob und inwieweit sich beide überhaupt verstehen konnten (wenn nicht über anwesende Kollegen, die als Übersetzer fungierten), ist fraglich. Mag sein, dass der sprachenkundige Philosoph die Originaltexte des Dichters einigermassen zu erschliessen vermochte, was umgekehrt bei René Char, der keine Fremdsprachen beherrschte, in Bezug auf Heideggers Schriften sicherlich nicht der Fall war. Die sprachlichen Verständigungsprobleme dürften auch der Grund dafür gewesen sein, dass sich zwischen ihnen keine briefliche Korrespondenz entwickelt hat, obwohl beide bekanntermassen engagierte Briefschreiber waren.
Sieht man Char und Heidegger auf zeitgenössischen Photos gemeinsam abgebildet, etwa beim Spazieren oder beim Boule-Spiel, gewinnt man den ambivalenten Eindruck, dass sich Gegensätze und Übereinstimmungen zwischen ihnen ungefähr die Waage halten: Hier der grobschlächtige, auffallend hochgewachsene, stets nachlässig gekleidete Südfranzose, der auch ein Landwirt, ein Weinbauer sein könnte; dort der kleinwüchsige, leicht gebückte Mann aus dem Schwarzwald, meist mit Sakko und Krawatte, oft mit Stock und schwarzer Mütze.
Was sie andererseits verbindet, ist ihre eingestandene Provinzialität, der intime Bezug zur heimatlichen Erde, zu Feld und Wald und Berg, und umgekehrt – die Ablehnung der Metropole, die Verachtung intellektueller Betriebsamkeit und aller modischen Aktualitäten; verbindend auch die produktive Zuwendung zur Bildkunst der Moderne (von Cézanne bis Braque und de Staël), generell die Privilegierung hoher Fragen und Probleme (Sein und Dasein, Sprache und Welt, Liebe und Tod) bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit für Nächstliegendes (dieses Haus, dieser Tisch, diese Schuhe, dieser Baum, dieser Stein, dieses Wort). Doch offenbar war René Char weit weniger an Heideggers Philosophie als an seiner Person interessiert – gelebte Freundschaft war ihm wesentlicher als Denkpartnerschaft.

Während gut zwanzig Jahren – von 1955 bis 1975 – waren Heidegger und Char in lebendigem, freilich nur sporadischem Kontakt. Im Sommer 1955 hatten sie einander durch Vermittlung von Jean Beaufret in Paris kennengelernt; danach weilte Heidegger einige Male kurzfristig in der Provence, bis ihn René Char 1966 nach Le Thor (unweit seines Wohnorts L’Isle-sur-la-Sorgue) einlud, wo er während mehrerer Tage – konsequent auf Deutsch – in engem Kreis über Parmenides und Heraklit referierte; das daraus erwachsene Seminar wurde mit wechselnder Thematik und wechselnder Teilnehmerschaft 1968, 1969 und 1973 fortgesetzt. Char seinerseits scheint diese Zusammenkünfte vorzugsweise als kollegiale Symposien beobachtet und begleitet zu haben. Das hegelianische Konzept der Philosophie als „Sonntag des Lebens“ kam in der Ausnahmesituation von Le Thor optimal zum Tragen – die Exklusivität des Elfenbeinturms und das weltoffene Idyll des Dorfplatzes, Feierlichkeit und Heiterkeit gingen hier zwanglos ineinander auf.
Ein anonymer Seminarteilnehmer berichtet (in „Seminare“, Heidegger GA, XV, 2005): „Es ist eigentlich unmöglich, die Stimmung dieser durchglänzten Tage wiederzugeben: die verhaltene Achtung und Verehrung der Teilnehmer für Heidegger, – sie alle tief durchdrungen von der Geschichtlichen Tragweite dieses umwälzenden Denkens; ebenso aber der gelöste freundschaftlich nahe Umgang mit dem Lehrer, – mit einem Wort: das südliche Licht, das heisst die gelassene Heiterkeit dieser unvergesslichen Tage.“ – Heideggers Irrungen als Universitätsrektor unter dem Regime der Nationalsozialisten waren offenbar schon damals völlig vergessen oder wurden dem „Gespräch“ zuliebe verdrängt, Fragen dazu gab es nicht, und Heidegger selbst, der die Seminare autoritativ nach eigenem Gutdünken lenkte, zog es vor, abgehobene Allgemeinbegriffe wie das Absolute, das Sein, das Seiende, das Nichtende, das Gestell, die Lichtung usf. in den Vordergrund zu rücken.
Philosophie im luftleeren Raum gewissermassen, ohne jeden Bezug auf aktuelle oder historische Realien, kompensiert vielleicht durch die kulinarischen und schöngeistigen Freizeitangebote René Chars. – „Heidegger und René Char sahen einander jeden Tag“, heisst es weiter im genannten Seminarbericht: „Oft kam es, in Begleitung Jean Beaufrets oder aller Teilnehmer, zu Besuchen in Les Busclats, Chars kleinem Haus. In der Werkstatt des Dichters oder unter der Platane im Freien führten sie ernste oder heitere Gespräche in einer zum Erstaunen offenkundigen Herzlichkeit.“
René Chars persönliche Wertschätzung für Heidegger war eigentlich von sekundärer Art: Er kannte und privilegierte ihn weit weniger als eigenständigen Autor denn als Exegeten des vorsokratischen Denkens sowie der Philosophie Friedrich Nietzsches, mithin genau jener Texte, die für ihn, den Dichter, schon früh zur Offenbarung geworden waren; und man sollte wohl hinzufügen, dass Char ausser Nietzsches Schriften und den Fragmenten der Vorsokratiker – jeweils in französischer Auswahl – kaum irgendwelche andern philosophischen Texte (ausser vielleicht den Gedanken von Pascal) ernsthaft zur Kenntnis genommen hat. „Ich lese und lese unentwegt die vorsokratischen Griechen“, berichtet er im PS zu einem Brief an Georges Mounin:

