Silke Scheuermann: Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Silke Scheuermann: Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen

Scheuermann-Der Tag an dem die Möwen zweistimmig sangen

WELTRAUMSPAZIERGANG AN DER GOLDENEN
NABELSCHNUR VON HIERONYMUS BOSCH

Weiß nicht wie lange
wir noch dauern werden
welche Prophezeiung
hinter unsern Stirnen lauert und
Was wir sind mit den
gedankenschweren Steinen im
Hirn um den Hals und ob weltalltauglich
oder nicht

Erscheint mir alles gletscherkalt hier
wie die Kastanien fallen rollen
Aber gestern Wir spielten Babyboule
unter den Herbstbäumen
spielten Supernova
ließen alles grundschön kollidieren
Im Raum im Anzug mit Latzhosentaschen

Seit wann werden Sterngespräche
anders geführt und die Bilder
nicht mehr unkompliziert
in die Erde kopiert

Seit wann sind wir kälteverkrustet
wissen was es ist
was passiert wenn
ein Stern explodiert
Ist doch kein Leben betroffen
nur tote Form blanke Geometrie

Wenn der Brennstoff ausgeht
der Strahlendruck versagt und die riesigen
Gaskörper das Gleichgewicht verlieren
trudeln und schwanken bis im Augenblick
des Zusammenbruchs
ein gewaltiger Energiestoß frei wird
ein Lichtblitz den
Stern zur platzenden Pampelmuse macht
Ciao-Ciao mit zehntausend
Kilometernprosekunde

Nur warum uns das
hier im Haus
zusammenschrumpfen läßt Keine Ahnung

Weiß nicht wie lange wir noch hausen werden
was das Supernovaspiel ergibt
was passiert wenn unser Heim
zu alt geworden
ob es dann auch explodiert
Wer später die Splitter
aus unseren Gliedern zieht

 

Hauslesung Silke Scheuermann am 30.10.2001 im Suhrkamp Haus, Frankfurt a.M.

 

 

Die Verse von Silke Scheuermann

bestechen durch Präzision und Phantasie, die Autorin traut den Schwingungen der Worte, spielt mit ihnen und nimmt sie lakonisch an die Lein.

Dingfest genagelt mit Kosenamen
einander beikommen

Herz Flügel Lunge
auf Sezierpapier

Am Motiv des Mondes orientiert
hängen sich Blicke auf

und mit eiligen Händen stimmen
wir tagelang gegen uns ab

heißt es etwa im Gedicht mit dem Titel „Es gilt natürlich an Tatsachen festzuhalten“.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2001

 

Lagebesprechung (6)

Die Autorin, der Öffentlichkeit unbekannt bis zum Darmstädter Literarischen März 2001, wo ihr der Leonce-und-Lena-Preis zuerkannt wurde, halte ich für eine Entdeckung. Warum? Weil sie etwas kaum mehr für möglich Gehaltenes in die Lyrik unserer Tage einbringt: unvermittelt von einem „Ich“ zu einem „Du“ zu sprechen, wie es einer der bedeutendsten Dichter, Walther von der Vogelweide, vor 800 Jahren schon einmal tat. Dabei gelingt es ihr, diesen scheinbar privaten Dialog auf eine Weise zu führen, daß er die sprechende Person im Gedicht zu einer Figur werden läßt und die Anrede zu einem allgemeinen, uns alle etwas angehenden Inhalt. Liebesgedichte sind immer in der Gefahr, entweder den Geliebten zu verlieren, den sie direkt ansprechen wollen, oder den Leser, der schnell in die Rolle eines Voyeurs kommen kann. Hier aber ist die Liebe mehr noch als ein individuelles Ereignis ein Motiv, und es ist das menschliche Urmotiv schlechthin: auf der Suche nach dem anderen zu sein, der eine gültige Antwort auf den einzelnen ist. Daß sie ausbleibt – und vermutlich immer –, davon handelt dieses „Requiem für einen gerade erst eroberten Planeten mit intensiver Strahlung“. Dennoch ist das Gedicht damit noch lange nicht erschöpft, denn es fügt dem Basismotiv, das diese Lyrik allgemein durchzieht, eine zweite Aussage hinzu, die aus der Korrespondenz der ersten mit der letzten Zeile entsteht und den Text gleichsam verklammert. Die Signalwörter dafür sind „Geschichten“ und „Erzähler“, die, da sie „verbrannte Erzähler“ sind, rückwirkend auch die „Geschichten“ verbrennen, also verneinen. Die imaginären Liebenden dieses Gedichtes verfehlen sich also nicht nur, da sie die Leere am Ende ihrer „Geschichte“ nicht mit Sinn füllen können. Auch die Bilder, in denen sie sich ihre Geschichte erzählen, sind erfunden, „durchbuchstabierte Luftschlösser“ eben. Der Sehnsucht, im anderen die Antwort auf sich selbst zu finden, kommt damit noch jene nach einer Geschichte hinzu, die als authentisch empfunden werden kann. Das ist bezeichnend gerade für diese Generation, auch wenn jeder seinem Temperament folgend anders darauf reagiert. Hier wird es zu einer lyrischen Komplexität, ohne die stilistischen Mittel allzu sehr zu strapazieren oder die Semantik aggressiv zu durchbrechen. Lediglich die Interpunktionslosigkeit treibt das Tempo voran und signalisiert eine poetische Nervosität, die ihrerseits zur Vielschichtigkeit an Motiven und Verweisen im Text wird. Dieser Verzicht auf sprachliche Experimente nun macht die Gedichte ganz und gar nicht konventionell, weil ihr Antrieb, ihr initiales Moment nicht im Wort, sondern im Blick liegt. Was und in welcher Beziehung zueinander gesehen wird und wieviel Mehrwert an Information daraus entsteht, entscheidet über die Qualität eines Textes, nicht was an Sprachmaterial in Bewegung gebracht und gegebenenfalls zerstört wird. Ein Verfahren, das man durchaus antimodern nennen kann, ohne daß es je aufhört, moderne Lyrik zu sein, deren formaler Kanon sich ohnehin zunehmend erweitert und auch schon einmal aufgegebene Traditionen wieder einschließt. Die produktive Unruhe, der unbedingte Affekt, auf kleine und kleinste Veränderungen sprachlich zu reagieren, das ist ein Kapital, das niemand sich aussuchen oder erwerben kann und das, sofern es auf eine literarische Begabung trifft, in der Summe erst relevante Dichtung ergibt. Silke Scheuermann, die auch eine hervorragende Prosa schreibt, ist auf diesem Weg und ihr erstes Buch der Beweis.

Kurt Drawert, Ostragehege, Heft 30, 4.7.2003

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Anna Eckert: Die Welt durch ein Kaleidoskop
literaturkritik.de, Mai 2002

Heinrich Detering: Das lyrische Hammerklavier. Notizen zur Lage der Poesie
Merkur, Heft 644, Dezember 2002

 

 

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