Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2

Brinkmann/Brinkmann-Westwärts 1 & 2

EINEN JENER KLASSISCHEN

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

 

 

 

Vorbemerkung

Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf, man spricht, man macht Zeichen … Die Gedichte, die ich hier zusammengestellt habe, sind zwischen 1970 und 1974 geschrieben worden, zu den verschiedensten Anlässen, an den verschiedensten Orten, ob sie gut sind? fragst Du. Es sind Gedichte. Auch alle Fragen machen weiter, wie alle Antworten weitermachen. Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.

R.D.B., aus dem Vorwort, 11./12.4.1974

 

Als Westwärts 1 & 2 im Mai 1975 erschien,

war dies ein Paukenschlag in der literarischen Öffentlichkeit: Der Autor war wenige Tage zuvor bei einem tragischen Verkehrsunfall in London ums Leben gekommen, und Westwärts war die erste Publikation, die das „enfant terrible“ und Wunderkind der damaligen deutschsprachigen Literatur nach fünfjährigem Schweigen vorlegte. Seither hat dieser Lyrikband einen nahezu kanonischen Stellenwert in der neueren deutschen Literatur erlangt. Aber das Buch, das seinerzeit herauskam und vom Verfasser auch autorisiert wurde, stellt eine sozusagen „verstümmelte Fassung“ dar. Die Publikationsbedingungen der Zeit ließen es nicht anders zu – auf Wunsch des Verlags hatte der Autor 23 Langgedichte und ein 89 Seiten umfassendes und mit Fotos illustriertes Nachwort herausnehmen müssen, mit dem er seine Rückkehr in die Literatur begleiten wollte. Die „erweiterte Ausgabe“ macht erstmalig die ursprüngliche Gestalt von Westwärts 1 & 2, die Rolf Dieter Brinkmann im Auge hatte, zugänglich: „Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschenden literarischen Konventionen und kann ebenso gut als ein zusammenhängendes Prosabuch, Gedichtbuch wie Essaybuch gelesen werden“ (R.D.B.).

Rowohlt Verlag, Ankündigung, 2005

 

Brinkmann: Westwärts 1 & 2

− Neuauflage des Kultbuches zum 30. Todestages des Lyrikers. −

Westwärts 1 & 2 von Rolf-Dieter Brinkmann ist einer der wenigen wirklich herausragenden deutschsprachigen Lyrikbände seit 1945. Man ahnte das bereits 1975, als er in einer ziemlich verkürzten Form zum ersten Mal erschien. Das hatte jedoch etwas mit dem Tod des Autors zu tun, der sofort zu einem Mythos wurde: am 23. April 1975, gerade 35 Jahre alt, wurde Brinkmann beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto überfahren. Westwärts 1 & 2 erschien kurze Zeit später und wurde sofort zu einem Kultbuch.
Doch erst jetzt, zum 30. Todestag des Autors, legt der Verlag das Buch so vor, wie der Autor es konzipiert hatte. Es sind 26 bisher unbekannte Gedichte hinzugekommen und ein großangelegter Essay, der zu den beeindruckendsten poetologischen Texten eines deutschen Autors überhaupt zu zählen ist: das „unkontrollierte Nachwort zu meinen Gedichten“.
Für Brinkmann war von Anfang an die Technik des Films enorm wichtig: es geht um Schnitte und Brüche. Und schon früh wandte er sich gegen den „Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter“ des Kulturbetriebs, der bereits alles vorformuliert hat, und definierte sich einen „Underground“: er gab zeitgenössische Beat-Texte aus den USA heraus und verehrte William Burroughs und Frank O’Hara. Die revolutionsfreudigen 60er Jahre schienen Brinkmann zunächst zu entsprechen, er veröffentlichte Gedicht- und Prosabände, aber um 1970 begann er, sich immer mehr vom Kulturbetrieb abzukapseln. Berühmt wurde seine Pose bei einer Podiumsdiskussion mit Marcel Reich-Ranicki in Berlin. Er rief aus: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen.“
Die letzten fünf Jahre seines Lebens veröffentlichte er überhaupt nichts mehr. Westwärts 1 & 2 hätte einen Neuansatz bedeutet. Er entfernte sich sehr stark von den Modetrends, also auch den Politikmoden seiner Zeit und lehnte jegliches Einverständnis radikal ab – gerade auch mit seiner Generation, den 68ern, die gerade den Marsch durch die Institutionen antraten. Brinkmann war kein Popliterat, sondern der erste große Subkultur-Avantgardist der deutschen Sprache. Er lebte bettelarm in einer Absteige in Köln. Um die Abzüge der Fotos bezahlen zu können, die er für Westwärts 1 & 2 brauchte, verkaufte er sogar seine Erstausgabe von Arno Schmidts Zettels Traum.
Das Buch ist eine Sammlung von Schnitten: von Fotos, Texten und Collagen. Alles ist literaturfähig. Dem Autor geht es um „Beobachten, auseinander nehmen, neu zusammensetzen“. Brinkmann träumt von einem „Wörtersüden“. Er schreibt: „Vielleicht ist es mir gelungen, die Gedichte einfach zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus.“
Einfach sind diese Gedichte allerdings nur, wenn man sich ihrem Sog überlässt, wenn man sie nicht im herkömmlichen Sinne „liest“ und zu entschlüsseln versucht. Es ist ein Rausch der Bilder, es kommen Obsessionen der Wahrnehmung zum Ausdruck, ein Blick von unten. „Sprache, du tust mir weh!“ heißt es einmal. Und in seinem „unkontrollierten Nachwort“ geht es immer wieder um den „Schmand der Wörter“ und die „Begriffe, diese Bewusstseinsparasiten“. So schreibt er über Telefonbücher, Kinderurin, die Orangensaftmaschine, Reisebüros oder kurze signalhafte Momente wie „einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln“.

Helmut Böttiger, Deutschlandradio Kultur, 22.4.2005

Starker Tobak

− Eine Neuausgabe von Rolf Dieter Brinkmanns Westwärts 1 & 2. −

Erstaunlich, was einem bei der Wiederbegegnung mit Rolf Dieter Brinkmanns 1975 postum erschienenem Gedichtband Westwärts 1 & 2 widerfährt. Da wird man schon nach wenigen Seiten rabiat aus der schmerzlos dahingleitenden Welt der digitalen Netzwerke unvermittelt in die Zeit der medialen Kerben, Gravuren und entsprechenden menschlichen Blessuren versetzt. Pop, das war eben nicht nur der Hang zur glatten Oberfläche, sondern Lebenseinsatz oder, wie es in zwei an Adorno erinnernden Gedichtzeilen Brinkmanns heisst: „Die Furcht verletzt zu werden, ist schon / ein Einverständnis mit dem, was ist.“

Zeitdokument
In seinen „Westwärts“-Gedichten kreisen kratzende Nadeln durch die Rillen von Schallplatten, klopfen metallene Schreibmaschinentypen Worte auf mehrere Schichten aus weissen Blättern und Durchschlagpapier. Als gälte es, sich mit voller Wut bis zum Klingelzeichen am Ende der Zeilen durchzuhämmern. Und der Schleier aus „schwarzem Afghan“, der sich über allem ausbreitet, steht noch für den Rauch jenes starken Tobaks, hinter dem man mit erweiterten Pupillen die deutschen Terroristenprozesse verfolgte. „Hat Marihuana mit Grammatik zu tun?“, fragt sich Brinkmann in einem anderen Gedicht. Und man möchte ihm angesichts seiner eigenen Schreibweise, seiner Reihungen von düsteren Allegorien ohne Anhalt im Diesseits oder Jenseits, mit einem luziden Hanf-Notat Walter Benjamins antworten: „Wellen schwappen, Wappen schwellen“.
Dem Rowohlt-Verlag und Maleen Brinkmann ist zu danken, dass wir nun den ungekürzten „Masters Cut“ dieses grandiosen Lyrikbandes mit seinen sanften Songs, heftigen Tiraden und sinistren Fragmentlandschaften neu und anders lesen können. Einerseits als hautnahes Zeitdokument, das einen wie die Hits aus der klassischen Epoche des Rock’n’Roll direkt zu den im eigenen Körper sedimentierten Stimmungswerten der Vergangenheit führt. Andererseits macht sich bei der etwas distanzierteren Lektüre eine gesunde Skepsis breit gegen Brinkmanns manchmal allzu stimmungshaft regressive Tendenzen und Rekurse auf primäre Affekte. Zumal wenn der Autor als menschenverachtender Bürgerschreck den gewaltbereiten Macho markiert und der poetische Furor zum Jargon des Hasses wird.
Nachdem Rolf Dieter Brinkmann mit der Herausgabe von Anthologien, mit eigenen Erzählungen, einem Roman und Gedichten – aber auch mit seinen provozierenden öffentlichen Auftritten – massgeblich an der westdeutschen Rezeption der amerikanischen Pop- und Underground-Literatur beteiligt gewesen war, hatte er sich 1970 abrupt aus dem literarischen Leben zurückgezogen. Bis zu seinem frühen Unfalltod im April 1975 in London sollte nichts mehr von ihm veröffentlicht werden.
In diesen gut vier Jahren schuf Brinkmann, sei es als Stipendiat in Rom, als Gastlektor in Austin/Texas oder als Privatier in Köln – meist am Existenzminimum lebend –, seine „Westwärts“-Gedichte, zugleich entstand der grosse Fundus an Aufzeichnungen, den wir als sein aus dem Nachlass herausgegebenes Hauptwerk kennen: phänomenale Brief-, Foto- und Zitatcollagen, wie etwa Rom, Blicke, welche längst nicht mehr der Popliteratur zuzuzählen waren, sondern eher als verzweifelte Emblembücher eines Welt- und Selbstverlorenen zu verstehen sind. Verwilderte Buchhaltungen eines Solitaires, der in einer nur noch als Trümmerlandschaft wahrgenommenen „Ziviehlisation“ nach jenen poetischen Bruchstücken stöberte, in welchen sich zumindest für einen Augenblick vom Nirgendwo her Erfüllung versprach.

Enttäuschter Romantiker
Mit Westwärts 1 & 2, seinem letzten noch zu Lebzeiten für den Druck fertiggestellten, aber erst postum erschienenen Gedichtband, wollte sich Brinkmann nach längerem Verstummen wohl ganz bewusst erstmals mit solchermassen verwandelter vereinsamter Stimme aus dem abgeweideten „Wilden Westen“ der amerikanischen Beat- und Popliteratur im „traurigen alten Europa“ zurückmelden. Und in welchem Mass er dies als deutscher Dichter tat, das zeigen uns weniger die über zwanzig damals aus Platzgründen gestrichenen und nun in der erweiterten Neuausgabe aufgenommenen Gedichte, sondern eher sein erstmals in ganzer Länge abgedrucktes „Unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten“. In diesem Essay als lyrischer Litanei lernen wir den Hintergrund für seinen Rückzug aus der Popszene und die Wende in seinem Schreiben aus erster Hand kennen. Für Brinkmann war die Zeit des spontanen, individualistischen Aufbruchs der sechziger Jahre schon 1970 zu jenem Programm gesellschaftlicher Kontrolle pervertiert, das sich wiederum gegen den Einzelnen und seine existenzielle Offenheit zu wenden drohte. Und um gegen diese auch die Literatur trivialisierende Entwicklung anzukämpfen, schien ihm die affirmative amerikanische Pop- und Postmoderne zu eng.
Als Rolf Dieter Brinkmann an seinem Nachwort zu seinem ersten nachgelassenen Werk Westwärts 1 & 2 zu schreiben begann, war jedenfalls die „Mythologie der vier Himmelsrichtungen“ längst über ihm zusammengebrochen, und das „Niemandsland“ und „Todesterritorium“ Westdeutschland überall: „In Rom dachte ich an London, In London dachte ich / an Rom. Als ich in Köln war, dachte ich an Amsterdam.“ Als wild entschlossener enttäuschter Romantiker hatte Brinkmann zu seiner gnostischen Weltsicht gefunden, freilich zu einer ohne Transzendenz. Sein Demiurg leuchtete bloss noch im Fluidum der dunklen Fragmente, im puren Jetzt des erfüllten Moments, der seine Kraft und seine Funken aus den Reibungsflächen des Negativen bezog.

Andreas Langenbacher, Neue Zürcher Zeitung, 16.7.2005

No Ideas but in Things

− Der legendäre Gedichtband erscheint in seiner ursprünglichen Form. −

„Mit dem Gedichtband ist wieder alles unklar“, schreibt Brinkmann an den Freund Hartmut, der im texanischen Austin Literatur studiert, „(…) ich hab das Manuscript erst vor 14 Tagen unter schrecklichen Mühen abgeliefert, nach Korrekturen, und das alles ohne einen Pfennig, seit Wochen. Wie wir durchkommen, ist mir oft selber unklar.“ Als Westwärts 1 & 2 dann im Mai 1975 erschien, war sein Autor erst wenige Tage zuvor in London verunglückt, mit erst 35 Jahren, an einem seiner Lieblingsorte, dem Piccadilly Circus, über den er neun Jahre davor, 1966, ein Hörstück für den Deutschlandfunk gemacht hatte. Dass Rolf Dieter Brinkmann, der sich selbst beharrlich als Einzelgänger bezeichnete, von der Literaturkritik mitunter ein „Mythos“ genannt wird, hat dabei gar nicht mal so viel mit diesem plötzlichen Lebensende zu tun.

Vielschreiber
Brinkmanns Output war von Anfang an gewaltig. Sein Freund und Kollege Ralf-Rainer Rygulla erinnert sich an die gemeinsame Buchhändler-Lehre in Essen: „Er hat damals schon mit einer unglaublichen Intensität geschrieben. Er hat sich nachts aus dem Zweierzimmer geschlichen, sich Ecken gesucht in Gemeinschafträumen und dort geschrieben.“ Die Lehre bricht Brinkmann ab, zieht nach Köln. Er veröffentlicht erste Erzählungen, Gedichtbände (zum Beispiel Piloten, Godzilla, Standphotos), den einzigen Roman (Keiner weiß mehr), macht Hörspiele, fotografiert (die endlose Fotokollektion, mit Hintergedanken an einen „Fotoroman“), übersetzt amerikanische Dichter. Immer ohne Geld. Verheiratet mit Maleen, die oft auftaucht in seinen Büchern, als Gegenüber, Frau, Gefährtin. Vater eines sprachbehinderten Sohnes, Robert, der ihm ähnlich sieht.

Einzelgänger
In einem stichwortartigen Lebenslauf, den er dem Freund Hartmut schickt, schreibt er, so kurz und nüchtern, dass es pathetisch klingt: „seit 1970: Abkehr von Literatur“. Was das meint, das erhellen vielleicht Zitate aus dem letzten Text in Westwärts 1 & 2, „Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten“: „Die Generation im Moment transportiert lediglich das erstarrte, tote Begriffsmaterial des 19. Jahrhunderts, das Ende der 60er Jahre die Lust, die Freude erschlug, und ist uninteressant. (…) Was ist mit der Poesie? Was ist mit den Dichtern? Sind sie alle in Konkurrenz mit Soziologen, Psychologen, Linguisten, Strukturalisten, Biologen, Medizinern, Pathologen getreten?“ Und an Hartmut schreibt er, zur gleichen Zeit: „den Kulturbetrieb hasse ich“.
In der Zeit von 1970 bis 1974 veröffentlichte Brinkmann kaum; er entflieht der engen Mietwohnung im Zentrum Kölns immer wieder, reist, verbringt Zeit im von ihm heiß verehrten Amerika und als Stipendiat in Rom; er schreibt Gedichte, sammelt Material für einen zweiten Roman. Die postum erschienenen Bücher von Brinkmann – gerade Rom, Blicke, das Collage-Buch aus den italienischen Monaten – sind schon eine ganz neue, eigene Art von Literatur, für die sich kaum eine Einordnung oder ein Gattungsbegriff finden lässt: Materialbände oder Materialhefte nannte er die Foto-Text-Collagen selber.

