Sabine Doering: Zu Hermann Burgers Gedicht „Koriphäen und Koniferen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Burgers Gedicht „Koriphäen und Koniferen“ aus Hermann Burger: Kirchberger Idyllen. –

 

 

 

 

HERMANN BURGER

Koriphäen und Koniferen

Zwei Koniferen, kegelförmig geschnitten, mit Spinnweb
aaaÜber und über durchspannt, ecken nadelvermummt
Jakob Hunzikers Denkmal ein an der westlichen Mauer:
aaaSchwer der Stein aus Granit, glimmergrünlich getönt.
Biegt man die Zweige zur Seite, kommt der „Professor“ zum Vorschein,
aaaAuch der „Dcktor hil.“, abgebrochen das p.
Stumpf die einst golden glänzenden Lettern, sie haben den Friedhof-
aaaGrünspan angesetzt, Hunzikers Name bleibt tot.
Unten aber steht auf dem Gotthardsockel, er lebe
aaaIn seinen Werken fort. Wer kennt noch etwas von ihm?
Wirkte an der Kantonsschule Aarau vier volle Jahrzehnte,
aaaHatte den Doktor h.c. für seine Philologie.
Titel um Titel im Nadelgehölz der Friedhofbepflanzung:
aaaSchüler waren sein Werk, längst bestattet auch sie.

 

Das Alphabet der Vergänglichkeit

„Mitten im Leben vom Tode umfangen“ – die mittelalterliche Einsicht in die Allgegenwart des Todes trifft ins Zentrum von Hermann Burgers Werk. Mit jedem neuen Buch, vor allem in seinen wortgewaltigen Romanen, versuchte er der Faszination zu begegnen, mit der ihn der Gedanke an die Vergänglichkeit schon früh in Bann geschlagen hatte. Seine einzige Waffe im Kampf gegen die Verführung durch den Tod handhabte Burger, der von 1942 bis 1989 lebte, mit enormer Virtuosität. Denn allein in der poetischen Sprache, der er immer kühnere Wendungen und neue obsessive Beschreibungen abgewann, fand er eine Möglichkeit, der Macht des Todes eine vitale Kraft entgegenzusetzen.
In den vierzig Kirchberger Idyllen des Achtunddreißigjährigen dominiert allerdings der gelassene Ton eines Aufklärers. Im elegischen Distichon, dem traditionellen Versmaß der Totenklage, stellt Burger sich und seinen Zeitgenossen eine nüchterne Diagnose:

Sind wir doch samt und sonders Todes-Analphabeten,
Klammern das Sterben aus, sondern die Leichname ab

Diese Sprachlosigkeit im Angesicht des Todes, für die er geschmeidige Verse fand, versuchte Burger mit seinen Friedhofsgedichten abzuwehren.
Sein damaliger Wohnort bot dem Dichter gründliche Anschauung für das Projekt einer Erziehung zum Tode. 1972 hatte Burger das alte Pfarrhaus auf dem Kirchberg in der aargauischen Gemeinde Küttingen bezogen, das unmittelbar an den Friedhof grenzt. Die Zweiteilung der poetischen Welt in die Bereiche „diesseits und jenseits der Mauer“ hat in diesen „Idyllen“ nichts mit der politischen Wirklichkeit der Nachkriegszeit zu tun, sondern erhebt die Friedhofsmauer zur existenzbestimmenden Erfahrung: Nur wer sich in der Sphäre der Toten auskennt, wird sich auch unter den Lebenden zurechtfinden.
„Koriphäen“ entdeckt Burger unter den Bäumen des alten Friedhofs, Berühmtheiten der Aargauer Lokalgeschichte. Jakob Hunziker, dessen Grabmal allmählich der wuchernden Vegetation anheimfällt, lebte von 1827 bis 1901. Der nachgeborene Dichter mußte in dem gebildeten Lehrer zweifellos einen frühen Zunftgenossen erkennen, war doch auch Hermann Burger als Literaturwissenschaftler zu akademischen Ehren gekommen und hatte jahrelang an derselben Aargauer Schule unterrichtet. Hunzikers Ruhm, von dem sich, entgegen der pessimistischen Einschätzung des Gedichts, noch heute Zeugnisse finden, beruhte vor allem auf seiner sechsbändigen Geschichte des schweizerischen Hauses – ein Musterstück tüchtiger Gelehrsamkeit und stupenden Fleißes.
Für den Dichter der Elegie jedoch erweist sich die Berühmtheit des Gelehrten von nur begrenzter Haltbarkeit, denn die physikalischen Prozesse der Verwitterung nehmen auf ehrfurchtgebietende Titel keine Rücksicht. Die stolze Würde des Ehrendoktors mutiert mit der Zeit zu einem absurden Buchstabenrätsel, dessen Sinn sich auch dem Philologen allein in der Abwesenheit jeder wörtlichen Bedeutung erschließt. Als vergänglich offenbaren sich schließlich alle Felder akademischer Anstrengung: Hunzikers ehemals ehrenvoller Name wird nach und nach unlesbar, seine Werke sind vergessen, die Schüler gestorben – so nimmt es jedenfalls der Betrachter wahr, der seinen Blick über das Grabmal schweifen läßt. In der Mitte des Gedichtes stehen die Worte „Friedhof“ und „tot“, denen der ungewöhnliche Zeilensprung zusätzlich Schwere und Endgültigkeit gibt. Der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, in welcher Form auch immer, lassen sie keinen Raum.
Beständig erscheint allein der „Gotthardsockel“, gefertigt aus dem harten Urgestein schweizerischen Nationalbewußtseins, doch die Botschaft, die ihm eingemeißelt wurde, ist zur leeren Floskel verblaßt. Mißtraut der Dichter also seinem eigenem Medium, der Kraft des geschriebenen Wortes? Zumindest treibt Burger sein poetisches Spiel mit der Flüchtigkeit des Ruhms und der Wirkungslosigkeit pathetisch-beschwörender Rede, die er wiederum in kunstvollen Distichen beschreibt.
Wer aber die Aufregung vor Augen hat, mit der sich bis heute die Verleihung akademischer Titel verbindet, und wer auch nur einmal, womöglich durch unmittelbare Beteiligung, den immensen Aufwand erlebt hat, der mit der Besetzung von Lehrstühlen einhergeht, sollte Burgers Verse über die zerbröckelnde Doktorwürde mit tiefer Sympathie lesen. Jedem neu berufenen Professor, jeder frisch gekürten Professorin möchte man diese Erinnerung an die Begrenztheit akademischer Ehren auf die Ernennungsurkunde schreiben. Allerdings wußte auch Hermann Burger, daß sich das Alphabet der Vergänglichkeit, in dem das abgebrochene „p“ einen gewichtigen Platz einnimmt, am leichtesten aus der Distanz ruhiger Betrachtung entziffern läßt.

Sabine Doeringaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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