Sergej Jessenin: Poesiealbum 60

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sergej Jessenin: Poesiealbum 60

Jessenin/Sell-Poesiealbum 60

STANZEN
P. Tschagin gewidmet

Ich weiß genügend
über mein Talent.
Und Verse sind nicht allzu schwer zu machen.
Am meisten aber
foltert und verbrennt
und quält die Liebe mich zu meinem Land.

Paar Reime zimmern
kann wahrscheinlich jeder −
von Mädchen, Sternen, Mond und Liebesschmerz…
Mir schnüren andere
Gedanken meinen Schädel.
Andre Gefühle
fressen mir das Herz.

Ich will hier Sänger sein
und guter Bürger,
für jeden Beispiel:
Stolz und echter Sohn −
kein in die Ehe eingebrachtes
Ziehkind
den großen Staaten der Sowjetunion.

Ich bin für lang aus Moskau weggelaufen:
Mit der Miliz mich gut stelln
schaff ich nicht.
Nach jeder Biertour und für jedes Saufen
steckten sie mich ins Loch und machten dicht.

Ich dank den Bürgern für den Freundschaftsdienst,
doch ist es hart,
da auf der Bank zu liegen
und mit versoffner Stimme
was zu deklamiern
vom Vögelchen im Bauer:
Armes, darfst nicht fliegen…

Ich bin euch kein Kanari!
Ich bin Dichter!
Zu irgendwelchen Demjans paß ich nicht.
Und bin ich dieser Tage selten nüchtern,
hab ich im Auge dafür
Seherlicht.

Ich sehe alles
und verstehe ganz −
die neue Ära
ist kein Zuckerlecken,
und Lenins Name
rauscht wie Wind durchs Land,
wie Mühlenflügel
die Gedanken weckend.

Dreht euch, ihr guten!
Davon habt ihr was, das weiß ich.
Ich bin hier Neffe,
ihr seid Onkel, ja.
Los, Sergej,
setzen wir uns still an Marx,
schnuppern die Weltweisheit
langweiliger Zeilen.

Das Jahr läuft hin
wie Bäche in den Nebelfluß.
Städte flimmern vorbei
wie Ziffern auf Papier.
In Moskau war ich noch,
jetzt bin ich in Baku.
Ins Reich der Erdölfelder
führt uns Tschagin hier.

Er sagt: „Sind diese
Ölfontänentürme denn nicht
schöner als aller Kirchen Heilsgefüge?
Mystische Nebel gibt’s schon zur Genüge.
Jetzt, Dichter, sing,
was fest ist und lebendig!“

Öl auf dem Wasser
wie ein Perser dick.
Über den Himmel goß
der Abend ein Sack Sterne.
Ich aber schwör
aus reinem Herzen hier:
Schöner als Sterne
sind Bakus Laternen.

Macht der Fabriken träum ich noch im Wachen.
Der Menschenkräfte Stimme hör ich gut.
Von Himmelsleuchten
haben wir genug −
wir können das auf Erden
besser machen.

Und selber
klopfe ich den Hals mir sanft
und sag:
„Die Zeit ist da, wir müssen uns beeilen −
los, Sergej,
setzen wir uns still an Marx,
enträtseln Weltweisheit
aus langweiligen Zeilen!“

Übertragen von Rainer Kirsch

 

 

 

In Jessenins Gedichten

war das Ungestüm des Rußlands dreier Revolutionen. Verwegenheit, elementare Gewalt, Wagemut steckten in der Epoche, in der er lebte. Wie ein Seismograph verzeichnete er die Schwankungen seiner Zeit. Rußland sprach in ihm und durch ihn.

Jewgeni Winokurow, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1972

 

Sehnsuchtsfigur Sergej Jessenin

Kein anderer russischer Dichter hat mit soviel Inbrunst von seiner Gestalt gesprochen wie Sergej Jessenin. Dem Jubel über sein Haar, seinen Blick, seinen Gang verdankt er eine Selbstverzauberung, die noch die bitterste Vergänglichkeitsklage in das Leuchten der Trauer hüllt.

Alles wie der Apfelblust: vergangen.
Keine Klage mehr, kein Ruf, kein Schrei!
Goldumwelkt bin ich, bin herbstumfangen –
War ich jung? Es ist vorbei.

Jessenin hat sich in dieser Verzauberung gefallen. Er hat das Bild von dem sanften, träumenden, schwermütigen Jüngling geliebt, in dem die Elementarkräfte eines jungen Rußland im Aufruhr sind.
Aber Narziß ist er nicht: Wenn er am Anfang die erste graue Strähne in der goldenen Flut der Haare noch kokett übersieht, am Ende darf kein schöner Jüngling ihm aus dem Spiegel entgegenblicken. Ein widerliches Scheusal gebärdet sich da frech und unausstehlich, ein „Mann in Schwarz“, der von einem Abenteurer und Dichter, einem Halunken und Trinker faselt. Ein Banause, ein Neider, ein Zyniker, ein Rächer, ein Provokateur? Der Spazierstock zerschlägt mit dem Spiegel das Bild.

Ich steh im Zylinder.
Niemand ist bei mir. Allein bin ich…
Und der zerbrochene Spiegel…