Doppel-Jubiläum
1975 konnte Westwärts 1 & 2, das letzte Buch, das Brinkmann selbst fertig stellte, nur stark gekürzt erscheinen; der Dichter tröstete sich damit, dass er später aus den ausgelassenen Gedichten einen zweiten Band machen würde – wozu es nicht mehr kam. Schön, dass der Rowohlt Verlag jetzt, zum doppelten Jubiläum: 30ter Todestag und 65ter Geburtstag, mit der Hilfe von Maleen Brinkmann die originale Fassung veröffentlicht, auch mit dem 64 Seiten langen Nachwort von Brinkmann.
Westwärts 1 & 2 liest sich heute, wie damals, als poetische Erschütterung. Mit noch mehr Gewinn kann man es lesen, wenn man die „Briefe an Hartmut“ danebenlegt. In diesen liebevollen Mitteilungen von 1974 und 1975 erläutert der Autor über lange Strecken seine eigenen Gedichte. Dass Hartmut sich schnell entschließt, sein Magisterarbeits-Thema zu ändern und statt über den Expressionisten Lichtenstein über Brinkmann zu schreiben, ist sehr verständlich.

Kein Fetisch des Bewußtseins
Eine Lieblings-Formulierung von Brinkmann, die auch gut für seine eigenen Gedichte passt, ist „No ideas but in things“ (ungefähre Bedeutung: In den Dingen steckt schon alles), ein Satz des amerikanischen Dichters William Carlos Williams. Konkret, offen, zufällig soll es sein, und „es ist mir egal, ob dabei ein Sinn undeutlich wird“. Gegenüber Hartmut schimpft Brinkmann auf die Innerlichkeits-Literatur, die er in der deutschsprachigen Literaturlandschaft verbreitet sieht, die er als kurzlebig empfindet und mit Bedeutungen überladen: „Ein Gedicht ist kein Fetisch des Bewusstseins. Ein Gedicht ist im besten Sinn Unterhaltung. Auch dieses Statement ist nicht absolut.“
Den Gedichtband Westwärts 1 & 2, der jetzt also das erste Mal in seiner ursprünglich geplanten Form veröffentlicht ist, mit über 20 bisher unveröffentlichten Gedichten, kann man zur Unterhaltung lesen, oder um etwas für sich herauszufinden, schon ziemlich egal, was genau. Denn es ist ja so, dass Literatur, wenn sie gut ist, einen auf Gedanken und Ideen bringt, die sich inhaltlich radikal von dem eben Gelesenen lösen können. Gerade Gedichte können das gut – vielleicht, weil Inhalt und Form bei ihnen untrennbar und offensichtlich zusammengehören, diese Eigenheit eine eigene Reaktion bei den Leser/innen geradezu provoziert. Oder, um Rolf Dieter Brinkmann in seinem Vorwort zu zitieren:

Der Raum macht weiter. Ich mache die Augen auf und sehe auf ein weißes Stück Papier.

Stephanie Wurster, fluter, 15.4.2005

Rolf Dieter Brinkmann (*1940, Vechta)

sei „Deutschlands einziger Beatpoet“, hypertrophiert Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen. Brinkmann selbst äusserte sich zu dieser Frage 1974 etwas zurückhaltender. Über seinen Gedichtband Was fraglich ist wofür (1967) sagt er in den von seiner Witwe Maleen Brinkmann aus dem Nachlass herausgegeben Briefen an Hartmut: „Das Material war oft sehr künstlich, Postkarten, Filme, Bücherzitate, Lektüre, Illustrierten und Zeitungsnachrichten – Und <> war in Deutschland der erste Gedichtband mit Poptendenz.“ Brinkmann folgten viele. Besonders die noch heute wie taufrische Anthologie ACID / Neue amerikanische Szene, die Brinkmann in Zusammenarbeit mit dem Underground-Pionier Ralf-Rainer Rygulla 1969 herausgab, öffnete die Schleusen zur breiten Andockung der deutschen literarischen Avantgarde, der linken zumal, an Schreibstile und Produktionsmittel des US-Undergrounds. Doch traf sie auch – wie Brinkmann häufig, instinktiv, mit geschlossenen, aber hellwachen Augen – einen bereits sensibilisierten Nerv, ein literarisches Zeitgefühl, das sich im Abseits der Gruppe 47 formiert hatte. Brinkmann, dieser „einzige Beatpoet“, Urgestein zweifellos in der Strömung, war dennoch, wie er selbst konstatierte, ein „Einzelgänger“. Die vom 3. Juni 1974 bis zum 21. März 1975 geschriebenen Briefe an Hartmut legen, wenn man sie daraufhin liest, ein Zeugnis ab von der beklemmenden Einsamkeit des Rolf Dieter Brinkmann in Köln.
Sein Briefpartner ist der Student Hartmut Schnell, der in Austin, Texas, lebt. Dort nahm Brinkmann Januar bis Mai 74 ein Gastlektorat wahr. Hartmut arbeitet an einer Magisterarbeit über Brinkmann. Diesem Umstand und Brinkmanns freundschaftlicher Offenheit haben wir es zu verdanken, dass der Autor des Gedichts

Zwischen
den Zeilen
steht nichts
geschrieben.

Jedes Wort
ist schwarz
auf weiss
nachprüfbar

hier die eigenen Bände Poem für Poem in assoziativen Skizzen erläutert, ihre Entstehungsbedingungen memoriert, auf Lektüren hinweist, Beweggründe offenlegt oder Motive wie „Bewegung“, „Orte“, „Helligkeit“, „Sprache“, „Sex“ hervorhebt. Wie nebenher stellt Brinkmann noch in diesen langen Passagen für den Magistraten Schnell nicht nur eine Fundgrube für Brinkmann-LeserInnen aller couleur her, sondern dank seiner unverwechselbaren Diktion ein para-künstlerisches Primärwerk. Selbst wenn seine Zugänglichkeit, dem Genre entsprechend, ungleich höher ist, so beeindruckt Brinkmanns Briefkonvolut, das er in einem Schnellhefter mit 139 Briefdurchschlägen abgelegt und handschriftlich mit Briefe an Hartmut betitelt hat,  nicht weniger als frühere Veröffentlichungen aus dem Nachlass. Auch Brinkmanns Briefkultur hat den Mammut-Touch seiner späten Schriften, ist exzessiv, ungefüg oder, um mit dem Brinkmann-Idol Hans Henny Jahnn zu sprechen, ein „Fluss ohne Ufer“: Einzelne Briefe mäandern über 40 Seiten, wuchern von Tag zu Tag, von Nacht zu Nacht…
Schroff aber grenzt sich der karge Alltag in Köln von der brieflichen Nähe zu dem fernen Studenten ab. In Köln mangelt es Brinkmann an literarischem Austausch. Die mentale Öde paart sich mit materiellen Nöten – zu Zeiten öffnen Brinkmanns nicht, wenn es klingelt, weil sie befürchten, es sei der Beamte, der ihnen „den Strom abkneifen“ wolle. Schwierigkeiten an Ecken und Enden, auch mit der Sonderschule für den sprachgestörten 10jährigen Sohn Robert. Dann die Nöte mit Rowohlt. Westwärts 1 & 2 – Brinkmanns endlich wieder greifbar gewordener letzter Gedichtband – muss empfindlich gekürzt werden, Fotos fallen raus, Text. Dazu kommt sein Ungenügen an der deutschen Umgebung, gegen die sich Austin in der Erinnerung wie ein verlorenes Paradies abhebt. Und so prägt Brinkmanns Wut auf Deutschland über weite Strecken die Seiten, sein verzweifelter Protest gegen die deutschen Gegebenheiten, die „Drecksrealität“. Brinkmann engt das „Zaundenken, ringsum“ ein. Er klagt die emotionale Kälte an, den „Befehlston“, die latente Gewaltbereitschaft, begehrt gegen die Unfreiheit und Verklemmtheit auf, murrt über „negative Rückkopplungen, gegen die man sich hier sehr schwer wehren muss“, oder grollt Kölns dumpfer „Industrieatmosphäre“. Oder er reisst den Hintergrund auf, die „zersplitterte Perspektive, worin man aufwuchs“, stellt die Brüche, Risse, Schnitte klar, die seine Generation in eine Aussichtslosigkeit und in einen Traum warfen. Und unermüdlich deckt Brinkmann die allgegenwärtige Bewusstseinskontrolle mittels Sprache auf, die typisch deutsche Vorherrschaft der „Gedanklichkeit“, auch im Umgang mit und der Produktion von Lyrik – bei gleichzeitiger „Lustverweigerung“ und „Scheu vor Sinnlichkeit“:

In der deutschen Sprache sind Begriffe wie Literatur, Kultur, Kunst Schlagwörter. Zuerst kommt immer Literatur, Kultur, Kunst usw. und dann erst Leben, Lebendigkeit. Ich für mich kann das nicht akzeptieren. Und deswegen bin ich auch schludrig und schlampig gegenüber Literatur, Kultur, Ziviehlisation, Viehlologie, Kunst usw.

Gegenwelten bieten ihm vitale Rockmusik, amerikanische Dichter und der literarische Underground, dessen lähmende Konsumtendenz Brinkmann allerdings, bei aller Idealisierung, früh realisierte: „Ich erinnere mich gerade daran, dass ich beinahe jedesmal erschrak, sah ich einen hippiehwestdeutschenmufftyp mit einem Acidbuch unterm Arm – dafür wars gar nicht gemacht.“ Brinkmanns Entwürfe gehen aber noch weiter. „Sexualität ist wirklich ein ganz lebendiger Gegenpol dazu, eine richtige Befriedigung (jedesmal wenn ich gut gefickt habe, von beiden Seiten her, merke ich die wirkliche erstaunliche Abstand-Distanz zu dem Rummel der grau ist ringsum!)“ Gegenentwurf ist ihm alles, worin er „Lebendigkeit“ wittert, „Impuls“. Er entwirft die „Schöne Utopie: wahrnehmen, sehen, aufnehmen, erleben ohne durch Wörter, Verstehen, vorprogrammiert zu sein – direkt.“ Und aus der Direktheit der sinnlichen Wahrnehmung heraus will er festhalten, „was über den Bildschirm des Bewusstseins geht“ und wie es „sich zusammensetzt“. „Kurzzeitgedächtnisszenen“ nennt Brinkmann seine Gedichte. Letztlich tauchen seine sprachlichen Äusserungen aus einem „Wissen ohne Wörter, ohne Absicht“ auf. Das ist die Folie des Han Shan vom Kalten Berg, des chinesischen Dichters, der die Menschen verliess und den Namen des Berges, auf den er sich zurückgezog, annahm und Gedichte auf Felsen schrieb; das ist die Zen-Folie:

Wenn man nachts allein in einem Zimmer sitzt, Schallplattenmusik an, ringsum ziviehlisationswüste, ist das beinahe wie auf einem <> allein zu leben, in dieser Art der Umgebung, in einer Seitenstrasse in der Innenstadt.

Ganz beiläufig bietet der Band also viel Ausserpoetologisches. So auch Stellen, die Theweleits Aussage erhärten, dass Brinkmann, obschon sich seine Protesthaltung in den 70ern nicht verwässerte, im Unterschied zu vielen anderen deutschen Intellektuellen angesichts der Aktivitäten der RAF keinem „abstrakten Radikalismus“ verfiel, der das „Realitätszeichen“ der Menschentötung ausblendet. Die Briefe halten Brinkmanns erste Reaktionen auf Medienmeldungen zur RAF noch im unmittelbaren Nachbeben fest. Dass es Meldungen waren, war dem McLuhan-geschulten Brinkmann dabei stets bewusst:

Überall jetzt Wörter in der Öffentlichkeit: <> wer ist denn in der Krise? Der Staat! – <> wie im Militär! Rufe nach der Todesstrafe ziehen durch dieses Sprachterritorium!

Und natürlich immer wieder Szenen aus Brinkmanns Kölner Alltagsleben, aus dem Robert und Maleen nicht wegzudenken sind (trotz oder gerade wegen der mannigfachen Querelen). Manchmal gerinnen die locker festgehaltenen Momente zum Schlüssel zu dem gleichzeitigen dichten Spätwerk: „Dass der Überblick nicht wahr ist, sondern das Darinsein, das ist ein Ausspruch von Maleen, als ich sie einmal fragte, wie fühlst Du Dich?“ Darin scheint auf engstem Raum Brinkmanns Wandel nach dem Gedichtband Gras (1970) auf, als bis zu seinem Tod kein Lyrikband mehr erschien, er aber eingedrungen war in die Produktion eines gewaltigen rhizomatischen Romanwerks, von dem bislang nur einige Blöcke sichtbar geworden sind. Auch die Briefe an Hartmut dürften als potentes Magazin zu dem unabgeschlossenen Projekt angelegt worden sein. Sie enden mit dem Abschnitt:

Gestern war Karfreitag, und ich machte eine gute Graupensuppe, war prima. Als ich aufwachte, war Schnee auf den Dächern, gegenüber. (Der Schnee machte die Seitenstrasse Eingelbertstrasse sehr hell. Und still.)

Einen Monat später, am 23. April 1975, wird Brinkmann im nächtlichen London vor einem Pub überfahren; es hiess <>.

Die Briefe an Hartmut sind ein guter Anlass, die Frage zu stellen, wohin wir in dem Vierteljahrhundert seit ihrer Niederschrift gekommen sind. Aspekte dafür bietet der Schlussbrief des Buches, den Hartmut Schnell am 22. August 1998 an den verstorbenen Rolf geschrieben hat, in Austin. Eine schöne Geste, in der sich einlöst, dass dieser Band auch das Buch einer besonderen Männerfreundschaft ist.

