Schwan im Schatten

Mashup von Juliane Duda zum Buch Schwan im Schatten

Schwan im Schatten

ICH BIN EIN STÜCK VOM MOND

Ich bin ein Stück vom Mond und von einem Handelsreisenden.
Meine Spezialität ist: Stunden zu finden,
die ihre Uhren verloren haben.

Glauben Sie mir,
unter den Augen meines Admirals findet sich alles,
und das ist keineswegs seltsamer als die Kinder,
die in Warenhäusern verlorengehn.
Es gibt Stunden, die wie Schwimmer ertrunken sind,
und andere, die Kannibalen verspeist haben.
Ich kenne einen Vogel, der trinkt sie.
Und Sie können sie selber in verkäufliche Melodien verwandeln.

Aber verkleidet auf den Bällen des Atlantik
sind sie schwer voneinander zu unterscheiden.

Vicente Huidobro

 

 

 

Wer das südliche Amerika

von innen her kennen und verstehen lernen will, der kann sich keinen treueren Mittler erwählen als das Gedicht. Unmittelbar und unverfälscht strömt uns das Leben des fernen Zwillingskontinentes entgegen. In gedrängter Form wird uns die wechselvolle Natur vor Augen gestellt: Sternengipfel und Weltenmeer, Dschungel und Grasflur, bei Tage erfüllt von gleißendem Licht, in der Nacht dämonenbeschwert.
Im Gedicht meldet sich, ungebeugt und unüberhörbar, der Mensch des anderen Amerikas zu Worte. An gefährdender Leidenschaft, an Grazie und an Selbstironie ist er dem Nordamerikaner überlegen. Die Trauer des Südens ist echter, abgründiger; er weiß um das Fragwürdige allen Fortschritts, um das letztlich Tragische allen Menschenseins.
Schon während der Erobererjahre, an der Wiege der ersten „Amerikaner“, stießen die Gegensätze aufeinander. Das Kind lauschte dem mild tönenden Schlaflied seiner indianischen Mutter und – dem ungestümen Kampflied seines spanischen oder portugiesischen Vaters. Die schwarze Amme aus Afrika summte ihre versöhnenden Weisen. Dieses weiße, rote und schwarze Amerika, wie es vereinfachend genannt wird – es jauchzt, klagt, empört sich im Gedicht.
Den rebellierenden Grundzug der lateinamerikanischen Dichtung darf man nicht verschweigen, nur weil er in der deutschen ungewöhnlich, ja verdächtig ist. Politisch Lied ist drüben kein garstig Lied. Kaum daß sich in den Herzen der ersten Amerikaner der Freiheitsfunke rührte, lag die Leier neben dem Schwert. Als sie, nach Jahrhunderten, das fremde Joch abschüttelten, traten immer wieder Dichter an die Spitze der Nation. Den Dichtern ist rückhaltloser Bekennermut zu eigen, die Folge ihrer leidenschaftlichen Vaterlandsliebe. Ein Dichter wie Marti opferte sein großes poetisches Talent der Forderung des Tages, der Freiheit seiner Heimat Kuba.
Früh bürgerte sich die Sitte ein, Dichter und Dichterinnen als Diplomaten ins Ausland zu senden. Nicht nur gewannen diese dadurch wirtschaftliche Sicherheit; sie vermochten auch die provinzielle Enge zu sprengen, die sie gefangenhielt; sie nahmen am Höhenflug des Weltgeistes teil. Daher ein anderer Grundzug der lateinamerikanischen Dichtung, der kosmopolitische; er hält der Vaterlandsliebe die Waage.
Am Beispiel Gabriela Mistrals, der ihre chilenische Heimat das Recht einräumte, ihren Sitz als Konsul selbst zu wählen, können wir lernen, wohin der Sinn des lateinamerikanischen Dichters zielt, woher er die Standbilder holt, die ihm teuer sind. Madrid, Paris, Rom, Rio de Janeiro, Mexikos Hauptstadt sind die Stätten ihrer Wahl. Deutschland, England, dem Norden Europas wendet sich der südamerikanische Dichter nur zögernd zu. Er verehrt Góngora, Quevedo, Camões, also seine sprachschöpferischen Geister. Von den neueren Dichtern sind ihm Vorbild: García Lorca, Apollinaire, die Surrealisten Breton und Aragon. Walt Whitmans Stern sank nie unter den Horizont; Baudelaire, Verlaine, Edgar Allan Poe und Rubén Dario erstrahlen jeder Generation in einem neuen Licht. Das Krause, Phantastische, „Surrealistische“ in manchem heutigen Gedicht hat jedoch nicht nur in jener Zeitströmung seinen Ankergrund; es hat ihn ebenso in der Volksdichtung, der Folklore; es entspricht einer Neigung des iberischen Charakters. Schon vor der Conquista genoß der Dichter das hohe Ansehen, das heute die Regierungen bestimmt, ihn als ihren Repräsentanten ins Ausland zu schicken. Bei einigen Indianerstämmen wie den Guaraní – ihre Dichtung ist auch in der Gegenwart von beträchtlichem Wert – zog der Barde selbst in Kriegszeiten ungehindert von Ort zu Ort. Die Waffen ruhten, wenn er sang. Die Achtung vor dem Dichter lebt im Volke fort als Teil seines indianischen Erbes. Im Leben dieses Volkes, das ruhiger, gesetzter verläuft als im allgemeinen das unsrige, ist Raum für Muße und Beschaulichkeit. Sofern es lesen kann, erwirbt und liest es Gedichte, und die Auflage solcher Bände zählt nicht selten nach Zehntausenden. Wenn des Lesens unkundig, lernt das Volk die Gedichte auswendig. In seinem Munde, zum Klange der Gitarre, die die Verse untermalt, wirken die Gedichte mitunter wie eigene, als habe sie nicht ein namhafter Dichter geschaffen, sondern als seien sie aus dem Herzen des Volkes hervorgesprudelt. Vielfach haben Dichter Schullesebücher geschrieben. Dadurch drang ihr Werk unmittelbar ins Volk; es wurde nicht wie bei uns erst nachträglich in diese Bücher aufgenommen. Auch Dichterinnen wie Gabriela Mistral und Juana de Ibarbourou haben solche Lesebücher verfaßt, wie denn der Anteil der Frauen – im spanisch sprechenden Amerika schon seit der frühen Kolonialzeit – auffallend groß ist in der lateinamerikanischen Dichtung.
Deren heutiges Kapitel eröffnete Rubén Darío. Mit der Naturgewalt eines Orkans brach er aus dem kleinen exotischen Nikaragua ein in die Schablonenwelt seiner dichtenden Zeitgenossen. An die Stelle der Schablonen setzte Darío lebensträchtige Formen. Erneuert hat er die Ottaverime, eine Versfolge aus acht elfsilbigen jambischen Versen, die Terzine und das Sonett. Neu schuf er, der sich an Heine und Victor Hugo geschult hatte, das Lied; denn die Romanze, in der sich Spanien stets auszeichnete, ist eine verkappte Ballade, nicht das beschwingte Lied in unserem, etwa Goetheschem Sinne. Mit Hilfe des Lieds und vor allem des Sonetts überwindet Darío den Mangel der spanischen Dichtung an echter Liebeslyrik. Er füllt seine Verse mit neuem Inhalt, holt ihn aus bisher unaufgespürten Bezirken, aus Hellas, aus dem Grand Siècle, aus Amerika.
Amerika ist Daríos folgenreichste Entdeckung. Ist Walt Whitman der erste dichterische Verkünder des amerikanischen Nordens gewesen, so Darío der des Südens. Er ermutigte die heutigen Dichter, die Neue Welt als ihre geistige Heimat zu bejahen. Zugleich überwand er die Provinzialität der lateinamerikanischen Dichtung. Es geschah mit seinem ersten Werk, für das der Einundzwanzigjährige den etwas überschwenglichen Titel Azul (Azur) wählte, nach dem Satz Victor Hugos:

L’art c’est l’azur.

Dieser schmale Band Azul, seine Prosa wie seine Gedichte, sind von einem weltoffenen, unabhängigen Geist erfüllt, wie ihn die spanische Dichtung seit dem „Goldenen Zeitalter“, dem 17. Jahrhundert, nicht mehr gekannt hatte und wie er für den Süden Amerikas überhaupt neu ist. Dieses ibero-indianische Amerika wird als Teil des Weltganzen begriffen und besungen. Mit anderen Worten: Darío schließt mit seinem Erstling die lateinamerikanische Dichtung an die Weltliteratur an.
Seit dem Tode Daríos – er starb 1916 mit achtundvierzig Jahren – hat sich die Dichtung des südlichen Amerikas in einer Weise verästelt, daß es schwer fällt, ihr gerecht zu werden. Die Akzente wechseln von Land zu Land. Trotzdem kann sie nicht wie in Europa nach bestimmten Schulen abgegrenzt werden. Ein buntes Nebeneinander beherrscht die Szene, manchmal, wie bei Herrera y Reissig, sogar das Werk eines einzelnen Dichters. Nur wo ein Dichter von einem politischen Weltbild, wie Nicolás Guillén vom marxistischen, bestimmt wird, formt sich ein geschlossener Eindruck.
Den Dichtern dieser Anthologie würde ein Lateinamerikaner wahrscheinlich andere hinzufügen, doch kaum eins der Gedichte weglassen. Mit Recht wird er eine Erweiterung unserer Auswahl wünschen, obschon ihr Rahmen weit gesteckt ist; sie ist keine Auslese, daher mit dem Auslassen keine Kritik verbunden.
Höchst unvollkommen bleibt – wer wüßte es nicht? – jeder Versuch, ein Gedicht in eine andere Sprache umzugießen; der Reim wurde, wenn vorhanden, geopfert, um Empfindung und Absicht des Dichters möglichst rein zu bewahren. Wird der Versuch hier dennoch gewagt, so im Vertrauen auf Nachsicht. Größe und Eigenart der lateinamerikanischen Dichtung rechtfertigen den Versuch. Erst mit ihr und zusammen mit der Dichtung des Nordens kann von „amerikanischer“ Dichtung die Rede sein.

Albert Theile, Vorwort

 

Mit den Bildern dieser Verse

kommt die Sprache eines fremden Erdteils flammend auf uns zu : die schwermütigen Gesänge indianischer Melancholie, die wilde Vegetation grenzenloser Urwälder, der Rhythmus abendlicher Tänze, das Menschenherz in den Steinöfen der Städte, das nach Freiheit lechzt. Und dazwischen immer wieder die Soledad, die mehr enthält als unser Wort : Einsamkeit. Gabriela Mistral, Rubén Darío, Nicolás Guillén oder Pablo Neruda – eine Dichtung, die Europa die Frische des Werdens voraus hat, die sich in ihrer Eigenart noch nicht lange selbst entdeckt hat und die wir hier nun für uns entdecken, als ein bereits Geprägtes, das uns erstaunt und beglückt.

Deutsche Zeitung, Stuttgart, Albert Langen • Georg Müller Verlag, Klappentext, 1955

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope

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