Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Brasch: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer

Brasch-Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer

WER WOHNT WO

1
Und wen sie nicht gelebt haben
den sterben sie noch heute.

2
Unter den Märchen. Oder
über den Märchen. Zwischen 2 Orten
wohnen die Menschen. Beiderlei Sorten.
Ruf mich mit beiderlei Worten

 

 

 

Editorische Notiz

Nachlaßeditionen sind ein heikles Unterfangen, streifen gar das Fragwürdige: Ein Schriftsteller wird mit Texten vorgestellt, die er zu Lebzeiten nicht selber zum Druck gab; aus Schubladenvergeßlichkeit, wegen der Vordringlichkeit einer anderen Arbeit oder dank der Unzufriedenheit mit noch Vorläufigem.
Herausgeber müssen also etwas entscheiden, das der Autor unentschieden ließ. Der vorliegende Band präsentiert vorwiegend Gedichte, die – in Mappen geordnet – Thomas Brasch zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Einige wenige waren in entlegenen Anthologien oder Zeitungen gedruckt, beispielsweise „Nachwort“ und „Halb Schlaf – für Uwe Johnson“; das letztere hing an der Pin-Wand des mit Thomas Brasch befreundeten Kollegen, die nach dessen Tod 1984 mit eben diesem Gedicht fotografiert, das Foto mit Gedicht vielfach publiziert wurde. Auch das strenge Gesetz „Wann ist ein Gedicht fertig“ haben die Herausgeber mitunter gelockert, haben aus intimer Kenntnis des Werks wie der Person – also der Arbeitsweise – von Thomas Brasch entschieden; „Bitte warten Sie: Sie werden verbunden“ wäre so ein Beispiel: Es schien in Ton und Corpus eine für Thomas Brasch typische Arbeit. So, wie auch einige der sehr frühen Gedichte – „Sommerabend“ von 1961 – den Gang des Lyrikers durch diese Welt, seinen Kampf mit ihr, dokumentieren sollen. Da in den Manuskripten nur wenige Gedichte datiert waren, wurden Datierungen generell weggelassen. Indes wurden Motivwiederholungen nicht gescheut; manches davon mag als ein Basso continuo zu verstehen sein.
Um den Charakter des lyrischen Nachlasses zu verdeutlichen, sind in der Rubrik „VARIA“ einige evident unfertige Arbeiten abgedruckt; sie sollen Pers pro toto die Arbeitsweise des Autors illustrieren. Diese Werkstattproben sind – wie die Atelierskizzen eines Malers – kein ästhetisches Ganzes, sind gleichsam „unterwegs“ zum Werk.
Die Herausgeber haben in die Texte nicht eingegriffen; lediglich deutliche Fehlschreibungen und Tippfehler wurden  korrigiert. Bei Unsicherheiten vis-à-vis ungewöhnlicher Schreibweise wurde zugunsten des vorliegenden Manuskripts entschieden: „Einsein“ und die mögliche Korrektur „Einssein“ im Gedicht „An Heike S. in Paris“. Ein Gran Anmaßung bleibt durch das Prinzip der Auswahl; denn nicht jedes beschriebene Blatt Papier, das sich in Schubladen und Kästen fand, ist hier abgedruckt. Dieser Band verseht sich nicht als wissenschaftliche Edition. Er ist Gruß und Gedenken – einem toten Freund.

Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz

 

„Ich stehe für niemand anderen als für mich“,

erklärte Thomas Brasch 1977, nachdem er, 31jährig, die DDR verlassen und sich für ein Weiterleben und -arbeiten im Westen entschieden hatte. Und dabei blieb es auch, ein viel zu kurzes Leben lang. Brasch war nur sich selbst verantwortlich, ungebärdig und nur dann zu Kompromissen fähig, wenn sie sich mit seinen persönlichen Erfahrungen und seiner dichterischen Phantasie decken ließen. Es entstanden dabei Werke von zarter Schönheit und wilder Kraft, poetische Zeichen aus einer Welt, von der man, lesend, hörend, sehend, nicht genug kriegen konnte: Gedichte, Stücke, erzählende Prosa, Übersetzungen, Filmarbeiten. Als Thomas Brasch im November 2001 starb, hinterließ er, nebst anderem, eine ganze Reihe von Gedichten, die der Autor selbst noch zu einem Band zu komponieren versucht hatte, und damit eine Aufgabe, der sich dann Katharina Thalbach, die Weggefährtin, und Fritz J. Raddatz, der Freund, stellten. Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer ist so das Vermächtnis eines bedeutenden Schriftstellers, dessen Stimme ohne Vergleich war – und bleiben wird.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung, 2002

 

Thomas Brasch war Haut

In der Haut, so sagt man, nistet die Seele des Menschen. Er hat seine Haut über diese Welt gespannt, und die Welt zerbarst. Und seine Haut zerriß. Was war das Besondere an diesem Mann? Er wirkte ja ungebärdig, und dabei war es eine zärtliche Ungebärdigkeit. Er wußte als hochentwickelter Künstler, daß Kunst das Gehärtete sein muß. Unter dem Gehärteten, unter dem Unerbittlichen des Kunsgesetzes lag aber seine Bittlichkeit. Immer, wenn Sie genau lesen, ob in Stücken, in Prosa, vielleicht ganz besonders in der Lyrik, werden Sie finden eine gebärde des Flehentlichen. Sabre nennt man in Israel die dort Geborenen. Sabre ist die Kakteenfrucht: außen stachlig und innen süß und saftig. Thomas Brasch, nicht dort geboren, war gleichwohl eine Sabre. Er hat uns eine Welt vorgeführt, vor der er die Menschen warnt. Gleichwohl hat er gesagt, sie möge nicht so sein. Das war der Impetus des Werks von Thomas Brasch. Deswegen konnte er Freund sein, deswegen konnte er die Menschen streicheln, übrigens nicht nur mit dem Wort, sondern veritabel streicheln. Eine Umarmung mit Thomas Brasch war immer gleichzeitig die Umarmung mit einem großen Stück Traurigkeit. Diese seltsame Wechselwirkung zwischen Traurigkeit, Trotz und Zärtlichkeit war, was für mich den Menschen Thomas Brasch ausmachte und was sein Werk prägte. Deswegen glaube ich, daß es lange wirken wird. Zärtlichkeit war gleichzeitig das Ungebärdige, das Nicht-akzeptieren-Wollen eines jeglichen Kodex. Ich habe mir einen Satz aufgeschrieben, mit dem er seine wunderschöne Majakowski-Auswahl im Suhrkamp Verlag vorstellte, wo er sagt, woran liegt es denn, daß wir diese Welt, diese Gesellschaft, gleich welche Gesellschaft, auch die, die Majakowski bauen wollte, nicht ertragen? Das liegt daran, daß wir, gelähmt von den vergangenen stillen Zeiten und dem kommenden endlosen Alptraum, die Arme nicht mehr hochbekommen, das einzig nötige zu tun, jede staatliche Ordnung mit all ihren Wurzeln aus unserem Leben, unserem Beruf und aus unserem Herzen zu reißen. Dieses ist zugleich die Definition eines Einsamen. Das ist die andere Seite des Thomas Brasch. Er hatte gewiß nicht allzu viele, aber ein paar sehr gute Freunde. Vielleicht ist es unangebracht, wenn ich einen Freund nenne, und das ist Kathi Thalbach. Gleichwohl war er, und wollte es auch sein, einsam bis ganz zum Schluß. Er verlor sich in dieser Welt. Vielleicht darf man erinnern an den Kleistschen Satz: „Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“ Mit dieser Familie der Literatur, ob Büchner, ob Bertolt Brecht, aber bis hin zum anderen Großen, dem dritten großen B. Gottfried Benn, hat er diesen Zirkelschlag der Einsamkeit auch gebraucht zur Selbstdefinition seines Ich, und damit übrigens, das kann eben nur Kunst leisten, und das hat seine Kunst geleistet, daß wir uns damit auch definieren. Das ist die Leistung der Kunst, uns Augen neu einzusetzen. Dafür danke ich Thomas Brasch. Ich habe ihn geliebt, den Künstler, den Menschen. Adieu, Thomas Brasch.

Fritz J. Raddatz, Auszug aus der Grabrede auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2002

 

Das Erkalten der Herzkammern

– Nicht der, der blieb, doch einer, der fehlt: Thomas Brasch und seine Gedichte aus dem Nachlaß.–

Was sind Gedichte aus dem Nachlaß anderes als ein „unverhofftes Wiedersehen“? Ein Widergänger auf Versfüßen springt aus dem Spiegel seiner Zeilen in die Gegenwart des Lesens: „Da / bin ich tatsächlich immer noch: Und dachte / es gäbe mich gar nicht mehr.“ Vor knapp einem Jahr starb der Lyriker, Dramatiker und Shakespeare-Übersetzer Thomas Brasch in Berlin, über zwanzig Jahre sind seit seinem zur Lyriklegende gewordenen Gedichtband Der schöne 27. September vergangen. „Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter“, resümierte er ein Tief über Deutschland, in dessen Halle „ausgepfiffen angeschrien mit Wasserbeuteln beworfen“ der Sänger Dylan den Wechsel der Zeiten in den Walzertakt zwang – life is nothing but a joke.
Thomas Braschs Gedichtband wurde zu einer Fibel gegen die Philisterei, der Refrain eines Rebellen mit Grund, der es satt hatte, sich auf alles einen Reim zu machen, und deshalb Reime fand, die zusammenhielten, was längst auseinanderbrach. „Das Unvereinbare in ein Gedicht: / Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.“ Deutschland war in seinen Gegensatzreimen längst wiedervereinigt: Es wuchs zusammen, was niemandem allein gehören sollte. Er, der aus dem einen in das andere Deutschland wechselte und dabei immer das gleiche im Auge hatte, hielt Deutschland aus, wo es ihn nicht aushalten konnte, und seine Gedichte hielten das ein, was sie versprachen, bis heute.
So spielt es auch keine Rolle, daß die nun vorliegenden Gedichte aus dem Nachlaß, wie die Herausgeber versichern, nicht alle datierbar waren, weshalb generell auf eine Datierung verzichtet wurde. Es sind Gedichte, die Thomas Brasch zu „Lebzeiten nicht selber zum Druck gab“, aber in Mappen geordnet zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Mappen voller Balladen, Tänze, Stenogramme, epischer Verse. Blätter voller Ausbrüche und Einbrüche, Abbrüche und Aufbrüche. Autopsien an einem offenen Körper, Verlustrechnungen und gewonnene Stunden im Angesicht des Endes, Historien und Hysterien. Gedichte im Zungenschlag des frühen und des späten Brecht, aber auch solche in der unverwechselbaren eignen Sprache, ihrer verletzbaren Härte und überraschenden Zartheit. Diese Gedichte lesen die Zeit, und die Zeit ist in und an ihnen ablesbar. Sie liegt wie eine Landkarte mit ihren Grenzziehungen und Abgründen unter vielen Gedichten – aber nicht die Chronologie bestimmt den Erzählfluß und das Treibgut der Strophen, sondern der Zu- und Abfluß der Herzkammern: Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer. Der Titel des Bandes ist Programm.
Die Geschichte wird eine innere, sie bekommt vier Wände und einen Spiegel, der sie vervielfältigt, ein Reflex, der ein Zurückwerfen sein kann oder die Illusion des Ausbruchs, der Weite. „Der Dichter im Viereck“. Das Zimmer ist Zelle, Zustand, Zuhause, Zurüstung, Zitat, das Z vor dem Anfang. Das Zimmer hat eine Tür. Manchmal ist sie von innen verschlossen, manchmal von außen, manchmal ist sie nur angelehnt, manchmal offen, dann schlägt sie der Wind. Das Zimmer hat ein Fenster. Eine Scheibe vor der Welt. Zerbrechbares Glas, das der Frost verwandelt in eine Fläche aus Eis, auf dem eine Hand mit der Wärme ihrer Fingerkuppen Zeilen schreibt, die vergänglich sind wie die Lieben, von denen sie erzählen, die dadurch bleiben, daß man sie nicht halten kann. Trotz aller Intimität ist Thomas Brasch kein Dichter in Zimmerlautstärke. Aber er braucht keine Versverstärker, keine Ausrufungszeichen. Man hört ihm zu, in ihn hinein, denn seine Stärke liegt in der Stille und dem allmählichen Ausklingen der Herztöne:

ist dir auch manchmal so als käm die Welt ins Lot
wenn du erwachen würdest und ich wäre tot
vielleicht fällt dann der tiefste Schlaf
über uns her und Jeder schläft beim Andern so
als gälte ihm der eigne Schlaf nichts mehr.

Auch wenn er laut wird, wird er leise, er ist keiner, der viel Lärm macht um nichts und erst recht nicht um das, was ihm alles ist. Er wartet, in seinem Zimmer, in einer Wartehalle, an einem Bahnhof, auf einem Schlachtfeld, vor dem Spiegel, hinter den Zeilen, auf einer Bank, an einem Tisch: „wer jetzt klopft meint mich nur mich“. Und dabei gerät ihm das Private nie zum privatistischen Vierwändewandern, im Gegenteil, er holt die Welt an seinen Tisch wie ein Gegenüber, dem er sich stellt: „mein private room ist auch mein public place“. Schwerelos verbindet er Privates mit Politischem, die Genickstarre beim Erwachen mit dem Schädelbasisbruch einer Kopfgeburt: „Ich war mein Land. Man hat uns weggeschenkt. / Wo schläfst du, DDR, ich habe mich verrenkt“. Wie dieser Vers sich verrenkt, so hat sich das Land verrenkt, und alles bleibt schief, ein Schmerz hinter den Lidern, zwischen den Schulterblättern. Eine Jahresendzeitfigur ohne Flügel, aber immer noch mit dem Himmel über den Augen. Den Augen, die alles sind dem Dichter. Das Sehen ist zugleich auch das Handeln, der Versuch, etwas als wahr in die Hände zu nehmen, in die Zeile und somit in den Griff zu kriegen. „Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehen. / Ich will nicht sterben. Nur was taugen“, heißt es in dem Gedicht „Über Kunst“. Nicht der Blick allein genügt, nur die Augen, die etwas taugen. Sie sind wie Hände, die anfassen. Und selbst wenn sie ins Leere greifen, halten sie etwas fest.
Es gibt eine Zeile von Cesar Vallejo, die über all diesen Gedichten stehen könnte: Plötzlich überfiel mich eine politische Lust zu lieben. Die Liebe in diesen Gedichten ist eine politische, sie wandert über ein Schlüsselbein und rennt gegen eine Wand aus Vorurteilen, sie überfällt eine Lust zu leben und eine Atemlosigkeit vor dem Tod, sie rebelliert gegen die Engstirnigkeit und wünscht der Stirn, die an der eigenen lehnt, „daß sie besser sich ein Glück antut / als mich: das Unglück“. Die Liebe ist immer auch eine Liebe, die durch die Augen geht, die die Netzhaut durchtrennt durch die Schärfe des Blickes. Sie ist das Ende der Täuschung und der Selbsttäuschung. So sind die Widmungsgedichte in diesem Band nie ohne Verletzung lesbar, der selbst erfahrenen oder der anderen zugefügten. Heiner Müller etwa, der als Vaterfigur für die Generation nach ihm galt, für Brasch, für Stefan Schütz. Sie hatten sich von ihm zu befreien, wie er sich von Brecht losgelöst hatte. Und Loslösung heißt: Die Befreiung oder Distanzierung des einen ist im Auge des anderen der Verrat. Und die Ironie: Im Tonfall Brechts schreibt Brasch über Müller:

Wer zu ihm geht zu lernen, begreift: es gibt nichts zu lernen von ihm.
Anders als andere Dichter hat er nichts
zu geben. (…)
Anders als Brecht und Shakespeare verrät
was er tut die Anstrengung. (…)
Wer zu ihm geht sich ihm anzuvertrauen
ist verraten.

Der Bruch ist wie der Verrat überall, am deutlichsten aber im Zeilen-Bruch: „Anders als andere Dichter hat er nichts“, dann der Bruch, „zu geben“. Er ist ein Verräter, und was er tut, „verrät“. Und was das schlimmste Urteil ist, es verrät: „Anstrengung“.
An diesem Gedicht ließe sich eine ganze deutsche Literaturgeschichte erzählen, ließe sich erzählen über Abgrenzungen, Ausgrenzungen, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen, über Liebe, Enttäuschung, Haß. „In den Zeiten des Verrats“, schrieb Heiner Müller, „sind die Landschaften schön.“ So lassen sich in diesem Band die blühenden Landschaften Deutschlands bestaunen. Aber der erste Blick, wenn er zugleich auch der letzte ist, täuscht. „Für Anna die in die Schule muß“, finden sich die Zeilen:

Glaube nicht wenn sie dir sagen
ich hätt all diese Bitternis
aus den andren deutschen Tagen
aus dem andren deutschen Riß
Denn wie du so geh ich auch
in die deutsche Schule Tag für Tag
und die Tritte in den Bauch
machten daß ich schwer am Boden lag.

Ein Riß in der Bauchdecke, ein Riß in den Wänden, eine Reißschnur am Himmel, ein zerrissenes Blatt Papier, das ein Leben in zwei Hälften teilt – das alles sind diese Gedichte.
Und eines, „DU, HALBES LAND ZWISCHEN ODER UND ELBE“, erzählt wie kaum ein anderes über dieses „Land ohne Namen, das sich ansprechen läßt mit / Anfangsbuchstaben“ und in dessen Werkhallen „die große Müdigkeit“ produziert wird. Eine Müdigkeit verwandt der Resignation, wenn der Dichter über sein Land nachdenkt und die Heimat zwischen den Zeilen:

DIE REIME SIND SCHÖN SIE BELÜGEN DICH
Das macht sie ähnlich deinen zwei Ländern
Sie zwingen dich Und sie fügen sich
Was willst du immer noch an beiden ändern.

Das sind nicht nur Zeilen für deutsche Schul- und Geschichtsbücher, sondern Zeilen, die für alles Zerrissene stehen und den Versuch, die Enden in den Händen zu halten, in dem Wissen, daß man loslassen muß. Es sind Gedichte, deren Zeilen wie Nadeln seismographisch jede Erschütterung aufzeichnen, jeder Verlust bleibt als Narbe zurück, die noch schmerzt, wenn die Wunde sich längst geschlossen hat.