Ein Banause, ein Neider, ein Zyniker, ein Rächer, ein Provokateur? Der Spiegelmensch – er?
Jessenin fragt nicht empört. Er fragt staunend. Fassungslos sieht er sich seinen Weg gehen. In fünf, sechs Jahren war er der „erste Dichter Rußlands“, wie er sich selber nennt – ununterscheidbar Schicksal und Kalkül. „Nimm du die Krone der Prosa, Isaak“, kann er zu Babel sagen, „die Krone der Poesie gebührt mir.“
Kein Wunder, daß ihm die Fassungslosigkeit niemand glaubt. Und wirklich: Wie er sich da mit seinen Gedichten aufmacht aus dem Gouvernement Rjasan, die Moskauer proletarischen Literaturzirkel wegen provinzieller Inkompetenz bald hinter sich läßt, um sich im März 1915 Petersburg zu stellen, das scheint wenig von Bestimmung zu haben. Er weiß, daß er zu Alexander Blok muß, dem heimlichen König der russischen Poesie; der Schweiß bricht ihm aus, als er dem Dichter gegenübersteht, doch er faßt sich und orientiert sich rasch. Das Entzücken in den liberalen Salons von Petersburg kennt keine Grenzen: der zwanzigjährige Jüngling aus den bäuerlichen Tiefen Rußlands wird als eine Hoffnung gefeiert.
Während des Sommers zieht er sich in das heimatliche Konstantinowo zu seinen Eltern und Schwestern und Großeltern zurück, um aus der Ferne die Wirkung seiner ersten Auftritte zu beobachten. „Von ,gefallen‘“, schreibt er im Rückblick,

kann nicht die Rede sein, da muß man sich seine längsten Schaftstiefel anziehen und dann hinein in ihren Tümpel und stochern und stochern, bis sie wie die Fische ihre Nasen aus dem Wasser stecken und dich wahrnehmen und merken – das bist du. Ihnen gefällt, was gestutzt, glatt und reinlich ist. Und da kommst du und schleuderst ihnen deinen zerzausten Kopf hin, mein Gott, wie leicht geraten sie aus der Fassung.
Ohne dieses Spiel wäre der ganze Erfolg unserer Volkstümler-Aktion natürlich fade, und wir wären uns mit ihnen bald einig gewesen. Säßen mit ihnen am Tisch, unterhielten uns und schimpften. Und einer höbe vielsagend seinen Zeigefinger und sagte: Sie sind genial, Sergej Alexandrowitsch
/ … / diese Bilder, dieser Ausdruck, und dann käme er auf die Universität zu sprechen und würde empfehlen, sie umgehend zu besuchen, und, zufrieden, daß er durch die Universitätsgärung ein paar Lebensprozente mehr ergattert hat, sich beim Eintreten seiner Frau höflich erheben und sagen: Sieh mal, meine Liebe, ein Dichter von – ganz unten. Sie würde die Äuglein aufreißen, schmale Lippen bekommen und flöten: Ach, Sie sind das, erstaunlich, ich habe so viel von Ihnen gehört, nehmen Sie doch Platz. Und würde staunen und mich ausfragen, und ich würde ihr vielleicht antworten und erzählen, wie man eine Kuh mit zwei Fingern melkt, daß ein Huhn es beim Eierlegen schwer hat usw. usw. Es ist schon ein großer Spaß, sich an ihnen zu ergötzen, vor allem, wenn sie nach deinem Blinker schnappen, wenn er noch fliegt, und obwohl sie das Eisen klingen hören. So reißt du sie heraus wie Brassen und Schlammbeißer.

Soweit mochte man alles noch seinem liebenswürdigen jugendlichen Eroberungsdrang zugute halten. Aber da ereignet sich etwas, das die liberale Gesellschaft schockiert und diesem Jüngling ein für allemal das Stigma eines Spielverderbers, eines Provokateurs aufprägt. Wieder in der Hauptstadt, muß Jessenin als Sanitäter zur Armee. Er ist in Zarskoje Selo stationiert, der Residenz des Zaren, und kommt mit der Zarenfamilie zusammen. Wie intim der Umgang war, ist nie recht bekannt geworden. Lesungen. Gespräche. Geschenke. Die Revolution im Februar 1917 beendet die Episode, die Jessenin selber nicht ganz geheuer war. Viel gesprochen hat er verständlicherweise davon nicht.
Der Vorgang ist aber insofern mehr als eine Episode, als er die Grundkonstellation dieses Dichterlebens verstehen hilft – Sehnsuchtsfigur zu sein und ständig enttäuschen zu müssen, um Sehnsuchtsfigur zu bleiben. Wie zuvor für die liberalen Petersburger Salons und noch davor für die sozialistischen Moskauer Zirkel ist er nun für die monarchistische „Gesellschaft für die Wiedergeburt der künstlerischen Rus“ (also des vorpetrinischen, ja vortatarischen Rußland) die Gewähr geschichtlicher Solidität. Fortan wird es immer so sein. Wer Jessenin hat, hat Rußland. Die Bolschewiki werden sich in einer Weise um ihn bemühen, die alles Dagewesene in den Schatten stellt, und ihre Enttäuschung wird maßlos sein, denn das Scheitern ihrer Bemühungen ist ein Menetekel. In der Ohnmacht ihrer Niederlage haben sie keinen Dichter nach Dostojewski so bekämpft wie Sergej Jessenin.
In den dreißiger Jahren, als dieser Kampf in vollem Gange war, hat Ossip Mandelstam ihre Niederlage beschrieben, indem er einen Vers von Jessenin lobte:

Es gibt einen wunderbaren russischen Vers, den ich in den stinkenden Moskauer Nächten nicht müde werde aufzusagen, vor dem die gehörnte böse Kraft weicht wie eine Sinnestäuschung. Ratet, Freunde, welchen Vers ich meine – mit Schlittenkufen ist er auf Schnee geschrieben, er kreischt als Schlüssel im Schloß und bricht als Frost in unser Zimmer: … nie erschoß ich Unglückliche in Gefängniskellern… Das ist das Glaubensbekenntnis, das ist der eigentliche Kanon des wahren Schriftstellers, der ein Todfeind von Literatur ist.

Mandelstam kommt dann auf einen der Verwalter des Jesseninerbes zu sprechen, eine „Lyzeumskanaille, von den Bolschewiki zum Nutzen der Wissenschaft eingesetzt“, der in einem speziellen Museum die „Schlinge des erdrosselten Serjosha Jessenin bewacht“, um am Ende den Verfall der russischen Philologie zu beklagen: unduldsam war sie, sagt Mandelstam, jetzt hat sie sich prostituiert.
Der Vers, den Mandelstam zitiert, stammt aus einem Gedicht Jessenins von 1922, das zu dem Zyklus „Das Moskau der Kneipen“ gehört, der rasenden Verzweiflungsklage über das Ende seines, des bäuerlichen Rußlands. Besorgt die Frage, warum er, Jessenin, als Scharlatan und Skandalist hier gelte. Kein Verbrecher, kein Straßenräuber.