Heraklit, Empedokles, Parmenides… Sie verwahren den Schlüssel zur gesamten Zukunft des Menschen und zu dessen Ausdrucks- wie auch Aktionsmitteln…

Als zusätzlichen Grund für diese ausgeprägte Bevorzugung nannte er wiederholt den aphoristischen Charakter seiner Lieblingstexte und deren Nähe zum Gedicht, und mehr noch – Aphoristik und Lyrik hielt er als einzige Denk- und Ausdrucksformen überhaupt noch für zeitgemäss.
Von Heidegger konnte Char damals noch kaum etwas gelesen haben; ob er sich an dessen Hauptwerk Sein und Zeit versucht hat, das seit 1964 in einer unvollständigen französischen Ausgabe greifbar war, ist ungewiss, doch sicherlich hatte er durch Jean Beaufret indirekte Kenntnis von Heideggers Grundsatzrede zur Frage Was ist das – die Philosophie? (in Cerisy-la-Salle, 1955) und von seinen Vorlesungen in Aix-en-Provence über Hegel und die Griechen (1966). Die Seminare in Le Thor dürften für ihn die prägende Initiation in das Heidegger’sche Denken gewesen sein. Ob und inwieweit er bei jener Gelegenheit auch Heideggers sprach- und dichtungsphilosophische Schriften (Unterwegs zur Sprache, 1959) vermittelt bekommen hat, ist unklar; klar jedoch, dass er daraus manche Bestätigung für seine eigene Poetik hätte gewinnen können.
Denn was Heidegger in jenen Schriften – am lyrischen Leitfaden von Hölderlin, Rilke, George, Trakl – ohne jeden „Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“ darlegt, hat Geltung auch für René Char, wiewohl sich dessen Gedichte nicht eigentlich in den Heidegger’schen Kanon einordnen lassen. Und umgekehrt lässt sich manches von dem, was Char zur Sinn- und Funktionsbestimmung der Poesie zu sagen hat, unschwer auf die Philosophie übertragen. Diese wechselseitige Übertragbarkeit wird begünstigt durch die ebenso begriffsschwache wie bildstarke, bisweilen orakelhafte Ausdrucksweise, die der Dichter mit dem Denker teilt.
Dass zwischen Char und Heidegger bei aller geistigen Nähe eine letztlich unüberwindbare Distanz, wenn nicht Fremdheit bestand, hat Barbara Cassin aus dem Seminar von 1969 eindrücklich rapportiert: „Heidegger brachte uns das Denken der Griechen und die Wichtigkeit der Dichtung für das Denken bei. In seinem etwas emphatischen Deutsch beschrieb er den Philosophen und den Dichter auf zwei Berggipfeln einander gegenüber; Char wiederum sah sie als Gefangene, die durch ein kleines Loch in der Wand miteinander kommunizierten.“ – In beiden Fällen wird also das Trennende höher veranschlagt als das Verbindende. Von diversen Zeitzeugen wird im übrigen bestätigt, dass es durchaus auch unausgesprochene Vorbehalte zwischen den Freunden gab. „Unsre feine Waage“, so lautet dazu (in einem Gespräch mit France Huser) René Chars Verallgemeinerung, „registriert in jedem Augenblick unsre vorgenormten Differenzen.“

Wenn Heidegger in Was ist das – die Philosophie? seine eigene Rede „als eine ausgezeichnete Weise des Sagens“ charakterisiert, dürfte dies (worauf die Doppelbedeutung von ,Weise‘ als Art wie als Gesang deutlich genug verweist) ebenso auf die Dichtung zutreffen – wörtlich im Text:

Zwischen beiden Denken und Dichten waltet eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache verwenden und verschwenden.

Die philosophische Rede selbst integriert hier – wie so oft bei Heidegger: mit Stab- und Binnenreimen – dichterische Einschlüsse zu Lasten kohärenter Argumentation.
„Reines Sprechen“ bietet und garantiert nach Heidegger (Die Sprache, 1950/1951) als „rein Gesprochenes“ einzig das Gedicht:

Rein Gesprochenes ist jenes, worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist.