Alles bist du.
Aber nie wirst du der sein,
der immer hier bleibt.

Thomas Brasch mußte gehen, aus seinem Zimmer, aus seinem Leben. Aber seine Verse blieben und bleiben, sie bestätigen mit jeder Zeile: „Es gibt mich noch.“ Doch er fehlt.

Albert Ostermaier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.2002

Im Zimmer, zwischen Schreibmaschine und Plattenspieler,

das Leben

Thomas Brasch war, als er im November 2001 im Alter von nur 56 Jahren starb, fast noch in einem Alter, wo man hätte sagen können: Vor den Vätern sterben die Söhne. Für seinen früh verstorbenen Bruder, den Schauspieler Klaus Brasch, traf dies auf jeden Fall zu. Vor den Vätern sterben die Söhne lautete der Titel des Prosabandes, der 1977 als erste literarische Veröffentlichung erschien, nachdem der von seinem Land verstoßene Sohn „vom Braunkohlendeutschland ins Steinkohlendeutschland“ übergesiedelt war.
Dieses Bild, das die Unterschiede des gespaltenen Landes durch Nennung der Bodenschätze markiert, findet sich im Gedicht „Erzogen für die großen Unterschiede“, enthalten in dem von Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz posthum herausgegebenen Band Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer (mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz).
Nach der Lektüre der nachgelassenen Gedichte hat man eine recht anschauliche Vorstellung, wie das Zimmer und mithin das Leben von Thomas B. aussah: Das Gemach eher bescheiden (es könnte auch Versteck genannt werden) und voller Bücher, am abgegriffensten die um das Bett mit den noch nächtlich zerwühlten Laken verteilten Bände von Heine und Brecht. An den Wänden, vielleicht sogar hinterm Spiegel steckend, Fotografien von Katharina, Anna und den Freunden, vorzugsweise schwarz-weiß. Eine „Wartehalle“, wie das Quartier des Schriftstellers B. aus B. in einem der Gedichte auch genannt wird, wo „zwischen Schreibmaschine und Plattenspieler, Bett / und Tür […] die Welt“ zu erkennen ist.

Wie der 1945 in England geborene Thomas Brasch zu seinem leiblichen Vater gestanden hat, kann und muß hier nicht detailliert erörtert werden; daß es ein höchst problematisches gewesen sein dürfte, mögen folgende Stichworte aus der Biographie des Sohnes verdeutlichen: Offizierskadett in Naumburg, Gymnasium in Berlin, Zwangsexmatrikulation an der Universität Leipzig und an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg, dann, „aus politischen Gründen“, Verurteilung zu mehrjähriger Gefängnishaft, schließlich 1977 Ausreise aus dem von ihm so umschriebenen „Riesenknast“ DDR.
So starb der Sohn Stück für Stück vor den Augen des Vaters: Horst Brasch war ein hoher Parteifunktionär und nutzte die ihm verliehene Macht, die politische Aufsässigkeit seines Sohnes zu bestrafen, in dem er half, seinen Filius, und nicht nur ihn, ins Gefängnis zu bringen, wie Katja Lange-Müllers Nachwort zum 2002 wieder erschienenen Band Vor den Vätern sterben die Söhne zu entnehmen ist. Erhellend für das Selbstverständnis des Dichters Brasch ist jedoch, daß er mindestens zwei geistige Väter hatte, denen er so viel verdankte, daß es ihm ein Bedürfnis war, sich in seiner Lyrik vor ihnen zu verneigen. Wollte man, um das titelgebende Bild beizubehalten, das Zimmer von Thomas Brasch einer Berliner Wohngemeinschaft zuordnen, dann gewiß nur einer, in der auch Heinrich Heine und Bertolt Brecht eine Heimstatt hätten.
Wie Heine – neben Brecht ein, wenn man so will, geistiger Ersatzvater – ist auch Brasch ein Dichter gewesen, der in seinen Gedichten vor Liebe im Traum weinte und im Wachen stets über Doppeldeutschland grübelte. „Die Anstalt“, von der im gleichnamigen (und in zwei Versionen vorliegenden) Gedicht die Rede ist, ist nichts Geringeres als das „Mein-Land“, zu der Brasch die DDR nach der Wende wieder machte, auch wenn deren bis 1989 mauerumstandener Friede ein Trug gewesen ist. Und also leiht sich Braschs Gedicht den Goetheschen Abendliedton aus:

Über allen Dächern ist Ruh
in den Antennen spürst du
nur einen Hauch

Die Balken, die diese Dächer hielten, waren, wie wir wissen, morsch; der Herbstwind genügte, sie fortzutragen.

Mit Brecht verbindet Brasch einerseits der Hang zu frivolen Liedern im Stile der Hauspostille oder der Augsburger Sonette – was „Maria Hilf (Hurenlied)“ bei Brasch, das ist Sonett Nr. 11, „Vom Genuss der Ehemänner“, beim jungen B.B. –, andererseits die Neigung zu melancholischen Kurzgedichten, wie wir sie namentlich aus den Buckower Elegien kennen. Brechts „Radwechsel“ ist bekannt und viel zitiert:

Ich sitze am Straßenrand.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Thomas Brasch kehrt in seiner Hommage die Perspektive kurzerhand um: „Für Brecht“.

Der sitzt im Straßengraben.
Ich wechsle das Rad.
Der ist nicht gern, wo er herkommt.
Der ist nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den mit Ungeduld.

Das also die Väter. Auch den Freunden und Weggefährten sind zahlreiche Gedichte gewidmet – oder auf den Leib geschrieben: Heiner Müller, Mary Fassbinder, Claus Peymann… Oder Uwe Johnson, dem das aus fünf kreuzgereimten Vierzeilern bestehende, streng komponierte Gedicht „Halb Schlaf“ zugeeignet ist:

Und wie in dunkle Gänge
Mich in mich selbst verrannt,
verhängt in eigne Stränge
mit meiner eignen Hand

Wie sehr Brasch Johnson mit diesen Zeilen traf, läßt sich nur ahnen: Das Gedicht hing an der Wand von Johnsons Arbeitszimmer. Als Thomas Brasch 1982 in Sheerness-on-Sea zu Gast war, hatte er dem vom Schreibk(r)ampf geplagten Uwe Johnson noch empfohlen, den ausstehenden vierten Band des Jahrestage-Projektes kurzerhand als reine Materialsammlung zu veröffentlichen – lang schon währte dessen Schreibblockade. Ein Vorschlag, den der von „paranoiden Vorstellungen“ (Heinz Ludwig Arnold) getriebene Johnson, mit einem Wutanfall quittierte (Brasch gab dies im März 2001 zu Protokoll, nachzulesen in dem Band Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays, erschienen im Kontext-Verlag, Berlin 2002).

Schon am Anfang des Bandes Wer durch mein Zimmer will, muss durch mein Leben steht das Ende. Das erste Gedicht korrespondiert mit dem Autorenfoto: ein schmaler, kahler Schädel, dem die großen dunklen Augen etwas durchaus Bübisches verliehen, an einem Spiegel stehend. Auf der gegenüberliegenden Seite das Gedicht „Unverhofftes Wiedersehen“:

An einem Spiegel vorbeigehen: Da
bin ich tatsächlich immer noch: Und dachte
es gäbe mich gar nicht mehr: ich träumte
über den Tod raus seit 3 Jahren. All das dachte ich.
Aber es gibt mich noch. Jedenfalls
sieht einer aus wie mein Foto. Wenn
Ich am Spiegel vorbeigehe.

Die Überschrift zitiert nicht von ungefähr jene berühmte Kalendergeschichte Johann Peter Hebels, in der eine greise Frau dem durch Vitriol konservierten Leichnam ihres vor fünfzig Jahren in den Bergwerken von Falun gestorbenen Bräutigams gegenübertritt: tot, doch um keinen Tag gealtert.
Das längste Gedicht des Bandes, das sich wie ein erratischer Block aus der Sammlung erhebt, empfiehlt sich weniger zum reinen Lesen, sondern vielmehr zum musikalischen Vortrag. Das über sechs Druckseiten führende Gedicht „Vielleicht“ wäre in der Tat eine veritable Vorlage für Hiphop-Acts vom Kaliber der „Massiven Töne“. Das letzte Kapitel ist mit „Varia“ überschrieben, hier sind weitere Fassungen von einigen weiter vorn abgedruckten Texten enthalten. Die Herausgeber konnten und wollten sich wohl hier nicht für die eine und gegen die andere Variante entscheiden und brachten folglich beide; was im Zweifelsfalle, zumal in einem Nachlaßband, immer die bessere Lösung ist.

*

Das Zimmer von Thomas Brasch ist nun seit langem verwaist. Kein Schild zeigt mehr an, wo der so vielseitige Schriftsteller und Übersetzer gelebt, geliebt und gelitten hat. Doch zu seinen Büchern, die nicht nur aus alphabetischen Gründen in  der unmittelbaren Nähe Brechts zu finden sind, bleibt die Tür geöffnet.

Kai Agthe, die horen, Heft 211, 3. Quartal 2003

Wo schläfst Du, DDR?

– Aus einem verloreren Leben: Thomas Braschs Nachlass-Gedichte.–

In ihrem Briefroman Alles, alles Liebe! hat Barbara Honigmann vor zwei Jahren ein kenntnisreiches Bild einer sehr spezifischen Szene aus der DDR gezeichnet. Das Buch spielt Ende 1975 innerhalb einer dissidenten Boheme, die sich vornehmlich aus den Kindern jener deutschen jüdischen Kommunisten zusammensetzt, die nach dem Krieg aus westlichen Ländern bewusst nach Ostberlin zurückgekommen waren, um dort am Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten. Sie gerieten in einen Staat, der seinen plakativen Antifaschismus mühelos mit einem militanten Antizionismus verband: Obwohl sie mehrheitlich zur Elite der DDR zählten, wurden sie dort nie wirklich heimisch. Ihre Kinder haben den Glauben an die Ideale ihrer Eltern längst verloren, dennoch werden sie von anderen Teilen der oppositionellen Kunstszene als Kinder von Bonzen und Funktionären beargwöhnt.
Also bleibt man unter sich und leidet darunter, sich „dauernd gegenseitig zu Künstlern (zu) erklären, weil das sonst keiner tut. Und wenn wir uns gerade einmal nicht für Genies halten, verachten wir uns selbst als Versager und Dilettanten, Sonderlinge und Marginale“. Als ein bewunderter Star dieser zerrissenen Szene tritt in dem Buch auch Thomas Brasch auf, von dem Barbara Honigmann ein Gedicht in ihren Roman einmontiert hat. Brasch übersiedelte Ende 1976 in die Bundesrepublik, wo er zunächst mit Gedicht- und Erzählungsbänden sowie Theaterstücken und Filmen sehr erfolgreich war; mehrere Literaturpreise waren Ausdruck der Anerkennung, die seine Arbeiten im Westen fanden. Dann wurde es stiller um ihn, auf dem Theater war er lediglich noch mit Übersetzungen beziehungsweise Bearbeitungen von Shakespeare-Stücken präsent; man hörte auch von der Arbeit an einem ausufernden Roman-Projekt, von dem aber vor drei Jahren nur ein knapp einhundert Seiten schmaler Torso publiziert wurde (Mädchenmörder Brunke). Im November 2001 ist Brasch – erst 56 Jahre alt – in Berlin gestorben.
Unter dem Titel Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer legen nun Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz Gedichte Braschs aus dem Nachlass vor. Der Verlag stellt die Herausgeber als Weggefährtin und Freund des Autors vor, sie selbst betonen: „Dieser Band versteht sich nicht als wissenschaftliche Edition. Er ist Gruß und Gedenken – an einen toten Freund.“ So sympathisch die Intention eines letzten Freundesdienstes den Leser berührt: Ein dem Autor weniger emotional verbundener Lektor hätte wahrscheinlich eine strengere Auswahl getroffen und eine einleuchtendere Anordnung gefunden. Schon der Verzicht auf jegliche Datierung der Gedichte führt zu einem schwer verständlichen Durch- und Nebeneinander von Texten, die manchmal im Abstand von mehr als drei Jahrzehnten entstanden sind. Der Hinweis auf die „intime Kenntnis des Werks wie der Person – also der Arbeitsweise – von Thomas Brasch“ überzeugt als Entscheidungskriterium nicht. Wenn man versucht, die von den Herausgebern verweigerte Chronologie selbst herzustellen, entsteht das Bild der (Selbst-)Zerstörung einer großen Begabung. Brasch litt – wie später viele DDR-Autoren nach der Wende – unter dem Bedeutungsverlust, den er als Schriftsteller im Westen erfuhr, wo seine Literatur schon nicht mehr als Surrogat für eine kritische Öffentlichkeit gebraucht (und von den Lesern entsprechend honoriert) wurde. „Verwöhnt von Beaufsichtigung und Beachtung“ sei er in der DDR gewesen, im Westen dagegen habe man ihn „fotografiert nicht aufgenommen“. Die neue Umgebung wird vornehmlich durch die alten ideologischen Raster wahrgenommen.
Eigentümlich undifferenziert liest sich heute auch eine Reihung der „Toten / gefallen im Krieg gegen das faschistische Tier / Georg von Rauch Benno Ohnesorg Rudi Dutschke / Andreas Baader und die Frauen die besonders“. Dagegen erscheint die DDR, in einem noch dort geschriebenen Gedicht als „Kreuzung zwischen Knast und Irrenanstalt“ charakterisiert, in der Rückschau in ein „Mein-Land“ verwandelt, dessen Ende anrührend beklagt wird: „Ich war mein Land. // Man hat uns weggeschenkt. / Wo schläfst du, DDR, ich habe mich verrenkt.“ Man muss es wohl ein Verhängnis nennen, wenn jemand einen Traum, den er real als Alptraum erlebt hat, immer wieder und wieder träumt.
In dem eingangs zitierten Roman von Barbara Honigmann findet sich eine Feststellung über die erotische Libertinage der Protagonisten: „Wir nehmen uns diese Freiheiten, weil wir keine anderen haben.“ An diesen Satz wird man erinnert, wenn man die vielen an (oft namentlich genannte) Frauen gerichteten Texte Braschs liest, die nur bedingt „Liebesgedichte“ genannt werden können. Zumeist handeln sie von einem unaufhebbaren Gegensatz zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit und einer starken Bindungsangst – dass in einer Beziehung einer „die Nähe“ und der andere „das Weite“ sucht, ist eine wiederholt auftauchende Metapher dieses Zwiespalts. Ein anderes Gedicht bezeugt die immer währende Angst „vor dem Verlassen und dem Verlassenwerden“.
Einen Ausweg aus den beruflichen und privaten Konflikten hat Brasch in Drogen gesucht. Alkohol und Kokain werden mehrfach genannt, obwohl Brasch bewusst war: „Das ist der Stand, so läuft der Hase: / nichts mehr im Kopf, was für die Nase“ (im „Lied der Kokainintellektuellen“). Anders als bei Rainer Werner Fassbender (dem er einen freundschaftlichen Nachruf widmet) oder Wolfgang Neuss (den ein Gedicht als „Mein Lehrer W.N.“ apostrophiert) haben die Rauschmittel und -gifte bei Brasch keine neue Kreativität freigesetzt. In einzelnen Texten scheinen immer noch frappierende Wortfügungen auf, aber oft verliert sich der Autor in Reimzwängen oder Wortspielereien, die bis zum Kalauer gehen. Den als „Varia“ dem Band angefügten Werkstattbeispielen lässt sich ablesen, wie zerfahren und unentschieden an Texten gearbeitet wird, es scheint, als fehle dem Autor die Kraft, über bloße Einfälle hinaus zu gelangen.
Manchmal gelingen noch lakonisch-ironische Fügungen wie „da ist ein Gott und setzt sich zwischen alle Stühle. / Er sieht genauso aus wie ich mich fühle“, häufiger aber bleibt das lyrische Ich „Ratlos vor meinen eigenen Worten / im matten Frühlicht“. In demselben Prosagedicht wirft „der Baum vor meinem Fenster seinen langen Schatten auf meine nutzlosen Zeilen auf die selbstmitleidigen Sätze auf mich überflüssig“.
Es sind Notizen aus einem verlorenen Leben, voller Selbsthass und Weltekel, dazwischen Mord- und Selbstmordfantasien. Ein verletzter und verzweifelter Mensch spricht – am berührendsten da, wo ihm noch einmal vier einfache Zeilen ohne Titel gelingen: „Fallen die bitteren Tropfen zur Erde / liegt ein Nebel über dem Land / starr zu den Bäumen ich unverwandt / bis auch ich zu Hölzernem werde.“

Yaak Karsunke, Frankfurter Rundschau, 27.11.2002

„Gruß und Gedenken – einem toten Freund“ –

so beschließen die Herausgeber, die einstige Lebensgefährtin Katharina Thalbach und der Literaturkritiker Fritz J Raddatz, ihr Nachwort. Die Verbundenheit mit Thomas Brasch bildet den Leitfaden dieser Edition, die – wie beide betonen – wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen möchte. Der Band ist gegliedert nach Zitaten, die den Gedichten entnommen sind und wie ein eindringliches Vermächtnis wirken: „Das ist dein Blut, das ich trinke“, „Der Dichter im Viereck“; „Dein Lieben macht mich allein“, „Tanz gegen die Uhr“. Im Wesentlichen sind lyrische Texte versammelt, die Thomas Brasch für die Veröffentlichung freigeben wollte, die aber noch in vielen Fällen überarbeitet worden wären.
Dieser Rohzustand des Nachlasses stört indes keineswegs. Die dadurch gewonnene Nähe ist überall spürbar. Die Unfertigkeit dürfte aber auch einer Poesie geschuldet sein, die allem widerspricht, was als vollendet und klassisch gilt. Der Autor wollte und konnte Leben und Kunst nie voneinander trennen. Das klingt wie ein schwerer unzeitgemäßer Satz. Auf Thomas Brasch traf er zu. Um ihn war es allerdings still geworden in den letzten Jahren vor seinem Tod. Einst ein gefeierter Prosaist, Theater- und Drehbuchschreiber begnügte er sich zuletzt mit Übersetzungen von Shakespeare Stücken. Gerade diese Abstinenz im öffentlichen wirken weckt das Interesse an den Gedichten. Lassen sie sich deuten als Zeugen einer inneren Sammlung, einer Wandlung oder eines resignierenden Verstummens? Leider sind die Texte weder datiert, noch in eine chronologische Ordnung gebracht. Und doch hat man den Eindruck, einer Entwicklung zuzusehen – dem bitteren Weg eines deutschen Dichters:

Jetzt ist B.
berühmt. Jeder kennt ihn. Er ist
bekannt und wird schon vermißt
Keiner gibt ihm mehr die Hand
jetzt ist er schon wieder unbekannt.

