Sprachgekreuzt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Sprachgekreuzt

Saary-Sprachgekreuzt

WAS IST BLOSS ANZUFANGEN

Was ist bloß anzufangen
mit dem Schmerz

auseinandernehmen
wieder zusammensetzen
auswerten
umwerten
begründen
erklären
in den Zwingstock
nüchterner Argumente
spannen

und dann solange
drehen und wenden
bis er
Kraft und Farbe
einbüßt
und sich zaudernd
dem Prokrustesbett
des allzu nüchternen Alltags
anpaßt

was ist bloß anzufangen mit dem Schmerz

Éva Saáry
übersetzt von Gábor Kocsis

 

 

 

Vom Reichtum der ungarischen Lyrik

– Einleitung zu einem Leseabend. –

Was wissen wir, deutsche Leser, von der ungarischen Literatur? Wenn wir ehrlich sind: sehr wenig. Vor allem kennen wir auch nicht – es sei denn, wir wären als Besucher da gewesen – die Atmosphäre, die Literatur und Autoren verursachen in der Hauptstadt Budapest und im weiten Land. Franz Fühmann hat ein zärtliches ungarisches Tagebuch geschrieben und darin gesagt: „Und man wird nicht viele Völker treffen, die ein so inniges Verhältnis für ihre Schriftsteller haben als die Ungarn.“ (Franz Fühmann: 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens, Frankfurt 1973) Also auch die, wenn ich richtig verstehe, die keine Schriftsteller sind, wirken mit an der Atmosphäre. Menschen, denen Literatur etwas bedeutet, die sie brauchen, lieben; vor allem die Lyrik, beziehungsweise die Poesie.
Ich wage hier nicht die lange Tradition aufzuzeigen, die jedem ungarischen Gedicht, das heute geschrieben wird, vorausgeht. Eine lange Tradition. Den Autoren, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dem Adel entstammten, folgten Autoren bürgerlicher, danach bäuerlicher und schließlich auch proletarischer Herkunft. Wenn man über die moderne ungarische Lyrik sprechen will, kann man bei Endre Ady beginnen, der am Anfang des Jahrhunderts steht und ihr neue Quellen geöffnet, neue Ströme zugeführt hat. Eine Gestalt von der Bedeutung und Größe eines Apollinaire, die jedoch durch keine Übertragung ins Deutsche vermittelt werden kann. Gleich am Anfang wird also auch ein Hindernis erkennbar für die Übersetzung – also, auch Schätzung – der ungarischen Lyrik bei uns. Lyrik-Übersetzungen aus allen Sprachen sind problematisch, aber die Übersetzung aus dem Ungarischen im Besonderen. Die deutsche Sprache, die wir gleichfalls als reich und biegsam empfinden, kann nicht die unendlichen Schattierungen ungarischer Verben, auch nicht die unendlichen Möglichkeiten der Reime wiedergeben. Übersetzungen sollten aber auch die Klänge, die Schwingungen, die Stimmen wiedergeben; auch die Tradition, die Geschichte, die Landschaft, die gesellschaftlichen Bedingungen. Allen Gesprächen über die ungarische Literatur müssen solche Überlegungen vorausgehen. In einem Akzente-Heft des Jahrgangs 1967 hat György Rónay, der Literaturkritiker und Dichter in Budapest, einen sehr anschaulichen Überblick der ungarischen Lyrik von Endre Ady an gegeben. Er weist darin nach, wie die ungarische Lyrik vom ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts an sich entwickelt hat: Vom Symbolismus her über den Expressionismus, vom Futurismus und Surrealismus zum Populismus – und weiter zu den mehr realistischen, objektiven und offenen Formen. Richtungen sind jedoch nur vereinfachende Markierungen. Genauer betrachtet sind es – gerade für die Vielfalt der ungarischen Lyrik Sammelbecken, in denen die unterschiedlichsten Temperamente und Tendenzen nebeneinander wirken. Herausragen nach Endre Ady: Mihály Babits, Lajos Kassák, Dezsö Kosztolányi. Sie sind die Leitfiguren, und es ist ungerecht, wenn man die anderen nicht nennt, oder wenn man einige Namen vergibt. Milán Füst zählt neben Lajos Kassák zu den Vertretern der „ersten Generation“ der Moderne. Lörinc Szabó, Gyula Illyés, Attila József und Miklós Radnóti zur „zweiten Generation“, die in der deutschen Lyrik mit den Namen Eich, Huchel, Marieluise Kaschnitz verglichen werden kann. Auf Sándor Weöres, István Vas, Zoltán Jékely und György Rónay – um nur einige Vertreter der „dritten Generation“ zu nennen – folgen die der „objektiven Lyrik“: Ágnes Nemes Nagy, János Pilinszky. Weitere wichtige Namen der letzten drei Jahrzehnte sind: Ferenc Juhász, László Nagy, Sándor Csoóri, Gábor Hajnal, Margit Szécsi, Dezsö Tandori. Fast alle Namen sind durch vereinzelte Übersetzungen auch bei uns bekannt geworden. Sie sprechen für die Vielfalt, die Kontinuität, aber auch für die Steigerung der ungarischen Lyrik – bis herauf in diese Tage.