Florian Vetsch, rezensionen.literaturwelt.de

„Ist die Gegenwart ein Gangsterfilm?“

− Über Rolf Dieter Brinkmann und seine „Tätigkeit des Schreibens als Widerstand gegen das Herumtoben der Welt“. −

Als Westwärts 1 & 2 im Mai 1975, nur wenige Tage nachdem Rolf Dieter Brinkmann bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben gekommen war, erschien, war dies eine literarische Sensation. Aus deutscher Feder hatte man solche Texte bislang noch nicht gelesen. Es war die erste Publikation, die das zum „enfant terrible“ erklärte „Wunderkind“ des damaligen deutschsprachigen Literaturbetriebes nach fünf Jahren des Schweigens vorgelegt hatte.
Inzwischen hat der Lyrikband einen kanonischen Stellenwert erlangt, und Rolf Dieter Brinkmann ist post mortem zur poetischen Kultfigur avanciert. Nach 30 Jahren ist nun endlich eine erweiterte Neuausgabe erschienen, welche erstmals die von Brinkmann ursprünglich projektierte Gestalt von Westwärts 1 & 2 zugänglich macht. In der Ausgabe von 1975 mußte Brinkmann auf Drängen des Verlages 23 Langgedichte und ein 89 Seiten umfassendes, illustriertes Nachwort herausnehmen. Wie es heißt, ließen die „Publikationsbedingungen der Zeit“ es nicht anders zu. Ein schlechter Witz, erinnert man die Lebensbedingungen, unter welchen Brinkmann seine Texte produzieren mußte: „Wie wir durchkommen, ist mir oft selbst unklar. Die ganze Gegend, die Bekannten, sind alle abgepumpt. (…) eines Morgens stehtn Polizist vom Gas&Elektr. Werk vor der Tür und will den Strom abkneifen, dauernd Mahnungen, Drohungen, Rechnungen, Zahlungsbefehl.“ Brinkmann hatte die Erstausgabe von Arno Schmidts Zettels Traum versetzt, um die Fotoabzüge für den Gedichtband bezahlen zu können. „Es ist ein subjektives Buch, ohne Rücksicht auf die herrschende literarischen Konventionen, und kann ebensogut als ein zusammenhängendes Prosabuch wie Essaybuch gelesen werden.“
Der Text für die Verlagsankündigung, den Brinkmann damals telefonisch durchgab, beschrieb exakt, was auf den Leser zukommen sollte:

Stadtszenen und Landschaften, autobiographische Bruchstücke und fiktive Biographien, vermischt mit Briefstellen, Zeilen aus Rock’n’roll-Liedern und Fragmente aus Unterhaltungen, Erinnerungen und Lektüre machen die Gedichte, die oft lange auschweifende und abschweifende, rauschhafte Texte sind, zu einem intensiven Erlebniswirbel. Manche Gedichte sind dagegen wieder so einfach wie Rock’n’roll-Lieder.

Vieles, was in dem aufrührenden Taumel der 60er & 70er Jahren an Texten und bewegten Bildern entstanden ist, hat sich heute überlebt, erweist sich neubesehen als substanzlos oder zeitgeistliches Geschwätz. Die Gedichte & Prosatexte von Rolf Dieter Brinkmann, seine Collagen & Aufzeichnungen haben von ihrer Aktualität und Qualität nichts eingebüßt. Sein gnadenloser Blick auf die Alltagswelten und die Mechanismen ihrer Zernutzung, festgehalten in lyrischen Tiraden, Liedern, Photos, ist zornig, traurig, zärtlich, aber immer mit einer schmerzenden Genauigkeit, wie die unbestechlichen Ausschläge eines Seismographen.
Und man fragt sich unweigerlich, wie hat dieser hochsensible Mensch, diese permanent unter Strom stehende Wahrnehmungsmaschine es nur in seiner Haut ausgehalten. Brinkmanns Arbeit war auch ein permanenter Prozess der Vergewißerung seiner selbst, ein Forschen nach neuen Schreibtechniken und -haltungen.
Diesen Prozeß kann man jetzt nachvollziehen. Auf 29 Tonbänder, Magnetbandspulen, fast alle in den originalen Schubern verpackt, mit numerierten Aufklebern, beiliegend bekritzelte Zettel, handschriftliche stichwortartige Notizen befindet sich der Audio-Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann. Die Numerierung stammt von der Witwe Maleen Brinkmann, die 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, die Bänder zur Veröffentlichung freigegeben hat. Endlich können wir Brinkmanns Stimme hören und nachvollziehen, wie er mit sich und der Sprache gespielt, gearbeitet und gekämpft hat. Auf einer Tonbandaufnahme von 1973 erklärt Brinkmann: „Ich bin mit Fritz Mauthner der Ansicht, daß Sprache, Wörter, Sätze zur Welterkenntnis völlig untauglich sind. Es sind immer nur Wörter und Sätze, Formulierungen aber was ist denn da tatsächlich?, und das kann Sprache, Dichtung nicht sagen.“
Er betrachtete zu diesem Zeitpunkt die „Tätigkeit des Schreibens als Widerstand gegen das Herumtoben der Welt“. Man sollte ihn lesen und ihm zuhören.

Herbert Debes, Glanz@Elend

Phoenix aus der Asche

Als in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Bücher von Rolf Dieter Brinkmann erschienen, wurde der noch junge Autor von der Literaturkritik und seinen Kollegen als „shooting star“ der deutschen Nachkriegsliteratur gefeiert. Nach seinem frühen Unfalltod im Alter von 35 Jahren verebbte die Welle der Begeisterung jedoch. Umso erfreulicher, dass sich nun der Rowohlt Verlag ein Herz gefasst hat und Brinkmanns Hauptwerke neu auflegt. Insbesondere die Wiederveröffentlichung des Gedichtbands Westwärts 1 & 2. Gedichte, der jetzt zum ersten Mal in vollem Umfang sowie mit zusätzlichen Gedichten und einem beeindruckenden Nachwort vorliegt, beweist das Schreibtalent Brinkmanns, der in seinen Gedichten persönliche Erfahrungen mit Ortsbeschreibungen, gesellschaftlichen Analysen, Sozialkritik und Milieustudien verbindet.
Am Anfang und Ende des Buchs befinden sich mehrere Seiten mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die Brinkmann selbst schnappschussartig jeweils dort gemacht hat, wo er die Atmosphäre seines Aufenthaltsorts als festhaltenswert empfand. Diese Fotografien korrespondieren mit einigen der im Band enthaltenen „Augenblicksgedichte“, die gleichfalls auf minuziöse Weise die Stimmung eines Orts einzufangen suchen. Auf den Aufnahmen befinden sich Bilder von Straßen, Kreuzungen, Bäumen, Plätzen und Häusern, die durch die Wahl des jeweiligen Bildausschnitts, durch Verschwommenheit und durch die verdichtete Zusammenstellung von zwölf Fotografien auf einer Doppelseite den Eindruck von Spontaneität und Direktheit vermitteln.
Schon die kurze Vorbemerkung Brinkmanns macht deutlich, dass es ihm in seinen Gedichten neben ästhetischen Anliegen auch um eine Auseinandersetzung mit den ökonomisch-sozialen Mechanismen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft geht. Wiederaufbau und Fortschrittsdenken, Gewinnstreben und „protestantische Ethik“ bilden in ihrem Zusammenwirken ein seiner Ansicht nach lyrikfeindliches Milieu, weil nur dem Wert zugesprochen wird, das auch ökonomisch produktiv zu sein verspricht. Wie schon Walter Benjamin, so erkennt auch Brinkmann in der Tendenz, dass es immer so weiter geht, die eigentliche Katastrophe, da mit der ungebrochenen Kontinuität dessen, was ist, Oberflächlichkeit, Sinnleere, Konsum und Zerstörung einhergehen. „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter (…). Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist Samstag und Sonntag.“
Durch die funktionalen, immergleichen Abläufe bleibt alles unhinterfragt. Brinkmann versucht, mit seinen Gedichten gegen diese Glasglocke der abgestumpften Unreflektiertheit anzukämpfen, indem er durch Orts- und Stimmungsgedichte, durch provokant-rebellische Liedgedichte und dadaistisch geprägte Sprachrätsel die Sprache aus ihrer kommunikativ-gleichmachenden und durch die Massenmedien forcierten Verzweckung herauszulösen trachtet. In diesem Sinne führt Brinkmann in „Ein Gedicht“ alle Themen, Inhalte und Gefühle an, die dem Vorverständnis eines Publikums entsprechen, das in der Lyrik ein Mittel zur „Verhübschung“ des tristen Alltags sieht, unterläuft aber zugleich durch Verneinung diese Erwartungshaltung und bricht die negative Aufzählung schließlich nach 24 Strophen abrupt ab:

Hier steht ein Gedicht ohne Helden. In diesem Gedicht gibt es keine Bäume. Kein Zimmer zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem Gedicht. (…) Es ist nicht Montag, Samstag und Sonntag hier in dem Gedicht. Das Gedicht hier ist nicht die Verneinung von Montag oder Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf.

In den Gedichten wird deutlich, dass dem Lyriker Brinkmann im Nachkriegsdeutschland des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders die Luft zum Atmen fehlte. Die ständigen Existenznöte, das andauernde Betteln um finanzielle Unterstützung schlug sich in der ätzenden Sozialkritik seiner Texte nieder. Insbesondere die Omnipräsenz von Profitmaximierung und Konsumsteigerung bilden seinen Hauptkritikpunkt, weil durch die Dominanz dieser materiellen Ausrichtung all das negiert wird, was sich diesem Diktat nicht unterwirft, wie Dichtung, Träume, Natur, Freundschaft und Liebe. Exemplarisch heißt es dazu in „Drei einfache Variationen über ein Thema“, das mit dem Motto von Wallace Stevens „money is a kind of poetry“ überschrieben ist: „Als ob der Morgen, eingefasst von staubigen Rändern, hinter jedem zuklappt: Straßen, die Abflussrinnen für Gesichter, die ich alle nicht kenne. Sie kosten nicht viel, in Gang gehalten zu werden durch Geld, obwohl sie verschieden sind wie Wechselgeld, das nicht zählt, genauso abgegriffen und traurig, zum Lachen, Kalendertage an den Wänden, eine Zärtlichkeit zu erwischen, die nicht die Zärtlichkeit zählt. Ich berühre einige von ihnen, und sie erschrecken. Überall ist Montag zu verkaufen, wie immer Montag ist.“ Und im selben Gedicht heißt es zum Schluss: „Ich sehe, die träumen ihn nicht mehr. Sie träumen den staatlichen Traum Geld, während eine richtige Sonne scheint und ein weißer Fensterrahmen auf der anderen Straßenseite aufleuchtet.“
Brinkmann schreibt sich hier in eine kapitalismuskritische Lyrik-Tradition ein, die mit Charles Baudelaire ihren Anfang nahm. Von seiner Lebenswelt entfremdet, wird der Dichter zum „Ethnologen seiner eigenen Kultur“ (Michel Foucault): Er beobachtet die Passanten, versucht die Gesetze ihres scheinbar irrationalen Verhaltens zu entschlüsseln. Die wahren Bedürfnisse nach Sinn, Zusammenleben und Gespräch werden durch oberflächliche Wunschprojektionen, durch Konsum, Mobilität und Fassade ersetzt.

Ich dachte, wie oft habe ich an Geld gedacht, verrückt, in Panik, kein Geld zu haben, der Schein, der flattert, im Kopf die Schatten der Dinge.

Mit „Schein“ spielt Brinkmann auf die doppelte Bedeutung von Geld und Projektion an, indem er die vom Markt hervorgebrachten Bedürfnisse als käuflich und zugleich als „Schatten“ entlarvt. Für Lyrik, die auf ihrer Autonomie als Kunst besteht, ist in einer materiell ausgerichteten Gesellschaft wenig Platz, und so bemerkt Brinkmann im Nachwort: „Was hat das mit Gedichten zu tun? Nichts, und das spricht für Gedichte. Ist das das Motiv für den immer wiederkehrenden Hass auf Gedichte? Hier, wo jeder zu einem Sozialfall gemacht werden soll, wo jeder Dichter als Sozialfall behandelt wird, ausgeliefert einem allgemeinen Wohlwollen, einer Nützlichkeit, ausgeliefert dem vorgedruckten Verständnis, das in den Redaktionen der Massenmedien sitzt, Freizeithemd an, einige lumpige Versatzstücke von Verständnis im Kopf, ausgeliefert einer Angestelltenmentalität, ausgeliefert den Rätselherstellern, Kalenderfabrikanten, ausgeliefert den Zweitsystemen in den viehlologischen Abteilungen, ausgeliefert den öffentlichen Images, ausgeliefert den erstarrten Stilisierungen, ausgeliefert, wieso ruft die Unbrauchbarkeit von Gedichten soviel Ablehnung, Wut, Hass, Verfolgung hervor? In einem Gebiet, in dem das Sprechen von installierten Kontrollmaschinen, den Massenmedien, bezogen wird, in dem an jedem Tag die grausten, farblosesten Vorstellungen gesammelt und wiedergegeben werden, scheint nur ,logisch‘, dass diese Art Zerstörung des Sprechens, des Ausdrucks betrieben wird.“
Aus der Außenperspektive zeigt sich für Brinkmann „der miese Atem der gegenwärtigen Gesellschaft“, in der seiner Ansicht nach alles getan wird, um die Menschen in eine Melange aus Bedürfnissen und oberflächlichen Geschmacksfragen zu verwickeln, für die „Leben als eine Frage der richtigen Modefarbe“ erscheint. Der Künstler zerbricht an der „Ziviehlisation“, deren Institutionen laut Brinkmann nur darauf aus sind, die Menschen sprachlich-kommunikativ gleichzuschalten, zu kontrollieren und dem „Allgemeingefühl“ einzupassen. In ihrer Sterilität und grauen Monotonie verkommen dabei die Städte zu einem menschenfeindlichen Raum („Die verschiedenen Gegenden sind zerträumt, ausgeträumt, mit vielen zerträumten Menschen darin.“), der außerhalb der Ladenöffnungszeiten seine ganze abgestorbene „Kulissenhaftigkeit“ offenbart:

Es ist Samstag, früh am Nachmittag im August, die Stadt ringsum ist abgestorben, das Gespenstische der Straßen und Bauten kommt nun deutlich zum Vorschein, da die Läden und Geschäfte geschlossen sind, die Hausfronten verstaubt, die Trottoirs von Hunden verkotet, schwarze große Ölflecken darauf, einige erschöpfte Bäume, farbloses Blattgrün, manche Äste schon blattlos, (…) einige Fenster sind die Straße entlang geöffnet, später erscheinen darin Gesichter, überaltert, blicklos und mumienhaft traurig. Jedesmal paralysiert die Umgebung zum Wochenende.

Oder an anderer Stelle:

(…) trostloser Samstagabend in Westdeutschen Großstädten, die breiten Straßen, den Fußgängern vorbehalten, damit sie besser kaufen können, aber nicht zum Schlendern gemacht, Betonplatten, ein moderner Springbrunnen vor dem Kaufhaus oder eine moderne Plastik, etwas Volkstümliches (…), leer, bis auf die Polizeipatrouille im Volkswagen: – Polizeistunde, Volkswagen, Eisbein, Wochenende.

Diese allein durch den Wunsch nach Konsum in Gang gehaltene Gesellschaft verkörpert für Brinkmann eine „Metaphysik des Plastik“, die aufgrund ihrer Oberflächlichkeit die darunter liegende Sinnleere nur mühsam überdecken kann:

Lange, graue Warteräume sind die Tage, und die ausgeräuberten Träume setzen sich als elektrisch ausgeleuchtete Supermärkte fort!