Das sind Zeilen aus einem der vorliegenden Gedichte. Es könnte zu einem Zeitpunkt entstanden sein, als Thomas Brasch noch in den Schlagzeilen war, aber schon spürte, dass er daraus bald verschwinden würde.
Thomas Brasch: ein deutsches Poetenschicksal. Er gehörte für wenige Jahre zu jener Spezies, die Gottfried Benn einmal den Phänotyp der Stunde genannt hat. Einer, den die Literatur-Agenten suchten wie die Motten das Licht. Aber Brasch war auch der eigentliche Verlierer unter den Grenzgängern zwischen Ost und West, einer der sich bedingungslos auf einen historischen Augenblick einließ, ein „child in time“, gebunden, vielleicht gar gefesselt an die großen emotionalen Entwürfe eines Jahrzehnts.

Das Schlimmste war mir nicht das Sterben
Viel schlimmer ist lebendig zu verderben.

Das schreibt jemand, der in kollektiven Träumen gebadet hat: better to burn than to fade away: – an den Song von Neil Young aus den siebziger Jahren denkt man bei Thomas Brasch mehr als bei irgendeinen anderen Schriftsteller hierzulande. 1977 nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, mit großem Getöse im bundesrepublikanischen Kulturbetrieb aufgenommen, stellte sich bei ihm schon bald Ernüchterung ein. In die neue Gemengelage kultureller Befindlichkeiten passte der anarchische Gestus des ehemaligen Dissidenten und DDR-Staatsfeindes einfach nicht mehr hinein. Und als in den neunziger Jahren die Geschichte zurückkehrte, blieb es einmal mehr die der Sieger und einer gehärteten Ordnung. Noch einmal wurden die DDR-Dichter von einst auf den Markt getrieben und dort segmentiert: Der Sänger Wolf Biermann gab fortan den Archivar seiner selbst, Christa Wolf sammelte ihre Kräfte neu in der Fremde, geschickte Jungdichter wie Durs Grünbein stießen in die Lücken und Nischen neobürgerlichen Begehrens vor – und einer, so nah er dem Dichter Thomas Brasch auch schien, blieb ihm weiterhin fern: Heiner Müller:

Anders als andere Dichter hat er nichts
Zu geben. Seine Stücke sind blitzende harte Messer
In die blaue Luft gestossen. Es fällt kein Blut
Und die Sonne spiegelt sich auf dem Metall.

Zu dieser unblutigen Kälte mochte sich Thomas Brasch nicht bekennen. Und wenn auch Heiner Müller zuletzt selbst zum Verstummen neigte, so geschah dies doch im erhabenen Habitus des Klassikers, des rätselhaften Magiers. Thomas Brasch hingegen ist zu Recht mit dem ewig rastlosen Heinrich von Kleist verglichen worden. Wie dieser stand er unter dem Bann eines radikalen entweder – oder. Und immer enger zog sich bei beiden Dichtern die Schlinge um den Hals, bis ihnen die Welt in die Ferne rückte, allein durch eine Firnis wahrnehmbar – schließlich standen sich in Leben und Werk nur noch zwei gegenüber: Mann und Frau, getrennt und doch ineinander verkrallt. Viele der späten Gedichte von Thomas Brasch sind dunkle Liebes- und Kampfgedichte, sie schlagen die letzten Schlachten der Moderne:

Es ist so schwer unter deinen Küssen
dich noch lieben zu können und schon hassen zu müssen.

Andere Gedichte wirken hingegen wie Kindertotenlieder die nach Vertonung rufen – Sie gelten einem Kind mit greisem Gesicht, das zu viel weiss und daran stirbt.

Gute Nacht, ihr dunklen Flüsse
ich geh nun langsam fort
und euer nahes Rauschen sei mir ein Abschiedswort.
Gute Nacht ihr fernen Winde
ich bin schon fast vorbei
und euer kühles Wehen
ein Weggefährt mir sei.

Deutschlandfunk, 5.2.2003

Ein Paukenschlag war die Veröffentlichung

des ersten Gedichtbandes von Thomas Brasch Der schöne 27. September im Jahr 1980. „Zeugnisse eines bestimmten, unverwechselbaren Zeitgenossen, der von der Sprache besessen ist“ erkannte der Spiegel darin. Am 3. November 2001 ist Thomas Brasch im Alter von 56 Jahren in Berlin gestorben. In den dazwischen liegenden zwanzig Jahren hatte er, obwohl vom Verlag mehrmals angekündigt, keine Lyrik mehr publiziert. Aber er hat sie geschrieben. Rund fünfhundert unveröffentlichte Gedichte und Gedichtfragmente zählen zu seinem literarischen Vermächtnis. Etwa ein Drittel davon haben Braschs langjährige und enge Weggefährten, Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz, nun in einem Band versammelt. Um das Fazit vorwegzunehmen: Es ist, als müsse man über zwei unterschiedliche Bücher berichten. Zum einen über das literarische Ereignis der vielstimmigen, vielgestaltigen, vielschichtigen lyrischen Texte aus vierzig Schaffensjahren eines Autors, der zu den größten Begabungen der deutschen Literatur nach 1945 zählt. Zum anderen über das editorische Ärgernis einer unbedachten, nachlässigen, stellenweise sogar fahrlässigen Arbeit der Herausgeber. Das Gedicht war für Thomas Brasch zeitlebens eine wesentliche Form seines künstlerischen Ausdrucks. Zwar haben die Herausgeber des Bandes auf Zeitangaben gänzlich verzichtet (Brasch ließ seine Texte meist undatiert), doch Braschs literarischer Nachlaß, der in der Berliner Stiftung Archiv der Akademie der Künste lagert und der Forschung frei zugänglich ist, zeigt, daß die frühesten Gedichte ins Jahr 1961 zurückreichen und die spätesten Arbeiten vermutlich aus der Zeit kurz vor seinem Tod stammen. Trotzdem war die Lyrik anders als etwa das Drama oder der Film nicht die Gattung, in der dieser Autor Themen stringent und über einen längeren Zeitraum hinweg bearbeitete. Braschs Gedichte zeigen eher Momentaufnahmen und Gedankenskizzen. In ihnen wird jedoch auf besondere Weise das Flehentliche, das Bittliche kenntlich, das unter allen unerbittlich gehärteten Oberflächen der künstlerischen Arbeiten Thomas Braschs liegt. „Nichts nichts nichts ist geschafft / von meinen Plänen gewaltig der Welt / ein großes Leben aus den Adern reißen“. Unverhältnismäßig wirkt das Pathos, mit dem die Verse heranrollen, doch es überwältigt Brasch nicht. Unter dem Titel „Erinnerung an Morgen“ hat Thomas Brasch 1966 eine Sammlung erster ,,Miniaturen, Gedichte und Lieder“ in einem (nicht veröffentlichten) Band zusammengestellt. Das handgebundene Exemplar ist im Nachlaß-Archiv der Berliner Akademie der Künste, Findbuchsignatur 828, einsehbar. Einige Texte aus „Erinnerung an Morgen“ sind abgedruckt in: Roland Berbig (Hg.), Lyrikclub Pankow. Literarische Zirkel in der DDR. Berlin 2000. Vgl. Fritz J. Raddatz’ Rede zum Tod von Thomas Brasch, die auszugsweise im Umschlag des Bandes abgedruckt ist. Er kalkuliert es: Nötig sei es durch den Umstand, „daß wir gelähmt von den vergangenen stillen Zeiten und dem kommenden endlosen Alptraum die Arme nicht mehr hoch bekommen, das einzig Nötige zu tun: jede staatliche Ordnung mit all ihren Wurzeln aus unserem Leben, unserem Beruf und unseren Herzen zu reißen“, schreibt Brasch mit Blick auf Wladimir Majakowski. Mit Autoren wie Majakowski verbindet Brasch ein radikales, (neo-)avantgardistisches Verständnis von Literatur und Autorschaft: Kunst als die kompromißlose Verweigerung von Lebensgewohnheiten jeder Art. Aus diesem Grund verkörpern Stille und Stillstand das Angst- und gleichermaßen das Lustzentrum seiner Texte. In Büchern wie Vor den Vätern sterben die Söhne und Kargo (beide 1977), dem Gedichtband Der schöne 27. September (1980) oder dem Film Domino (1982) formulierte Brasch das Lebensgefühl der 1970er und 1980er Jahre – Ansturm der Windstille – mit beispielloser Genauigkeit, so daß ihm bald das zwiespältige Amt des Sprechers seiner Generation angetragen wurde. Dem 1976 in die Bundesrepublik übersiedelten Brasch erschienen solche Titulierungen als den staatlichen Repressionen der DDR vergleichbare Angriffe auf seinen Lebensweg, gegen die er sich spektakulär zur Wehr setzte: „Ein politischer Fall erst und dort ein klinischer Fall / jetzt und hier“, protokolliert ein Gedicht jene Zeit. Wenn Brasch den Zustand eines Staates, einer Gesellschaft oder auch zweier Liebender dichterisch aufgreift, reflektiert er damit immer auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ihrer Beschreibung, das heißt von Kunst und Literatur allgemein. Seine Gedichte ermöglichen etwa politische oder psychologische, aber stets zugleich poetologische Lesarten. Untrennbar sind die Bedeutungsebenen ineinander verwoben:

Die Reime sind schön sie belügen dich
Das macht sie ähnlich deinen zwei Ländern
Sie zwingen dich Und sie fügen sich
Was willst du immer noch an beiden ändern

Freilich ist Brasch alles andere als ein ,engagierter Schriftsteller‘. Den allgemeinen Anspruch seiner Texte leitet er gerade nicht aus einem entgrenzten, sondern aus einem asketischen Kunst- und Literaturverständnis ab. „Die Revolutionierung von Formen halte ich für wesentlich politischer als die Mitteilung, daß es den Armen doch besser gehen sollte“, sagt er in einem Interview, und an anderer Stelle:

Mir geht es um das Finden einer neuen Ästhetik mittels des Vergessens von dem, was man kann.

Große Worte, die in Braschs Werken auf zweierlei Weise zur Einlösung drängen: Zum einen in der beinahe manischen, doch eher spielerisch als angestrengt wirkenden Suche nach dem unerhörten Ausdruck. Sie kennzeichnet den literarischen und intellektuellen Sog seiner Texte und findet zudem eine Entsprechung in Braschs künstlerischer Variationsbreite als Dramatiker, Lyriker, Prosaautor, Librettist, Übersetzer (Shakespeare und Tschechow), Drehbuch- und Hörspielautor sowie Film- und Theaterregisseur. Wladimir Majakowski, Her mit dem schönen Leben. Gedichte, Poeme, Aufsätze, Reden, Briefe und Stücke. Hg. von Thomas Brasch. Übersetzt von Hugo Huppert. Frankfurt/M. 1982. So der programmatische Titel eines Gedichts aus: Thomas Brasch, Der schöne 27. September. Beide Stellungnahmen sind abgedruckt in: Arbeitsbuch Thomas Brasch. Zum anderen richtet Brasch sein radikales Kunstverständnis der gezielten Verwahrlosung schonungslos gegen das juste milieu im eigenen Kopf. Das Bestehende unermüdlich in Zweifel zu ziehen, begründet gleichermaßen die Kraft der Texte wie die Gefährdung ihres Autors.

Weil ich das Eigene verloren habe
kann ich nichts mehr schreiben. (…)
Zu viel geredet.
Zu selten geschwiegen.
Und Angst immer. Vor allem und vor jedem.
Vor dem Verlassen und dem Verlassenwerden.
Vor der Gesellschaft und vor der Einsamkeit.
Vor meiner unnachgiebigen Verteidigung einer
unwürdigen Unabhängigkeit

Verse, wie der dunkle Nachhall einer zugeschlagenen Tür:

Den eigenen Worten aus dem Sinn
dem eigenen Gesicht meinen Rücken gekehrt
mich teuer verkauft ohne Gewinn
um Liebe gejammert, doch mich selber entehrt.
Mein eigenes Haus zum Theater gemacht
drin eingeschlossen und ausgedacht

Doch schlagen die Texte des Bandes auch hellere Töne an. Ein Abschnitt versammelt zum Beispiel Lieder und Balladen wie das „Lied der Kokainintellektuellen“, das Hurenlied „Maria Hilf“ oder die Sah ein Knab ein Röslein stehn-Parodie „Optische Enttäuschung“. Brasch, zu dessen ersten literarischen Arbeiten das Schallplattenprojekt „Leon Segel“ gehörte, erinnert hier nicht nur an seine Ambitionen, der Rockstar der deutschen Literatur zu sein, sondern auch an zwei seiner wichtigsten literarischen Bezugspersonen: Bertolt Brecht und Heinrich Heine. Beiden Dichtern ist in einer wunderbaren Rubrik mit Widmungstexten ein eigenes Gedicht zugeeignet. Weitere eindrucksvolle Versporträts richten sich an Shakespeare, Isaac Babel, Guillaume Apollinaire, Helene Weigel, Heiner Müller, Uwe Johnson und nicht zuletzt an Wolfgang Neuss, den Brasch „Mein Lehrer W. N.“ nennt:

Er hat eine neue Ästhetik erfunden:
LebenErinnernSprechenVerkaufen

An dieser Stelle treten die Merk- und Fragwürdigkeiten der Editionspraxis exemplarisch zu Tage. „W. N.“ ist nur mit Insiderkenntnissen als der Berliner Kabarettist Wolfgang Neuss, mit dem Brasch befreundet war, zu entschlüsseln. Da Brasch sich immerhin als Schüler des furiosen Perfomancekünstlers bezeichnet, besitzt die Information für das Verständnis des Textes erhebliche Relevanz. „Dieser Band versteht sich nicht als wissenschaftliche Edition. Er ist Gruß und Gedenken einem toten Freund“, so die Herausgeber. Damit stellen sie sich den Freifahrtsschein aus, mit dem sie die Mindestanforderungen editorischer Sorgfalt faktisch links liegen lassen. Einige Beispiele: Im ersten Abschnitt des Bandes begegnet man sechs rätselhaften „B.“-Gedichten. Sie entstammen ursprünglich einem zehnteiligen Zyklus von „Brunke“-Gedichten, die Brasch lediglich in einer von zahlreichen Manuskriptfassungen auf ein vieldeutiges „B.“ reduzierte. Der Figur des Karl Brunke hatte Brasch sein letztes Lebensjahrzehnt und mehrere tausend Seiten Prosa gewidmet. Warum die Herausgeber die Textvariante zum Druck bestimmten, die jenen essentiellen Zusammenhang verschleiert, bleibt ebenso ihr Geheimnis wie der Umstand, daß der Zyklus Gedichte aus dem Nachlaß unvollständig übernommen wurde. Das Titelgedicht „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer“ ist in zwei Varianten abgedruckt, doch keine stimmt mit dem handschriftlichen Faksimile auf dem Buchumschlag überein. Systematische Auswahlprinzipien der Druckversion läßt auch ein Vergleich anderer Gedichte mit den jeweiligen Manuskriptfassungen des Nachlasses nicht erkennen. Im Fall des Gedichts „Anzeige“ überschreitet jener Gestus der Selbstermächtigung schließlich jede tolerierbare Grenze: daß der Text auf einer zweiten Manuskriptseite fortfährt, wurde willentlich oder unwillentlich schlichtweg ignoriert. Die Nachwelt des „toten Freundes“ muß mit halben Sachen Vorlieb nehmen. Noch ein weiteres Manko geht auf die hastige Arbeitsweise der Editoren (und des Verlages) zurück. Bereits in Büchern von Thomas Brasch publizierte Gedichte wurden (versehentlich?) wiederabgedruckt, während andere zentrale Texte, die bisher nur an entlegeneren Orten publiziert worden waren, fehlen. So etwa ein Widmungsgedicht für Christa Wolf, an dem sich Braschs Verhältnis zur Schriftstellerszene der DDR ablesen läßt, oder das brillante Versquadriptychon „VITA“, in dem Brasch anspielungsreich die eigene Biografie mit derjenigen Rolf Dieter Brinkmanns verschränkt. Eine weitere Gedichtedition aus dem Nachlaß, geschweige denn eine Werkausgabe, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Daher sind solche Leerstellen keine bloßen Spitzfindigkeiten, sondern Versäumnisse mit langfristigen und schwerwiegenden Folgen. Bei aller notwendigen Kritik ist abschließend noch einmal hervorzuheben: Daß nun über 150 fast ausschließlich unveröffentlichte Gedichte Thomas Braschs in Buchform vorliegen, ist in der Tat ein literarisches Ereignis. Denn der Band könnte das Aufbruchssignal setzen, einen Autor (wieder) zu entdecken, dessen Lebenswerk nicht weniger verlangt als die permanente Infragestellung der Grundbedingungen von Kunst. Mit anderen Worten: Im Zwischenraum von Fürchten und Wünschen unermüdlich wissen zu wollen, was besser ist:

Wenn einer tut, was er kann, oder wenn einer tut, was er nicht kann.

Thomas Wild, Arbitrium, 10.10.2003

Der von Fritz J. Raddatz

und Braschs Lebensgefährtin Katharina Thalbach herausgegebene Band Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmerkartographiert minutiös die seelische Landschaft des Kopf-Punks von drüben. Wer nichts von Brasch kennt, dem seien – sofern er im Konsumieren von anspielungsschwangerer Lyrik geübt ist – diese Gedichte aus dem Nachlass wärmstens empfohlen. Immer wieder wird in streng nach Regel gestrickten Sonetten und Blankversen der Volksknast DDR formal gespiegelt, um dann mit Ironie gesprengt zu werden. Denn

Die Reime sind schön sie belügen dich
Das macht sie ähnlich deinen zwei Ländern
Sie zwingen dich Und sie fügen sich
Was willst du immer noch an beiden ändern.