Die ungarische Lyrik wäre jedoch nicht vollständig charakterisiert – und es gilt auch für die deutsche Lyrik –, wenn nicht die Verbindungslinien zu Westeuropa, Amerika und Rußland aufgezeigt würden. Die ungarische Lyrik hat Formen, Programme, Möglichkeiten anderer großer Weltlyrik assimiliert, ohne dabei ihre nationale Eigenart aufzugeben.
Sie hat in den fünfziger Jahren politische Themen aufgenommen – aufnehmen müssen – und zeitweise die rein literarischen Fragen in den Hintergrund gedrängt. Attila József hat zu seiner Zeit gerade eine ähnliche Phase überwinden helfen. Er hat, wie Rónay schreibt, sich über den engagierten Populismus hinweggesetzt. „Er brachte“, schreibt Rónay, „die surrealistische Formensprache mit dem gesellschaftlichen System zu einer Synthese höherer Ordnung.“ Er hat dann auch den Dichtern, die „mit ihrer Didaktik der Poesie die Flügel brechen“, einen anderen Weg gewiesen. Er gehört, schreibt Rónay, „zu den seltenen Dichtern, die nicht nur über das schreiben, oder in ihrem Werk nur das anstreben, was sie engagiert, sondern die selbst den vollen (den erlebnishaften, philosophischen, ja sogar ,Bewegungs‘-treuen) Inhalt dieses Engagements leben, formen, in Dichtung transponieren und ihre innere Poesie offenbaren.“ Das ist, meine ich, zugleich eine Art Definition, auch eine Art Weisung, wie Dichter sich verhalten sollen in einem Staat, der die Literatur dirigieren möchte, aber auch in einem Staat, in dem Beeinflussungen anderer Art auf den Dichter einwirken oder einschlagen wollen. Und vielleicht auch eine Art Weisung für Dichter, die heute Abend hier zusammengekommen sind.
Ágnes Mária Csiky, Gábor Kocsis, Imre Máté, Dezső Monoszlóy und Éva Saáry leben nicht mehr in Ungarn. Sie sind Ende des Krieges weggegangen – oder nach dem Aufstand 1956. Gábor Kocsis stand schon in der unvergessenen Anthologie Im Frührot. Die Autorinnen und Autoren leben seit vielen Jahren in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich; in deutschsprachigen Ländern also, neben anderen Landsleuten mitten unter uns. Und sie können es trotzdem nicht lassen, ungarisch zu schreiben, zu lesen, zu denken, zu fühlen – und sicher auch zu träumen. Die Trennung zwischen ihnen und ihrem Land ist nicht mehr feindselig wie nach 1956, aber sie ist doch eine Trennung. Sie sind von einer fremden Sprache umgeben, und ihre Söhne und Töchter sprechen sie schon geläufiger als die Muttersprache. Man darf die Situation mit dem schicksalsträchtigen Wort „Exil“ umreißen. Exil, mit allen Folgen, auch für die persönliche Existenz.
Die Gedichte, die Ágnes Mária Csiky, Gábor Kocsis, Imre Máte, Dezső Monoszlóy, Éva Saáry hier schreiben, haben eine kleinere Zuhörerschaft, als wenn sie zu Hause schrieben und publizierten. Lyrik ist doch aber auch gerade deshalb Lyrik, weil ihre Aussagen und Schwingungen ein Gegenüber ansprechen, es treffen, in ihm sich fortsetzen – am besten im Gegenüber eines Volkes oder doch einer großen, verwandten Zuhörerschaft. Die Gedichte des Exils dagegen – und wir wissen es, weil auch unsere deutschen Lyriker einmal in Amerika, in Rußland, in England, in Mexiko und in anderen Ländern zu leben gezwungen waren – registrieren höchst sensibel, ob sie einen Widerhall wecken oder nicht. Und wir wissen, wie viele deutsche Lyriker in der Fremde resigniert haben, sogar ganz verstummt sind.
Es kommen also verschiedene Motivationen zusammen, wenn ein Abend wie dieser zustande kommt. Wenn die ungarischen Autoren ihre Gedichte lesen, und wir ihnen zuhören, ihnen die Gewißheit vermitteln, daß wir zur Aufnahme bereit sind. Bereit für Gedichte, die schwarz oder grau, mehr oder weniger deutlich, grundiert sind von der Situation des Exils, von den Augenblicken, von den gesellschaftlichen Bedingungen, die für einen Fremden, selbst wenn er eingebürgert wäre, wieder anders sind als für den, der „zu Hause“ ist. Gedichte, die auch in der deutschen Übertragung eigentlich ungarische Gedichte sind; in dem Sinn, daß sie ungarische Tradition weitertragen. Übersetzte Gedichte, die jedoch etwas vermitteln vom Reichtum der ungarischen Sprache; vom Reichtum ihrer Reime, Verben, Schattierungen, ihrer Formen, ihrer Farben. Ungarische Gedichte auch deshalb, weil Ungarn zuweilen auch unmittelbar als Thema sichtbar wird. Doch bleiben solche direkte Aussagen selten. Stärker ist die Tendenz zur Poesie, zur Umsetzung, zur Metapher, zur Parabel auch. Ich meine, es ist gut so, im Sinn der Definition und Weisung, die ich zitiert habe.

Hans Bender, Vortrag gehalten am 17. Mai 1974 an der Volkshochschule Köln, als Einleitung zum Leseabend von Ágnes Mária Csiky, Gábor Kocsis, lmre Máté, Dezső Monoszlóy und Éva Saáry. Tibor Tollas, der sechste Autor dieses Bandes hat an der Lesung nicht teilgenommen.

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