Als Beispiel für solch „reines Sprechen“ zieht er etwas „rein Gesprochenes“ von Georg Trakl heran, nicht ohne zu vermerken, dass es hier allein auf das Gedicht und in keiner Weise auf den Dichter ankomme, da eben in der Dichtung nicht der Dichter, sondern die Sprache sich ausspreche. „Gedichtet bildet das Gedicht das so Vorgebildete unserem Vorstellen ein“, heisst es weiter:

Das Gesprochene des Gedichtes ist das vom Dichter aus ihm Herausgesprochene. Dieses Ausgesprochene spricht, indem es seinen Gehalt ausspricht. Die Sprache des Gedichtes ist ein mehrfaltiges Aussprechen.

Usf.
Die Anteil des Dichters an der Entstehung und Ausformung des Gedichts besteht demnach bloss noch darin, dem Gedicht zu autonomem Sprechen und zur Formwerdung zu verhelfen. Mit andern Worten: Das Dichterische, das „rein“ zu Sprechende ist in der Sprache als solcher angelegt und muss ihr abgewonnen, muss aus ihr befreit werden als „rein Gesprochenes“.
Heidegger hat die so geartete Erhabenheit und Autonomie des Gedichts ohne Abstriche auch späterhin behauptet, und dies nicht etwa anhand hermetischer Lyrik (wie man es erwarten würde), sondern am Beispiel von eher leicht verständlichen Natur- oder Dinggedichten, die keiner ausgeklügelten philosophischen Erläuterung bedürften. Dennoch hat Heidegger eben damit entscheidend auf die dekonstruktive Texthermeneutik der 1970er, 1980er Jahre eingewirkt – seine unentwegt vorgetragene These, wonach „die Sprache spricht“, ist damals weithin zum Leitwort geworden.
Nicht so für René Char, der weder das Gedicht allein der Sprache anheimstellen, noch sich selbst als Autor entmächtigen lassen wollte. Die Poesie ist für ihn weit mehr als ein „reines“ (reinigendes) Gespräch der Sprache mit sich selbst: Poesie ist stets auch „Aktion“, wirkt über sich und über die Sprache hinaus, ist das „Hyper-Hirn“ (sur-cerveau) der Aktion, bleibt geerdet mit der realen Welt, so wie ein Blitz, der jäh, ereignishaft und unfassbar niederschiesst und – einschlägt.

Char hat sich zu Martin Heideggers Philosophie kaum je in Schriftform vernehmen lassen, und wenn er es selten einmal tat, dann doch sehr distanziert, jedenfalls nie explizit. Selbst in seinem knappen Nachruf auf Heidegger vom 26. Mai 1976 begnügt er sich mit der Feststellung, dass dieser nun gestorben sei, um verklausuliert hinzuzufügen:

Die Sonne, die ihn zur Ruhe gelegt hat, hat ihm sein Werkzeug belassen und nur das Werk hier beibehalten. Diese Schwelle bleibt bestehen. Die Nacht, die sich aufgetan hat, liebt aus besonderer Gunst.

Sätze, die sich auch anderweitig einsetzen liessen und in anderem Kontext womöglich ganz anders zu interpretieren wären. Das gilt ebenso für den poetischen Essay „Alte Eindrücke“ (Impressions anciennes, 1964) und für die „Fragenden Antworten“ (Réponses interrogatives, 1966), die er ausserhalb des Seminars von Le Thor eigens an den Philosophen richtete, ohne freilich auch nur dessen Namen, einen Werktitel oder eine Textstelle eigens zu erwähnen.
Was da als respektvolle ,Huldigung‘ vorgetragen wurde, lässt bestenfalls Anspielungen auf Heidegger und sein Werk erkennen, entfaltet sich vielmehr als eine lose komponierte Abfolge von (allerdings höchst artifiziellen) Miniaturen, mit denen sich Char auf eigenwillige Weise selbst ausspricht, statt seinen Gegenstand – hier also Heidegger – zu besprechen: Geliefert wird kein interpretativer, sondern ein zu interpretierender Beitrag. Seine angebliche ,Dunkelheit‘ rechtfertigt der Dichter – paradox wie so oft und durchaus heideggerianisch – als „klare Rätselhaftigkeit“ (clarté énigmatique), und er betont die „Notwendigkeit, die Schatten als Maîtressen zu bewahren“. Hermetisch ist folglich alle Poesie, hermetisch vorab für den Dichter selbst:

Etwas schaffen: sich ausschliessen.

Und ja:

Welcher Schöpfer stirbt nicht in Verzweiflung?