Thomas Brasch blieb zwischen den Stühlen sitzen, um sich dabei langsam selbst zu vernichten.

Martin Droschke, Falter, 12.3.2003

So lief ich durch das Finster in meinem Schädelhaus

Es ist ein sehr einsamer Dichter, der hier seine Lebensstrecke vermessen will. Als Melancholiker starrt er auf die immergleiche Leere, in der das Leben verrinnt. Die gelebte Biographie schrumpft zu Spiegelungen der eigenen Verlassenheit. So verläuft die Suchbewegung des Einsamen auf einem gefährlichen Terrain: auf den Albtraumpfaden „zwischen einsam und allein“, gebannt in ein ewig währendes Unglück. Dort, im Gehäus seiner Isolation, sitzt er fest, dort spürt er das Herannahen der eigenen Vergänglichkeit, dort sehnt er sich für einige poetische Augenblicke nach einem Aufbruch in ein neues Leben, in dem er sein eigenes Ich zu spüren vermag:

Was ist das zwischen einsam und allein
als wär ich nur vergangen wie im Flug
rings um die Erde doch ein Stein
bin ich mir nicht geworden. Ach genug

für einen zweiten andren Flug hab ich
noch Kraft und Lüfte auch.

Dass ich mich endlich selber brauch.

In diesen sieben Zeilen hat der Dichter Thomas Brasch das Lebensprogramm seiner letzten Jahre zusammen gefasst.
Der einst als „Ulysses aus Charlottenburg“ umjubelte Dichter besichtigt den Rest seiner künstlerischen Existenz. Das Resultat dieser poetischen Selbsterkundung sind bewegende, tief anrührende Gedichte eines Mannes, dem die Welt zerbrach und der schon bald nach Beginn seiner literarischen Karriere vom Vorgefühl des Untergangs zu sprechen begann.
Das Aufbegehren gegen die „Sozialistische Tragödie der Dummheit“, als die er die Niederwerfung des Prager Frühlings apostrophiert hatte, hatte dem jungen Brasch in der DDR eine einjährige Haftstrafe eingetragen. Nach seinem öffentlichen Protest gegen die Ausbürgerung des „sich für einen Kommunisten haltenden, singenden Arschlochs“ Wolf Biermann war sein literarischer Kredit im paranoiden SED-Staat aufgebraucht und er vollzog „die Übersiedlung vom Braunkohlendeutschland ins Steinkohlendeutschland“: „Ein politischer Fall erst und dort ein klinischer Fall/ jetzt und hier.“
Der als Anarchist und Rebell Gefeierte, dem die Erfolge auf allen künstlerischen Bühnen nur so zuflogen, war ab Mitte der achtziger Jahre ein Verlassener, der in heilloser Traurigkeit seine Einsamkeit und sein literarisches Eremitendasein besang. Hatte Brasch auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in allen Kunstgattungen brilliert und als Lyriker und Übersetzer, Dramatiker und Filmemacher die Kritik begeistert, so zog er sich seit Mitte der achtziger Jahre immer mehr auf die Arbeit an einem Roman über den Erfinder und Mädchenmörder Karl Brunke zurück. Sein Opus magnum hatte er auf 14.000 dicht beschriebene Manuskriptseiten vorangetrieben, von denen der Suhrkamp Verlag freilich am Ende nur die auf 99 Seiten komprimierte Novelle Mädchenmörder Brunke drucken wollte (Freitag 13/99). Am Ende eines selbstzerstörerischen Umgangs mit der eigenen Gesundheit stand im November 2001 der plötzliche Herztod Braschs, im Alter von gerade mal 56 Jahren.
Von der obsessiven Beschäftigung mit dem Brunke-Stoff hatte sich Brasch indes zu neuen Gedichten anregen lassen, mit denen er an seine fatalistischen Balladen und Lieder aus dem 1980 erschienenen Band Der schöne 27. September anknüpfen wollte. Aus den rund 500 Gedichten, die in den 20 Jahren seit dem phänomenalen 27. September-Buch entstanden sind, haben Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz rund 150 Exempel ausgewählt, die der Dichter zu Lebzeiten schon in Mappen geordnet und zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Vieles davon ist noch unfertig, lyrischer Rohstoff, dem die formale Durcharbeitung fehlt. Aber selbst in den Fragment gebliebenen Texten ist das Vibrieren des existenziellen Verhängnisses zu spüren, von dem der Autor sich niedergeworfen fühlte.
In insgesamt acht Abteilungen werden die zentralen Motive und Obsessionen des Dichters Brasch versammelt. Das erste Kapitel bilanziert Versuche trotziger Selbstbehauptung, in denen sich das lyrische Ich gegen die Vorahnung des eigenen Untergangs auflehnt. Der hier mit der Formel „Es gibt mich noch“ in den Spiegel blickt, vermag sich oft nur schattenhaft, als Gespenst seiner selbst wahrzunehmen. In einem zweiten Kapitel werden einige meisterhafte Balladen und Lieder zur Utopie und zur Tragödie der Liebe präsentiert. Liebe erscheint in diesen Gedichten als blutiger Krieg der Geschlechter, der die Verletzung des Körpers einschließt. In einer dritten Abteilung artikuliert sich die Erwartung einer nahen Katastrophe, in lyrischen Probebohrungen in einer nahen Endzeit. Eine berühmte lyrische Zueignung an Uwe Johnson schlägt hier den Ton an, dem auch die übrigen Texte folgen: Immer wieder verirrt sich die lyrische persona in der Finsternis des eigenen „Schädelhauses“ und beschwört die Zeichen des nahenden Todes:

Und wie in dunkle Gänge
mich in mich selbst verrannt,
verhängt in eigne Stränge
mit meiner eignen Hand:
So lief ich durch das Finster
in meinem Schädelhaus
da weint er und da grinst er
und kann nicht mehr heraus…

Seine lyrischen Sprechhaltungen und Gesten hat Thomas Brasch bei drei übergroßen Vorbildern entlehnt: Da wird der Habitus des jungen Brecht, der des wilden Vaganten und Liebes-Berserkers, ebenso adaptiert wie die milde Weltweisheit des späten Brecht. Da wird der zynische Sarkasmus Heiner Müllers herbeizitiert. Wichtigste Vorbildfigur ist freilich Heinrich Heine, dessen Volksliedstrophen und politische Balladen Brasch konsequent ins Düstere wendet. Wie Heine ist auch Brasch um den Schlaf gebracht, wenn er an Deutschland denkt. Das Haltlose, Getriebene, Todes-Vernarrte, das schon die Gedichte des jungen Brasch auszeichnete, wird hier ins Extrem getrieben. „Ein gewisser Hang zur Maßlosigkeit ist nicht zu übersehen; hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen.“ Mit diesen warnenden Sätzen wurde der junge Brasch 1975 mit seinem Poesiealbum dem DDR-Publikum nur unter Vorbehalt anempfohlen. Auf dem von Einar Schleef gezeichneten Titelbild des Poesiealbums war damals ein gesichtsloser Brasch zu sehen, umzingelt von chaotisch wuchernden Verkehrs- und Schriftzeichen. Die einzig verlässliche Perspektive fand der Dichter auch in späteren Jahren nur in der poetischen Subjektivität. An die Stelle der „Maßlosigkeit“ tritt bei dem späten Brasch ein tiefer Fatalismus; eine Lebens-Müdigkeit, die sich bei Matthias Claudius oder Heiner Müller die Lizenz zur Todes-Besessenheit holt. Neben den formal wunderbar gefügten Balladen von der Vergeblichkeit der Liebe und neben den Liedern von der Heimatlosigkeit eines deutsch-deutschen Nomaden finden wir auch ganz tonlose und ganz verzweifelte Verse, die von den Qualen der Schreiblähmung handeln. Im Viereck seines Zimmers wandert der Autor unruhig auf und ab und buchstabiert das Alphabet seines langsamen Verstummens. Am Ende eines dieser Gedichte erinnert sich der Dichter an die Urszene seiner Verlassenheit. Es ist der Abschied von der Mutter, ein Trennungsschmerz, der den Dichter noch nach Jahrzehnten immer wieder einholt. Mit diesem Abschied beginnen die Schrecken des Selbstverlusts:

Weil ich das Eigene verloren habe
kann ich nichts mehr schreiben.
Jeder meiner Gedanken ist mir ganz fremd
und unnütz. Deshalb lasse ich ihn
gleich versinken, wenn er auftaucht.
Zu viel geredet.
Zu selten geschwiegen.
Und immer der Gedanke an Sterben.

Michael Braun, der Freitag, 5.12.2003

Vor den Büchern sterben die Autoren

– Alte Prosa und nachgelassene Gedichte – zwei Bücher von Thomas Brasch. –

Wer sein Buch in die Bibliothek Suhrkamp eingereiht sieht, der kann das als einen Ritterschlag verbuchen. Nur sehen es die wenigsten der dort versammelten Autoren, denn die meisten sind tot. So auch Thomas Brasch. 1945 in Westow/England geboren, aufgewachsen in der DDR als Sohn eines hohen Staatsfunktionärs, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ im Gefängnis gesessen, 1976 in den Westen ausgereist, starb er 2001 in Berlin. Eine deutsche Biografie. Nachdem 1975 in der DDR nur ein schmales Bändchen als Poesiealbum Nummer 89 erscheinen durfte, begründete Brasch seine Autorenexistenz 1977 mit dem im West-Berliner Rotbuch Verlag publizierten Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne. Auf Pascherpfaden gelangte das Buch ins Dresdner Tal, und wurde zumeist im Verborgenen gelesen. Jetzt kann es in Ruhe einer neuerlichen oder ersten Lektüre unterzogen werden. Aber was sich damals, nach Biermann-Ausbürgerung und massenhaftem Künstlerexodus aus der DDR, als Geheimbotschaft las, und was als zerlesenes Rotbuch schon Subversion an sich war, rutscht heute als solide Suhrkampausgabe über das Glatteis des Buchmarktes. Dieses Buch ist nicht zeitlos. Es hatte seine beste Zeit, als es Thomas Brasch zu Bekanntheit oder sogar Berühmtheit verhalf. Heute erinnert die Werksprosa über Brigaden an sozialistischen Fließbändern bestenfalls an Volker Braun. Was bleibt, ist der wirklich phänomenale Titel und ein denkwürdig erhellendes Nachwort von Katja Lange-Müller.
Zwar hatte Brasch einen Namen als Erzähler, Dramatiker (Lovely Rita) und Filmemacher (Engel aus Eisen), aber bedeutend war er als Lyriker. Zeitgleich mit der vor den Vätern gestorbenen Prosa geben Katharina Thalbach und Fritz J. Raddatz Gedichte aus dem in der Berliner Akademie der Künste eingefrosteten Brasch-Nachlaß heraus. Obwohl die Herausgeber in ihrer „Editorischen Notiz“ eingestehen, welch „heikles Unterfangen“ Nachlasseditionen sind, erliegen sie der Versuchung, „einem toten Freund – Gruß und Gedenken“ zu entrichten. Um es kurz zu machen, es ist ein „heikles“ Sammelsurium. Aus allen Lebensstationen des Dichters wurde zusammengetragen, was die Schubladen hergaben. Chronologisch konnte oder wollte nicht geordnet werden, weil die Datierung fehlte. So stehen Proben wie aus dem Poetenseminar neben erotischen Versen in bester Brecht-Tradition, Heinrich-Heine-Aufgüsse neben trefflichen Widmungsgedichten. Am nachhaltigsten hallt die Stimme von Brasch nach, wenn er unverstellt offen sein Zerrissensein bekundet. Verwundert stellt er fest, „es gibt mich noch“, als er am Spiegel vorbeigeht oder er resümiert:

Ich habe nichts gelebt. Nur was gesehn.
Ich will nicht sterben. Nur was taugen.

Schade, dass Brasch so verdammt früh und vor seinen Büchern gestorben ist. Aber vielleicht kann einem Dichter gar nichts Besseres widerfahren?

Michael Wüstefeld, SAX. Das Dresdner Stadtmagazin, 05/2003

Die Reime sind zerfallen

– Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer: Thomas Braschs Lyrik erzählt von Aufbau und Zerstörung.–

„Ja, klar“, höre ich mich selbst antworten, als der Literaturredakteur mich fragt, ob ich den kürzlich erschienenen Gedichtband von Thomas Brasch Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer rezensieren will. Nur – wer, bitte, ist Thomas Brasch?

Ich bin nicht ganz allein mit meiner Unkenntnis: Der Buchhändler gibt verzweifelt „Barsch“ und „Bratsch“ in seinen Computer ein, das Suchsystem der hiesigen Universitätsbibliothek zeigt „Kein Treffer“ an, und Germanistik-Kommilitonen schütteln die Köpfe: „Thomas Brasch? Unbekannt.“ Kann ja nicht so toll sein und auch nicht so bekannt. Dann weiß ich mehr: Thomas Brasch hat im Laufe seines Lebens eine Vielzahl an Theaterstücken, Prosa- und Gedichtbänden hervorgebracht, für die er etliche Literaturpreise gewann, er war bis zu seinem Tod im letzten Jahr schriftstellerisch tätig, und schon die ersten Gedichte, die ich lese, sind toll.

Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer ist eines dieser Bücher, die „auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord“, wie Kafka schrieb. Die etwa 150 Gedichte aus dem Nachlass des Autors sprechen weder in Themen noch Formen eine einheitliche Sprache, sie erzürnen, erfreuen und bestürzen in wenigen Worten oder über mehrere Seiten, in Reimen oder ungereimt, doch ist ihnen allen gemeinsam, dass man während des Lesens nicht gleichgültig bleiben kann. Von Liebe und Hass, Aufbau und Zerstörung, Selbstaufgabe und Auflehnung und „Angst immer. Vor allem und vor jedem“ wird gesprochen. „Wieviel mehr bin ich als meine Gedichte / als meine Stücke, Lieder und Worte / Tausendmal mehr bin ich als meine Berichte / und trommle mir stumm an die Brust, meine knöcherne Pforte“: Da hat jemand sein Leben lang hart mit der eigenen Zerrissenheit gekämpft, mit der Diskrepanz zwischen „sehr viel wollen“ und vermeintlich „wenig können“. Viele seiner Gedichte sind Freunden, Bekannten oder Schriftstellern gewidmet. So begegnen einem Heine, Brecht, Heiner Müller und auch Fritz J. Raddatz und Katharina Thalbach, die als langjährige Freunde des Autors seine Gedichte aus dem Nachlass herausgegeben haben.
Blickt man auf die Biografie des Autors Thomas Brasch, so scheint sich auch dort seine Zerrissenheit zu manifestieren. Er, der 1945 als Sohn jüdischer Emigranten im englischen Exil geboren wurde und ab seinem ersten Lebensjahr in der DDR lebte, sah sich schließlich nach Zwangsexmatrikulationen, Gefängnisaufenthalt und großen Publikationsschwierigkeiten gezwungen, mit 31 Jahren nach Westberlin überzusiedeln.

Mein einziges Leben ist zwischen zwei Ländern:
das dauert, so lange leben dauern kann,
mein einziges Leben heißt wie kann ich ändern
diese einzige Welt, diese einzige Stadt, diesen einzigen Mann?

Eine einseitig auf seine Biografie reduzierte Deutung, wie sie wohl Braschs Roman Vor den Vätern sterben die Söhne Ende der 70er-Jahre erfuhr, wird jedoch der Fülle seiner Motive nicht gerecht:

Glaube nicht, wenn sie dir sagen
ich hätt all diese Bitternis
aus den andren deutschen Tagen
aus dem andren deutschen Riß.

Es liegt eine schmerzhafte Schönheit in seinen fast rohen Gedichten, am stärksten dort, wo sie nur Bruchstücke sind. Das Kapitel „Varia“ vereint unfertige Arbeiten des Autors. Die dort zum Teil in zwei oder drei Varianten abgedruckten Gedichte ermöglichen einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors, die trotz des anklingenden Kampfs mit den Wörtern mitunter fast verspielt wirkt. Thomas Braschs Form ist das Fragment: „Nichts, nichts, nichts ist geschafft“, heißt es in einem Gedicht, „von meinen Plänen gewaltig der Welt / ein großes Leben aus den Adern reißen.“

Tina Gintrowski, taz, 11.3.2003

Das schneit, Kinder, das schneit

– „Und hatte gelebt, wie das Licht aus dem Fernsehapparat lebt.“ – Thomas Brasch.–

Thomas Brasch war ein unbequemer Mensch und Dichter. Zum Ärger vieler Instanzen und Kritiker ließ er sich nirgends eingemeinden. Zur Wiedervereinigung 1989 hat er sich zurückhaltend geäußert: „Die Woyzecks interessieren mich und nicht die Honeckers. Die Woyzecks haben immer mit den gleichen Problemen zu kämpfen.“ 2001 ist er, aufgebraucht, in Berlin gestorben: zu früh für seine Freunde, doch konsequent für sein Œuvre, das sich immer mehr vom Leben, vom Dabeisein verabschiedet hatte. Die von den Herausgebern nicht allzu glücklich gewählte Titelzeile, Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer, deutet das immerhin ein wenig an.
Die frühen Texte bestimmt der übliche Poetenkummer: Die von der Umwelt nicht geteilte hohe Selbsteinschätzung schlägt sehr bald in das Gefühl um, immer und überall ausgewiesen zu sein. Das Pathos des Verloren- und Erwähltseins ist immer leicht zu haben – Rimbaud, der junge Brecht und unzählige andere haben es ausgereizt.
Die Wendezeit spendierte den DDR-Autoren Sarkasmus, Häme, Bitterkeit zum Nulltarif. Es ist keinem bekommen, der davon Gebrauch machte. Brasch, der seit 1976 in West-Berlin lebte, hat der Versuchung nicht widerstanden. „Ich komme aus dem deutschen Bauch in die harte deutsche Leber“, heißt es da. Es gibt nichts Unverständliches in diesen Gedichten, dafür viele Unbeholfenheiten, vor allem in der Zeitlyrik. Die wird vom Gefühl grundiert, „dem fremden Land auf beiden Seiten einer Grenze ausgesetzt“ zu sein.
Das Leben erscheint diesem Dichter oft anrührend als Arbeit am Tode. Schöne Liedstrophen gibt es da, die zu Heine und Benn hinübergrüßen, manche mit Anspielung auf sein Lebensproblem:

Das schneit, Kinder, das schneit
die Horizonte werden weit,
der Schnee, so schönes Kokain
fällt nieder auf die Stadt Berlin.