Dieser menschenfeindlichen Umgebung hält Brinkmann seine Gedichte entgegen. Oft sind es die kleinen, unscheinbar-alltäglichen Dinge, die in seinen Gedichten eine Gegenwelt beschreiben: „Ein Glas frisches Wasser“, „Schattenmorellen“, die in der Sonne liegende Katze oder Rocksongs. Aus dem Aufgreifen solcher scheinbar nebensächlicher Aspekte entwickelt Brinkmann seine Gedichte:

Und neue Gedichte: aus Brieffetzen, Bruchstücken von Unterhaltungen, die ich hörte oder daran ich selber beteiligt gewesen, Lücken in den Gedichten, Sprünge, Gedichte ohne den Vorsatz, ein Gedicht zu schreiben, Gedichte ,ohne Motive‘, Augenblicksgedichte, ich setze mich hin, gehe von einem Eindruck aus, frage mich dann, wie weiter, lehne mich zurück, nächster Satz, verlorenes Erinnerungsbild, das vorbeizieht auf meinem Bewusstseinsbildschirm, plötzlich Mondlicht, vom Fenster aus gesehen, in einem Baugerüst, das alte etwas sentimentale Bild, warum nicht, wer verbietet das, Gegenwart, die ich jäh, mit einem Stoß spüre, wie weiter, hier in dem Gedicht, das ich gerade schreibe, nein, keine Erklärungen abgeben, plötzliche Erleuchtungen, was immer das ist (…).

Gegen die geschäftige Hektik seiner Umgebung pflegt Brinkmann das Innehalten, das Offensein für plötzliche Einfälle und Assoziationen. Seine Beobachtungsgabe lässt ihn vieles entdecken, was er in seinen „Augenblicksgedichten“ einzufangen sucht. Oft sind das Dinge, die von anderen als hässlich gemieden werden, z.B. das Gras zwischen den Steinplatten der Gehwege, die verwilderten, unbebauten Trümmergrundstücke, der in der Hitze des Sommers klebrige Teer, die verharschte Wiese im winterlichen Frost. So verwundert es nicht, dass ihm ein im Herbst herabfallendes Blatt mehr lyrische Anregung bietet als die Schaufensterauslagen und Reklamewände der Geschäftsstraßen.

Ich springe über den Schatten: die Betrachtung des einzelnen Blatts, das langsam, mit viel Zeit, abgerissen vom Ast, von einem Baum da herunterfällt, schwebend, dauert lange, hält an, in der Luft, ein fast schwereloses Flirren, exakt, in einem anderen Zeitraum, mit einem anderen Zeitmaß, wenn da überhaupt ein Zeitmaß ist, gegenwärtig und den anderen Zeitraum sichtbar machend im empfindlichen Bewusstsein, feines Dunkel der Helligkeit, feines Hell der Dunkelheit und anders, präzise, jetzt, deutlicher hier als die rote Neonlichtuhr von Boschlicht über dem Eingang des Kaufhauses, deutlicher als der Temperaturanzeiger von CocaCola auf der anderen Straßenseite, deutlicher als das dunkle Reisebüro darunter, wo die Prospekte fremder, anderer Orte liegen, Reklamen, An und Abflugzeiten, Preise, Apartments, Flugsand, Straßen, Gras, in diesem Augenblick, während man schaut, hier, in der Gegenwart, darin, lebendig, jetzt.

Die Gedichte und das Nachwort in Westwärts 1 & 2 verdeutlichen insgesamt, über was für ein Talent Rolf Dieter Brinkmann verfügte. Immer wieder gelingt es ihm, Situationen, Plätze, Gefühle und Stimmungen mit wenigen Worten spürbar und nachvollziehbar zu machen. Viele seiner Gedichte sind dabei mit Wut im Bauch geschrieben: Wut über mangelnde Anerkennung seitens der Gesellschaft, aber auch aus der Erkenntnis heraus, dass mit dem Nachkriegsdeutschland, dem er sich entfremdet fühlte, vieles im Argen lag. Deshalb zum Schluss hier seine Utopie einer anderen westdeutschen Wirklichkeit:

Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Reklamewände, ich stelle mir eine Stadt vor, in der nur einmal die Woche eine Zeitung erscheint, soviel Neuigkeiten gibt’s ja gar nicht. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Illustrierten, ich stelle mir eine Stadt vor, in der die täglichen Nachrichten im Radio und im TV ausfallen (…). Ich stelle mir eine Stadt vor, ohne die miesen Namen in Neonschriften an den Hauswänden, ich stelle mir eine Stadt vor, ohne dass die Seitenstraßen mit Wagen vollgestellt sind. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Verkehr (etwa so wie an den Sonntagen in dem Winter, als die sogenannte Energiekrise, die schäbige Erfindung zur Verteuerung von Waren, ,durchgeführt‘ wurde, ich hörte wieder die Schritte von Menschen auf der Straße und das Sprechen auf der Straße). (…) Ich stelle mir eine Stadt mit schattigen Bäumen und stillen Boulevards vor. Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor, Wandzeitungen mit Gedichten, Gedichte, die an Haltestellen morgens verteilt werden statt der Schmierzeitungen, sie hätten eine andere Wirkung (…). Ich stelle mir eine Stadt vor ohne den Fraß, der an allen Ecken verhökert wird.

Thilo Rissing, literaturkritik.de, Oktober 2005

Zweifelhafte Neuausgabe

Kurz nach Rolf Dieter Brinkmanns Tod bei einem Verkehrsunfall 1975 erschien im Rowohlt Verlag sein letzter von ihm selbst veröffentlichter Band: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Er sollte der herausragende Lyrikband der 70er Jahre werden, bis Ende des Jahrzehnts erreichte er die vierte Auflage mit 14.000 Exemplaren.
Allerdings hatte der Verlag den Gedichtumfang um ein Viertel gekürzt und das umfangreiche Nachwort des Dichters völlig gestrichen. In den folgenden Jahren erschienen dann zwar in Rowohlts Literaturmagazinen ein Auszug aus diesem Nachwort sowie einige der nicht aufgenommenen Gedichte. Schließlich, 1990 in einer Festschrift zum 50. Geburtstag des Dichters, kündigte die Witwe Maleen Brinkmann an, dass die erweiterte Neuausgabe von Westwärts 1&2 vom Rowohlt Verlag vorbereitet werde. Aber erst jetzt, zum 30. Todestag des Dichters und nachdem weitere 15 Jahre verstrichen sind, ist Brinkmanns lyrisches Hauptwerk laut Verlag vollständig zugänglich. Eine Verlegerstrategie, die umso mehr verwundert, als dieser Gedichtband ja auch kommerziell ein beachtlicher Erfolg war.
Was bietet die Neuausgabe nun tatsächlich an Neuem? 26 ehemals gestrichene Gedichte sind hinzugekommen sowie erstmals ungekürzt „Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten“, eine furiose Mischung aus Schreibmotivation, Poetologie und Gesellschaftsanalyse, worin auch die in der Westwärts-Ausgabe von 1975 nicht publizierten Fotos aus Köln einmontiert sind. Zudem ist die Schrifttype dank des größeren Bandformates jetzt einheitlich; Brinkmann war nämlich auf Grund des begrenzten Umfangs und Formats der gekürzten Fassung von Westwärts 1 & 2 gezwungen, bei seinen langzeiligen Flächengedichten auf einen kleineren Druck als bei den Versgedichten auszuweichen. So weit, so schön.
Zu bezweifeln ist dennoch, ob die Gedichte in der Anordnung vorliegen, wie der Autor sie konzipiert hatte. Beispielsweise enthält der Band das 27-seitige Gedicht „Einige populäre Songs“. Es fehlen aber in der Neuausgabe wiederum die sechs Lyrikabschnitte „Fragment zu einigen populären Songs“, die dieses Gedicht fortführen. Sie sind gleichzeitig mit dem Nachwort entstanden und zählen als dessen konsequente lyrische Umsetzung mit zum Besten aus Brinkmanns Lyrikproduktion. Dieses Verlagsversäumnis ist ärgerlich, denn dem Käufer dieses nicht gerade billigen Gedichtbandes wird zugemutet, nach einem 30 Jahre alten Literaturmagazin zu fahnden, wenn er alle Gedichte des Westwärts-Zyklus lesen will.
Außerdem wäre es angesichts des Preises und der literarischen Bedeutung dieses Werks angebracht gewesen, bei der Ausstattung auf die wenig haltbare Broschur zu verzichten und den sonst schön gestalteten Band, wie einem Klassiker des Verlags angemessen, in einer haltbareren gebundenen Fassung zu präsentieren.
Lange Zeit wurden die kürzeren Versgedichte aus dieser Gedichtsammlung favorisiert und durch Tageszeitungen wie der FAZ (Frankfurter Anthologie) einem größeren Lesepublikum bekannt. Inzwischen finden aber auch die langen Flächengedichte mit den nebeneinander gesetzten Wortblöcken ihre verdiente Wertschätzung. Die Germanistik erkennt allmählich, dass sie meist nicht planlos und chaotisch, so der oft gehörte Vorwurf, sondern variationsreich komponiert sind und gegen die Erstarrungen der Sprache anschreiben. Ihre collagenartige und fragmentarische Form entspricht dem gespensterhaften Kommerzialismus, der geschändeten Umwelt und dem fragmentierten Dasein der Menschen. Während der alltägliche Ausnahmezustand den meisten kaum mehr ins Bewusstsein rückt, benennt Brinkmann die Beschränkungen und Verrottungen, erfährt sie am eigenen Leib („Mein Körper wird von allen Seiten bedrängt durch diese technischen Geräusche“). Trotzdem oder vielleicht gerade dadurch verliert er sich nicht in den Trostlosigkeiten seiner Gegenwart, vermag vielmehr in diesen Gedichten und in den postum publizierten Materialienbänden stets aufs neue die Energie aufzubringen, um lebendige Gegenpole aufblitzen zu lassen.

Gernot Wolz, Am Erker, 2005

Die Schrecken des gewöhnlichen Lebens

− Der letzte Gedichtband Rolf Dieter Brinkmanns. −

Der Titel seines letzten Gedichtbandes gibt noch  einmal die Orientierung an, die für den im April verstorbenen Rolf Dieter Brinkmann so wichtig war: Westwärts. Von Köln „in diesem Todesterritorium Westdeutschland“, vom gespenstischen deutschen Kulturbetrieb, in dem lebendige Tote die kulturellen Wörter besetzt halten, wie er glaubte, wandte er sich schroff ab und richtete seinen Blick auf New York und die neue amerikanische Szene. Dort gab es für ihn eine Fülle von Material, das Absprungbasis sein konnte für alle denkbaren Formen künstlerischer Tätigkeit. Seine vielbeachteten Anthologien Acid und Silverscreen vermitteln, was Brinkmann entdeckte. Seine Gedichtbände Die Piloten (1967) und Gras (1970) verdeutlichen die Wirkungen der New Yorker Schule auf seine Lyrik.
Vor allem Frank O’Hara, dessen Lunch Poems Brinkmann übersetzt hat, faszinierte ihn. In der Vorbemerkung zu Westwärts zitiert er O’Hara erneut, vor allem sein Gedicht „Adieu für Norman, Bonjour für Joan und Jean-Paul“. War er sein Vorbild? Brinkmann glaubte sicherlich, daß O’Hara literarisch ähnliche Ziele verfolgte wie er. Und er sah ohne Zweifel in den Arbeiten des Amerikaners eine Bestätigung der eigenen Versuche und einen Ansporn, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Brinkmanns wie O’Haras Programm war: Die Dinge, gerade auch die alltäglichsten und banalen, sollen möglichst so unmittelbar und gegenwärtig, wie sie ergriffen werden, in das Gedicht eingehen und mit den Vorstellungen und Empfindungen des Ich, das sie wahrnimmt und Gebrauch von ihnen macht, verschränkt und verklammert werden. Gedichte, hat Brinkmann gesagt, entsprächen unserem Kurzzeitgedächtnis und seien das geeignete Instrument, spontane Reaktionen mitzuteilen.
Dieses Programm hat zwei besonders auffällige Konsequenzen für die Form des Brinkmannschen Gedichts. Zum einen führt die Betonung des Augenblickhaften und gegenwärtigen – Brinkmann will immer „ganz da“ sein und seinen Ausdruck finden – zum Bruchstück, zur Darstellung des einzelnen Moments, der den Zusammenhang mit anderen Momenten zu leugnen scheint. Lücken und Abstände entstehen zwischen und innerhalb der Zeilen und dann enggefügte Blöcke und wieder Zwischenräume. Zum anderen führt die gewollte Verklammerung von greifbaren Dingen und Vorstellungen zu wiederholten Sprechansätzen, die verschiedene Anschlußmöglichkeiten haben und nun auch typographisch auseinanderlaufen, sich verzweigen oder sich ineinander schieben.
Besonders die langen mehrteiligen Gedichte verdeutlichen, wohin sich dieser Lyriker entwickelt hat. Gerade mit ihnen gelingt Brinkmann eine weite Öffnung des Gedichts. Nicht nur weil er die Exklusivität dieser Gattung, ihre kostbaren Gedanken, ihre Aristokratie der Gefühle, ihre Hierarchie der Gegenstände nicht anerkennt; weil er die Fragen nach dem Wesen, die nach seiner Meinung das Wahrgenommene gleich stilisieren, „eintrüben“, möglichst vermeidet; und weil er alles, was für ihn Gegenwart ist, seine Sensibilität reizt, Spuren hinterläßt, für ihn Leben bedeutet, in seine Lyrik einbringt. Bemerkenswert ist auch, wie höchst flexibel Brinkmann das Gedicht macht, wie er Brüche, Sprünge, willkürliche Einschübe, oft nur Reflexe, hingeworfenes und immer wieder neue Einsätze zur Form erhebt und so die Spontaneität von Sehen und Reagieren ins Gedicht zu übersetzen versucht.
Aber diese offene Schreibweise entblößt auch die Überempfindlichkeit und Reizbarkeit, die Krisenanfälligkeit und die Ängste des Ich. Das wird besonders deutlich, wenn Brinkmann in seine langen „grenzenlosen“ Gedichte Strophen einfügt. Denn sie wirken inmitten eines bruchstückhaften und ungesicherten Umfelds wie ein nicht tragender Stützpunkt. Die Strophe ist hier eher eine erzwungene Konvention. Ihre Ordnung entlastet nicht von dem Chaos der Gefühle, Vorstellungen, andrängenden Bildern. Es gibt durchaus auch ganz einfache, ausbalancierte Gedichte von klassischer Schönheit. Wir werden sie sicherlich bald in jenen Hausbüchern unvergänglicher Poesie finden. Doch um begreifen zu können, welche ungeheuere Anstrengung notwendig war, so „harmonisch“ zu singen, sollten wir Brinkmanns lange Gedichte, die „die Schrecken des normalen Lebens“ direkt aufzeichnen, nicht vergessen. Denn hier haben wir diesen Autor in allen seinen Verknotungen nicht entrückt, sondern beunruhigend nah.
„Wo kommst du her? Direkt aus der Mitte von nirgendwo.“ In einer sehr abgegriffenen Sprache würde man vom „unbehausten Menschen“ sprechen. Sagen wir es lieber so: Brinkmanns Grundproblematik ist die Erfahrung eines bodenlosen Schwebezustandes, die Erfahrung, von allem und jedem getrennt zu sein und keine Koordinaten erkennen zu können, die eine Bestimmung, Festigung des eigenen Standorts zuließen…
Jetzt noch nach politischen Gedichten zu fragen, sollte sich erübrigen. Ist Brinkmanns offensichtliche Verachtung des Öffentlichen aber wirklich nur eine – wie Martin Walser gemeint hat – „regressive Gereiztheit“, ist er nur „böse zum Selbstgenuß“? Gewiß, auch in „Politisches Gedicht 13. Nov. 1974, BRD“ finden wir für Brinkmanns Position aufschlußreiche Sätze: „Aufklärung durch Wörter gibt’s nicht / Veränderung durch Wörter ist Dichtung“ und „Die Klarheit einer Theorie: schön, aber sie engt mich ein“. Doch Brinkmann datiert ebenso genau und kritisch, was ihn, den Zeitgenossen, verletzt und zum Rückzug auf sich selbst veranlaßt hat. Und er drückt mit seinen „Nervenreaktionen“ aus, wie „der Staat“ den einzelnen „kürzt“, wie der einzelne sich gegen die Fremdbestimmungen wehrt. Das Ich wird zum Schauplatz, auf dem die Leiden dieser Gesellschaft ausgetragen und sichtbar werden.
Von Anfang an war das Wirkliche für Brinkmann das, was ihn und nur ihn unmittelbar betrifft, seine Sensibilität und Träume provoziert. Seine beiden ersten Prosabände Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966) wurden zwar unter dem starken Eindruck des Nouveau roman geschrieben, Brinkmann hat jedoch nicht die methodische Abgeklärtheit der Franzosen. Er kann und will nicht neutral sein, sondern bezieht alles auf das Ich als Mittelpunkt, um an seinen hochaffektiven Reaktionen die ihn bedrängende Gegenwart und die unauflösbare Widersprüchlichkeit des Wirklichen sichtbar zu machen. In Wahrheit äußert sich hier ein heftiger Hunger nach einem intensiveren Leben. Wie vergeblich aber die Hoffnung ist, die physisch nahe Wirklichkeit zu übersteigen, zeigt sehr eindringlich sein Roman Keiner weiß mehr (1968). Dort ist vor allem die nackte Sinnlichkeit das Erfahrungszentrum. Doch gerade sie kann Brinkmanns Erwartungen nicht erfüllen und verstärkt nur noch sein existentielles Ausgeliefertsein. Brinkmanns Gedichtband Die Piloten und seine Begeisterung für die neue amerikanische Szene legten den falschen Schluß nahe, daß er sich aus seinem engen, niederdrückenden Leben in einen Technicolor-Himmel aufschwingen wollte.
Brinkmann sah eher immer deutlicher, daß jede Mythologie aus Batmann, Ava Gardner und Coca-Cola und jene künstlichen Gärten im nächsten Kaufhaus verramscht werden, daß er die Pop- und Underground-Kultur, die er sich wünscht nur importieren konnte, aber nie wirklich besaß. Das Titelgedicht „Westwärts“ seines letzten großen Gedichtbandes notiert vielmehr die für Brinkmann sehr schmerzliche Erfahrung, das belastende Alltägliche nicht einfach überfliegen zu können. New York war nur eine utopische Welt: „Merkwürdig, wie leer ich zurückkam.“