Dennoch scheut René Char sich nicht, die Poesie – mit mehrfachem Bezug auf Jean-Arthur Rimbaud – pauschal als umwerfend, wörtlich als „revolutionär“ zu bezeichnen, denn sie sei nicht nur wegweisend, sie gehe mit eigener Dynamik voran. Was sie zu sagen (nach Heidegger: zu „zeigen“) hat, ist allerdings eher apokalyptisch denn paradiesisch, und sie selbst, als hohes Lied, wird wie alle Welt zu Asche werden. Skepsis, Pessimismus, auch Zynismus und Hochmut imprägnieren Chars fast durchweg dunkle Dichtung, die nur ausnahmsweise erhellt wird durch jenen Blitz oder jene Sonne, die als Sinnbilder der „Liebe“ Augenblick und Ewigkeit in sich vereinen.
Die ,Revolution‘ (das Revolutionäre) ist demnach weder Thema noch Anspruch der Dichtung, sie ist Dichtung – Dichtung in Aktion:

… jede sich rechtfertigende Aktion muss eine Gegen-Aktion sein, deren revolutionärer Gehalt seine eigene Freisetzung erwartet, eine zumutbare Aktion von Verweigerung und Widerstand, angeregt durch eine vorgängige Poesie und oftmals im Zwist mit ihr.

Das heisst:

Der Dichter festigt sein Wort im Ausgang von irgendeinem Spritzer, einer kräftigenden Weigerung oder einem allseits offenen Zustand von Vielfingrigkeit.

Was hier mit definitorischem Anspruch ausgeführt wird, bleibt insgesamt – nicht anders als René Chars Gedichte als solche – schwer fassbar, wirkt weit eher lyrisch denn philosophisch oder poetologisch. Doch die Nebulosität ist gewollt, das vage Sagen soll das Unsagbare evozieren, nicht es festhalten, schon gar nicht es erklären. Und dementsprechend geht es unentwegt weiter im Text: „Die Poesie ist eine Sucherin. Die Aktion ist ihr Leib.“ – „Die Poesie wäre ,ausgesungenes Denken‘. Sie wäre das Werk als das Vorab der Aktion, wäre deren letzte losgelöste Folge.“ – „Die Aktion ist blind, sehend ist die Poesie. Die eine ist mit der andern vereint in einer Mutter-Sohn-Bindung, der Sohn der Mutter voran und ihr Führer mehr aus Notwendigkeit denn aus Liebe.“ – „Die Poesie ist das Gesetz die Aktion bleibt als Phänomen.“ – „Die Poesie ist die erhabenste Bewegung, ist reine Bewegung und befehligt die allgemeine Bewegung.“ – Usf.
Da wäre nachzufragen: Woher nimmt die „reine Bewegung“ (die Poesie) ihre Energie zur Befehligung der „allgemeinen (?) Bewegung“? Wenn die Poesie „das Gesetz“ ist und die Aktion „das Phänomen“ – wie könnte dann die Poesie der Aktion vorausgehen? Falls die Poesie „sehend“ ist – was sieht sie und was gibt sie zu sehen als Sprachkunst? Wie kann die Poesie „Sucherin“ und gleichzeitig „das Gesetz“ sein?
Doch es kommt hier nicht auf Gegenfragen oder Widerrede an, da die Poesie durchweg als eine spezifische Form von „Wahrheit“ vorgegeben wird und damit fraglos ins Recht gesetzt bleibt – nach dem impliziten Imperativ: Man nehme und lese!

Und nochmals, in metaphorischer Veranschaulichung:

Die Poesie wird ein ,Abschiedsgesang‘ sein. Poesie und Aktion als beharrlich kommunizierende Gefäße. Die Poesie als Pfeilspitze, die den Bogen qua Aktion voraussetzt, wobei Objekt und Subjekt eng voneinander abhängig sind insofern, als der Pfeil in die Ferne geschossen wird und nicht mehr herabfällt, weil der Bogen ihm folgt und ihn vor dem Sturz aufhält, beide einander gleich trotz ihrer Ungleichheit, in einer doppelten und vereinten Bewegung der Rückbindung.

Char bringt hier umständlich zur Sprache, was Heraklit in seinem Fragment 48 („Der Name des Bogens ist Leben, sein Tun ist Tod.“) auf ein aphoristisches Wortspiel herunterbricht; denn je nach Betonung steht das altgriechische bios entweder für Leben (bios) oder für Bogen (bíos), wobei ,entweder-oder‘ gleichermassen das Gegenteil bedeuten kann, nämlich ,sowohl-als-auch‘, und eben dies – also ein Gleiches – scheint der Dichter mit seiner „doppelten und vereinten Bewegung der Rückbindung“ meinen zu wollen. Ausser der verdunkelnden Wiederaufnahme von Heraklits vielzitiertem Fragment leistet er damit aber nichts – sein poetisches Philosophieren stimmt der Form wie der Intention nach mit Heideggers philosophischer Poesie merklich überein, auch wenn es sich in beiderlei Hinsicht durchweg radikaler ausnimmt.