Verzweifelt hart ist die Abrechnung mit einem Er, von dem es am Schluß heißt: „Und hatte gelebt, wie das Licht aus dem Fernsehapparat lebt.“ Ähnlich schonungslos ist ein Liebesgedicht, das sich einer Besatzersprache unterstellt. Nach dem Abzug der Besatzungsmacht erscheint das Land Brasch still:

Keine Fahne weht
über den Mauern. Kein Siegesschrei ist zu hören.
Auf den Straßen kein Lied der Befreiung.

Brasch verschränkt private und politische Erfahrung auf geistvolle und schmerzliche Weise, wenn er fortfährt:

Wir haben uns nicht befreit,
wir sind verlassen worden.
Unser Land ist nichts ohne die Unterdrückung.
Unser Feind war unsere Stärke.
Unser Feind war unsere Hoffnung…

Eine politisch zu Formeln geronnene Sprache so genau und witzig-rücksichtslos dem Privaten zurückzugewinnen – das ist eine große Leistung.

Alexander von Bormann, Die Welt, 12.10.2002

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Hans-Dieter Schütt: Messer. Wunde
Neues Deutschland, 26./27.10.2002

Martin Krumbholz: Wenn ihr mich gestorben habt
Neue Zürcher Zeitung, 14.11.2002

Jürgen Verdofsky: In einem Bergwerk ohnmächtiger Wut
Tages-Anzeiger, 22.11.2002

Kai Aghte: Im Zimmer, zwischen Schreibmaschine und Plattenspieler, das Leben
die horen, Heft 211, 2003

Alexander Müller: Daß ich nichts verlasse / wenn ich nicht mehr bin
literaturkritik.de, Mai 2003

Michael Braun: So lief ich durch das Finster in meinem Schädelhaus
Freitag, 5.12.2003

 

„Was haben Sie denn von der schönen Literatur gelesen? –

Durchschnittlich alles.“

Momentaufnahme
Anfang Dezember 2001, knapp vier Wochen nach dem Tod von Thomas Brasch, ist die Wohnung des Autors so gut wie unverändert. Im großen zentralen Zimmer, dem Arbeits- und Aufenthalts- und zeitweise auch Schlafraum, wirken die Sitzbank, der Tisch, die Stühle, das L-förmige, tresenhohe Regal, das auch als Stehpult diente, unberührt. Die karge, aber nicht kalte, auf die notwendigsten Möbelstücke konzentrierte Einrichtung entspricht Braschs Auffassung vom funktionalen, auf kreatives Arbeiten konzentrierten, flüchtigen Wohnen. Zwei große Spiegelwände lassen den Raum noch offener und weiter wirken. Durch die hohen Fenster dringt viel Himmel ins Innere des Raumes. Auf der einen Seite durchschneidet den Ausblick in der Horizontalen die Berliner Hochbahn und der Bahnhof Friedrichstraße, rot leuchtet daneben der Schriftzug des Tränenpalastes, ehemals Abfertigungsgebäude des Grenzübergangs Berlin-Friedrichstraße, davor schwarzspiegelnd schwappend die Spree. Auf der zweiten, nebenliegenden Fensterseite der Wohnung, beim Blick auf die Straße, leuchten die Schriftzüge „Schiffbauerdamm“ und „Bertolt-Brecht-Platz“, das Nachbargebäude ist das Berliner Ensemble, wo Ende November eine Gedenkmatinee zu Ehren des verstorbenen Autors veranstaltet wurde, woran die Plakate der Litfasssäule auf der Straßenecke erinnern, mit den Lebensdaten „19.2.1945 – 3.11.2001“ und einem Gedicht von Thomas Brasch sowie dem oft zitierten und immer wieder neu zu lesenden Schlussvers: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“
Von dem großen Mittelraum führt ein Durchgangs- in ein dahinter liegendes Zimmer, mit separater Tür zum Treppenhaus und Blick in den hoch aufschießenden Lichtschacht. Hiervon ebenfalls natürlich beleuchtet wird ein Teil des langgezogenen Flurs, der die Wohnungstür mit dem großen zentralen Raum verbindet; drei Türen öffnen den Flur zur Lichtschachtseite, zu drei kammergroßen Zimmern hin. Weitläufig wirkt die Wohnung und zugleich verschachtelt. Den auf seinen Stillstand zurasenden Eulenspiegel, man kann ihn sich vorstellen, wie er durch diese Zimmer- und Flurfluchten hetzt, und auch den Karl Brunke, am Tisch sitzend bei offenen Türen, Fenstern, Sinnen wie in einem Zustand des ewigen Zwischen. Aber die schreienden Geräusche auf der Straße kommen von keiner Lucile, sondern von den umliegenden Baustellen, den quietschenden Kränen und lärmenden Kippern, dort draußen steht nichts still, sondern alles scheint sich unaufhaltsam weiter zu bewegen. In einem Gedicht schreibt Thomas Brasch: „Wer durch mein Leben will, muß durch mein Zimmer…“ – das doppelte „durch“, die Passage, als flüchtiges Zentrum dieses Autors.
Ein Zentrum ist auch die räumlich auffälligste Passage der letzten Wohnung Thomas Braschs, da sich in ihr, dem etwa neun Meter langen Flur, Durchgang von der Wohnungstür zum zentralen mittleren Raum, die Arbeitsbibliothek des Autors befand. Brasch hat weder Bücher ,gesammelt‘ noch eine ,Bibliothek‘ im herkömmlichen, bürgerlichen Sinn des Wortes geführt. Er hat mit Büchern gelebt und gearbeitet. Nicht ,seine’ Bücher, im Sinne eines lebenslangen Besitzes waren daher, im Augenblick nach seinem Tod, dort versammelt, sondern die Bücher, mit denen er zuletzt gelebt und in Teilen bis zuletzt gearbeitet hat. Eine Momentaufnahme sicherlich, aber keine vollkommen willkürliche oder zufällige angesichts eines Bestandes von etwa dreitausend Bänden. „Die Bücher ins Exil!“, weist Thomas Brasch seinen Lebensgefährten in einem unveröffentlichten Text über das Wohnen ihren Ort zu, in seiner letzten Behausung am Schiffbauerdamm hat er diesen Wunsch realisiert. Die Bücher an einem Ort ohne Heimat, im Durchgang – näher konnten sie Thomas Brasch nicht sein.

Bestandsaufnahme
Was hier versucht werden soll, ist eine Beschreibung der Arbeitsbibliothek von Thomas Brasch. Der Grund dafür – und wenn man wollte, auch ein Grund dagegen – ist, dass diese Bibliothek nicht mehr existiert. Sie wurde einige Wochen nach Braschs Tod aufgelöst. Auf Entscheidung der Erben und einiger enger Vertrauter wurden damals Freunde und Bekannte eingeladen, in die Wohnung am Schiffbauerdamm zu kommen und sich die Exemplare, die ihnen lieb und wertvoll waren, mitzunehmen. Auf diese Weise zerstreute sich der Bestand: etwa dreitausend Bücher, die in der Wohnung gestanden hatten sowie zusätzlich rund zwei- bis dreitausend Exemplare, die im Keller des Hauses gelagert waren. Die Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin, die Thomas Braschs literarischen Nachlass bereits zu seinen Lebzeiten erworben hatte und seitdem mit der Archivierung betraut ist, entschied sich damals – anders als etwa im Falle Heiner Müllers – gegen die Bewahrung der Arbeitsbibliothek. Eine Bestandsliste der Bücher, oder etwa die systematische Sicherung anderer wesentlicher Informationen wie Arbeitsspuren oder Widmungen, war vor der Auflösung der Bibliothek nicht angefertigt worden.
Zur Verlustgeschichte der Bibliothek gehören neben ungezählten Exemplaren, die Thomas Brasch verschenkt, nach Leihgaben nicht wieder zurückerhalten, an Antiquariate verkauft oder bei Umzügen verloren hat, auch umfangreiche Bestände, die 1968 und 1975 von der Staatssicherheit bzw. der Volkspolizei der DDR bei Durchsuchungen der Wohnungen Thomas Braschs beschlagnahmt oder vernichtet wurden.
Kurz vor der Auflösung der Bibliothek war dem Verfasser dieses Artikels gestattet worden, einen Tag lang in der Wohnung Thomas Braschs die dort befindlichen, d.h. exklusive der im Keller aufbewahrten Bestände, zu sichten und in Teilen zu dokumentieren (Hierfür sei den Erben Thomas Braschs herzlich gedankt!). Was in der kurzen Zeit möglich war: die Titel, d.h. die Buchrücken so gut wie vollständig fotografisch zu dokumentieren, stichprobenartig Exemplare nach Widmungen zu überprüfen und ausgewählte Exemplare nach Lese- und Arbeitsspuren sowie Anstreichungen oder Notiz durchzusehen.
In früheren Wohnungen Thomas Braschs füllten die Bücherregal so gut wie alle freien Wandflächen. Nun, am Schiffbauerdamm, war durch den langen Flur die Möglichkeit gegeben, die Bände aus dem Arbeitsraum auszulagern, sie dem täglichen Blickfeld zu entziehen und doch bequem verfügbar zu halten. Eingerichtet wurde die Arbeitsbibliothek in der ersten Jahreshälfte 1997. Die Stellflächen bestanden aus eigens gefertigten Bücherregalen, die auf der durchgehenden Wand des etwa neun Meter langen Flurs vom Boden bis zur etwa vier Meter hohen Decke reichten; auf halber Strecke war die Regalwand von einer großen grünen Schiefertafel und einem darunter stehenden Tisch unterbrochen; auf der gegenüberliegenden, von drei Zimmereingängen und dem Lichtschachtfenster unterbrochenen Wandseite standen drei unterschiedlich große Einzelregale. Die Ordnung der Bibliothek hatte Brasch nicht selbst hergestellt, aber er gab die Grundkoordinaten vor und begleitete das Einsortieren der Bände in die Regale. Brasch konnte und wollte – auch hier – in keiner festen Ordnung leben. Ihm kam es darauf an, die Bücher, die er im Moment benötigte, finden zu können, und so veränderte und erfand er im Gebrauch die Ordnung permanent neu.
Dennoch gab es eine Ordnung in der Arbeitsbibliothek, die zwei einfachen Prinzipien folgte: Einzelne thematische Gruppen – Nachschlagewerke, Sachbücher, Kunstbücher etc. – sowie die große Gruppe mit Büchern der schönen Literatur. Letztere war weitestgehend alphabethisch sortiert, während die oft nur wenige Bände umfassenden thematischen Inseln keiner inneren Systematik folgten. Zur Arbeitsbibliothek gehörten ferner mehrere hundert Kassetten sowie Musik-Compactdiscs. Belegexemplare eigener Bücher hatte Thomas Brasch in einem hochformatigen, zentralen Fach der langen Regalwand im Herzen der versammelten schönen Literatur aus aller Welt aufbewahrt.
Auf dieser fragmentarischen Grundlage, ergänzt durch die Erinnerungen von Zeitzeugen, soll im Folgenden versucht werden, ausgehend von der Arbeitsbibliothek etwas über den Leser, Bearbeiter und Schreiber von Büchern Thomas Brasch zu erzählen. Damit verbunden ist freilich kein Anspruch auf vollständige Beschreibung oder allein gültige Deutung. Stattdessen soll eingeladen und angeregt werden zum Spurenlesen – Lebensspuren, Lesespuren, Arbeitsspuren, die freilich Facetten eines Weges des Autors Thomas Brasch sind.

Lebensspuren
Geht man den biografischen Spuren in Braschs Arbeitsbibliothek nach, führt der erste Schritt – ein Zufall? – erneut zu Georg Büchner. Genauer gesagt zu einer 1958 erschienenen rororo-Monographie über den Darmstädter Dichter. Auf dem Vorsatzblatt ist handschriftlich der Name des Besitzers vermerkt, allerdings nicht Braschs Name, sondern der von „Florian Havemann“ sowie die Datierung „1969“. Gemeinsam mit Florian Havemann, dem Sohn des Chemieprofessors und Regimekritikers Robert Havemann, hatte Thomas Brasch im August 1968 mit Flugblättern gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag protestiert. Beide waren daraufhin verhaftet und zu jeweils über zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Im Frühjahr 1968 hatten Brasch und Havemann an einer Paraphrase zu Georg Büchners Erzählung Leonce und Lena gearbeitet, woraus Brasch später das Schallplattenspiel Leon Segel entwickelte. Thomas Brasch erinnert sich: „Florian Havemann malte ein Bild dazu. Im Grunde hat er mich gemalt, wie ich bei verschlossenen Fenstern irgendwo dasitze und die Hand auf verschiedene Schaltknöpfe lege; eine Leitung führt zur Stereoanlage, die nächste zum Fernsehapparat, die dritte zum Telefon, die vierte zu den Rolläden, die fünfte zu einer Anlage, mit der man draußen ein Feuerwerk abbrennen und es im Zimmer regnen lassen kann; jemand also, der sich so weit zurückgezogen hat, dass sein Leben sich nur noch auf das eine Zimmer beschränkt, und der sich eine Welt da draußen nur vormacht, sie an- und ausschaltet.“ Unfreiwillig fesselte die Haft Thomas Brasch und Florian Havemann für lange Monate an ein und in einem ,Zimmer‘: sie teilen dieselbe Zelle. Die „Welt da draußen“ konnten sie sich bestenfalls in ihren Erinnerungen, Gedanken und Gesprächen ausmalen. Dass Georg Büchner dabei ein Thema blieb, Ankerwurf in die Zeit vor der Festnahme und gegenwarts- wie zukunftsfähige Rebellionsphantasie, darf man annehmen. Thomas Brasch hat die schmale Büchner-Biografie, die einmal Florian Havemann gehörte, trotz zahlreicher Umzüge, darunter der Länderwechsel von Ost nach West, bis zuletzt aufbewahrt: Erinnerungsexemplar an eine Zeit, an lebenslang prägende Erfahrungen von Freiheit und Unfreiheit, verschmolzen im Namen Georg Büchners.
Glühend wurde Thomas Brasch von den westdeutschen Medien erwartet, als sich nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 sein Weggang aus der DDR andeutete. Sprühend feierte ihn das Feuilleton nach seiner Ankunft im Dezember desselben Jahres. Brasch wurde überhäuft mit Artikeln und Interviews, bald auch mit Preisen. Drei Exemplare der Bibliothek bewahrten etwas von der intellektuellen Gier, mit der man das junge wilde Talent in der Bundesrepublik in Empfang nahm. Drei der damals einflussreichsten Protagonisten des Literaturbetriebs übereigneten Brasch Widmungsexemplare von Büchern aus der eigenen Produktion: Marcel Reich-Ranicki, Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hinterließ „Für Thomas Brasch / sehr herzlich“ in „Berlin, 23. August 1977“ sein im Piper Verlag erschienenes Buch Zur Literatur der DDR. Drei Jahre später wurde Brasch mit seinem einzigen zu Lebzeiten im Westen veröffentlichten Gedichtband Der schöne 27. September erster Preisträger des neu eingerichteten F.A.Z.-Literaturpreis; Reich-Ranicki hatte als einer der drei Juroren die Vergabe des Preises an Thomas Brasch vorgeschlagen. – Siegfried Unseld, der Chef des Suhrkamp-Verlages, wohin Brasch nach dem Erscheinen seines ersten, sensationell erfolgreichen Prosabuches Vor den Vätern sterben die Söhne (1977, Rotbuch-Verlag Berlin), zielstrebig und wirkungsbewusst gewechselt war, versicherte den neu gewonnenen Autor auf doppelte Weise seiner Aufnahme in den Verlag von Brecht, Beckett und Johnson. Unseld ließ Brasch gleich zwei Exemplare seiner programmatischen Vorlesungen Der Autor und sein Verleger zukommen: die deutsche Ausgabe, erschienen im eigenen Hause, ist mit der Widmung „Für Thomas / herzlich“ von „Siegfried Unseld/ Frankfurt, Januar 1978“ versehen; die im selben Jahr bei Gallimard erschienene Fassung trägt die Inschrift „Pour Thomas, / avec tout ma gratitude / e mon affectio / Unseld“. – Im Juli 1977 hatte der Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit, Fritz J. Raddatz, ein langes Interview mit Thomas Brasch geführt. Das Gespräch ist ein bleibendes Dokument für Braschs erste Zeit im Westen. Seine paradigmatische Lust an der Kontroverse und seine radikale Verweigerung gegenüber jeder Art von Kategorisierungen durch die Literaturkritik ist darin festgehalten: „Ich kann weder mit dem Begriff des Exilschriftstellers für mich etwas anfangen“, so Brasch, „noch etwa mit denen eines Vertreters der Rock-Generation, des jüdischen Autors, des DDR-Schriftstellers, des Dissidenten oder was immer es sonst noch gab.“ Raddatz war und blieb von dieser frühen Begegnung an ein treuer Fürsprecher Autors und wurde ihm Freund. Das früheste der insgesamt sieben Widmungsexemplare in Braschs Bibliothek, der Band, in dem das erwähnte Interview zusammen mit neun weiteren Zeit-Dialogen 1978 im Suhrkamp-Verlag in Buchform erschienen ist, läßt jenes Sympathie- und Treueverhältnis bereits anklingen: „So, mein Lieber:“, notierte Raddatz aufs Vorsatzblatt, „damit Sie auf der Messe / wenigstens mit irgendeinem Text vertreten sind, So sorge ich für Sie“.
Der Euphorie über Braschs ,Ankunft‘ in der westdeutschen Kulturszene entsprach im Osten das Gefühl des Schocks über seinen Weggang. Auf Brasch hatten sich viele Hoffnungen konzentriert – literarische, künstlerische, aber auch kulturpolitische. Schon bald nach Braschs erstem Erscheinen auf den literarischen Bühnen des ,halben Berlin‘ war klar, dass sich an diesem jungen Radikalen zeigen würde, wie weit die SED bereit war, Kritik an ihrer Kunstdoktrin und an den politischen Verhältnissen in der DDR zuzulassen. Die Widersprüche und Wunden, die Braschs Texte offen halten wollen, blieben indes nach dem Staatenwechsel dieselben: die Verdrängung der faschistischen Vorgeschichte Deutschlands, die politischen und privaten Gewaltverhältnisse, Selbstbetrug und Opportunismus, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Kunst in der gegenwärtigen Gesellschaft.
Wie sehr Thomas Brasch schon früh eine Orientierungs- bzw. Kristallisationsfigur für kritische Schriftsteller und Intellektuelle in der DDR, und vor allem für diejenigen war, die wie er nach 1976 den Staat verlassen haben, zeigt eine bemerkenswerte Gruppe von Widmungsexemplaren. Es ist die mit Abstand größte ,Gruppe‘, die die stichprobenartige Suche in der Arbeitsbibliothek zu Tage förderte und deren innerer Zusammenhang augenscheinlich wird, sobald man die Namen nebeneinander aufreiht: Franz Fühmann, Günter Kunert, Rainer Kirsch, Kurt Bartsch, Klaus Schlesinger, Jurek Becker, Stefan Schütz, Uwe Kolbe. Mit Ausnahme von Fühmann und Kirsch haben alle genannten Autoren die DDR in den Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung verlassen. Gemeinsam wurden sie, jeder auf seine Weise und spätestens durch die Maßnahmen der DDR-Behörden, zu ,Outlaws‘. Aber wohl keiner der Genannten hat diese Position so konsequent angenommen, so radikal öffentlich inszeniert und zugleich so tiefgehend künstlerisch reflektiert wie Thomas Brasch. Damit verbunden war Braschs charakteristische Bereitschaft und Sucht, in der künstlerischen, politischen und persönlichen Auseinandersetzung die eigene Person zu riskieren. Hiervon dürfte ein wesentlicher Teil der Wirkung ausgegangen sein, die Brasch gegenüber seinen Kollegen und Freunde entfaltete und die ihren Niederschlag in Widmungsexemplaren der entsprechenden Autoren fand. Diesen komplexen Spuren mit der gebotenen Genauigkeit nachzugehen, übersteigt das Maß, das im Rahmen dieses Artikels möglich ist. Eine Auflistung soll die Widmungen zumindest dokumentieren, ergänzt durch Anmerkungen, die biographische bzw. literarische Verbindungslinien exemplarisch markieren:

 

Günter Kunert:

Beerdigungen finden in aller Stille statt. Erzählungen. München 1968
„Für Thomas Brasch / herzlich / von Kunert / 20.11.68“

Kramen in Fächern. Geschichte, Parabeln, Merkmale. Berlin, Weimar 1968
„Für Thomas Brasch / mit besten Elefantenempfehlungen / 15.8.69“

Warnung vor Spiegeln. Gedichte. München 1970
„Für Brasch / als Vorschau aufs Hochzeitsgeschenk / Ihr Kunert / 2.4.70“

 

Klaus Schlesinger:

Michael. Roman. Rostock 1971
„,AMORALITÄT BEI STARKEN KÖPFEN IST WOHL MEISTENS / NICHTS ANDERES ALS DIE SEHNSUCHT NACH EINER ANDEREN / EINER LEBBAREN SITTLICHKEIT.‘ / FÜR THOMAS / Klaus Schlesinger / 1. März 1972“

Hotel oder Hospital Rostock 1973
„Zuerst Seite 149 lesen! / Klaus Schlesinger“

Ikarus. Filmszenarien. Berlin 1975
„Zum Einunddreißigsten / mit Erfolgswünschen / Klaus Februar 76“

 

Rainer Kirsch:

Das Wort und seine Strahlung. Über Poesie und ihre Übersetzung. Berlin u. Weimar 1976

„Für Thomas herzlich / von Rainer / Halle, April 1977“

Amt des Richters. Aufsätze, Rezensionen, Notizen. Rostock 1979
Für Thomas / Grüße, Rainer / Dezember 1979 / Halle/ S.“

Reglindis. Mit Schallplatte: Sieben Lieder auf Texte von Rainer Kirsch. Berlin,
„Für Thomas / Halle, 1. Februar 1980 / Rainer“

 

Franz Fühmann:

Das Judenauto. Kabelkram und Blauer Peter. Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1979
„Für Thomas Brasch / (bitte zuerst das Nachwort lesen) / Franz Fühmann / 24.III.80“

Stefan Schütz:

Sapper. Die Schweine. Zwei Theaterstücke. Frankfurt am Main 1981
„Lieber Thomas / Das Künftige ist uns näher als das Vergangene, / aber wir müssen im Guten Leben, / um das Morgen anzukratzen, damit’s nicht / wird wie’s heute das nicht bleibt. / Stefan“

 

Kurt Bartsch:

Die Hölderlinie. Deutsche Parodien. Berlin 1983
„FÜR DEN THOMAS / HERZHAFT! / KURT / 19.9.83“

 

Jurek Becker:

Bronsteins Kinder. Roman. Frankfurt am Main 1986
„Meinem einzigen Lieblingsfreund / Jurek / 10. September 86“

Nach der ersten Zukunft. Frankfurt am Main 1980
„Für / Thomas, nach einem Abend schlecht / erfundener Meinungsverschiedenheiten / zum kleinen Abschied. / Jurek“

 

Uwe Kolbe:

Bornholm II. Gedichte. Frankfurt am Main 1987
„O’Berliner Insel / nach Zürich / von Uwe Kolbe / 26.3.88“

 

Untermauert wird die These der bemerkenswert konzentrierten Hinwendung von in den Westen gewechselten Autoren auf Thomas Brasch durch eine ebenso bemerkenswerte Leerstelle – das so gut wie vollständige Fehlen vergleichbarer Wirkungsspuren auf Seiten von Autoren aus der Bundesrepublik: kein Widmungsexemplar von Jürgen Becker oder F.C. Delius oder Peter O. Chotjewitz oder Tankred Dorst oder Hans Magnus Enzensberge:r oder Peter Handke oder Rolf Hochhuth oder Alexander Kluge oder Franz Xaver Kroetz oder Hermann Peter Piwitt oder Peter Rühmkorf oder Botho Strauß oder Jürgen Theobaldy oder Dieter Wellershoff oder Peter Weiss… Von keinem einzigen westdeutschen Autor, der an literarischem und intellektuellem Rang den genannten Autoren aus der DDR vergleichbar wäre und der politisch oder ästhetisch eine gewisse Affinität zu Brasch vermuten ließe, fand sich unter den mehr als tausend Bänden auch nur ein Exemplar mit persönlicher Widmung! Blieb Brasch in der Bundesrepublik selbst für Kollegen, für andere Autoren eher ein Medienphänomen, eine virtuelle, die eigene Realität kaum angehende Gestalt? Erfordert respektvolle Freundschaft, die auf gemeinsamer Haltung beruht, einen Erfahrungshintergrund, den Autoren aus dem Osten mit Brasch teilten, während Autoren aus dem Westen gleiches versagt war?
Die Regel bestätigt – eine Ausnahme: Peter Schneider. Mitte der 1970er Jahre hatte Schneider an den Treffen deutscher Schriftsteller aus beiden Staaten teilgenommen, die auf Initiative u.a. von Günter Grass und Bernd Jentzsch regelmäßig organisiert worden waren. Auch Brasch beteiligte sich an diesen Gesprächen, vielleicht war man sich dort bereits zum ersten Mal begegnet. Jedenfalls fügt es sich in das Bild der Freundschaft dieser beiden um Entideologisierung bemühten Schriftsteller aus Ost und West, dass Peter Schneider ein Exemplar seiner 1982 erschienenen fragmentarischen Geschichen über die zerteilte Stadt Berlin Der Mauerspringer auswählte, um in sie die (undatierte) Widmung zu notieren: „Für Thomas / Zwei deutsche Dichter / die gingen nach Berlin / der eine ließ das Rauchen sein / der andere die Weiber und den Wein / da warens nur noch ?/ Von Peter“. Öffentlich hatte Schneider seine literarische (und menschliche) Wertschätzung gegenüber Thomas Brasch bereits zwei Jahre zuvor in einer langen Rezension des Schönen 27. September im Spiegel formuliert:

Glücklicherweise ist Brasch auch in [den] Posen, die er gelegentlich einnimmt, so deutlich, dass man nicht lange herumzureden braucht. Sie gehören zu einem Dichter, der zu heftig und zu zärtlich ist, um in die Schublade irgendeiner literarischen Trendmeldung zu passen.

Brasch setzte sich seinerseits einige Jahre später für den Freund ein, indem er ihn vor Plagiatsvorwürfen gegen die Erzählung „Vati“ in Schutz nahm. Gemeinsam unterzeichneten sie (mit Günter Grass und Sarah Kirsch) im April 1980, nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges, einen Offenen Brief, der die Bundesregierung Helmut Schmidts zum Frieden aufrief – neben dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung die einzige ,engagierte Stellungnahme‘, die Brasch je abgegeben hat. Den Respekt, die Freundschaft, die Treue wahrte Peter Schneider gegenüber Thomas Brasch bis zu dessen Lebensende – als einer der wenigen Freunde jener Roaring Eighties, in denen der junge Wilde aus dem Osten der Star des literarischen Parketts im Westen war.
Aus der kurzen Phase der politisch engagierten Auftritte Thomas Braschs zu Beginn der 1980er Jahre stammt auch ein letztes Widmungsexemplar, das hier erwähnt werden soll. Im Dezember 1981 war Brasch mitsamt der literarischen Prominenz aus Ost und West – von Volker Braun über Heiner Müller bis Christa Wolf, von Günter Grass über Erich Fried bis Heinar Kipphardt – zur ersten „Berliner Begegnung zur Friedensförderung“ in Ost-Berlin eingeladen. In einer alles andere als pazifistisch korrekten Rede sprach Brasch dort vom vorgeblichen Frieden als „Zustand der Lähmung“ und formulierte als Aufgabe für die Literatur in dieser Situation: „Wir müssen den Widersprüchen eine Schärfe geben, damit sie aufeinanderprallen.“ Eingeladen zu jener Begegnung hatte Stephan Hermlin; die Einladung zum zweiten Treffen sagte Brasch ab.
Hermlins Wertschätzung für den jüngeren Kollegen – die beiden hatten sich Ende der siebziger Jahre kennen gelernt – blieb davon unberührt. Hiervon zeugt ein Band der Äusserungen 1944 – 1982 (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1983), in den Hermlin, verstehbar auch als Erinnerung an die geglückte Begegnung von 1981, die Widmung schrieb: „Für Thomas, / in Freundschaft / herzlich / Stephan H. / 26. April 84“.
Nach dem Mauerfall schien die ,Windstille‘ der achtziger Jahre wie über Nacht aufgelöst, die Zeitläufe wirkten beschleunigt, reif war die Zeit für die Schnellen, und bisweilen für die Wendigen. Als einer der ersten Schrifsteller aus dem nunmehr wieder nahen Ostteil Berlins tauchte Sascha Anderson bei Thomas Brasch auf. Er wollte, als alles offen und möglich schien, Brasch, wenn nicht nach, so zumindest in die Nähe des Ostens ziehen. Als Initialzündung organisierte er eine Lesung für den verehrten Kollegen. Im Trabi kutschierte Anderson Thomas Brasch und seine damalige Freundin nach Kreuzberg, ins ehemalige Grenzgebiet, in den alten neuen Undergrund, wo im „Club der Ungeheuer“ der Gig stattfinden sollte. Im düsteren rauchigen Raum des Clubs las der Dichter Brasch mit seiner warmen harten Tom-Waits-Stimme, begleitet vom Maler A.R. Penck, der wild und zart und free am Schlagzeug trommelte und trashte. Alles schien möglich. Ein Widmungsband sollte die Erinnerung an den beflügelnden Abend lebendig halten: Sascha Andersons Jewish Jetset. Mit Zeichnungen von A.R. Penck, erschienen im Druckhaus Galrev, Berlin 1991, darin die unverzierten Zeilen: „für thomas / s. anderson / 3. juli 91“. Nachdem Sascha Anderson als langjähriger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnt worden war, hielt sich Thomas Brasch mit öffentlichen Kommentaren zurück. Er wollte bewusst nicht an jenen Debatten teilnehmen, die das Niveau von „Sascha Arschloch“ (Wolf Biermann) erreicht hatten. Die Masken, mit denen Anderson sein öffentliches Gesicht verdeckte, dominierten jedoch auch die privaten Gesprächsversuche, die Brasch unternahm. Irgendwann, ohne spektakulären Bruch, war der Kontakt beendet.
Ausgesprochen ambivalent war das Verhältnis Thomas Braschs zu Heiner Müller. Einen knappen scharfen und verschleierten Blick auf diese Beziehung wirft Brasch in dem als „Wiederbelebungsversuch“ titulierten Erinnerungstext an den 1995 verstorbenen Autor:

Mit leeren Händen sah ich ihn sich langsam entfernen, nicht ohne sich manchmal mit einem undeutlichen Lächeln zu mir umzudrehen. Mir schien sein Blick die Bitte zu enthalten, ihn mit unseren lang zurückliegenden, oft liebessehnsüchtigen Koketterien an Spielen und Lügen aufzuhalten oder seinen schweren Gang zumindest zu verlangsamen durch Vorwürfe, betreffend sein fauliges Verhältnis zur Macht, seine manchmal brutale Irreführung und Kaputtloberei junger möglicher Konkurrenten, seine Angst vor der Einsamkeit des Schreibtischs und vor der Prosa, die ich so gut verstand und teilte.

Als sie einmal feststellten, gemeinsam „Paul allein auf der Welt“ als liebstes Kinderbuch zu verehren, „war das Problem von Altersunterschied, Mut, Feigheit, politischer oder sexueller Mannhaftigkeit ebenso für immer zwischen uns erledigt wie das wortlose Versprechen, einander nie die Fremdheit oder Würde anzutasten, was ihn zum Glück nicht hinderte, schlecht über mich zu reden?, und mich nicht verpflichtete, ihm zu glauben oder seine Stücke zu lesen“. In einem Gedicht, das erst nach Braschs Tod aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, heißt es „Über Heiner Müller“: „Wer zu ihm geht zu lernen, begreift: / es gibt nichts zu lernen von ihm“, und wenige Verse später spricht Brasch über Müller das giftige Urteil: „Anders als Brecht und Shakespeare verrät / was er tut die Anstrengung“. Heiner Müller hatte seinerseits in der Wolokolamsker Chaussee V die Lebensgeschichte Thomas Braschs als Material verarbeitet, roh belassen bis zur Kenntlichkeit. Der den Sozialismus bis zum Zerbrechen herausfordernde Generationenkonflikt, den der Text verhandelt, ist unter dem vieldeutigen Untertitel „Der Findling (nach Kleist)“ auch inszeniert als Konflikt zwischen Vater und Sohn Brasch – bis hin zum Telefonanruf des Vaters bei der Polizei, um den Sohn anzuzeigen, der gegen die Panzer in Prag protestiert. In Braschs Arbeitsbibliothek befand sich ein Exemplar von Heiner Müllers Autobiografie Krieg ohne Schlacht (Kiepenheuer und Witsch, Köln 1992), dessen handschriftliche Widmung das Unvereinbare, Ungelöste zwischen den beiden Autoren paradigmatisch wiederzuspiegeln scheint: „Berlin, 5.11.92 // Für Thomas, / dem ich dieses Buch / wie jede andere Zeile schulde / Heiner Müller“. Wie ein Echo meint man in den sanften dornigen Widmungsworten Braschs Wendung von der „brutalen Irreführung und Kaputtloberei“ anklingen zu hören – und steht vermutlich einer „Irreführung“ ganz anderer Art gegenüber. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese Widmung eine Fälschung. Eine Fälschung indes, die so authentisch wirkt, dass selbst Thomas Brasch die Echtheit der Widmung nie bezweifelte. Ein weiteres offenes Rätsel einer rätselhaften Beziehung.
Bücher, die Thomas Brasch in seinem letzten Lebensjahrzehnt gewidmet wurden, fehlen in der Bibliothek praktisch ganz. Es ist das Jahrzehnt der Arbeit an dem großen Prosaprojekt und poetischen Lebensentwurf Die Liebe und ihr Gegenteil oder Mädchenmörder Brunke. Jahre des radikalen Rückzugs aus Gesellschaften und Freundschaften, fortgesetzte Jahre des künstlerisch wie persönlich exzessiven Lebens. Das Leben eines, der nicht leicht lebte, nicht leicht leben konnte. Den gelungenen Versuch, sich für ein Deutschland unbekannt zu machen, nannte dies, auf sich bezogen, der Kabarettist Wolfgang Neuss, den Brasch sehr schätzte und mit dem er befreundet war. Brasch selbst spricht in diesem Zusammenhang selbstanklagend und selbsterklärend von „meiner unnachgiebigen Verteidigung einer unwürdigen Unabhängigkeit“. Sollten jemals die tausenden, bisher unveröffentlichten Seiten des Brunke-Manuskripts aus dem Nachlass herausgegeben werden, läßt sich möglicherweise etwas über jenes letzte Lebens- und Arbeits- Ablebensjahrzehnt des Autors Thomas Brasch sagen. Davor wohl kaum.