… und nie erschoß ich Unglückliche in Gefängniskellern…

Ein Wildfang mit einem Lächeln für jedermann. Ein Moskauer Flaneur – kein Hund in der ganzen Nachbarschaft der Twerskaja, der nicht am leichten Gang ihn kennt. Balsam sein Vers für die Seele der Tiere. Der Zylinder? Nicht wegen der Frauen, die Stute frißt den Hafer draus. Keinen Freund unter den Menschen, weil einem anderen Reich untertan. Doch jedem Rüden hängt er gern seine beste Krawatte um den Hals. Kein Wunder sicher, daß er als Scharlatan und Skandalist hier gilt. Orpheus als Hooligan. Was diese russische Sehnsuchtsfigur ausmacht, beruht auf soviel Erfahrung wie Freiheit in allen geistigen, sozialen und politischen Milieus Rußlands. Jessenin hat gern seine Mobilität betont, indem er von seinen Reisen in den russischen Norden, in den Ural, nach Asien, in den Kaukasus, nach Westeuropa und in die Vereinigten Staaten sprach. Bedeutsamer aber war seine Berührung mit allen irgend erheblichen russischen Gesellschaftskreisen. Die Auflösung Rußlands in Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und Emigration bot die einmalige Chance, in kürzester Zeit die wesentlichen Kräfte der russischen Geschichte an der Arbeit zu sehen, und Jessenin ist der einzige, der diese Chance zu nutzen wagt – eine tödliche Chance.

Aus meinem Leib gezogen ist die Kerze,
sie brennt herab, brennt golden und brennt stumm.
Von ihm, dem Mond, der Uhr, der Uhr dort, hölzern,
les ich es ab: Die Zeit, Sergej, – herum.

Übers blaue Feld kommt er gegangen,
kommt und kommt, der eiserne, der Gast.
Rauft die Halme aus, die Abendröte

tranken,
und er ballt sie in der schwarzen Faust.

Hände ihr, ihr fremden, seelenleeren,
was ich sing, wenn ihr es greift, ists hin.