Somit erweist sich der Erkenntnisgewinn aus Chars lyrisch-philosophischen Exkursen zur dichterischen Rede als recht dürftig, doch wird das diesbezügliche Defizit zumeist kompensiert durch das Faszinosum seiner ungewöhnlichen, hermetisch verdichteten Rhetorik, die bei der Leserschaft eher die Einbildungskraft in Anspruch nimmt denn das Erkenntnisinteresse – es darf gerätselt werden, und das Rätseln gehört bekanntlich generell zum Zauber schwieriger Lektüre.
Solchen Zauber vermitteln auch – bei gleichermassen prekärem Erkenntnisgewinn – zahlreiche Texte von Martin Heidegger. Oftmals gerinnt ihm der philosophische Diskurs zu einer quasilyrischen Vernehmlassung, die sich rationalem Verstehen oder auch bloss rationalem Nachvollzug weitgehend entzieht, also nicht Gewissheiten, sondern Fragen, Zweifel, Irritationen, Illusionen, falsche oder ungerechtfertigte Erwartungen aufkommen lässt. – In nachdenklicher Zuwendung zu einem Vers von Georg Trakl hält Heidegger beispielshalber (in Die Sprache im Gedicht, 1953) fest:

Der Stein ist das Ge-birge des Schmerzes. Das Gestein versammelt bergend im Steinernen das Besänftigende, als welches der Schmerz ins Wesenhafte stillt.

Was hier festgehalten wird, ist kein Faktum, ist nicht Bedeutung, sondern Meinung oder Glaube; mit dem vagen Fazit:

Die Dichtung ist einzig unter allen (?), weil in ihr die Weite des Schauens, die Tiefe des Denkens, das Einfache des Sagens auf eine unsägliche Weise innig und immerdar scheinen.

So als bestünde Dichtung jenseits unsäglichen Sagens nicht aus Worten, Versen, Strophen, vielmehr allein aus sinnlichen Eindrücken, Stimmungen, Ahnungen, die bei ihm eine stetig wiederkehrende Anmutungsqualität gewinnen. Das beansprucht Heidegger gleichermassen für seine eigenen Texte. Im Rückblick auf Sein und Zeit und „im Lichte des erlangten inständigen Denkens“ bekräftigt er in einem nachgelassenen Kommentar den Vorrang von „Stimmung, Befindlichkeit, Gefühl“ vor rationalem Verstehen im Umgang mit seinem Denken:

In der ,Stimmung‘ ist (existenzial-inständig, im Umkreis der einzigen Besinnung auf die Wahrheit des Seins) an die stimmende Stimme gedacht, die den Menschen (d.h. wiederum sein Wesen als da-seinshaftes, die Lichtung des Seins wahrendes, fügendes) stimmt in den jeweiligen Bezug des Seyns zu ihm. Zum Wesen der Stimme des Seyns gehört ,das Wort‘ – dessen Wesen hat hier seinen Ursprung.

Mit der dichterischen ist die philosophische Rede in dieser (rezeptiven) Hinsicht also weitgehend gleichgeschaltet – das Wort als Träger und Sprachform der „stimmenden Stimme“ wird zum Generator von „Stimmung“, die als solche den Menschen „stimmt“. Heidegger denkt und spricht hier wie auch andernorts von der Sprache her über die Sprache.
Und überall dort, wo Heidegger von der Sprache und vom Sprechen spricht, geht es immer nur um ein Ent-Sprechen, das als das eigentliche Sprechen der Sprache glaubhaft gemacht werden soll:

Dessen Sprache wird so zur nachsagenden, wird: Dichtung. Ihr Gesprochenes hütet das Gedicht als das wesenhaft Ungesprochene.

Die Sprache – Dichtersprache wie Alltagssprache – ist eben das, was „nie zu Wort“ kommt, ist unsäglich, bleibt unausgesprochen, ja, sie ist das Unsägliche, das Unausgesprochene, wie Heidegger in seinem Vortrag über Das Wesen der Sprache (1957) weiszumachen versucht:

Wir lassen dann, was wir meinen, im Ungesprochenen und machen dabei, ohne es recht zu bedenken, Augenblicke durch, in denen uns die Sprache selber mit ihrem Wesen fernher und flüchtig gestreift hat.

Das sind hochgemute Glaubenssätze, lyrisch angehaucht, schön zu lesen, Sätze, von denen man sich „streifen“ lassen, die man aber auch unberührt überlesen kann.

Der Heidegger’sche ,Wohllaut‘ überbietet und verunklärt die allenfalls dahinterliegende begriffliche Bedeutung, und Gleiches erreicht René Char mit seiner sperrigen Syntax und Metaphorik: „In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 1968“, so berichtet er in einem kurzen Erinnerungs- und Befindlichkeitsprotokoll (Le chien de cœur, 1969), „entzündete sich der Blitz, den ich so oft und so gern am Himmel betrachtet hatte, in meinem Kopf und gab auf dem Hintergrund der mir eigenen Verschattungen das luftige Antlitz des Blitzes frei, der dem ganz und gar materiellen Gewitter entstammte. Ich glaubte den Tod gekommen, einen Tod jedoch, wo ich, überwältigt von beispiellosem Verstehen, noch einen Schritt zu tun haben würde vorm Einschlafen, vorm zerstreuten Eingehen ins All, für immer. […] Der Blitz und das Blut, ich hatte es gelernt, sind eins.“
Ja: „Die Magie der Sprache ermöglicht es“, nach einem ironischen Notat von Hans Blumenberg (in Lebenszeit und Weltzeit), „und verleitet dazu, aus der Luft zu greifen, was darin liegt, und einem verblüfften Publikum vorzuzeigen, wovon es alsbald nicht mehr wissen wird, was es gewesen war oder sein sollte.“ Diesen Orakel-Effekt haben Heidegger und Char bewusst eingesetzt, um die Mehrdeutigkeit ihrer Texte in unterschiedlicher Richtung („vielfingrig“) produktiv zu machen.