Thomas Zenke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8.1975
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Notizen zu neuen Gedichtbänden

(…)
Auch Rolf Dieter Brinkmann möchte kunstlos scheinen und will doch die Poesie und ein poetisches Leben, wenn dabei die Poesie „manchmal ein wüster, alltäglicher Alptraum“ ist. Brinkmann wurde am 23. April 75 in London von einem Auto überfahren, als er, angelockt von einem Restaurant mit der Leuchtschrift „Shakespeare’s: Open day and night“, eine verkehrsreiche Straße überqueren wollte. Rilkes eigener Tod hier der Tod wie in einem Brinkmannschen Gedicht.

Mit dem umfangreichen Band Westwärts 1 & 2 kehrt Brinkmann, der als Autor schon verstummt schien, in die pop-literarische Szene zurück. Zwar insinuiert das „Vorwort“, daß alles weitermache, so auch die Poesie, aber die Gedichte selbst zeigen doch bemerkenswerte Veränderungen gegenüber der früheren Neigung zur Oberflächenkunst. Brinkmann setzt entschiedener als früher seine Existenz ein, eine schäbige, bittere und erbitterte Randexistenz mit all ihrer Anfälligkeit und Sensibilität und einem beträchtlichen Potential an Aggressivität. So ist es glaubhaft und kein bloßer un-frommer Wunsch, wenn Brinkmann einen Pop-Sänger sagen läßt:

„Ich schlag euch nieder,
ich weiß nicht, ob aus Wut,
dann kommen die Lieder
besonders gut“

So die Poesie mit seiner Existenz gleichsetzend, ist Brinkmann enervierend und monoman, aber selten langweilig. Er reproduziert weiter seine Kölner Umwelt, erweitert um den unvermittelt hervorbrechenden Haß auf das „Todesterritorium Westdeutschland“, erweitert vor allem durch Eindrücke und Erfahrungen aus Italien, England und den USA. Es ist nicht mehr das imitierte synthetische Amerika der Reklame und der Stars, sondern ein erlebtes, kaum bewältigtes, in Eindrücke und Worte auseinanderfallendes:

Ich starrte auf die Buchstaben,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas war der Westen,
als ich den leeren, weiten Parkplatz überquerte.

In überlangen Gedichten häuft Brinkmann über viele Seiten hinweg Halden von Material, Eindrücken, Belanglosigkeiten, Zitaten, oft bloß noch „Variation ohne Thema“. Diese Langgedichte, deren Wert und Bedeutung Brinkmann offensichtlich überschätzte, folgen formal dem Vorbild von Frank O’Haras Poem „Biotherm“ (nachzulesen in Brinkmanns Anthologie Silverscreen, Köln 1969), das – wie unter Drogeneinfluß – divergierende Textfilme unverbunden nebeneinandersetzt. Bei Brinkmann hat diese Mehrfachprojektion nur partielle poetische Evidenz, in präzisen snapshots: „Der Aufwischneger bringt Bierdosen“ – in einem solchen Detail ist amerikanische Zivilisation präsent.

Brinkmanns Stärke, die Fähigkeit, banale Szenen zum scharf umrissenen symptomatischen Bild zu fügen, kommt in den kürzeren Gedichten zum Zuge, z.B. „Die Orangensaftmaschine“, „Einen jener klassischen schwarzen Tangos…“, „Ein Skunk“, „Über das einzelne Weggehen“ und vielleicht am schönsten „Nach Shakespeare“ gleichsam ein vorweggenommener Epitaph des Autors für sich selbst. Unter dem Aspekt von Brinkmanns allzufrüh abgebrochener Entwicklung berühren den Leser vor allem jene Stellen, in denen alle Aggressivität und vorgegebene Härte aufgegeben ist und die reine Trauer sich im Verlangen nach Sanftheit ausdrückt:

Laß mich
aaaerinnern, sagst du,
aaaaaalaß mich erinnern, laß mich
allein, sagst du, laß mich, sanftes Gesicht
aaaaaaaaaim sanften Septemberlicht,
wie jetzt: antworte sanft

Man spürt, wie sehr Brinkmanns Auflehnung aus dem Trotz eines verwundeten Menschen kam, der sagen mußte: „Ich spucke auf / die Literatur: auf den Schmerz, / persönlich erlitten und / artikuliert“ und der – nach manchen Umwegen – in diesen Gedichten nichts anderes getan hat, als persönlich erlittenen Schmerz auszudrücken.

Harald Hartung, Neue Rundschau, Heft 3, 1975
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Ein Poet der Rock-Generation

– Rolf Dieter Brinkmanns letzter Gedichtband. –

Rolf Dieter Brinkmann ist tot. Er war noch jung; er war eine unserer großen Begabungen; der Verlust ist nicht zu verschmerzen. Jeder Mensch stirbt vor der Zeit. Stirbt ein Dichter und ist noch jung, sagt man: Er war ein früh Vollendeter, oder: Er hatte sein eigentliches Werk noch vor sich.
Rolf Dieter Brinkmann war kein Vollendeter, in keinem Sinn; er war ein Unfertiger auf radikale Weise. Und doch hat er ein Werk vollbracht, das absolut abgeschlossen, nach keiner Seite hin zu überschreiten ist. Das Unfertigsein macht im Fall des Rolf Dieter Brinkmann die Signatur seines Vollendetseins aus.
Dieser Dichter war Repräsentant einer Generation, einer Epoche, die selber unfertig war und ist. Es gibt Namen für diese Generation, diese Epoche. Sie bezeichnen vielleicht das Oberflächlichste daran, dienen aber der Verständigung. Brinkmann selber benutzt das Wort in seinen Gedichten: Rock’n Roll oder einfach: Rock. Was ist das? Es ist ein Lebensgefühl, das eigentlich ein Nichtlebens-Gefühl ist, etwas, was sich in Angst, Wut, Aggression äußert und manchmal in einer vehementen, harten Melancholie verströmt. Jenseits davon und in alledem ist Rock ein neuer Rhythmus: stampfend, monoton, einem Prinzip unendlichen Fortschreitens gehorchend dieser Rhythmus verneint die harmonische Rundung, die gegliederte Artikulation, die Hierarchie von Oben und Unten, Haupt- und Nebensache; dieser Rhythmus ist blind für Begriffe, Feind aller Theorie und Ideologie; er setzt sich selber als einzige und letzte Ideologie.
Dieser sich absolut setzende Rock-Rhythmus, nicht ohne radikale Naivität, freilich auch nicht ohne ideologisches Bewußtsein von sich selber verwirklicht, bestimmt als herausragendes Moment den vorliegenden Gedichtband. In gewisser Weise sind alle Gedichte, die Brinkmann zwischen 1970 und 1974 geschrieben und hier gesammelt hat, ein einziges Gedicht. Das letzte Gedicht der Veröffentlichung trägt bezeichnenderweise die Überschrift „Dieses Gedicht hat keinen Titel“. Das gilt auch für die anderen. Es sind Gedichte, die fast sämtlich durch das Nichtendenkönnen gekennzeichnet sind. Sie heißen etwa „Westwärts“ oder „Westwärts, Teil 2“, „Variation ohne ein Thema“. Oder – immer wieder – „Bruchstück“. Und auch das könnte über allen Gedichten stehen: Bruchstück. Alle zusammen, der ganze Band, sie ergeben auch wieder nur ein Bruchstück. Wo und wie die Gedichte enden, das ist fast immer Zufall, wenngleich es nicht zufällig ist, daß in den letzten Strophen des letzten Gedichts das Substantiv „Alleinsein“ gehäuft vorkommt. Hinweis, daß der unendliche Rhythmus dieser Gedichte, der die Dinge, Menschen, Ideen, Schlagworte geradezu wütend ergreift, verzehrt und wieder ausscheidet, keine wirkliche Resonanz in einem Anderen findet.
Ein tiefer Mangel äußert sich hier. Nicht-Kommunikation möchte gleichwohl kommunizieren. Totale Weltlosigkeit trachtet zur Realität durchzustoßen. Ein heftiger Drang hindert sich an sich selber. Dieses Paradox ist konstitutiv für Brinkmanns Lyrik, die keine Lyrik im traditionellen Sinn mehr ist, am allerwenigsten dort, wo sie sich, sarkastisch-ironisch, Gattungsbezeichnungen wie Lied, Song, Hymne, Ballade von der Überlieferung des Dichtens noch ausleiht. Nur noch die abstrakteste Subjektivität ist übriggeblieben vom Geisteszustand einstiger Lyrik. Es ist eine der plastischen Individualität beraubte Subjektivität, veräußert und verdinglicht, dieser Veräußerung und Verdinglichung schmerzhaft bewußt.
Jenes Paradox von Weltlosigkeit und Realitätsdrang, charakteristisch für Brinkmanns Lyrik, hat der Autor in einer Anwandlung – fast möchte man sagen – von Humor, von transzendentaler poetischer Selbstreflexion in den Versen „Ein Gedicht“ besonders eindrucksvoll umschrieben und demonstriert: Die 24 Strophen dieses Gedichts – sie ergeben übrigens für Brinkmanns Verhältnisse ein durchaus knappes Format – bestehen aus lauter Verneinungen von Realien, Tätigkeiten, Gemütszuständen, und sie behaupten, insistierend, das Ganzanderssein und Darüberstehen des Gedichts als einer Sache für sich: dieser nämlich, die angeblich so lange und keinen Augenblick länger dauert, als sie lesend rezipiert wird. Eben diese penetrante Häufung von Negationen bringt aber die abgewehrte Realität dann doch wieder in aufdringlicher Weise in das Gedicht hinein, macht dieses sperrig, „voll“ und läßt es, typisch für die Poesie Brinkmanns, präzis auf der Grenze von Realität und Über-Realität schwanken. Wobei die „Dinge“ ebenso wie die Verse ein geisterhaftes Aussehen gewinnen und letzten Endes nur jener Rock-Rhythmus sich triumphierend zur Geltung bringt.
Vielleicht sollte man hinzufügen, daß Brinkmann durchweg und systematisch die Realität desintegriert und in ihrer Zerstücktheit vorführt. Seine Gedichte, die Aktualität wie wenige moderne Gedichte in sich tragen, ohne sie je zu „bewältigen“. sind eigentlich lyrische Trümmerkataloge. Natürlich hat das Verfahren Vorbilder. Der späte Benn mit seinen „Fragmenten“. Rimbaud („Was ist mit den Tümpeln, Rimbaud?“, heißt es mehrmals bei Brinkmann), vor allem Kerouac, Frank O’Hara. W.C. Williams können als Vorläufer und Geistesverwandte gelten. Doch behauptet Brinkmann seine Eigenart. Er radikalisiert die Vorzüge und, nicht zu übersehen, auch die Schwächen der Genannten. Fraglos gehört ein gutes halbes Dutzend der Gedichte zum Besten der letzten 20 Jahre deutscher Literatur und dürfte Bestand haben: als rücksichtslos wahrhaftiger Ausdruck einer „unfertigen“ Generation, die – um aus dem Vorwort des Autors zu zitieren – „aus der Sprache und den Festlegungen raus“ wollte und die vergeblich nach einem scheinbar Einfachsten sich sehnen mußte wie nach einer Utopie:

Was für Entzückungen eine Straße entlangzugehen, während die Sonne scheint

Franz Norbert Mennemeier, 1974, aus Franz Norbert Mennemeier: Spiegelungen. Literaturkritik 1998–1958. 40 Jahre Neues Rheinland. Rhein・Eifel・Mosel-Verlag, 1998
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Weitere Beiträge zur Erstausgabe:

Hans Christoph Buch: Hanf um einen alten Wasserhahn
Süddeutsche Zeitung, 14.5.1975

Nicolas Born: Stilleben einer Horrorwelt
National-Zeitung, Basel, 17 5.1975

Jürgen Theobaldy: Schreckensbilder aus Wörtern
Frankfurter Rundschau, 24.5.1975

Michael Hamburger: Maximum vibrations
The Times Literary Supplement, 6.6.1975

Sigrid Süss: Ein Fluß, auf dem alles treibt
Mannheimer Morgen, 24.7.1975

Jürgen Frey: Die Sehnsucht nach wortloseren Zuständen
Badische Zeitung, Freiburg, 3.8.1975

Karl Krolow: Deutsch bald eine tote Sprache?
Darmstädter Echo, 6.8.1975

Dieter Bachmann: Der Dichter als Minenleger
Die Weltwoche, Zürich, 13.8.1975

Manfred Bosch: Subjekt, Scene, Pop
Die Tat, 27.9.1975

Jürgen P. Wallmann: Westwärts 1 & 2
Neue Deutsche Hefte, 1975, Heft 147

Magdalena Vogel: Rolf Dieter Brinkmanns letzte Gedichte
Tages-Anzeiger, 23.1.1976

Peter Laemmle: Hass als polemischer Schmerz
Die Weltwoche, 12.11.1980

Sibylle Späth: „Das Gedicht besteht aus lauter Verneinungen“
Deutsche Lyrik nach 1945. Hg. von Dieter Breuer, Suhrkamp, 1988

Andreas Wirthensohn: „Briefe an Hartmut 1974–1975“. „Westwärts 1 & 2“
Deutsche Bücher, 1999, Heft 3

Elisabeth Andres: Gedanken zur Lage der neuen deutschen Lyrik
Merkur, Heft 356, Januar 1978

Werner Ross: Der neue Realismus in der Lyrik
Merkur, Heft 329, Oktober 1975

Weitere Beiträge zur Neuauflage:

Alex Rühle: Gedichte wie Songs, wie eine Tür aufmachen
Süddeutsche Zeitung, 16./17.4.2005

Mathias Schnitzler: Das Ich im Kriegszustand
Berliner Zeitung, 21.4.2005.