Im Kreis von Altgläubigen großgeworden, mit seiner Großmutter in die Klöster seiner Heimat gepilgert, am geistlichen Grundschullehrerseminar ausgebildet, Tolstoianer, immer noch mit dem Spitznamen „der Mönch“, kommt er in Moskau mit der russischen Sozialdemokratie in Verbindung. In Petersburg verkehrt er in den bürgerlichen Salons. In Zarskoje Selo gerät er in den Dunstkreis des Zaren, parallel aber in den der Sozialrevolutionäre. Diese entwarfen eine viel verlockendere Erneuerung der russischen Geistigkeit, als sie die monarchistische „Gesellschaft zur Wiedergeburt der künstlerischen Rus“ zu bieten vermag. Sie schloß an den geistigen Aktivismus Alexander Herzens an, der sich angesichts der europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts in einem Brief an Proudhon gewandt und geschrieben hatte – er als echter Skythe sähe mit Freuden, wie die alte Welt zerfällt, und glaube, daß sie beide berufen seien, ihr nahes Ende zu verkünden. Der Theoretiker des neuen Skythentums, Iwanow-Rasumnik, erstrebt nun eine Allianz zwischen den Kräften aus dem Volk Jessenin und Nikolai Kljujew – und den russischen Intellektuellen – Alexander Blok und Andrej Bely. Er sieht den neuen „Skythen“ mit dem wahren „Hellenen“ im Bunde gegen den internationalen, den ewigen „Spießer“, der sich freilich gelegentlich der Kleider des „Hellenen“ bediene, um den „Skythen“ zu bekämpfen und als der „lachende Dritte“ aus dem Zwist der beiden seinen Vorteil zu ziehen, Der Weltspießer sei es, der das Christentum durch plattes Moralisieren zugrunde gerichtet habe, jetzt ruiniere er den Weltsozialismus, indem er ihn dem Geist des Kompromisses unterwerfe, er ruiniere die Kunst durch Ästhetizismus, die Wissenschaft durch Scholastik, das Leben durch Vegetieren, die Revolution durch flachen Reformismus. Jessenin ist Feuer und Flamme. Er schließt sich sogar der terroristischen Kampforganisation der Sozialrevolutionäre an.
Problematisch war an diesem Maximalismus, der die „Skythen“ durchaus zu den Verbündeten der Bolschewiki machte, daß er die Sühne- und Untergangsbereitschaft einer kleinen Gruppe in sehr suggestiver Weise generalisierte und aus Ungeduld eine Beschleunigung sozialer, politischer und kultureller Veränderungen in Gang setzte, die unweigerlich zum Terror führten. Der Kampf gegen die ohnehin wenig entwickelte russische Bürgerlichkeit, die Verketzerung bürgerlich-demokratischer Verfassungsanstrengungen als spießiger Beschwichtigung des russischen Aufruhrs versperrt den Weg zu Übergangsformen, Nebeneinander und Ausgleich.
Dann die Bolschewiki. 1919 wohnt Jessenin im Parteihotel Lux, Sitz der Kommunistischen Internationale, bei Georgi Ustinow, dem Redaktionssekretär der Parteizeitung Prawda, und begegnet dort Nikolai Bucharin. Es ist die Zeit, da Jessenin mit dem Gedanken spielt, in die Kommunistische Partei einzutreten, Anatoli Lunatscharski, der Volksbildungskommissar, sorgt für die Europa- und Amerikareise, unterwegs helfen die ersten sowjetischen Diplomaten. Zurück in Rußland, spricht Jessenin im Kreml mit Lew Trotzki und rügt angeblich das zu geringe militärische Engagement in Westeuropa. Kirow, damals Kaukasus-Kommissar, hat die Idee mit dem „Ersatz-Persien“ für den Dichter – man gebe ihm ein Anwesen bei Baku, und er vergißt seine Idee, nach Persien zu gehen, in die Heimat der großen alten Dichter. Daß Jessenin wegen seiner aufrührerischen Reden und Gebärden nicht stärker mit den Gerichten in Konflikt gerät, hat zweifellos mit der „Fürsorge“ von dieser Seite zu tun. Dzierzyński, der erste Leiter der Tscheka, kümmert sich um ihn. Jessenin ist von den Männern an der Parteispitze fasziniert. Sie geraten auch in seine Verse. Lenin bleibt ihm ein Rätsel. Von Trotzki ist er am stärksten beeindruckt. Ein Freund notiert noch für den Herbst 1925: Für den idealen, vollendeten Typ Mensch hielt Jessenin Trotzki.
Dennoch: es könnten geschäftliche Begegnungen sein, eher beiläufige Berührungen mit der Macht, es könnte ein Interesse sein zwischen Neugier und pikantem Schauder. Aber es gibt zwei Freundschaften, die Jessenin tief verwickelt sehen in den Untergang Rußlands: die Freundschaft mit Leonid / Ljonja Kannegießer, dem späteren Mörder Moisej Urizkis, des ersten Vorsitzenden der Petrograder Tscheka, und die mit Jakow Bljumkin, dem Mörder des Grafen Mirbach, des deutschen Botschafters in Moskau. Die beiden Tode im Jahre 1918 haben den Terror gegen die Feinde der Republik auf das Grausamste gesteigert.
Kannegießer war ein junger Petersburger Dichter, mit dem sich Jessenin angefreundet hatte und der ihn in seiner Heimat Konstantinowo besuchte. Über ihn geht die Verbindung zu den renommierten liberalen Nordischen Annalen, die Jessenin drucken. Die beiden jungen Leute müssen eine Zeitlang unzertrennlich gewesen sein. Jedenfalls findet Marina Zwetajewa Neujahr 1916 Ljonja und Serjosha eng umschlungen, und es sei für einen Augenblick so etwas wie Schulfreundschaft in den Salon gekommen. „In den beiden, in ihren frappierend verschiedenen Gesichtern waren zwei Rassen, zwei Klassen, zwei Welten zusammengekommen, zusammengeflossen… Schwarz spiegelnd Ljonjas Kopf, Jessenins – lauter Locken, Jessenins Vergißmeinnicht, Ljonjas braune Mandelkerne.“ Kannegießer hat den Sturz des Zaren begrüßt, vielleicht auch noch den Oktoberumsturz der Bolschewiki – eine Art sozialrevolutionärer Fähnrich, aber als die Tscheka seinen Freund Perelzweig erschießt, ist der Entschluß unausweichlich: Er erwartet eines Morgens Urizki in dessen Residenz und erschießt ihn. Vermutlich – die Akten sollen drei dicke Bände füllen – ohne Verbindung zu einer konterrevolutionären Organisation. Kannegießer wird zum Tod durch Erschießen verurteilt.
Jakow Bljumkin war Sozialrevolutionär und einer der Begründer der Tscheka in den wenigen Wochen, als es eine Koalitionsregierung aus Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären gab. Das Attentat auf den Grafen Mirbach war als Protest der Sozialrevolutionäre gegen den Frieden von Brest-Litowsk wie gegen die Bauernpolitik der Bolschewiki gedacht – beides in den Augen der Sozialrevolutionäre Verrat an der Revolution, nach außen wie nach innen. Brest verpflichtete die Rote Armee zum Stillhalten angesichts der blutigen Abrechnung der kaiserlichen deutschen Truppen mit den ukrainischen und baltischen Bauernrevolutionären, und im Innern hätten die Bolschewiki einen Bürgerkrieg entfacht, indem sie die „Komitees der Dorfarmut“, in die nur ein Bruchteil der Bevölkerung hineingelangt, und dann auch noch der inkompetenteste, in Gegensatz zu allen anderen Schichten gebracht hätten. Das Attentat gab das Zeichen zum Aufstand gegen die Bolschewiki. Bljumkin wird verwundet, gefaßt, pro forma zum Tode verurteilt, aber nach langen Gesprächen mit Trotzki, der den Aufstand niedergeschlagen hatte, begnadigt. Nach riskanten Einsätzen im Bürgerkrieg studiert er an der Militärakademie, arbeitet in Trotzkis Stab, später in der Spionageabwehr der reformierten Tscheka, der GPU. Als Stalins Kampf gegen Trotzki beginnt, macht Bljumkin kein Hehl aus seiner Sympathie für die Opposition, doch als er 1929 auf dem Rückweg von Indien in Konstantinopel Station macht, den inzwischen exilierten Trotzki trifft und eine Botschaft an die Opposition mit nach Moskau nimmt, kostet ihn dies das Leben. Bljumkin – es muß Gedichte von ihm geben – gehörte zu den Begründern der Moskauer Assoziation der Freidenker, die von Jessenin und seinen imaginistischen Freunden Ende 1919 ins Leben gerufen wurde, er vermittelte Jessenins Gespräch mit Trotzki und soll den Dichter später in Tbilissi unter dem Namen Iljin überwacht haben.
Immer noch aber bliebe auch dies Episode – schließlich hat Bljumkin auch in Mandelstams Leben eine merkwürdige Rolle gespielt, wie Nadeshda Mandelstam ausführlich erzählt, und hat ihn sogar für den Aufbau seiner „neuen großen Organisation“ begeistern wollen – es bliebe Episode, wenn da nicht diese Freiheit wäre, mit der Jessenin bei aller Intimität zu Macht und Gegenmacht in diesen Konfigurationen sich bewegte. Eine Freiheit, von der die anderen sich nicht einmal zu träumen gestatten, Alexander Blok war vollkommen gelähmt von dem Gedanken der „Vergeltung“ für die sozialen Sünden seiner Klasse, die geschichtlich unvermeidlich sei – Christus mit der Fahne im Schneesturm erscheint ihm an der Spitze der zwölf Rotgardisten. Mandelstam quält der Eid, den er dem „vierten Stand“ geschworen hat. Majakowski und mit ihm die futuristische Linke verbietet sich im Namen eines „sozialen Auftrags“ die Poesie:

Ich trat meinem Lied auf die Kehle.