Sicherlich bringt es mehr, die eigene Unsicherheit und Verwirrung beizubehalten, als den Versuch zu machen, sich zu überzeugen und sich zu vergewissern durch die Verfolgung anderer.

So zu lesen in einem Statement René Chars (1954) zur Frage nach Gott; und Gleiches hat wohl zu gelten für die Frage nach dem Sein, nach der Zeit, nach dem Wort, nach dem Tod.
Char hat den Dichter als einen „Magier der Unsicherheit“ bezeichnet, und tatsächlich ist die Bevorzugung der Ungewissheit vor dem Wissen ein Charakteristikum seiner Dichtung insgesamt, kontrastiert allerdings mit deren zumeist sehr selbstgewissen und zum Pathos neigenden Diktion. Man könnte hier von Bescheidenheits- und Einfachheitspathos reden: Gefeiert wird das bescheidene Leben nicht anders als der einfache (weil unabwendbare und endgültige) Tod. „In der fremdartigen und kraftvollen Dichtung, die Char uns vorlegt, kommt unsre Nacht selbst zum Leuchten, und wir lernen erneut zu gehen“, heisst es in einem späten Essay von Albert Camus (1959), und tatsächlich hat kaum ein anderer Dichter die Sonne und die Nacht wie das Leben und den Tod – alles weitab von Heideggers existentieller „Sorge“ – gleichermassen besungen und beklagt, und dies – beides – im oftmals ausgesprochenen Namen der „Liebe“, der einzigen Macht, der er sich „beugen“ mag.

Die Nacht, da der Tod uns empfangt, wird flach und ohne Makel sein, der rare Schirokko, den die Götter ausgeteilt haben, wird zu einem frischen Windstoss werden, anders als der, den vorab schon wir entfaltet haben.

So lautet eine Stelle in Chars Gespräch mit einer Traube (1965), und in seinen Notizen Über die Dichtung (1968) liest man weiter:

Die Gedichte sind unverwüstliche Existenzspäne, die wir dem Tod in seine widerliche Fresse schleudern, und zwar ziemlich hoch, so dass sie nach dem Aufprall in die Namenwelt der Einheit fallen. […] Dichtung, einziger Hochschwung der Menschen, den die Sonne der Toten nicht zu verdüstern vermag in der vollkommenen und burlesken Unendlichkeit.

Beliebig viele vergleichbare Stellen in vergleichbarer Intonation finden sich seit seinem Frühwerk bis in die letzten Verse – zu verstehen sind sie immer nur von ungefähr, die Rätselhaftigkeit ist Teil ihrer ,Wahrheit‘. Doch der Dichter ist hier eben „der Teil des Menschen, der sich den kalkulierten Projekten widersetzt“.

An mancher Stelle, wo bei René Char von Dichtung, vom Dichter die Rede ist, liessen sich die beiden Begriffe leicht und adäquat durch „Philosophie“ beziehungsweise „Philosoph“ ersetzen. Zwar fehlte Char die Ambition, ein Philosoph zu sein, doch philosophische Interessen hatte er allemal – nicht nur seine Gespräche mit Heidegger, auch seine umfangreichen Korrespondenzen mit Georges Mounin und Albert Camus zeugen davon. Auf philosophische Lektüren verstehend einzugehen, war seine Sache allerdings nicht, lieber ging er vordergründig davon aus – mit der Absicht (oder in spontanem Bestreben), das Gelesene in subjektivem Verständnis und eigenem Stil fortzuschreiben. „Die Philosophie ödet mich an“, gesteht er in einer Briefnachricht an Anne-Marie Char (1969), „ihre Prätentionen führen, da sie den Freiraum verengen, zum Übermass.“ Und demgegenüber:

Einzig die Poesie bleibt unverweslich in ihrem Stolz und ihrer Demut, mit ihren zu langen Wimpern und ihren abgekauten Nägeln, ihrer Stille und ihrem Schwinden zwischen zwei Donnerschlägen.

Mit seinem Freund und Kollegen Albert Camus stimmte Char via Nietzsche darin überein, dass es darum gehe, stets das „ganze eigene Leben“ und die „ganze eigene Person“ ins Werk zu setzen, statt sich bei „rein intellektuellen Problemen“ aufzuhalten; dem intellektuellen Erkenntnisgewinn und Wissen müsse das Experimentieren, das Hinhören, die Hoffnung, der Traum stets vorgeordnet bleiben. Der Dichter sei eher dem Hiesigen als dem Jenseitigen zugetan – „Bruder aller Erden und all ihren Unglücks“.