Mirko Weber: „Sie sind fast alle Masochisten und Sadisten in ihrer Seele“
Stuttgarter Zeitung, 22.4.2005

Frank Schäfer: Noch viel Betrieb in dieser Spielhalle
die tageszeitung, 23./24.4.2005

Michael Lentz: Der große Schreihals
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.5.2005

Jonathan Woolley: The Ethical Project in Rolf Dieter Brinkmann’s Westwärts 1 & 2
Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 159, Weidler, 2005.

Vasco Boenisch: Kübelfreie Kraft
Süddeutsche Zeitung, 22.9.2008

Julian Weber: Die Zeit, die noch bleibt
die tageszeitung, 24.9.2008.

Mike Hiegemann: Vergessen diese Frage, nächster Moment!
Theater der Zeit, Jahrbuch, 2008

Michael Töteberg: „Dichter sind doch nicht doof!“
Hermann Gieselbusch u.a.: 100 Jahre Rowohlt, Rowohlt, 2008

Jamal Tuschick: Amerikanische Freude
der Freitag, 20.5.2015

 

 

Willi Winkler: Fast in Schwarz-Weiß
Süddeutsche Zeitung, 12.10.2018

 

Rolf Dieter Brinkmann: Schreiben als fiktionaler Aufstand

Rolf Dieter Brinkmann war ein Kölner Schriftsteller. Er wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden. Er starb am 23. April 1975 in London, nachdem er, im Anschluss an eine erfolgreiche Lesung beim Cambridge Poetry Festival, vor dem Pub Shakespeare beim Versuch, die Strasse zu überqueren, aufgrund des für ihn ungewohnten Linksverkehrs von einem Auto erfasst wurde. Er wurde nur 35 Jahre alt.
Mein Zugang zu seinem Werk verlief über mehrere Stationen. Zunächst machte mich Dieter Wellershoff auf ihn aufmerksam, der sein Lektor bei Kiepenheuer & Witsch war. Noch am Vorabend seines Todes hatte er sich mit ihm in einer Kneipe getroffen, da Brinkmann sich in einer Schreibkrise wähnte.
Ich gebe zu, ich hatte Schwierigkeiten, mich den Texten Brinkmanns zu nähern. Dann lernte ich auf dem Nippesser Flohmarkt einen Antiquar kennen, der lange mit Brinkmann befreundet war. Gemeinsam hatten sie im Buchhandel gearbeitet. Er erzählte mir einiges über die Persönlichkeit Brinkmanns. Er hatte ihn am Tage seines Todes früh morgens zum Kölner Flughafen kutschiert.
Um den ersten Gedichtband Brinkmanns herauszubringen, hatte er eigens einen kleinen Verlag gegründet. Er ließ 1.000 Exemplare drucken, die leider einige Druckfehler enthielten. Brinkmann bestand darauf, dass die Auflage eingestampft wurde. Das war gleichzeitig das Ende des Verlags. Zum Glück brachte der Antiquar einige Exemplare in Sicherheit, die er heute zu einem stattlichen Preis an Brinkmann-Verehrer verkaufen kann.

*

Brinkmanns Schreiben ist ein einziges Aufbegehren gegen die Umstände seiner alltäglichen Lebenssituation: die Enge der Wohnung, die ständigen Geldnöte, die familiären Verhältnisse. Und gegen die Zumutungen des Großstadtlebens, die Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit der Menschen, die Hässlichkeit der Architektur, den Lärm, Gestank und Schmutz der Straße, die Penetranz der Warenästhetik mit ihren Scheinangeboten und Glücksversprechen. Wollte man einen Begriff finden, der Brinkmanns Empfindungen ausdrückt, wäre dies zweifellos der Begriff der Entfremdung: und zwar im umfassenden Sinne – so wie Marx den Begriff geprägt hat: von den gesellschaftlichen Umständen; von sich als Person; von den zwischenmenschlichen Beziehungen und selbst von den Produkten seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Eines bedingt das andere: eine zutiefst verunsicherte und unglückliche Persönlichkeit bewegt sich in einem gesellschaftlichen Kontext voller innerer Widersprüche; die Erfahrungswelt des Autors ist von Zerrissenheit und einem Gefühl der Fremdheit und Verlorenheit geprägt.
Dieter Wellershoff, der für Brinkmann wohl so etwas wie eine Vertrauensperson war, schildert die Intentionen seines Schreibens so:

Schreiben ist für Brinkmann spontane Intuition, innere Aufwallung, Zustrom von Eindrücken, eine Kette momentaner Evidenzen, immer und, solange es andauert, eine grandiose Form der Existenz, mal punktgenau den Augenblick treffend, mal gestenreich sich in weiträumiger Gedankenflucht verlierend, vor dem Hintergrund einer verwirrend vielfältigen, aber für sich seienden, in sich verschlossenen Welt, wo er sich letzten Endes immer in derselben Situation sieht.

Brinkmann versucht, die innere und äußere Zerrissenheit seiner Lebensumstände schreibend zu verarbeiten. Womöglich, um sie auf diese Weise zu bewältigen oder zumindest dagegen an zu schreiben. Dass dies eine Illusion bleiben würde, ist Brinkmann wohl zunehmend bewusst geworden und hat immer wieder zu Situationen der Resignation und Verzweiflung geführt. In einem Brief an seinen Freund Hartmut schildert er seine Lebenssituation:

Was mich betrifft, bin ich ziemlich aus der Form gekommen. Die Arbeit am Gedichtband seit Sommer, das Hin und Her mit den Verlagen und dem Geld… Pump, Kredite von Freunden, das Telefon abgekniffen, der schreckliche Kölner Winter in einer engen vergammelten Wohnung, wo’s zieht, die Fensterrahmen faulen, die Küche zu groß und hoch, „klassizistisch“, ohne zu beheizen… die endlosen lichtlosen engen, niedrigen Tage, ein dumpfes Gemisch, der Stadtverkehr, mit dem man konkurrieren muß, ist man draußen, Spaziergänge, die nur Gänge zum Einkaufen sind, keine Vegetation, alles nur verstaubter Stein, Wohnungen wie Steinhöhlen… wieder meine angesammelte Bibliothek Stück für Stück verkaufen müssen. Zersplitterter Sex, oder was schlaffes, weil nachts man zu sehr erschöpft ist vom Tag (und das Allerschlimmste ist, dass diese miese Realität einen, mich, jeden, so angespannt hält, dass man zwischendurch gar nicht mehr tagträumen kann, keine Pausen einlegen kann) – ich fühle mich total unterlegen und runtergebeugt, – gehe ich mir ne Arbeit suchen, kann ich nicht mit Schreiben Geld verdienen, wenigstens etwas, und alles muß man vorfinanzieren, jeden Tag leben…: kannst Du Dir vorstellen, wie das alles zersetzend ist? Mich überkommt einfach dann eine große Müdigkeit, die träge macht und schwerfällig macht… kurz nach dem Aufstehen könnte ich manchmal schon wieder einschlafen. Oder der Schlaf ist benommen und benommen davon wacht man auf und muß sich erst mal vom Schlafen erholen… weil’s nämlich keine Aussichten in dieser Stadt gibt, alles nur entsetzlich hässlich ist, wie in jeder westdeutschen Großstadt, besonders seit den letzten vier, fünf, sechs, sieben Jahren in einem rasenden Tempo geworden, nichts als Industrie, kaufen, verkaufen, dazu die Tränensäcke der Theoretiker, die durch die Gegend wandern… und die Stadt, Umwelt, unästhetisch wie’n verstopftes Klosett, und das Klima, ebenso verstopft, macht aggressiv und schlampig – das ist die genaue Beschreibung Kölns, eine Drecksstadt.

Textstellen wie diese gibt es Dutzende bei Brinkmann. Man braucht sie nicht zu interpretieren. In ihrer Direktheit und Schonungslosigkeit sprechen sie für sich. Dies entsprach der Schreibintention Brinkmanns in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung. Ihm gefällt es, einfach und direkt etwas zu sagen. Er sieht darin einen größeren Freiraum für sein Schreiben, „selbst wenn das so direkt gar nicht in der deutschen überlasteten, mit Begriffen und weltanschaulichen Abstraktionen (unsinnlichen Begriffen) überlasteten Sprache möglich ist…“
Fast immer sind es Alltagssituationen, die das auslösende Moment für Brinkmanns Schreiben bilden. Scheinbar nebensächliche Dinge, etwas, das ihn stört oder sonstwie seine Aufmerksamkeit hervorruft. Diese Wahrnehmungen werden in ihrer oft brutalen Unmittelbarkeit umstandslos benannt. Sie sind es, die Irritationen auslösen und den Autor zur Reflexion über sich und die Welt veranlassen. Dabei entwickelt Brinkmann eine erstaunliche, fast schon pathologisch anmutende Sensibilität: alltägliche, scheinbar vertraute Alltagssituationen, an die man sich längst gewöhnt zu haben scheint, werden durch Brinkmann ihrer Selbstverständlichkeit beraubt. Mit einer geradezu fotografischen Präzision führt Brinkmann alltägliche Abläufe vor, um deren Monotonie, Sinnlosigkeit und zerstörerische Potenz bewusst zu machen. Es sind zugleich die Abläufe, unter denen er selbst leidet und gegen die er sich auflehnt – mit all seiner Phantasie, Wut und Verzweiflung.

Manchmal, wenn ich rausgehe, kriege ich nach einiger Zeit regelrechte Wutanfälle und ich könnte den Leuten mit ihren angelernten Redensarten und Ansichten faule Putzlumpen in ihre Mäuler stopfen, Fernsehgeräte auf die Straße werfen, die Musiksendungen nachmittags mit den chicen ordentlichen modernen Sprechern durchprügeln, die glotzenden Rentner, die überall rumsitzen, die ganze sogenannte „humane“ Kacke, von denen das Land hier vollgestopft ist, dieses miese mickrige Arbeitslager, das sie so perfekt mies und kleinbürgerlich ordentlich gemacht haben, überall eingeteilt in kleine Kästchen mit Geranien, diese Muffpopgeneration aus den Vorstädten – ah, da schüttelt mich Wut, was gar nicht gut ist, denn ich bin es ja, der sich über den enormen Scheißdreck ärgert, und ärgern tut weh, da muß ich mich anstrengen, abzubiegen, mich selber rauskatapultieren aus den Zusammenhängen, dem vorgegebenen Sinn, der immer enger, dichter, stickiger zu werden scheint. Und die Leute rotieren wie blödsinnig auf der Stelle, hin und hergeschüttelt durch Mode, Musik, noch ein Fetzchen neues, noch wieder eine neue miese Kitschmodesaison. Dabei ist alles, wirklich alles, so ungeheuer schäbig und klapprig! Aber sie alle gehen da hindurch, wie die Könige des Drecks! Viel zu viele „Engel“ singen in dem Muff hier!

Der Versuch Brinkmanns, die Dinge unmittelbar und ohne Umschweife zu benennen, ist nicht nur Ausdruck seiner Verzweiflung, ja seines Hasses auf die Zumutungen der Zivilisation (in seiner Schreibart: Ziviehlisation); gleichzeitig handelt es sich dabei um ein ästhetisches Prinzip.
Brinkmann nimmt Maß an Schriftstellern wie W.C. Williams oder den jüngeren PopArt Autoren wie z.B. Frank O’Hara. Aber er orientiert sich ebenso an ästhetischen Vorbildern wie Western oder sog. B-Movies oder Texten des Rockn’Roll. Er bewundert an ihnen die präzise Beobachtung alltäglicher Details. Empfindungen ganz dinglich-konkret auszudrücken – das ist für ihn ein künstlerisches Ideal, dem er nachstrebt. Ihm geht es um den rohen, unmittelbaren Effekt und nicht um einen Kunsteffekt.
Er möchte seinen Wahrnehmungen ein gewisses Maß an Konkretheit verleihen. Ganz im Sinne Hegels, wonach die Wahrheit immer konkret ist. Nichts soll aufgebläht, begrifflich verbrämt oder gekünstelt daherkommen. Auf diese Weise versucht, er ein gewisses Maß an Selbstvergewisserung zu erreichen; den Dingen nahe zu kommen. Möglicherweise unterliegt Brinkmann gar der Illusion, dass die vorwärts drängende Energie des Schreibprozesses selbst schon die Überwindung der Probleme mit sich bringt, die ihn bedrängen.
Teilweise fließen seine Alltagserfahrungen ungefiltert in sein literarisches Schreiben ein. Insbesondere gilt dies für seinen Roman Keiner weiß mehr, den man als ein einziges Lamento auf seine Lebensumstände lesen kann. Wellershoff weist in diesem Zusammenhang auf das begrenzte thematische Repertoire Brinkmanns hin:

Sein autobiografisches Material war der kleinbürgerliche Alltag in seiner unverhüllten Schäbigkeit aus täglichen Wiederholungen und Frustrationen: eheliche Entfremdung, Missverständnisse, verstörte, gehemmte Sexualität und ausbrechender Streit, Flucht aus der Wohnung, um der erstarrten Aussichtslosigkeit zu entkommen, zielloses Herumlaufen in der Stadt, ständig verwirrt durch den Anblick fremder Frauen, die alle in einem anderen, besseren Leben zu Hause zu sein schienen und für ihn unerreichbar waren, Kinobesuche, um sich abzulenken, nach langem Zögern ein blamabler, unbefriedigender Bordellbesuch, Freunde, die mit ihren Erfolgen angaben, bei denen alles zu stimmen schien, während er in einer Sackgasse steckte.