1955, dreißig Jahre nach Jessenins Tod, wird Boris Pasternak beim Abschluß seines Doktor Schiwago seinen Gewinn der inneren Freiheit als ein überwältigendes Ereignis beschreiben:

Sie können sich nicht vorstellen, was da erreicht worden ist: Die Namen gefunden und gegeben all der Hexerei, die mich jahrzehntelang gequält hat, mir Unbehagen bereitete, Streit gebar, die mich verwirrte und unglücklich werden ließ.

Die Behexung, die hier ein Ende findet, ist die gefährlichste der Gegenwart, eine Behexung, die die bedeutendsten russischen Dichter das Leben oder ihre geistige Souveränität kostete, die Behexung durch ein weltanschauliches Staatsverständnis, durch ein objektives wissenschaftlich-titanisches Weltregiment. Wenn der Staat geistige und sittliche Werte verkörpert, wie der Anspruch lautet, und nicht lediglich ein Instrumentarium des Interessenausgleichs darstellt, dann stürzt jeder Zwist mit ihm den Gewissenhaften in einen tödlichen Konflikt.
Jessenin hat gegen alle weltgeschichtlichen messianischen Rechtfertigungsversuche rebelliert und an den russischen Revolutionen immer den „russischen Aufruhr“ betont, das Zerstörerische, den Mutwillen; seine Helden waren zwei Bauernführer, einer aus dem 18. Jahrhundert, Jemeljan Pugatschow – Todfeind einer Zarin, Katharinas –, und einer aus dem 20. Jahrhundert, Nestor Machno – Todfeind eines Kommissars, Trotzkis. Bezeichnend ein Gespräch, das Alexander Blok im Januar 1918 notiert. Jessenin sagt:

Sie zerstören (die Kirchen, den Kreml, um den es Jessenin nicht leid tut) aus reinem Mutwillen.

Blok fährt fort:

Ich fragte, ob es nicht einige gebe, die im Namen höherer Werte zerstören. Er sagte, nein (d.h. ich bin mit meinen Gedanken voraus?). Wie sie Statuen zerstören (eine nackte Frau) und wie leicht man fast jeden davon abbringen kann (wie Kinder von ihrem Mutwillen).

Ist auch Jessenins Freiheit – Mutwillen? Nichts als Mutwillen? Das aufrührerische Gebaren nur ein freches – freventliches? – Spiel mit Identitäten? Seht mich: Traumwandler zwischen dem Zarenhof und dem Kreml der Kommissare, verzaubert bald als Pilger, bald als Hooligan, bald als ein „sowjetischer Rasputin“, bald als Bohrturmenthusiast.
Seine Freundschaften mit Männern, seine Verbindungen mit Frauen – alles ein mutwilliges Spiel mit den Identitäten? Erst der Anschluß an Nikolai Kljujew, den unheimlichen Gesandten des altgläubigen Nordens Rußlands, dann der Dichterbund mit den fröhlichen Harlekinen des Imaginismus. Verheiratet mit einer Sozialrevolutionärin, mit einer berühmten europäisch-amerikanischen Tänzerin und am Ende gar mit einer Enkelin Lew Tolstois. Aus Mutwillen? Aus Überdruß?
Oder ist es doch dies? Besuch in einem Nachtasyl:

Menschengewühl, Wein, trunkener Lärm erregten ihn: Er spannte sich wie ein Gummiseil, seine Hände wurden länger, er kniff die Augen zusammen, stieß die ungeheuerlichsten Worte aus, sein Gesicht verfinsterte sich in der Menge der Dummen, Schieber und Schmarotzer, die mit Fäusten auf ihn loszugehen drohten. Wie ein Dompteur seine Tiere beherrschte er die Seelen und wußte, gleich konnte er den menschlichen Abschaum in seiner ganzen Wut und Bosheit entfesseln oder umgekehrt – alle lassen die Fäuste sinken, setzen sich wieder auf die Bank und fangen an zu weinen.

Hat er ihnen dies gesagt:

Ein für allemal sei nun verlassen –
ja, ich gehe, heimatliches Feld!
Fern die Flügelblätter meiner Pappeln,
keine, die mir läutet und mir schellt.

Und ich geh, geh nächtens, unterm Monde,
geh im Mondschein, geh im Teufelsschein,
torkle durch die Gasse, die gewohnte,
und in meiner Kneipe kehr ich ein.

Laut gehts zu und bang in meiner Kneipe,
aber nachtlang, bis es Morgen wird,
rezitier ich Dirnen, was ich schreibe,
und mit Gaunern gönne ich mir Sprit.

Herz, du schlägst, schlägst schneller, schlägst verworren,
und so red ich, rede auf gut Glück:
„So wie ihr seid, bin auch ich: verloren,
wo ich bin, da gibt es kein Zurück.“

Jessenin hatte eine scharfe Beobachterin, Sie gehörte zu den wenigen, die sich von seiner Selbstverzauberung nicht hatten bezaubern lassen; sie hat, als sie erfuhr, daß Jessenin sich im Dezember 1925 erhängt hatte, die Gefährlichkeit seines Spiels mit den Identitäten zu benennen versucht. Es ist Sinaida Hippius, die den jungen Dichter als erste in ihrem Petersburger Salon empfangen und noch 1915 in einer begeisterten Schilderung begrüßt hatte. Jetzt, zehn Jahre nach der Begegnung in Petersburg, beschreibt sie in einem großen Essay in den Pariser Poslednie Nowosti Jessenin als einen Spielball der Elemente:

… vor dem Hintergrund der russischen Feuerwolke trieb er vor uns dahin – oder wurde getrieben – wie ein kleiner schwarzer Ball. Hierhin – dahin, hinauf – hinunter… Wassili Wassiljewitsch Rosanow hat von sich gesagt: „Ich gehe nicht… es treibt mich.“ Aber was ist dieses Rosanowsche ,Getriebenwerden‘ gegen das Jesseninsche. Rosanow konnte noch sagen: „Mir ist alles erlaubt, weil ich – ich bin.“ Für einen kleinen Ball existiert die Frage gar nicht, ob es erlaubt ist oder nicht erlaubt ist, dorthin zu fliegen, wohin er geschleudert wird. Und Jessenins Gedichte sind wie sein Leben: wirbeln, springen, überspringen sich. Zwei, drei einfache, lebendige Zeilen und dann die letzten Scheußlichkeiten, die Seele ätzende Unzüchtigkeiten und Blasphemien, weibisch, hysterisch, unnütz. Im roten Nebel des besonderen russischen Suffs schreibt er, grölt er, heiratet er…

Der Text heißt „Das Schicksal der Jessenins“. Das Schicksal der Jessenins sei, daß ihre Verwegenheit nicht aus der Macht, sondern aus der Ohnmacht komme. Es gebe in der russischen Seele einen wichtigen eigentümlichen Zug, für den man nicht leicht einen Name finde. Es sei die Neigung zu einer Art Subjektivismus, zu einer Selbstauflösung im Subjektivismus. Stoße sie auf kein Hindernis, dann führe diese Neigung allmählich zur Selbstzersplitterung, zur Selbstzerfaserung, zu einem völligen Verlust des Selbst. Die russische „Verwegenheit“, eine Verwegenheit der Willenlosigkeit, behindere diesen Prozeß nicht, sondern befördere ihn häufig sogar. Angesichts dieser Verlockung, dieser Selbstverzauberung im Untergang, würden wir sagen, habe man sich „zusammenzunehmen“ – in Rußland wie in der Emigration, Jessenin aber werde man weder aburteilend noch verherrlichend gerecht. Verstünde man den Sinn seines Schicksals, so sei er nicht umsonst gestorben.
Dies war die ganz starke Empfindung schon zu Lebzeiten gewesen: daß sich da etwas zutrug, das gar nicht in dieses Leben hineinpaßte. Der Tod in der Schlinge – viele Male angekündigt und wenigstens zweimal geprobt: Mutwillen? Überdruß? Zynismus? – hat diese Empfindung nur bekräftigt.
Die Beunruhigung, die von diesem Leben ausgeht, muß so stark gewesen sein, daß das Verlangen, sich ihr zu stellen, ihr zu begegnen, ihrer Herr zu werden, für einen Augenblick die tief gespaltene russische Dichtergesellschaft zusammenführt. Marienhof, Kljujew und Majakowski. Maxim Gorki und Marina Zwetajewa. Pasternak und Vladimir Nabokov, Nikolai Kljujew beendet seine Fehde mit seinem Freund Jessenin, den er den Imaginisten und besonders Anatoli Marienhof nicht gegönnt hatte. Majakowski fühlt sich so stark getroffen von Jessenins Abschiedsversen –

Sterben – nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;
doch: auch Leben gabs ja schon einmal –,

daß er mit einem Gegengedicht antwortete und einen Teil seines Poetik-Essays „Wie macht man Verse“ der Begründung dieses Gedichts widmet. Marienhof schreibt seinen Roman ohne Lüge, die erste Jessenin-Biographie. Maxim Gorki in Sorrent und Marina Zwetajewa in Meudon bitten ihre Freunde in Rußland um alle Nachrichten über Jessenin: Gorki will einen Roman schreiben, Zwetajewa ein großes Gedicht. Selbst Anna Achmatowa, die Jessenin immer etwas eintönig fand, hat später – bei Majakowskis Selbstmord – in einer Terzine überraschend die Tode Nikolai Gumiljows, der 1921 wegen seiner persönlichen (nicht politischen) Beziehung zu den russischen Monarchisten hingerichtet worden war, Sergej Jessenins und Majakowskis in eins gedacht. Und in den beiden konträren Dichterromanen der Russen – Vladimir Nabokovs „Gabe“ / „Dar“ / „The Gift“, dem bedeutendsten seiner russischen Berliner Romane, der endlich eben deutsch bei Rowohlt herauskommt, und Pasternaks Doktor Schiwago – erscheint Jessenin als Bezugsfigur. Abweisend, sarkastisch, in einem Trivialamalgam der russischen Moderne bei Nabokov: Der Gegenspieler seines Helden, auch ein Dichter, der sich erschießt, besingt in seinen Versen voller modischer Banalitäten „Jessenins Herbst“, die „Bläue Blokscher Sümpfe“, die „Schneeflocke auf dem Holzpflaster“ beim Akmeismus und jenen Newa-Granit, auf dem beinahe noch die Spur von Puschkins Ellenbogen auszumachen ist.
Preisend, emphatisch bei Pasternak: Doktor Schiwago undenkbar ohne das „in keinerlei Epitheta faßbare Schicksal Jessenins, das, sich selbst zu tilgen, in die Märchen hineinverlangte und fortging in sie.“
Vermutlich ist Marina Zwetajewa am weitesten gelangt in der Bezeichnung dieser verzehrenden Medialität, um die das Denken der Beobachter kreist, als sie in Jessenin den Sänger der Russen lobte.

Pasternak ist des Liedes nicht fähig, weil er überladen, übersättigt und, vor allem, weil er Einzelner ist. In Pasternak hat das Lied keinen Platz. Majakowski hat im Lied keinen Platz / … / Alles sein ist zu wenig dafür, man muß alle sein, das heißt gerade das, was Pasternak nicht sein kann. Das ganze und nur das gegebene Volk, das gegebene, dafür aber das ganze Volk – das, was Majakowski nicht sein will, der Sprecher einer Klasse, der Schöpfer des proletarischen Epos.

Jessenin kann es und will es.

Singen werd ich, singen, singen!
Keins der Tiere wird gekränkt!
Kummer gibts genug zu trinken –
nichts, das da ein Lächeln schenkt?

Alle tragen wir den Apfel Freude,
Räuberpfiff, uns allen ist er nah,
Weiser Gärtner Herbst, du kommst noch heute,
kappst den Kopf – das Gelbblatt da.