Im Unterschied zu Char, der als Dichter kein Philosoph sein mochte, fühlte sich Martin Heidegger als Philosoph durchaus auch zum Dichtertum berufen. Zahlreiche lyrische Texte aus mehreren Jahrzehnten dokumentieren seine diesbezüglichen Bemühungen. Dass Heideggers Gedichte unter dem Titel „Gedachtes“ als „unveröffentlichte Abhandlungen“ in die Gesamtausgabe (LXXXI, 2007) eingegangen sind, lässt immerhin vermuten, sie seien primär als Gedankenlyrik aufgezeichnet worden – mit Vorrang des Denkens vor dem Dichten.
Von besonderem Interesse ist eine siebenteilige Gedichtfolge, die Heidegger 1971 für René Char (mit Kopie an Hannah Arendt) zusammengestellt und „in freundschaftlichem Gedenken“ zum Druck befördert hat. Die Titel der locker gefügten freien Verse („Zeit“, „Wege“, „Winke“, „Ortschaft“ usf.) verweisen auf gemeinsame Interessen und Erfahrungen, rekapitulieren aber auch einige zentrale Themen von Heideggers eigener Philosophie. Von seinen philosophischen Schriften unterscheiden sich die Gedichte in formaler Hinsicht kaum, sehr wohl aber von der ganz anders gearteten Lyrik René Chars.
Heideggers „Gedenken“ scheint sich vorwiegend auf die Zusammenkünfte in Le Thor zu beziehen, auf Gesprächsthemen, und nicht auf persönliche Begebenheiten und Erinnerungen. Als deklarierte Freundesgabe an Char hinterlassen sie einen bemerkenswert neutralen, fast gar abweisenden Eindruck. Das einzige „Du“, das in den Gedichten genannt wird, kann nicht als Anrede an René Char gelesen werden („die Uhr / im Pendelschlag des Hin und Her, / hörst Du : sie geht und ging und geht“), schon eher steht es für „ich“ oder für „man“; und auch der abschliessende „Dank“ ist nicht an den gastgebenden Dichter gerichtet, sondern beschränkt sich darauf, das Wort „Dank“ in Heideggers eigenem Verständnis noch einmal von der Sprache her abzuhandeln:

DANK

Sichverdanken : Sichsagenlassen das Gehören in
das vereignend-brauchende Ereignis.
Wie weit der Weg vor diese Ortschaft, von der aus
das Denken in fügsamer Weise gegen sich selber
denken kann, um so das Verhaltene seiner
Armseligkeit zu retten.

Das Gedicht könnte, von den Zeilenbrüchen abgesehen, auch einfach eine beiläufige Notiz, eine philosophische Miniatur sein. Das Einzige, was diesen ganz und gar unpoetischen Text mit irgendeinem Gedicht von Char verbindet, ist seine kaum aufzuhellende Dunkelheit oder eben der irritierende Zauber des Unverständlichen. Dunkel, schwer verständlich sind bei Heidegger die komplizierten begrifflichen Fügungen („Sichsagenlassen das Gehören in / das vereignend-brauchende Ereignis“), während bei Char die kühne Metaphorik im Verein mit sperriger Syntax die hauptsächliche Schwierigkeit des Verstehens ausmacht.

Mehrmals ist Heidegger in Begleitung René Chars zum Mont Sainte-Victoire bei Aix en Provence gereist, nicht um den Berg zu besteigen, nur um ihn wortlos zu betrachten in der Perspektive, die einst Paul Cézanne beim vielfachen Malen des Sujets eingenommen hat. Auf den berühmten „Siegesberg“ scheinen hier die Gedichte „Ortschaft“, „Cézanne“, „Vorspiel“ und „Dank“ zu verweisen, sie evozieren „das Stille“, „das Unscheinbare“, „das immer Einfachere, Einfältige [seiner (?) im Unzugangbaren / sich versagenden Ortschaft“, zu der jeder „Weg“ weit und beschwerlich ist. Das gewaltige Kalkmassiv macht sprachlos, macht staunen, es lässt „die Sage eines Denkens, ausgesetzt / dem Beispiel-losen, in der Stille seiner / Strenge ruhen“. Das „Arme“ ist und schafft reinsten „Reichtum“, das „Einfache“ hat seine eigene Schönheit und Wahrheit.
„Was aber arm ist“, so klingt Heideggers lyrische Sequenz aus, „selig wahrt es sein Geringes. / Dessen ungesprochenes Vermächtnis / gross behaltet’s im Gedächtnis : / Sagen die Aletheia als : die Lichtung : / die Entbergung der sich entziehenden Befugnis.“ Im Spätwerk des Malers Cézanne sei „die Zwiefalt / von Anwesendem und Anwesenheit einfältig / geworden, ,realisiert‘ und verwunden zugleich, / verwandelt in eine geheimnisvolle Identität. // Zeigt sich hier ein Pfad, der in ein Zusam- / mengehören des Dichtens und des Denkens / führt?“
Das „Zusammengehören“ von Dichtung und Philosophie stand für Martin Heidegger ausser Frage; die gleichrangige Zusammenführung beider ist ihm versagt geblieben – sein Denken hat einem grossen Publikum und zahlreichen Fachkollegen den Hegel’schen „Sonntag des Lebens“ eröffnet und auch offengehalten. Ein ,Sonntagsphilosoph‘ war er gleichwohl nicht, schon eher ein ,Sonntagsdichter‘. Die Philosophie – sein Philosophieren – bewerkstelligte er, ganz im Gegenteil, als alltägliche geistige und sprachliche Schwerarbeit, der weder Schwierigstes zu viel noch Einfältiges zu wenig war. Freilich ist anzumerken, dass das Seminar von 1968 in Le Thor zumindest phasenweise als ,Sonntagsseminar‘ geführt und deshalb auch nicht protokolliert worden ist.
René Char wiederum dürfte sich auf seinen „vielfingrigen“ Denkwegen durchaus als ,Sonntagsphilosophen‘ gesehen haben, als einen poetischen Denker ohne die geringsten schulphilosophischen oder gar schulbildenden Ambitionen, dafür aber mit der raren Fähigkeit, im Medium der Sprache die unwahrscheinlichsten ,Bilder‘ wahr zu machen, sie vor jeglichem Verstehen bestehen zu lassen als immer wieder anders, verlautende Ideen. „Du, Leser, sollst den Zusammenhang herstellen“, wünscht sich der Dichter (Moulin premier, 1935):