Aber Wellershoff ist es auch, der darauf hinweist, dass die Darstellung alltäglicher Abläufe keineswegs gering zu schätzen ist. Im Unterschied zur Schilderung grenzüberschreitender Ausnahmesituationen wie Verbrechen, großen Unglücken usw. , denen die Aura der Grandiosität anhafte, verlange die Darstellung der erbärmlichen Alltagsverhältnisse ein erhebliches Maß an Selbstüberwindung. Die Kunst Brinkmanns besteht darin, zu zeigen, dass den sogenannten kleinen Dingen des Alltags gesellschaftliche Relevanz zukommt. In den Worten Jürgen Theobaldys, eine Freundes von ihm:

Die ‚kleinen Dinge‘ bei Brinkmann, das sind nicht Wörter, die ein beschädigtes Leben beschönigen, indem sie diesen Zustand in herkömmlicher Sprache fassen, vielmehr geben diese ‚kleinen Dinge‘ Gesellschaft wieder, Welt, Leben, verdichtet zu einigen Zeilen. Sie drücken nicht Protest aus,  sie   s i n d   P r o t e s t, Einspruch, Gegenbilder. Worum es geht ist, dass die Sprache, in der sich die Lyrik derzeit organisiert, eine der persönlichen Erfahrung ist, ein Widerstand gegen die Massenmedien, Wirtschaftsverbände, Parteien und Ministerien mit ihren verstümmelnden, wirklichkeitsverzerrenden oder synthetischen Produkten. Der Bezug auf das Selbsterlebte ist der Versuch, Verlässliches, Überprüfbares zu sagen angesichts der öffentlichen Parolen.

Indem der Autor sich einer Sprache bedient, die seine persönlichen Erfahrungen zum Ausdruck bringt, verwahrt er sich gegen die Worthülsen der Politik, Werbung und Medien. Als Resultat eines Reflexionsprozesses und Formgebung, wird gleichzeitig Sprachkritik geübt. Durch die poetische Verarbeitung der alltäglichen Erlebnisse, werden die Dinge ihrer Alltäglichkeit enthoben. Das Selbstverständliche, Gewohnheitsmäßige, Eingespielte wird benannt und auf diese Weise hinterfragt. Damit wird vermieden, dass der Autor sich in einen selbstgenügsamen Detailrealismus verliert. Das geschieht häufig auch dadurch, dass der Vorgang des Schreibens selbst mitthematisiert wird, indem die Anlässe des Schreibens mitreflektiert werden und der Autor sich selbst ins Geschehen einbezieht. Auch als Beobachter bleibt er auf diese Weise immer Beteiligter. Brinkmann ist sich der Problematik bewusst, dass die Alltagsdinge, die er schildert, sprachlich – und das heißt immer auch mit Bedeutungen – vorgeprägt sind:

Ich weiß, dass das gegenwärtige System, ich meine damit eigentlich alle die kleinen alltäglichen Lebenssachen so sehr zwanghaft mit Bedeutungen festgelegt sind, dass man sie selber gar nicht mehr richtig gebrauchen kann, ohne eine Menge Verkrustungen und Erstarrungen und Panzer bei Seite zu schaffen, was sehr mühsam ist.

Darin sieht er die Aufgabe des Schriftstellers, die Verkrustungen und Erstarrungen der Alltagssprache aufzubrechen und ihnen eine neue, authentische Bedeutung zu verschaffen. Nicht die bloße Mitteilung, sondern die verdichtete Verarbeitung des Erlebten ist entscheidend. Die Dinge müssen zurecht gerückt und der Erfahrung zugänglich gemacht werden. Oft sind es ganz flüchtige, unscheinbare Erlebnisse, die den Autor inspirieren. Dinge, die in der unmittelbaren Umgebung, auf der Straße, passieren. Dinge, die eigentlich jedem zugänglich sind. Durch die Thematisierung erhalten sie ihren besonderen Stellenwert. Das Verfahren Brinkmanns könnte man als Versuch beschreiben, sich die alltäglichen Erfahrungen in ihrer unverstellten Bedeutung zurück zu erobern. Dazu ein Beispiel: Es handelt sich um ein Gedicht aus dem Zyklus Westwärts 1 & 2:

Einen jener klassischen

schwarzen Tangos in Köln, Ende des
Monats August, da der Sommer schon

ganz verstaubt ist, kurz nach Laden
Schluß aus der offenen Tür einer

dunklen Wirtschaft, die einem
Griechen gehört, hören, ist beinahe

ein Wunder: für einen Moment eine
Überraschung, für einen Moment

Aufatmen, für einen Moment
eine Pause in dieser Straße,

die niemand liebt und atemlos
macht, beim Hindurchgehen. Ich

schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten

dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.

Inmitten des Alltagsgeschehens geschieht beinahe ein kleines Wunder. Aus einer Gaststätte erklingt „einer jener klassischen schwarzen Tangos“. Dieses Erlebnis muss der Umgebung, einer Straße, geradezu abgezwungen werden. Denn nur für einen Moment – „für einen Moment Aufatmen“ – ist die Musik zu hören. Das kurze Innehalten setzt gleichwohl einen Reflexionsprozess in Gang. Der Autor weiß um die Vergänglichkeit dieser Erfahrung. Um sie festzuhalten, schreibt er sie schnell auf. Bevor sie in der „verfluchten dunstigen Abgestorbenheit“ wieder erlischt. Nicht die Musik ist das Wunder; es ist die Tatsache, dass man „die Musik hören kann“ im Alltagsgetriebe; im Lärm der Straße. Bevor dieser wieder einsetzt, muss der Moment festgehalten werden. Die Ruhe ist flüchtig und das weiß der Autor aus Erfahrung. Und daher konfrontiert er die Momentaufnahme mit der Realität der Stadt.
Formal wird der geschilderte Eindruck durch den zweizeiligen Strophenaufbau immer wieder gebrochen; dadurch entsteht eine widersprüchliche Einheit von Dynamik und Unterbrechung. Der Rhythmus wird durch Pausen und Zäsuren unterbrochen, so dass die Präzision der Schilderung bei allem Flüchtigen eine gewisse Spannung enthält. Man spürt förmlich das Aufatmen und weiß gleichwohl, dass der Moment des Hörens gleich wieder vorbei sein wird.
Der Text weist gewissermaßen innere Schwellen auf, die den Leser dazu bringen, innezuhalten und die Bedeutung des Textes zu verstehen. Ein weiteres Merkmal seines Schreibens ist, dass die Texte nicht hermetisch sind. D.h.: sie haben keinen Abschluss. In seiner Vorbemerkung zu Westwärts 1 & 2 spricht Brinkmann von der Möglichkeit, von einem Satz oder Satzteil zum nächsten überzugehen.

Diese springende Form, mit den Zwischenräumen, die vorhanden sind, Gedankensprünge, Abbrüche, Risse, und neu ansetzen, nach dem zuletzt Geschriebenen, hat mir jedenfalls die Gelegenheit mehrerer Abflüge gegeben. Daß diese Abflüge dann jeweils wieder dort landeten, wo ich gerade war, mag zeigen, wie schwerfällig tatsächlich Sprache ist, ein Fossil… Und so ist immer der jeweils zuletzt geschriebene Satz ein Ende gewesen, von dem ich mit jedem Mal neu beginnen musste, also lauter Endpunkte, aber genauso gut und zutreffend ist, Anfänge, und diese Anfänge ausweiten, gehen, fortgehen. Zusammenhänge sehe ich keine.

Das autobiographisch motivierte Schreiben und die darin verwobenen Sprach-Reflexionen gehen bei Brinkmann eine enge Beziehung ein. So wie jeder Alltag mit all seinen fragmentierten Abläufen jeweils am vorigen Tag anschließt und doch immer wieder neu bewältigt werden muss – so vollzieht sich auch der Schreibprozess als ständiges Anknüpfen und Fortschreiben. Die einzelnen Texte weisen untereinander Verbindungen auf, wie auch der Tagesablauf mit seinen immer gleichen Anforderungen uns darauf verweist, dass alles schon einmal da gewesen zu sein scheint und die Gleichförmigkeit der Abläufe sich ständig nur wiederholt.
Im Unterschied zur oft hermetischen Form seiner Prosa bleiben die Gedichte Brinkmanns an vielen Stellen offen für „Licht, Luft und Lust“. Die durch die Formgebung eröffneten leeren Stellen kann der Leser mit Hilfe seiner Phantasie selbst füllen und weiterspinnen – gemäß einem Diktum Gottfried Benns, das Brinkmann sich zu eigen gemacht hat:

Jedes Gedicht wird erst durch den Leser gefüllt und lebt erst durch den Leser.

Brinkmann jedenfalls wünscht sich Leser, die den Mut, die Kraft und die Lockerheit besitzen, seine Gedichte weiterzuführen. Insbesondere seine frühen Gedichte spiegeln eine gewisse Unbefangenheit und Leichtigkeit wider, die später verlorengeht. Der Gedichtband  Vorstellung meiner Hände, der einige dieser frühen Gedichte aus der Zeit von 1959 bis 1963 versammelt, enthält Gedichte von „Krolowscher Schönheit“, wie Brinkmann selbstironisch bemerkt:

EINGEDENK DER MÄRCHENZEIT

Eingedenk der Märchenzeit
mit Tauben – wir bauten
uns Nester aus Schnee tief unterm
Schlaf: von blauen Beeren

aßen wir und waren
wie leichte, schnelle Flügel der Luft
zwischen den Wolken. Mit einem
Fliederhimmel, der

unsere Augen erblinden
ließ, und schauten dem Schweigen
der Hände die langsame Sprache
ab: wir nannten

uns Namen wie
Gestern und Heut
und hatten wohl Kleider aus
Blättern und Licht

und schlürften im Flug
die Körner der Stille
aus den silbernen
Kehlen des Morgens.

In einem Brief an seinen Freund Ralf-Rainer Rygulla aus dem Jahre 1962 schreibt Brinkmann, dass er viele seiner frühen Gedichte liquidiert habe. Sie enthielten zuviel an „lyrischem Sperma“. Die Sprache müsse apodiktischer werden, so sein neues Credo.
Im Vergleich mit seinen Gedichten wirkt die Prosa Brinkmanns irgendwie schwergewichtiger und oft geradezu überfüllt mit der Last des Lebens. Das gilt vor allem für seinen Roman Keiner weiß mehr – dem einzigen, den er vollendet hat.

Jedesmal war es für ihn ein befreiendes Gefühl, wieder unten aus dem Haus herauszukommen und sich einzufügen in die anderen Geräusche und Bewegungen, den Verkehr, die Leute, beschäftigt mit genauen Zielen, Aufgaben, die zu erledigen waren. Er hatte Zeit und konnte darin herumgehen, sich das ansehen, das Geschiebe, die Geräusche hören, Wagen, Leute, von alledem er sich wie von etwas Sicherem umgeben fühlte, das immer da war, eine feststehende Ordnung aus Geschäftszeiten, offenen Kaufhäusern, den einzelnen Ständen in den Hallen mit genau abgeteilten Waren, alles voll aufgehäuft…

Das befreiende Gefühl hatte er schon längst wieder verloren, und jetzt war es wieder eine schwankende Unruhe, während er durch die Stadt ging, als ob er in einem viel zu großen Bild herumtappte… Er tappte durch die Straßen weiter an den Geschäften entlang.

Das „befreiende Gefühl“, das der Autor empfindet, sobald er der häuslichen Enge entflieht, wird durch die „schwankende Unruhe“ abgelöst, die ihn überkommt, während er sich der Geschäftigkeit des Großstadtlebens überlässt. Im Unterschied zum Autor, der ziellos durch die Strassen geht, scheint das Leben der „normalen“ Menschen durch Regeln und Normen strukturiert zu sein. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis, ein Gefühl der Fremdheit inmitten des ganz und gar Alltäglichen. Man gehört nicht dazu und je stärker dies empfunden wird, desto größer wird die Distanz zur Normalität der alltäglichen Abläufe. Diese werden Gegenstand der Reflexion und stellen schließlich das Material dar, an dem der Autor sich abarbeitet. Die fehlende Distanz zum Geschehen mag unter ästhetischen Gesichtspunkten kritisch gesehen werden: gleichwohl kann die unverstellte Schilderung der Alltagswahrnehmungen den Leser inspirieren, sein eigenes Verhalten, ja Mittun, zu reflektieren. Das kann zu einer Art Selbsterkenntnis führen – zur Frage, was eigentlich mit uns geschieht, die wir uns täglich nahezu bewusstlos in das gewohnte Getriebe der alltäglichen Abläufe begeben ohne nach der Relevanz dessen zu fragen, was wir da tun.
Das Schreiben, so schmerzhaft das Geschriebene auf den Leser auch wirken mag, scheint für Brinkmann eine vorübergehende „Befreiung“ gewesen zu sein, die sich bis ins Körperliche ausgewirkt hat.

Dieses Durchschütteln von Wörtern und Bildern im Schreibakt selber, ohne links und rechts und um mich herumzuschauen, ohne Rücksicht auf Konstruktionen und Folgerichtigkeit, erfahre ich beim Schreiben tatsächlich als eine physiologische Befreiung aus dem zusammengezogenen geduckten Verharren.

Aber wie gesagt: das Schreiben bedeutet noch keine Überwindung seiner Alltagsprobleme. Immer wieder gelangt Brinkmann an Punkte, an denen er glaubt, nicht mehr weiterschreiben zu können. Vielleicht erklärt sich so sein Versuch, andere Medien wie die Fotografie und den Film in sein künstlerisches Schaffen einzubeziehen. Während die Sprache „sinnlose Anstrengungen verlangt“, lässt sich Unmittelbarkeit mit Hilfe der genannten Medien viel direkter und unverfälschter darstellen. In Anlehnung an Ludwig Tieck versucht Brinkmann, den Figuren mehr Raum zu geben. Geräuschlosigkeit (Schatten) und bewegliche Geräusche (Schnitte, Schritte, Risse) hängen an unterschiedlichen Medien wie Bild, Hörspiel, Text als Lese- oder Spielmaterial, (Stumm-)Film, und Traum-(Sprache). „Auf den Fotos sah alles friedlich aus, weil die Wörter fehlten“, heißt es denn auch bei ihm. Anders gesagt: während die Wörter Wirklichkeit fixieren und immer schon vorgeprägte Bedeutungen in ihnen mitschwingen, lässt sich das Spektrum der Wahrnehmungen mittels anderer Medien erheblich erweitern. Aber Brinkmann scheint zu spüren, dass der Rückgriff auf andere Medien die Wirklichkeit auch fragmentiert und es eines reflexiven Verfahrens bedarf, um sie wieder zusammenzufügen. In den „Erkundungen“ heißt es:

Ich müsste nun eine passable Theorie zur Hand haben, die das Ganze für mich fein bündelt, ordnet, sehr kommod, so richtig in ein System bringt, mit Zusammenhängen, die unabweisbar sind, dass ich tippe, Wörter, den startenden Wagen auf der Straße, die Mittagspause, Sonnenlicht, Traurigkeit, die Zigarette, den grauen Schaum, dass die orangefarbenen Zuhänge noch immer halb vorgezogen sind, dass ich hier bin, in Köln, und den Neubau dort an der Ecke, sowie das Unbehagen, ein Gefühl, die eigene exquisite Verfassung, ja eine Theorie, einen großen Gedanken, der das alles ordnet, erträglicher macht, die Mittagspause. Ich schaffs bis zu so was nicht. Schluß.