Morgen-, gartenhin: nur eine Schneise.
Wind, Oktober, stutzt hier Ast um Ast.
Alles zu erkennen, nichts zu greifen,
war der Dichter bei der Welt zu Gast.

Es gibt eine Beschreibung des russischen Lieds, die zu unvermutet weitreichenden Schlüssen kommt und geeignet sein könnte, Jessenins betörenden Weg durch die Identitäten, dieses „Alle-Sein“ seiner Medialität genauer zu begreifen. Sie stammt von Pawel Florenski und steht in der Einleitung zu seinem philosophischen Werk der Revolutionszeit, das er als eine „konkrete Metaphysik“ versteht. Florenski findet im russischen Volkslied ein Gesellschaftsideal ausgebildet, das sehr wohl Jessenins tiefste Sehnsucht gewesen sein könnte und sein ruheloses Suchen nach einer praktischen Gestalt und seinen Konflikt mit den herrschenden Normen in hellem Licht erscheinen läßt.
Florenski hebt die „volle Freiheit aller Stimmen, ihr ,Miteinander‘“ im Lied hervor:

Es gibt da keine ein für allemal festgelegten unveränderlichen ,Chor-Partien‘! Bei jeder Wiederholung einer Melodie nach neuen Worten ergeben sich neue Varianten sowohl beim Vorsänger als auch bei den Chorsängern. Mehr noch, nicht selten setzt der Chor bei den Wiederholungen nicht an der gleichen Stelle ein wie vorher, er setzt nicht zugleich ein, sondern versetzt; und manchmal kommt es vor, daß er während eines Solos oder auch mehrerer nicht verstummt. Die Einheit wird erreicht durch die innere Übereinstimmung der Interpreten und nicht durch den äußeren Rahmen, Jeder improvisiert mehr oder weniger, zerstört aber damit nicht das Ganze, sondern fügt es noch fester, denn das Gemeinsame wird von jedem Interpreten gefördert – vielfach und vielfältig. Dem Chor steht es völlig frei, vom Unisono eines einzelnen oder aller gemeinsam zu einer streng durchgeführten Vielstimmigkeit überzugehen.

Es sei das „chorische Prinzip“, nach dem auch eine Gesellschaft zu bilden wäre. „Synarchie“, sagt Florenski von griechisch „synarchō“: „mitherrschen, mitbefehligen, den Oberbefehl teilen, Mitanführer oder Amtsgenosse sein“ – im Gegensatz, sagt Florenski, zum „aufgeklärten Absolutismus der Neuzeit – ob nun Imperialismus oder Demokratie“. Mandelstam hatte recht, als er meinte, Jessenin habe das eigennützige Verlangen der Gesellschaft und ihrer willfährigen Philologie nach „großen“, d.h. erzählenden Formen in der Poesie das Leben gekostet: Immer will sie einzelne ihrer Taten beschrieben haben. Nie will sie „Alle-Sein“.
„Alle-Sein“ im Lied – wäre dies die Sehnsucht, die den Dichter nirgends heimisch sein ließ? Dann wäre er am Ausgang unseres Jahrhunderts, was er in seinem Aufgang war – Sehnsuchtsfigur: Sergej Jessenin.

Fritz Mierau, Oktober 1992, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1993

 

Jolanda Delgado Batista: Jessenin und Majakowski: Fertig mit dem Leben

 

ICH HÖRTE DEN NAMEN JESSENIN

Seine Bauern verhungern
und in Leningrad wird
der erste
Dichter erschossen.

Drei Jahre Frankreich
die Flucht zu Elisabeth Duncan, dann

kommt er zurück an die Newa
die eigene Haut ist besser
als jede glitzernde fremde

und hängte sich
auf, lies es nach.

Guntram Vesper

 

Komm herein, Sergej
für Sergej Jessenin

KOMM HEREIN, Sergej,
beim Schnaps öffnen die Worte
ihre Fenster.

Stoßen wir sie auf
und lassen die Verse fliegen
über den Himmel.
Beim Gebrannten
aus wogender Ähre
lassen wir sie frei.

Wir fürchten nicht
die großen Sätze,
die imposanten Vogelscheuchen.
mit den festlichen Hüten,
wenn der Klare sich
in den Magen brennt.

Unsere kleinen Vögel,
die Lerchen und Spatzen,
flattern drüber hin,
im Schnabel ein Körnchen
Wahrheit.
Sie versenken es in die Falten
der Erde.

Komm herein, Sergej,
die Flasche steht auf dem Tisch.

Klaus Körner

 