Du, Träumer, sollst den Zusammenhang auflösen.

[LITERATUR: René Char: Œuvres complètes, Paris 1983; (chronologische Werkausgabe:) René Char: Dans l’atelier du poète, Paris 1996; René Char / Georges Mounin: Correspondance (1943–1988), Paris 2020; René Char: „Un feu dans un bocage aride“ (Gespräch mit France Huser) in: Le Débat, XIV, 1981; Albert Camus / René Char: Correspondance (1946–1959), Paris 2007, mit Annex (Camus über Char, Char über Camus); (Auktionskatalog:) René Char: Mémoire d’encre, 2019; „Dossier René Char“, in: Magazine littéraire, Nr. 340, 1996 (darin u.a. der Beitrag von Jean Beaufret, „Heidegger au pays de Char“), (Kommentierte Werkauswahl deutsch.) René Char: Einen Blitz bewohnen, Frankfurt a.M. 1995. – Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 1986; Barbara Cassin (interviewt von Éric Aeschimann) in: Le Nouvel Observateur, 18.–25.IX.2014; Felix Philipp Ingold: „Heidegger vor dem Siegesberg“, in: ders., Endnoten, Klagenfurt 2019; ders., „Das andere der Philosophie ist die Poesie“, a.a.O.; Michael Worton: „,Between‘ Poetry and Philosophy: René Char and Martin Heidegger“, in: https://core.ac.uk/download/pdf/17439.pdf) – Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956; Martin Heidegger: Gesamtausgabe (Seminare), XV, Frankfurt a.M. 22005, mit Protokollen, Kommentaren, Erinnerungen; Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache (1959), Pfullingen; 81986; Martin Heidegger: „The Task of Thinking and Hermeneutic Phenomenology“, in: Heidegger Studies, XXXII, 2016; Martin Heidegger: „Gedachtes/Pensivement“ (zweisprachiger Erstdruck) in: Sonderheft „René Char“ der Zeitschrift Cahiers de l’Herne, XIII, Paris 1971]

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Denken im Abseits. Privatphilosophien der Moderne, Ritter Verlag, 2022

 

 

ARGUMENTUM E SILENTIO
Für René Char

An die Kette gelegt
zwischen Gold und Vergessen:
die Nacht.
Beide griffen nach ihr.
Beide ließ sie gewähren.

Lege,
lege auch du jetzt dorthin, was herauf-
dämmern will neben den Tagen:
das sternüberflogene Wort,
das meerübergossne.

Jedem das Wort.
Jedem das Wort, das ihm sang,
als die Meute ihn hinterrücks anfiel –
Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte.

Ihr, der Nacht,
das sternüberflogne, das meerübergossne,
ihr das erschwiegne,
dem das Blut nicht gerann, als der Giftzahn
die Silben durchstieß.

Ihr das erschwiegene Wort.

Wider die andern, die bald,
die umhurt von den Schinderohren,
auch Zeit und Zeiten erklimmen,

zeugt es zuletzt,
zuletzt, wenn nur Ketten erklingen,
zeugt es von ihr, die dort liegt
zwischen Gold und Vergessen,
beiden verschwistert von je –

Denn wo
dämmerts denn, sag, als bei ihr,
die im Stromgebiet ihrer Träne
tauchenden Sonnen die Saat zeigt
aber und abermals?

Paul Celan

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Horst Wernicke: Zorn und Geheimnis
Die Furche, 31.5.2007

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfG + Internet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachrufe auf René Char: Tumba + Prisma

 

René Char: Prometheus und Steinbrech zugleich gelesen von Bruno Ganz.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00