Rudolf Bussmann: Zu Reiner Kunzes Gedicht „Noch immer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Reiner Kunzes Gedicht „Noch immer“ aus dem Lyrikband Reiner Kunze: Lindennacht. −

 

 

 

 

REINER KUNZE

Noch immer
Für E.

Noch immer ist’s
der horizont der jugendlichen hüfte

Noch immer ist
das zarteste
das zarteste

Des spiegels unerbittlichkeit
vermag uns nicht zu täuschen

Wir wissen mehr
als er

 

Wochengedicht #22: Reiner Kunze

Es ist die Verlockung einer weiblichen Hüfte, die uns in das Gedicht verführt. Der Dichter spricht von einer Frau, deren Taille „noch immer“ jugendlich aussieht, womit er andeutet, dass die Frau ihre Jugend hinter sich hat. Die Frau und er, das lässt er durchblicken, sind ein Paar, das gemeinsam alt geworden ist. Für ihn ist das kein Anlass zu Nostalgie oder Bedauern. Sein Gedicht bleibt nicht in Erinnerungen an ein Damals hängen, es spricht vom Jetzt, von einer weiblichen Erscheinung, die trotz fortgeschrittener Jahre das Jugendliche in sich bewahrt hat. Und nicht nur das Jugendliche, sondern auch „das zarteste“. Was ist damit gemeint? Hat es, wie die Hüfte, mit Körper, mit Erotik zu tun?

Spieglein, Spieglein an der Wand
Der Blick, den der Dichter in den Spiegel wirft, zeigt zwei gealterte Körper. Ein Spiegel lügt nicht, darüber macht er sich keine Illusionen. Aber kennt ein Spiegel die Wahrheit? Mag er auch Falten und Runzeln reflektieren, die Landschaft des Inneren wiederzugeben ist er nicht in der Lage. Er ahnt nichts von den Erfahrungen, welche die beiden Menschen verbindet, nichts von ihren Gefühlen füreinander, nichts von ihrem gegenseitigen Vertrauen. Gerade „das zarteste“ entgeht ihm. Was der Dichter mit diesem Ausdruck genau meint, wissen nur die beiden Betroffenen – vielleicht eine Zuneigung, die Jahre überdauert hat ohne Schaden zu nehmen, vielleicht auch die gemeinsamen Gespräche, die zärtlichen Gesten, der Schatz unvergessener Stunden zu zweit.
Das Gedicht ist ein versteckter Liebesgesang des alt gewordenen Dichters an seine Gefährtin, die ihr Leben mit ihm geteilt hat. Ein Liebesgesang frei von Pathos, frei von Illusionen und Überhöhungen. Der Dichter ist sich darüber im Klaren, zu wem er spricht, und als wer. Dass er zu seiner Liebe noch immer steht, sie bekräftigt, macht seinen Gesang besonders kostbar.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 3.9.2012

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