AN SERGEJ JESSENIN

Sie gingen,
aaaaaaaaawie man’s nennt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain die andere Welt.
Leere…
aaaaaaaEinfliegend
aaaaaaaaaaaaaaaaaain die Sternenunermeßlichkeit.
Kein Vorschuß mehr,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaakeine Kneipe ward hier aufgestellt.
Mäßigkeit.
Nein, Jessenin,
aaaaaaaaaaaa akein Spott
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaüberlegen,
in der Kehle
aaaaaaaaaaasitzt ein Knäuel,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas ist nicht Ironie.
Den verwundeten Arm
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalinkisch bewegend,
schaukeln jetzt
aaaaaaaaaaaaader eignen Knochen Sack
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSie.
Aufhören,
aaaaaaaaaSchluß damit!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaWas sind das für Sachen?
Zuzulassen,
aaaaaaa aaadaß die Backen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaades Todes Kreide
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaüberspannt?
Sie verstanden
aaaaaaaaaaaaasolche Drehs zu machen,
wie’s kein andrer
aaaaaaaaa aaaaaaauf derWelt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverstand.
Warum dies,
aaaaaaaaaaaaweshalb?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEin Nichtbegreifen quälte.
Kritiker zwar brummen:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Alle Schuld hat hier
dies und das…
aaaaaaaaaaaaavornehmlich:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Einfügung fehlte,
und das Resultat –
aaaaaaaaaaaaaaaaazuviel an Wein und Bier.“
Hätt
aaa astatt der Boheme
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSie regiert
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Klasse,
Klasseneinwirkung
aaaaaaaaaaaaaa aaahält alle Händel fern. –
Doch wie löschen denn
aaaaaaaaaaaaaaaaaa aaden Durst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Klasse Massen?
Auch die Klasse
aaaaaaaaaaaaaahebt mal einen gern.
Freilich –
aaaaaaaaahätt ein Napostówez
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauf Sie aufgepaßt –
dabei hätt Ihr Inhalt
aaaaaa aaaaaaaaaaaanur gewonnen
aaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaafreilich:
täglich
aa  aaahätten
aaaaaaaaaaaahundert Zeilen
aaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaSie verfaßt,
so ermüdend
aaaaaaaaaaaawie Doronin
aaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaund langweilig.
Zwar,
aaa aawenn solcher Wahnsinn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa  aaaaaaasich verwirklicht hätte, dann
hätten schon viel länger Sie
aaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaufgemacht die Venen.
Denn an Wodka
aaaaaaaaaaaaaaastirbt viel besser man
als am Gähnen!
Nie enthüllen des
aaaaaaaaaaaaaaaaVerlustes
aaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaWesen
je das Federmesser
aaaaaaaaaaaaaaaaanoch die Schlinge.
Wär im
aaaaaaa„Angleterre“
aaaaaaa aaaaaaaaaaaTinte dagewesen,
wären
aaaaaa– möglich –
aaaaaaaaaaaaaaaaanicht geschehn die Dinge.
Die Nachahmer freuten sich:
aaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaDa capo! Schön!
Macht mit sich selber
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchluß
aaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaein ganzer Trupp doch schon.
Doch warum
aaaaaaaaaaaadie Ziffer denn
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Selbstmorde erhöhn?
Besser,
a aaaaaman vergrößere
aaaaaaaaaa aaaaaaaaaadie Tintenproduktion!
Da auf ewig
aaaaaaaaaaaverstummt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Zunge
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain Erschöpfung liegt,
ist es nicht am Platz
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund schwer,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMysterien vorzubringen.
Denn dem Volke,
aaaaaaaaaaaaaaadiesem Sprachenschöpfer,
starb ein
aaaa aaaaTaugenichts
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund Lehrgesell voll Klingen.
Und schon schleppt man Verse an,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBestattungsbruch,
noch vom vorigen
aaaaaaaaaaaaaaaaBegängnis
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund kaum umgemacht,
in den Hügel
aaaaaaaaaaaapfählend
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaastumpfen Reim und Spruch –
ist das rechte Ehrung,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaeinem Dichter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazugedacht?
Nicht gegossen
aaaaaaaa a aaaaward Ihr Denkmal noch –
wo
aaader Bronzeton,
aaaaaaaaaaaaaaaaawo des Granites Grund? –
Zu den Gittern des Gedenkens
aaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaatrugen die
aaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaaaaaaaaajedoch
schon der Widmungen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund der Erinnerungen Schund.
Wird Ihr Name
aaaaaaaa  aaaaains Taschentuch hingerotzt,
während Sobinow
aaaaaaaaaaaaaaaaaschon Ihre Worte kotzt,
unterm welken
aaaaaaaaaaaaaBirkenbaum dorten –
„Keine Seufzer, mein Freund,
aaaaaaaaaaaaa aaaaaaaaaaaaakeine Wo-o-orte.“
Ach,
aaa aein Wörtchen sprechen mit diesem Kitsch,
mit diesem selben
aaaa aaaaaaaaaaaaLeonid Lohengrinowitsch!
Als Skandalmacher
aaaaaaaaa aaaaaaaahier durchzugreifen:
„Verse
aaaaaaschmatzt man nicht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund knutscht man nicht!“
Zu betäuben
aaaaaaaaaaamit
aaaaaaaaaaaaaaaDreifingerpfeifen!
Fluchen, wie der ärgste
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaVolksmund spricht!
Daß ich flugs zerstreu
aaaaaaaaaaaa aaaaaaadie unbegabte Hetze
in der Rockschöße
aaaaaaaaaaaaaaaageblähter
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFinsternis,
daß Kogan
aaaaaaaaaaHals über Kopf
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadrauf entwetze,
den Passant
aaaaaaaaaaaverwundend
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit des Schnurrbarts Spieß.
Dieser Mist
aaaaaaaaaaableibt immer noch
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabeim alten.
Es ist viel zu tun –
aaaaaaaaaaaaaa aawie holt man’s auf?
Erst
a aaamuß man
aaaaaaaa aaaaadas Leben umgestalten,
umgestaltet –
aaaaaaaaaaaaamag man’s singen drauf.
Schwierig für die Feder
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaist die Zeit wie nie zuvor:
Aber sagt,
aaaaa aaaaihr Krüppel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund ihr Krüppelinnen,
Welcher Große,
aaaaaaaaaaaaaawo und wann
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasich je erkor
Wege,
aaaaaaleicht für Massen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu gewinnen?
Ist das Wort
aaaaaaaaaaader Feldherr doch
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader Menschenmächte.
Marsch!
aaaaaaaaDaß hinter uns
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Zeit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus Kugeln stoß.
Daß zur alten Zeit
aaaaaaaaaaaaaaaaein Windstoß
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaabrächte
die zerrauften Haare bloß.
Unser Erdball
aaaaaaaaaaaaaist für Freude
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanoch zu wenig uns gegeben.
Aus der Zukunft
aaaaaaaaaaaaaaareißen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamuß man
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaLust und Spiel.
Sterben
aaaaaaaaist nicht schwer in diesem Leben.
Leben schaffen,
aaaaaaaaaaaaaaschwerer ist das viel.

Wladimir Majakowski
Übersetzung Johannes von Guenther

 

 

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Interview
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Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Gespräch + Archiv +
Kalliope
Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt ✝ FR ✝
Zeit ✝ Tagesspiegel

 

Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

Zum 125. Geburtstag von Sergej Jessenin:

Christian Lindner: Der Pop-Poet der Zarin
Deutschlandfunk, 3.10.2020

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