Brinkmann versucht, die Gleichzeitigkeit der Wahrnehmungen mittels verschiedener Medien zu bannen. Auf diese Weise gelingt es, möglichst viele Aspekte der Wirklichkeit einzufangen. Aber dabei soll es nicht bleiben. Er muss ein Verfahren finden, um die zerfaserten, möglicherweise gar auseinander driftenden Momente wieder zusammen zu bringen. Dazu bedarf es eines Konstruktionsprinzips, das es ermöglicht, das Bildmaterial wieder in Sprache zu überführen. Denn die augenblicklichen Bildvorstellungen werden durch Wörter erzeugt und festgehalten – ansonsten verflüchtigen sie sich. Das bedeutet: das Bildmaterial muss in gewisser Weise „zerstört“ und neu wieder zusammengesetzt werden. „Film in Worten“ nennt Brinkmann selbst das Verfahren, das Ablaufen der Bilder im Kopf als Tagträume, beobachtete Alltagswirklichkeit, phantasierte Wunschstrategien zu erfassen. Der Wort-Film legt sich gewissermaßen wie ein Schleier über die Wirklichkeit, die dadurch nur noch als etwas Imaginäres existiert – als ein Geschehen, das sich verflüchtigt. Jede Wort-Vorstellung offenbart das Wort als Hülle von etwas, das nicht (mehr) ist. Handlung und Beschreibung sind nicht identisch. Die Realität verschwindet hinter dem Gesagten. „Real“ sind dann nur noch die gedruckten Worte.
Die Gegenwärtigkeit der sichtbaren, greifbaren Dinge unmittelbar wie Schnappschüsse darzustellen, war ein Anliegen der amerikanischen Pop-Art in den sechziger Jahren, der sich Brinkmann anfangs mit Begeisterung zuwandte – weil sie ihm erweiterte Darstellungsmöglichkeiten zu eröffnen schien. Später wandte er sich ebenso abrupt wieder davon ab. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass schon der Fotorealismus dieser Zeit die unvermittelte Präsenz des Geschehens als eine Fiktion ausweist. Die medial erzeugte Wirklichkeit ist immer auch eine künstliche. Die Dinge, Zustände, Gefühle erhalten durch Wörter eine fiktive Existenz, die ihnen gleich wieder entzogen werden muss, so dass die Hülle leer zurückbleibt. Wie in dem folgenden Gedichtauszug aus „Eiswasser in der Guadelupe Str.“:

Vielleicht sind es überall
die Lücken, die Zwischenräume, das, was man nicht tat,
unterliess, gelassen hat, die den Raum

zum träumen offenließen, ohne Wörter
sich zu bewegen, aufeinander zu, eine neue
Möglichkeit…

Es gibt nur wenige Autoren, die ihre Lebensumstände derart unvermittelt, ungeschönt, ja bisweilen brutal – zum Gegenstand ihrer Dichtung gemacht haben, wie Brinkmann.
In seinem Bestreben, die Differenz von Kunst und Leben aufzuheben, werden die Dinge derart ungeschminkt beim Namen genannt, dass man nach dem „ästhetischen Mehrwert“ fragen könnte. In dem Bestreben, der Unmittelbarkeit seiner Wahrnehmungen und Erfahrungen eine Sprache zu verleihen, schwingt jedoch immer auch ein Subtext mit, den es zu dechiffrieren gilt. Nichts ist, was es scheint. Und das macht es so schwierig, es sprachlich zu fixieren.
Brinkmann starb früh. Dieser frühe, absurde Tod Brinkmanns hat vielleicht zu dessen Bekanntheit, ja Mythisierung beigetragen. Neben der Tatsache, dass er immer einer der ersten war, der sich für neue literarische Strömungen aufgeschlossen zeigte. In einer Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Brinkmann schreibt Wellershoff:

Man fragt sich angesichts des Widerspruchs von spontaner und immer auch reflektierter Kreativität und den Hemmungen und depressiven Verstörungen, mit denen Brinkmann zu kämpfen hatte, wie es weitergegangen wäre, wenn es weitergegangen wäre. Diese Frage lässt sich leider nicht mehr beantworten.

Joke Frerichs, Blog der Republik, 6.5.2020

Nicolas Born: (Die Brüskierung der Erwartungen). Zu den ersten Gedichtbänden von Rolf Dieter Brinkmann

 

 

NIRGENDWÄRTS
Erinnerung an R.D. Brinkmann

1.
Ringsum lauter tote Gestalten: die alte Gesellschaft.
Nichts anzufangen damit, vielleicht noch ein Blendax
Lächeln auf dem Heimweg vom Psychiater, in der Hosen
Tasche das Glied, eine kahle Sängerin. Leere Bierdosen

eine metallne Erinnerung an Charles B., eine Stange
Scheiße, in die Enge gestellt. Der helle Glockenton
der Eiswürfel im Whiskyglas. Die Dichter lauschen
blutige Tesa Film Streifen im Gesicht. Das herunter

gerissene Papier schäumt, jeder macht weiter, schneuzt
sich in ein Kohlepapier, wenn die Frau abhaut ins
Fotoalbum. „Ich werd wild, wenn mir einer mit nem
Buch kommt.“ Ein umweltfreundlicher Penis, nach

Kaugenuß einwickeln. Eine kaputte Schreib
Maschine, der Mittwoch, ein Mittagessengeruch. Eine
sanfte Rangierlok streift den Blick, Blut fließt.
Draußen Plakate übern Gehsteig geklebt, eine Fotografie

von Asfalt, am Straßenrand Gräber für nutzlose
Zitate, Zigarettenstummel, „ist das keine
Schönheit?“ Novemberlicht steigt aus dem Schacht. Roll
Treppenlicht aus dem Osten. Nachts wird

manchmal aufgewacht, zweidrei Schreie lang, die Decken
Lampe schlägt aus, wortlos wie im Frühling, dann wird
weitergesunken. Unruhige Träume von Fotos, Wände
voll Fotos, Gefühle voll Fotos, aus der Fotografie des

Himmels stürzen aufgeweichte Buchstabenzeilen, ein
fotografierter Sonnenuntergang, Hochspannungsdrähte
ein Lied, chewing the sun and the clouds, der Wind
raschelt in den Ästen. Unten spürt man nichts mehr

davon. Durchgewetzter Hemdkragen, schmutzige
Hände nach Gottes Ebenbild. Schlag das Buch auf, die
Stadt, ein Leben zum Abgewöhnen, deck dich
gut zu mit den Blättern, das nächste Jahrhundert wird kalt.

2.
Ein Sarg, ein Buch in der anderen Welt, verlassen
von vielen guten Geistern und Gott, in einem Winkel
Europas: der lebendig Begrabene atmet auf. „Get up and
walk“, said Jesus, „alas, no vomit bags ain’t here, no

oxygen either.“ Erwartungsvoll schlägt der Unfalltote
das blaue Auge auf. Integriert ihn die neue Gesellschaft
oder umgekehrt, fragt einer, und: was ist schlimmer?
Kaffee? Er nickt, wird langsam wach. Die Morgenröte ist

ein Panzerschiff. Jemand sagt: Auch hier hängt dir der Schwanz
nicht bis in die Klomuschel, wenn du aufrecht pißt.
Autogeräusch von der Straße, ringsum Bücher wie in
„Deutschland“, funktionsuntüchtige Seeadler, reparierte

Gedanken an Frauen, soweit die Dichter männlich sind.
Ach, lauter Realmarxisten. Steh auf, Rolf Dieter, steh
auf und geh, der Fahrer winkt, es geschah ohne
Absicht. Die Nächte sind ruhig. Oben kippt der Nachbar

den dritten, und ich setz Kaffeewasser auf. Auch Frauen
gibt’s in der Nähe, aber ich schmeiß sie raus, denn wo
bleibt die Schönheit? Auf dem Feldweg? Mit der weiß
und blau gesprenkelten Luft? Versinkt sie in der Klar

heit des Sees? In unseren Eingeweiden wohnt sie
nicht, das weißt du. Rolf Dieter, Rolf Dieter
you’ve godda rhythm in your name, that makes ’em crazy.
In der Luft Glamour von Knast und Beton, wer’s hat

hat’s, Wodka statt Bourbon. Geruch nach Arbeiterfrüh
Licht aus der Dose mit Bohnen und Speck. Im Bus fickst du
die Nachbarin, den Blick westwärts gerichtet, sie
läßt es geschehn. Wo ist einer? Wer läuft davon?

Wer wundert sich? Wem tut nichts weh? Wer flieht
über die Autobahn? Wer ist geblendet? Bleibt stehn?
Wer weiß, was geschieht? Wer kneift die Augen zu, wenn
es schneit? Wer sagt gar nichts? Und wohin führen ihn

seine Schritte? Wer hat kein Alibi für den Tag
an dem die Sonne unterging? Wieviel Frauen liebt er?
Liebt er? In welcher Richtung liegt die Kindheit? Wessen
Mutter lebt noch? Wer darf reisen? Wer leckt wen am Arsch?

Arbeitet er? Wer kommt zu spät? Wer hat ein Kind und
weiß nicht wohin damit? Wann stirbt einer? Wo ist
seine Frau? Fährt da ein Auto? Welcher Scheinwerfer
blendet ihn? Wie laut schreit er? Schreit wer?

Werner Söllner

 

Reiner Niehoff: Wütender Flaneur. Der akustische Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann

Ihr nennt es Sprache: Rolf Dieter Brinkmann – Zum Todestag von Rolf Dieter Brinkmann lasen am 22.4.2010 Hans Christoph Buch, Matthias Göritz, Günter Herburger, Stephan Turowski in der Literaturwerkstatt Berlin. Die Moderation hatte Jan Röhnert.

Frank Schäfer: Ein totes Stinktier. Wie fühlte sich Rolf Dieter Brinkmann 1974 in Austin, Texas?

Ulrich Rüdenauer: Rolf Dieter Brinkmann: Einen Tag älter, tiefer und tot. Todesarten

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Archiv +
Internet Archive + Kalliope + weiteres 1, 23
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA

Nachrufe auf Rolf Dieter Brinkmann:

Dieter Wellershof: Alleinsein ist wie ein Gas, das ausströmt
Kölner Stadt-Anzeiger, 26./27.4.1975

Hans-Bertram Bock: Der Tod in Londons City
Nürnberger Nachrichten, 26./27.4.1975

Marcel Reich-Ranicki: Aber ein Poet war er doch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1975

Wolf Wondratschek: Er war too much für euch, Leute
Die Zeit, 13.6.1975

Günter Herburger: Des Dichters Brinkmann Tod
Die Zeit, 13.6.1975

Zum 25. Todestag des Autors:

Alex Rühle: Die Welt als Rohmaterial
Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000

Werner Olles: Unstillbare Sehnsucht
Junge Freiheit, 21.4.2000

Zum 30. Todestag des Autors:

Peter Henning: „Ich bin ein Dichter!“
Basler Zeitung, 23.4.2005

Ulrich Rüdenauer: In ein anderes Blau
literaturkritik.de, Nr. 5, Mai 2005

Ulrich Rüdenauer: Der große Außenseiter
Deutschlandfunk, 13.4.2005

Theo Breuer: Mein Rolf Dieter Brinkmann ist eine Fiktion
titelmagazin.com, 22.4.2005

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Markus Fauser: Er war kein Urvater des Pop
literaturkritik.de, 1.4.2015

Theo Breuer: Flickenteppich · Blicke auf Brinkmann
poetenladen.de, 14.4.2015

Jens Uthoff: Der Wortvandale
die tageszeitung, 16.4.2015

Stefan Lüddemann: James Dean der deutschen Literatur?
Neue Osnabrücker Zeitung, 15.4.2015

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerhard Henschel: Träume von Grünkohl
junge Welt, 16.4.2020

Sascha Seiler: Die Tiere sind unruhig!
literaturkritik.de, 16.4.2020

 

Rolf Dieter Brinkmann – Keiner weiß mehr. Ein Porträt.

1 Antwort : Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2”

  1. Sara Charusta sagt:

    Das Gedicht „ Einen jener klassischen“ von Rolf Dieter Brinkmann hat acht Strophen mit je zwei Versen. Auffällig ist, dass die Überschrift sofort in den Text übergeht, nahtlos wird „einer jener klassischen schwarzen Tangos in Köln“ (Z. 1-2) beschrieben. Das Versmaß ist gebrochen und unregelmäßig, zum Beispiel von der 6. in die 7. Strophe. Hier stellt sich die Frage, was genau er mit „Tangos“ meint, warum schrieb er nicht „Nächte“ oder „Abende“, welche Bedeutung oder Assoziation hatte der Tango für ihn, dass er ihn gleich zu Anfang als passende Metapher nutzte.
    Das lyrische Ich ist in einer Wirtschaft, der Sommer ist „schon ganz verstaubt“ (Z. 3-4), er verlässt dieses, scheinbar laute Lokal, denn als er die Straße betritt ist das hören „beinahe ein Wunder“ (Z. 7f.). Genauso plötzlich wie er gekommen ist verfliegt der Augenblick aber auch und wir befinden uns wieder im tristen, grauen Köln.
    Die Dichtung beginnt und endet in der jeweils ersten und letzten Strophe mit einer sehr negativen Beschreibung der Stadt, die Tangos sind schwarz (vgl. Z. 2), es ist von einer „Abgestorbenheit Kölns“ (Z. 16) die Rede. Mir schien es, als würde der Text in Negativität beginnen und enden, gänzlich von der Schwärze, Melancholie und Dunkelheit getragen, erst beim zweiten Lesen erkannte ich in der Mitte der 4. und 5. Strophe das überraschend Positive. Das lyrische Ich steigt aus einer „dunklen Wirtschaft“ (Z. 6) „kurz nach Laden Schluß“
    (Z. 4-5). Man fragt sich hier sofort, wann eine „dunkle Wirtschaft“ schließt, wie spät es sein muss, wann die handelnde Person, beschließt endlich nach Hause zu gehen. Jedenfalls erscheint für einen Moment, und besagter Moment wird insgesamt gleich vier Mal erwähnt, die Wendung, wie aus dem Nichts, „eine Pause“ (Z. 11), ein „Aufatmen“ (Z. 10). Doch schon ist der Moment verflogen und die Stadt versinkt wieder in Tiefe und Anonymität (vgl. Z. 11-13).
    Die Mitte des Gedichts ist für mich dadurch wie eine Art Gipfel, ein Fünkchen Hoffnung. Man sitzt in einer lauten, vollen, in der Regel verrauchten Kneipe, in einer großen, vermutlich fremden Stadt, vielleicht sogar dann noch fremd, wenn man seit Jahren in ihr wohnt, führt sinnfreie Gespräche mit Menschen die keine Bedeutung für einen haben, fragt sich, was das soll, wie lange das noch so sein wird und gerade als man geht, weil man es schier nicht mehr aushält, fällt die Tür hinter einem zu und man ist allein und um einen ist nur Stille. Wobei Stille auch Angst machen kann, vielleicht ist das Wort „Ruhe“ besser, es lässt einen durchatmen.
    Brinkmann kommt mir wie ein Gestrandeter vor, beginnt ein Pädagogik-Studium, bricht es wieder ab, arbeitet als freier Schriftsteller in Köln, geht nach London, lebt in Rom und Texas Er schien nicht glücklich, Briefe, die er schrieb wirkten „manche ungewohnt gelöst und zufrieden“ (vgl. http://members.aon.at/andreas.weigel/Brinkmann01), das „ungewohnt“ wirkt für einen Außenstehenden erschreckend, wie unglücklich muss jemand im Leben gewesen sein, wenn man so über ihn denkt. Es überrascht nicht, dass er auch Köln, das er kannte, als so negativ beschreibt.

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