− Aus jenen neunziger Jahren staken spärlich heraus zwei Bände von Fritz J. Raddatz, der „Dem Freund Mahner Brasch“ am „3.9.91“ einen Briefband (Lieber Fritz. Briefe an Fritz J. Raddatz 1959–1990) schenkte und widmete, und im „Juni 96“ seinen Essayband Lebensfresser (Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996) mit den Worten versah: „Für Thomas Brasch – / den stummen Freund / ein stummer Gruß / Raddatz“. Bei der Beerdigung von Thomas Brasch am 23. November 2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, hat Fritz J. Raddatz die Grabrede gehalten. Als „seltsame Wechselwirkung zwischen Traurigkeit, Trotz und Zärtlichkeit“ beschrieb Raddatz dabei die Ausstrahlung des Menschen und des Künstlers Thomas Brasch. Er habe vermocht, „uns Augen neu einzusetzen“ und sei trotz guter Freunde doch immer gewesen, was er auch sein wollte: „einsam bis ganz am Schluss“. „Thomas Brasch war Haut. In der Haut, so sagt man, nistet die Seele eines Menschen. Er hat seine Haut über diese Welt gespannt, und die Welt zerbarst. Und seine Haut zerriss. […] Er wusste als hochentwickelter Künstler, dass Kunst das Gehärtete sein muss. Unter dem Gehärteten, unter dem Unerbittlichen des Kunstgesetzes lag aber seine Bittlichkeit. Immer, wenn Sie genau lesen, ob in Stücken, in Prosa, vielleicht ganz besonders in Lyrik, werden Sie finden eine Gebärde des Flehentlichen.“

Lesespuren
Arno Schmidt, der mit 25 Bänden ausgesprochen prominent in Thomas Braschs Arbeitsbibliothek vertreten war, hat einmal erklärt, wie sich die Handbibliothek eines Schriftstellers im Durchschnitt zusammensetze: dreißig Prozent Nachschlagewerke; dreißig Prozent Bücher aus der Fremdsprache, aus der man übersetzt; dreißig Prozent Fachliteratur; und die verbleibenden zehn Prozent seien meist Titel, die man besser verschweige.“ Ob und wenn ja welche Bücher Thomas Brasch verschwiegen hätte, wäre er nach der Zusammensetzung seiner Arbeitsbibliothek gefragt worden, muss offen bleiben. Auch hat Schmidt seine Normalkurve für Autoren auf dem Lande ohne unmittelbaren Zugang zu Bibliotheken formuliert. Zwei nur formale und vielleicht unzureichende Erklärungen, warum für Braschs Arbeitsbibliothek ein anderer Verteilungsschlüssel gilt: Etwa zwei Drittel der Bücher gehören zur schönen Literatur, rund ein Drittel sind nicht-literarische Werke – letztere zusammengesetzt aus Lexika, Wörterbüchern, Büchern zu Geschichte, Politik, Kunst, dazu Biographien und Zeitschriften; und obwohl Brasch über zwanzig Jahre lang aus dem Russischen und dem Englischen übersetzt hat, finden sich originalsprachige Titel nicht einmal zu einem Bruchteil der von Schmidt veranschlagten Dosis.
Die nicht im engeren Sinne literarischen Bücher waren, wie bereits erwähnt, in thematischen Gruppen jenseits des großen Blöcke der Weltliteratur gestellt. Den größten Raum unter den Nachschlagewerken und Lexika nahm eine 24-bändige Brockhaus-Enzyklopädie ein, daneben eine siebenbändige Piper-Enzyklopädie des deutschen Musiktheaters sowie mehrere Wörterbücher: ein Pons-Wörterbuch ,Englisch-Deutsch‘, ein Pocket Oxford-Duden. German Dictionary sowie ein russisch-deutsches Wörterbuch – Arbeitsmaterialien des Übersetzers Thomas Brasch. Zum Bereich der Nachschlagewerke gehörten auch Bücher wie Friedrich Mencker-Mildbergs Rätsel der Weltgeschichte, einzelne gebundene Sammelbände des Nachrichtenmagazins Der Spiegel (aus den Jahren 1947 und 1948, die eine Brücke zu Braschs während der Berlin-Blockade handelnden Film Engel aus Eisen schlagen; in den Bänden 1961, dem Jahr des Baus der Berliner Mauer, und 1966, dem Beginn der Radikalisierung der linken Protestbewegungen, befinden sich zahlreiche Einlegezettel) oder Materialien zur Landesgeschichte Braunschweigs, Braunschweig. Stadt und Herzogtum 1890–1918 (Hg. Reinhard Bein). Letztgenanntes Buch markiert einerseits als Arbeitskontext Braschs Prosaprojekt Mädchenmörder Brunke, der in der niedersächsischen Stadt spielt und dessen historisches Vorbild aus Braunschweig stammt. Zum anderen lässt sich an dem Band Braschs sinnliches Verhältnis zu Büchern wie zu literarischen Stoffen ablesen: Seine Vorliebe für besonders gestaltete Bände, möglichst mit Abbildungen, Zeichnungen, Fotos oder ausklappbaren Karten, auf besonderes Papier gedruckt, in unkonventionellen, aber gut handhabbaren Formaten – Bücher als Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand zugleich. Viele Bücher der Bibliothek hatten diesen besonderen, sinnlichen Charakter, ohne dabei der herkömmlichen Vorstellung ,bibliophiler Ausgaben‘ zu entsprechen.
Die größte Gruppe unter den nicht-literarischen Bücher bildeten Veröffentlichungen zu Politik und Geschichte im 20. Jahrhundert. Dort kehrten als Themen wieder: Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, Stalinismus, DDR, deutsche Teilung, Kalter Krieg, Spionage. Nur in Ausnahmefällen waren hier Standardwerke wie Sebastian Haffners Anmerkungen zu Hitler oder Eric Hobsbawns Zeitalter der Extreme zu finden, stattdessen eher populäre oder dokumentarische Titel mit sozialgeschichtlichem Schwerpunkt: zum Beispiel Hitlers Tischgespräche von Henry Picker aus der dtv-Reihe Zeugnisse, ein Band über Güstrow: In jenen Jahren des Nationalsozialismus, Magnus Hirschfelds zweibändige Sittengeschichte des Weltkrieges, die Downing Street Tagebücher 1933 – 1945 von John Colville, ein Band mit dem Untertitel Spurensicherung über Zeitzeugen zum 17. Juni 1953, der Kurzen Lehrgang zur Geschichte der KPdSU, Janusz Piekalkiewcz’ Weltgeschichte der Spionage, Juri Awalachjews Es gibt keine Alternative zur Perestrojka, Davide Pryce-Jones’ Der Untergang des Sowjetreichs oder Jürgen Roths Die Russenmafia; diese Bücher über die ,kurze Geschichte des 20. Jahrhunderts‘ werden ergänzt von einigen Berlin spezifischen Titeln, etwa über Berlin im Zweiten Weltkrieg (Hg. Hans Dieter Schäfer) oder zum Thema Berlin – Hauptstadt der DDR 1949–1989 (Hg. von Bernd Wilszek). Sachbücher zu jüdischer Geschichte waren nur vereinzelt vertreten, dabei aber; wie zahlreiche Bände zu anderen Themen, vornehmlich auf die Perspektive von unten gerichtet, so zum Beispiel ein Band des Centrum Judaicum über Juden in Berlin 1938–1945 (Hg. von Beate Meyer) oder Ines Geipels kulturgeschichtliche Erkundungen Im Scheunenviertel. Einschlägige Studien, etwa zur Geschichte der Shoah, waren in der Bibliothek nicht vorhanden.
Einen eigenen Schwerpunkt innerhalb der geschichtlichen Abhandlungen stellten Bücher zum Thema Revolution dar. Hierzu enthielt die Arbeitsbibliothek von Brasch unter anderem die dreibändige Geschichte der Französischen Revolution von J. Micheley, Walter Markovs und Albert Sobouls 1789. Die große Revolution der Franzosen, dazu die siebenbändigen Memoiren Napoleons sowie Emil Ludwigs Biographie des französischen Feldherrns und Kaisers, daneben zwei Lenin-Biographien (von L. Fischer bzw. von Dimitri Wolkogonow), den vierbändigen Briefwechsel zwischen Karl Marx und Friedrich Engels, ein Buch über Die Ungarische Revolution sowie Frei Bettos Band über den kubanischen Diktator Castro, Nachtgespräche mit Fidel, und Che Guevaras dickleibige Fibel Guerilla – Theorie und Methoden. Im weiteren Sinne zu dieser Gruppe gehören auch die beiden Bände von Stefan Aust Der Baader Meinhof Komplex (darin die 1986 notierte Widmung: „Dies, lieber Thomas / ist Dein Buch / Stefan Aust“) sowie MAUSS. Ein deutscher Agent.
Als unübersehbaren Schwerpunkt bildet die Bibliothek ab: ein Interesse an und einen Zugang zu Geschichte über Lebensläufe, das Handeln Einzelner in der Geschichte sowie das Vergehen der Zeitläufe an ihnen. Dies ist freilich wenig verwunderlich bei einem Autor, für dessen Selbstverständnis sowie das seiner literarischen Figuren gilt, „angeschlossen an die Stromquelle Geschichte“ zu sein. In der Arbeitsbibliothek befanden sich daher zahlreiche Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Tagebücher und Porträts. Um neben den bereits erwähnten Napoleon- und Leninbiographien nur einige zu erwähnen: Ian Kershaws Hitlerbiographie, eine Biographie Joseph Goebbels und seiner Frau Magda sowie die fünfbändige Ausgabe der Tagebücher des NS-Propagandaministers, Albert Speers Erinnerungen sowie seine Spandauer Tagebücher, zwei Stalin-Biographien von Robert Payne bzw. Richard Lourie, Biographien über Erich Honecker und Erich Mielke, Ronald W. Clarks Biographie Albert Einstein sowie mehrere Erinnerungsbücher des Erfinders der Relativitätstheorie, aber auch zahlreiche Memoiren und Biografien von Künstlern, zum Beispiel von bzw. über Georg Büchner, Wladimir Majakowski, Maxim Gorki, Marina Zwetajewa, Ilja Ehrenburg, Richard Sorge, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Joseph Roth, Franz Werfel, Witold Gombrowicz, William Carlos Williams, William Faulkner, Dylan Thomas, Orson Wells, Alfred Hitchcock, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Klaus Kinski, Hans Werner Henze, Jurek Becker und insgesamt vier Bände über Helene Weigel, die Thomas Brasch nach dessen Haftentlassung 1969 im Bertolt-Brecht-Archiv beschäftigte. Vor allem bei den politischen Lebensläufen interessierten Brasch, im Gegensatz zu den sonstigen Sachbüchern, die ,Großen Männer‘, die ,Geschichte machten‘, bei den Künstlern waren es nicht ganz so ausschließlich die Großen, doch mit einer besonderen Vorliebe die groß Gescheiterten.
Per definitionem eher auf Personen zugeschnitten sind Künstlermonografien, die jedoch in der Arbeitsbibliothek keinen großen Raum einnahmen. Bände über Cezanne, Alfred Kubin, die Künstlergruppe Brücke, Alberto Giacometti, Picasso, Francis Bacon, Das Tagebuch Andy Warhols sowie ein Buch über „Phantastische Malerei“ fanden sich darunter; daneben Filmporträts (im Form von Videokassetten) zu Kandinsky, van Gogh und Goya. Innerhalb des Schwerpunktes der klassischen Moderne zu Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte der Surrealismus zu Braschs bevorzugten Kunstrichtungen. Das für diese Richtung der Avantgarde charakteristische künstlerische Interesse am Unbewussten, an Träumen, Phantasien, Ängsten, Traumata korrespondiert auf vielfältige Weise mit den Arbeiten Thomas Braschs. Aus dem Bestand der Bibliothek hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Band Life? or Theatre? von Charlotte Salomon, in dem die Autorin in einer assoziativen Mischung aus kolorierten Zeichnungen und Text bzw. Schrift ihr Erleben und Überleben eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers künstlerisch verhandelt. Bis kurz vor seinem Tod plante Brasch auf Basis der Aufzeichnungen Charlotte Salomons ein Theaterstück, das als einer von drei Einaktern am Berliner Ensemble aufgeführt werden sollte. „Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu verändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben“, heißt es in Braschs Tagebuch zu Eulenspiegel.
Zwei Bereiche des Unbewussten, des Verdrängten, Stellen also, an denen für einen Autor wie Brasch die Bruchstellen und Risse einer Gesellschaft kenntlich werden, sind Sexualität und Gewalt bzw. Kriminalität, Ein größeres Segment der Arbeitsbibliothek versammelte Bücher zu diesen Themen: Von Gerhard Bellingers Sexualität in den Religionen der Welt und Dufours Weltgeschichte der Prostitution über Eckhard Henscheids und Gerhard Henschels Jahrhundert der Obszönität und Louis Kaplans Weibliche Perversionen bis hin zu Maurice Levers Biographie Marquis de Sade, Sigmund Freuds Schriften Über Liebe und Sexualität und Michel Foucaults zweibändige Studie Sexualität und Wahrheit. Gerry Wandts Buch über Erotik und Spionage verbindet paradigmatisch zwei Themen, die für Brasch von besonderem Interesse waren, und offenbart exemplarisch, dass er weniger auf wasserdichte wissenschaftliche Studien, als auf unkonventionelle, anregende Sichtweisen und überraschende Verknüpfungen aus war.
− Unter die Stichworte Erotik, Sexualität und Gewalt lassen sich auch viele Filme, d.h. im wesentlichen Videokassetten der Arbeitsbibliothek gruppieren. Beispiele weicherer und härterer Pornographie fanden sich darunter, Klassiker des zeitgenössischen Gewalt-Kinos wie Natural Born Killers, Sieben oder auch Trainspotting; daneben cineastische Standardwerke von Charlie Chaplin oder etwa Fellinis La Strada, Vertreter des französischen „Nouvelle Vague“ wie Jean-Luc Godards Week-End oder Truffauts Jules et Jim sowie der japanische Filmemacher Kurosawa, in dessen Samurai-Filmen Brasch ein Grundproblem seines und des Schreibens allgemein formuliert sah: ein Handwerk zu besitzen, mit dem nichts mehr anzufangen ist.
Als Quelle des kulturell Unbewussten, oder auch als eine der wirkmächtigsten Traditionen des Erzählens, ließen sich Märchen, Mythen und Sagen beschreiben. Sie bildeten mit rund dreißig Bänden eine Gruppe mittlerer Größe in Braschs Arbeitsbibliothek. Hans Christian Andersens Gesammelte Märchen, drei Bände der Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm und sechs Bände Erzählungen aus tausendundeiner Nacht enthielt diese Abteilung der Bibliothek, außerdem Ovids Metamorphosen (mit Zeichnungen Pablo Picassos), Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und sogar ein Nachschlagewerk Who’s who im Märchen. Als kultureller Speicher von Abenteuergeschichten eigener Art können auch Cervantes’ Don Quixote, der in mehreren Ausgaben vorhanden war, sowie sieben Bände mit Geschichten Jack Londons gelten. – Außenseitern und vor allem Kriminellen schenkte Brasch seit jeher seine besondere Aufmerksamkeit. ,Künstler oder Krimineller‘ lautete seine Devise. Brasch konnte Kriminelle als künstlerische Helden sehen und Kriminalfälle als Prismen für den Blick auf den Tatort im umfassenden Sinne: die Gesellschaft. Die Klassiker der modernen Krimiliteratur waren für Brasch sicher auch Unterhaltungstexte, aber nicht zuletzt Fachliteratur, die in der Arbeitsbibliothek ihren Platz erhielt – und sie benötigte davon nicht wenig: Zwischen fünf und fünfzehn Bänden standen dort jeweils von Raymond Chandler, John le Carré, Stanley Ellin, Graham Greene, Dashiell Hammett, Patricia Highsmith, Stephen King, Robert L. Stevenson, Jim Thompson und Thomas Ross; die Gegenwartsliteratur dieses Genres war vertreten etwa durch den Autor Jakob Arjouni, mit dem Thomas Brasch auch befreundet war.
Im Prozess gegen den historischen Karl Brunke fragte der Richter den zweifachen Mädchenmörder: „Was haben Sie denn von der schönen Literatur gelesen?“ – Antwort: „Durchschnittlich alles“. Brasch liebte den scharfsinnig absurden Dialog vor dem Braunschweiger Gericht, experimentierte mit ihm literarisch und benutzte ihn als Zitat. Wendet man die Aussage auf Braschs Arbeitsbibliothek, bedeutet ,durchschnittlich alles‘ etwa 2000 Bände, von der Antike bis zur Gegenwart, von Aischylos bis Zwetajewa, vom deutschen über den englischen, romanischen und slawischen bis zum asiatischen Sprachraum. Die Bibliothek versammelte Kernbestandteile des klassischen Bildungskanons, von Vertretern der antiken römischen und griechischen Literatur wie Cicero, Herodot, Lukian, Platon, Sophokles und Tacitus (jeweils in deutscher Übersetzung) über deutschsprachige Autoren des 17. bis 19. Jahrhunderts wie Grimmelshausen, Gryphius, Goethe, Schiller, Kleist, Jean Paul, Hölderlin, Hauff, Heine, Büchner, Stifter, Hebbel, Storm, Fontane, Schnitzler, HofmannsthaI, Rilke; aus dem nicht-deutschsprachigen Raum waren aus diesen Epochen unter anderem vertreten Shakespeare, John Donne, Laurence Sterne, Jonathan Swift, Rabelais, Balzac, Rimbaud, Baudelaire, Dante, Manzoni, Leopardi, Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Tschechow. Den bei Weitem überwiegenden Teil nahm jedoch die internationale Literatur des 20. Jahrhunderts ein: Kafka, Kraus, Brecht, Conrad, Hemingway, Beckett, Ballard, Babel, Bulgakow, Majakowski, Kopelew, Apollinaire, Camus, Sartre, Pirandello, Moravia, Calvino, Neruda, Borges, Marquez, Gombrowicz, Hrabal, Dalos, Hacks, Heym, Seghers, Frisch, Bernhard, Dorst, Handke, Strauß, Walser. Solche Aufzählungen sind freilich wenig aussagekräftig, geben nur einen Bruchteil der gesamten Titel und Autoren wieder und könnten in der hier ausgewählten Zusammenstellung auch in vielen anderen Bücherregalen stehen. Was jedoch bereits die kursorische Auflistung verdeutlicht: In Braschs Arbeitsbibliothek war ein sowohl zeitlich als auch kultursprachlich ausgesprochen breiter Horizont, und zwar – anders als bei den Sachbüchern – dezidiert kanonischer Autoren und Werke, versammelt (freilich neben einer Vielzahl anderer, unbekannterer Bücher und Verfasser vor allem im Zeitraum der letzten fünfzig Jahre). Im Gesamtcharakter weit entfernt von einer bildungsbürgerlichen Bibliothek, verweisen sie dennoch auf die Sedimente eines von der Klassik bis zur Moderne breit gebildeten Wissens über Literatur, auf fundierte Kenntnis der literarischen Tradition also, die für Brasch die Voraussetzung einer bewussten Selbstpositionierung im künstlerisch-literarischen Feld der Gegenwart darstellte.
Thomas Brasch hat Buchreihen, Zeitschriften oder bestimmte Anthologien nicht systematisch gesammelt. Allein die im Suhrkamp-Verlag erscheinende Reihe Spectaculum, die regelmäßig neue dramatische Literatur vorstellt, fiel ins Auge, darunter Belegexemplare mit eigenen Stücken. Die linke Debattenzeitschrift der Bundesrepublik Kursbuch z.B. war als Sammelband der Jahre 1965-1970 des Zweitausendeins-Verlages vertreten, ergänzt durch nur einige wenige Hefte aus den folgenden dreißig Jahren. Vom experimentell engagierten Rowohlt-Literaturmagazin standen Heft 13 und 14 im Regal, aber nicht mehr. Die DDR-Lyrikreihe Poesiealbum, in der Brasch 1975 seine ersten Gedichte veröffentlicht hatte, konnte man in Form eines Sammelbandes der Jahre 1969 bis 1990 entdecken, ebenso ein mögliches Belegexemplar wie die Wagenbach-Anthologie Vaterland Muttersprache mit politischen Texten und Stellungnahmen von Schriftstellern und Intellektuellen aus den Jahren der deutschen Teilung, unter anderem von Thomas Brasch.
Suchte man die Regalbretter nach Werkausgaben oder anderen ,quantitativen Konzentrationen‘ ab, fiel auf: Die meisten Werkausgaben waren von kanonischen Autoren früherer Jahrhunderte (z.B. Hölderlin, Hoffmann, Storm, Sterne), d.h in Fällen, wo Einzelausgaben kaum verfügbar sind. Andere Werkausgaben verwiesen auf konkrete Arbeiten Thomas Braschs, etwa eine sechs bändige Heine-Ausgabe auf die Sammlung Heinrich Heine – Gedichte aus Liebe, die Brasch 1992 im Insel-Verlag herausgegeben hat, oder etwa eine fünfbändige Majakowski-Ausgabe auf die Auswahl von Gedichten, Poemen, Aufsätzen, Briefen, Reden und Stücken Majakowskis, die Brasch unter dem Titel Her mit dem schönen Leben 1983 für den Suhrkamp-Verlag besorgte. Lektürevorlieben, die sich rein quantitativ am Bestand der Bibliothek bzw. am Zustand der Exemplare ablesen ließen und keinen Eingang in literarische Arbeiten Thomas Braschs gefunden haben; waren nur wenige zu erkennen. Neben den bereits erwähnten Krimi-Autoren und dem ,Ausreißer‘ Arno Schmidt waren dies: Briefe Franz Kafkas, Prosa aller Art von William Faulkner, Francis Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, James Graham Ballard, daneben Stücke und Prosa von Albert Camus und Jean Paul Sartre – jeweils vertreten mit sieben bis 17 Bänden. Indes thronten neben und über all dem in enzyklopädischer Gestalt die mattroten Rücken der Frankfurter und Berliner Gesamtausgabe der Werke Bertolt Brechts.
Von anderen Schriftstellern und Künstlern hingegen fehlte in der Arbeitsbibliothek jeglicher Anhaltspunkt, obwohl sie beim Leser und Autor Brasch nachweislich Spuren hinterlassen hatten, er über sie geschrieben oder den Betreffenden sogar Texte gewidmet hatte. Kein Buch zum Beispiel von Viktor Chlebnikow, mit dem sich zwei Texte in Kargo beschäftigen, keine Spur von Wolfgang Neuss, für den Brasch immerhin das Gedicht „Mein Lehrer W.N.“ schrieb, und auch kein Band von Uwe Johnson, dem Thomas Brasch sein Gedicht „Halb Schlaf“ gewidmet und mit dessen Schreiben und Schreibkrisen er sich intensiv auseinandergesetzt hatte. Ein Hinweis auf die Blindstellen des Bestandes, auch wenn die lesbaren Verbindungsspuren zwischen Arbeitsbibliothek und Werk bzw. Biografie bei Weitem überwiegen.
Aus den vielen Möglichkeiten, die Bücher und Autoren zueinander bzw. zu ihrem ,Besitzer‘ Thomas Brasch in Beziehung zu setzen – Bildung, die man besitzt, besitzt einen, so Pierre Bourdieu −, entspinnt sich, wenn man die Buchrücken (vor dem inneren Auge bzw. auf den Fotografien) noch einmal Revue passieren lässt, ein auffälliger roter Faden. Und zwar entlang solcher Namen wie Büchner und Heine, Hölderlin und HofmannsthaI, Benjamin und Brecht, Kafka und Heym, Müller und Schleef, Bernhard und Brinkmann, Hildesheimer und Drach, Schmidt und Weiss, Fitzgerald und Wilde, Pound und Beckett, Babel und Mandelstam, Tschechow und Majakowski, Apollinaire und Rimbaud, Genet und Vian, Pirandello und Pasolini, Picasso und Kinski. Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail ist jeder der Genannten ein Künstler oder Autor, der ,aufs Ganze geht‘, der mit der Kunst auch das Leben meint, der einen politischen Anspruch verfolgt, nicht indem er sich ,engagiert‘ im üblichen Sinne, sondern einen Kunstbegriff vertritt, der sich sehenden Auges unbrauchbar macht für das Leben in der Gesellschaft seiner Zeit, der Verwahrlosung bzw. als dessen Kehrseite Dandytum als Teil seines künstlerischen Selbstverständnisses begreift, eine radikale, bisweilen avant la lettre avantgardistische künstlerische Selbstdefinition – und nicht zuletzt in vielen Fällen kreative Verfechter eines ,kräftigen Umgangs‘ mit den künstlerischen Vorbildern. Ein Selbstverständnis, das auch den Autor Thomas Brasch charakterisiert, ein Lebens- und Schreibprogramm, das er unter dem Titel „Hamlet gegen Shakespeare“ in vier Gedichtzeilen gefasst hat:

Das andere Wort hinter dem Wort.
Der andere Tod hinter dem Mord.
Das Unvereinbare in ein Gedicht:
Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.

Im Rahmen dieses Artikels kann vieles nur angedeutet, nicht ausgeführt werden. Die Namen von Autoren und die Titel einzelner Werke können aber die Kontexte und Quellen konturieren, in denen der Autor Brasch sich bewegte und aus denen er schöpfte. Irreführend wäre freilich zu glauben, Brasch hätte dies ,alles‘ gelesen. So breit die Anschaffung der Bücher angelegt war, so gezielt war ihre Lektüre. Als „genialen Querleser“, versehen mit einem ebenso brillanten wie präzisen Gedächtnis, charakterisieren ihn Freunde und Kollegen. Zu Gesprächen mit Brasch gehörte, dass er plötzlich einen Satz, den er gerade formulierte, unterbrach, schwieg, überlegte, aufstand, ans Bücherregal ging, mit einem Band zurückkam, dem Gegenüber eine aufgeschlagene Seite hinhielt und auf eine bestimmte Stelle deutete – zu verstehen als Fortsetzung des gerade unterbrochenen Satzes, der mit den nun vorgelegten ,fremden Worten‘ am treffendsten zu Ende geführt sei. Wer Sätze, Verse, Dialoge, die Thomas Brasch im Gespräch aus dem Gedächtnis zitierte, ohne das Buch gleich daneben zu legen, hinterher aus Begeisterung oder auch aus Misstrauen noch einmal nachschlug, konnte die Erfahrung machen, dass meist wortwörtlich das Original wiedergegeben worden war. Auf diese Weise lebte Brasch mit und in Texten, Sätzen, Worten, waren Bücher für ihn ,natürliche‘ Gesprächspartner eines nahezu unablässigen literarischen Produktionsprozesses.

Arbeitspuren
Der ,geniale Querleser‘ Brasch ist an den Gebrauchsspuren vieler Bücher erahnbar: Da ist ein Band an einer bestimmten Stelle aufgebogen, drei, sieben, manchmal zwanzig Seiten scheinen gelesen – die strichschmale Längswölbung auf dem Buchrücken markiert die Stelle von außen −, mehr wollte, mehr musste in dem Moment nicht gelesen werden, das Vermutete war gefunden oder die Suche nicht mehr der Fortsetzung für wert befunden. Was blieb, wusste die Erinnerung.
Andere Gebrauchsspuren machen Bücher aus Thomas Braschs Arbeitsbibliothek kenntlich als tägliche Begleiter und auch Begleiter im Alltag. So konnte etwa ein Exemplar von Gabriel Garcia Marquez’ Roman Chronik eines angekündigten Todes (Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 1981) auf den freien Seiten des Buches voll geschrieben sein mit unterschiedlichen handschriftlichen Notizen: auf der Innenseite des Buchdeckels eine Art Tagebucheintrag, mit schwarzer Tinte schräg über die gesamte Fläche geschrieben, daneben Namen und Telefonnummern verschiedener Personen und Terminnotizen für Verabredungen, auf der Doppelseite des Titelblatts und hinten im Buch der Entwurf zu einem Gedicht, Versnotate und -fragmente. Das Buch musste nicht die aktuelle Lektüre Thomas Braschs gewesen sein, aber ein Faustpfand auf dem Gang nach draußen, ein stummer Begleiter und Zuhörer eher denn ein Unterhalter und Gesprächspartner.
Daher standen die handschriftlichen Vermerke oft in keinem unmittelbarem Bezug zu dem Buch, in dem sie notiert waren, etwa wenn in der hinteren Deckelklappe von Franz Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen (herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Max Brod, Textedition von Ludwig Dietz, S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1969) einige Zeilen zu „Brunke“ sowie eine „Filmidee“ festgehalten waren oder in Samuel Becketts Die Welt und die Hose (Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1990) Zeichnungen den inneren Buchdeckel verzierten. Dennoch durfte wohl nicht jeder Autor in Buchform mit Brasch auf die Straße, die Vorstellung einer Kollektion der Titelblätter ergäbe ein schillerndes Album heimlicher und unheimlicher Freundschaften.
Andere, unmittelbar in die Bücher geschriebene Notizen gingen direkt aus der Lektüre hervor, etwa die zahlreichen Unterstreichungen und Randbemerkungen in Hartmut Langes Roman Die Selbstverbrennung (Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1982), denen Thomas Brasch vorne im Band handschriftliche Vermerke hinzufügte oder zum Beispiel eine Sonderausgabe von 50 Novellen Guy de Maupassants (Manesse-Bibliothek der Weltliteratur, Zürich 1998), wo an der Stelle des Textstücks „Die Hochzeitsreise“, auf Seite 184 des Bandes; der Zettel eines Kellnerblocks mit handschriftlichen Notizen Thomas Braschs über Maupassants Text eingelegt war. Die zahlreichen Anstreichungen mit Kugelschreiber im Band der gesammelten Gedichte Heinrich Heines (Sämtliche Werke, Dünndruck-Ausgabe des Winkler-Verlags, München 1984, Band 1: Gedichte) standen höchst wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Auswahl Heinrich Heine – Gedichte aus Liebe, die Thomas Brasch 1992 für den Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig, besorgte. Braschs intensive Lektüre von Heines Briefe in einem Band (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1989) war dokumentiert durch ungezählte Merkzettel (Ausrissfetzen der Wochenzeitung Die Zeit, jedoch ohne erkennbares Datum), zahlreiche handschriftliche Anstreichungen sowie die handschriftliche Notiz vorne im Band: Eine Liebe zur Krankheit, eine Krankheit aus Liebe. Der kranke Heine heißt ein Band von Henner Montanus (Metzler-Verlag, Stuttgart/Weimar 1995), den Thomas Brasch möglicherweise zur selben Zeit gelesen hat. Jedenfalls waren die Kapitel „Biografie und Anamnese“ (S. 154f) sowie „Die Ärzte Heinrich Heines und ihre Therapie“ (S. 346f) mit Einlegezetteln markiert. Auf dem Blatt der zweiten Stelle hat Brasch Versatzstücke eines inneren oder geplanten oder tatsächlichen Gesprächs mit seinem Verleger notiert: „Unseld über schwarzer Mann: Vorschlag: Triptychon / 1. Zwei Mädchen aus der Bibelstunde (8/9?). Welche hat welcher was voraus? / 2. Zehn Jahre später (der gleiche Keller) Zwei Mädchen (18/19?). Welche hat welchen was voraus, was anders ist am schwarzen Mann? (die Farbe) / 3. Kehrt sich das nun: fünf Wochen später. Wie macht welche dem S. S. S. M. hahha“. Weitere Überlegungen und ein Gedicht waren auf der Rückseite des Blattes festgehalten: „Chamisso: Vorarbeit zum ,Schatten‘: Der Teufel hat doch immer noch / gefunden in der Welt ein Loch, / in dem aus dem er kroch / hört ihr ihn nicht: poch poch.“
Arbeitsspuren im klassischen Sinne zeigte die Arbeitsbibliothek unter anderem vom Übersetzer und Bearbeiter, vor allem vom Shakespeare-Übersetzer Thomas Brasch. Da ist zunächst die Ausgabe, die Brasch hauptsächlich bei seinen Shakespeare-Arbeiten verwendete: Shakespeares Werke, herausgegeben und erklärt von Nicolaus Delius, 1. Band, Verlag von R.L. Friedrichs, Eberfeld 1876 (4. Auflage). Daneben wiesen einige zweisprachige kleinformatige orangefarbige Reclam-Ausgaben deutliche Gebrauchsspuren auf. Die Stücke Romeo und Julia, Richard II und Maß für Maß zum Beispiel waren Seite für Seite weit aufgebogen und gehörten, auch ohne sichtbare Notizen und Anstreichungen, offenbar zum Arbeitsmaterial von Braschs Shakespeare-Übertragungen. 21 Bände der bei Haffmanns herausgekommenen Übersetzungen komplettierten den Bestand der deutschen Shakespeare-Materialien. Von Shakespeares Sonetten gab es in der Bibliothek mehrere englische und deutsche sowie zweisprachige Ausgaben, außerdem das von W.J. Craig edierte und kommentierte Kompendium The Complete Works of William Shakespeare. Als Nachschlagwerke standen unter anderem das Shakespeare-Lexikon von Alexander Schmidt, Jan Knotts Shakespeare heute, Ivor Browns schlicht Shakespeare betitelte Studie sowie die monumentale Gesamtwerkbetrachtung Harald Blooms Shakespeare. Die Entdeckung des Menschlichen bereit. Die Ausgabe seiner gesammelten sieben Shakespeare-Übersetzungen hat Thomas Brasch noch selbst konzipiert, erschienen sind sie jedoch erst kurz nach seinem Tod. – Ebenfalls in einen Band versammelt waren 1985 bereits Thomas Braschs insgesamt sechs Übertragungen und Bearbeitungen Anton Tschechows Stücke erschienen. Spuren dieser Übersetzungstätigkeit waren, spärlicher als im Falle Shakespeares, in Form zweier deutscher Ausgaben sichtbar: Ein Exemplar von Platonow bzw. Der Kirschgarten, jeweils in der Übersetzung von Peter Urban, erschienen im Zürcher Diogenes-Verlag 1974 bzw. 1973 (Brasch übertrug die beiden Stücke 1978 bzw. 1981). Beide Exemplare zeigten ähnliche Gebrauchsspuren wie die zweisprachigen Reclam-Ausgaben der Shakespeare-Stücke – Seite für Seite aufgebogen, jedoch weder Anstreichungen noch Notizen.
Ungefähr zeitgleich mit den Übersetzungen der Dramen Anton Tschechows hat Brasch seine Brunke-Figur entdeckt und erstmals in einem Stück auftreten lassen. Lieber Georg heißt es, entstanden 19791/80. Es spielt an und zu auf den Tod des Schriftstellers Georg Heym, der beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochen und ums Leben gekommen war. Brasch sichtete die umfangreichen privaten Aufzeichnungen des expressionistischen Dichters und verwendete lange Passagen daraus für seine Dramatisierung. In Braschs Bibliothek befand sich die Werkausgabe Georg Heyms (hg. von Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burkhard, Verlag CH. Beck, München 1968). Die umfangreichsten Arbeitsspuren enthielt dabei der Band Dokumente zu seinem Leben und Werk: gelbe Einlegezettel und zahlreiche handschriftliche Anstreichungen. Ebenfalls mit gelben Einlegezetteln versehen waren die Bände Lyrik sowie Prosa und Dramen; im Gegensatz zum Dokumenten-Band fehlten hier jedoch handschriftliche Anstreichungen. – Im Grundgestus ebenfalls eine Bearbeitung, jedoch anders als Lieber Georg näher an einer Übersetzung, ist Thomas Braschs 1999 im Auftrag des Deutschen Theaters in Berlin verfasste Version der Trachinierinnen des Sophokles. Faktisch übertrug Brasch dabei die Sophokles-Übersetzung Ezra Pounds neu, „unter Verwendung der deutschen Übersetzung von Eva Hesse“, wie der lange umstrittene editorische Zusatz des Titels bemerkt. Im Pound-Lesebuch des Suhrkamp-Verlages (Frankfurt am Main 1997) hatte Brasch sich über Kontexte informiert und sich Anregungen verschafft, zahlreiche Einlegezettel und Anstreichungen des Exemplars aus der Arbeitsbibliothek dokumentierten dies. Die ebenfalls mit vielen Anstreichungen versehene englischsprachige Sophokles-Ausgabe The Women of Trachis. A Version of Ezra Pound diente Brasch vermutlich als Grundlage seiner Neuübertragung. Für die Inszenierung des Stücks am Deutschen Theater durch Matthias Langhoff hatte Brasch ein Vorspiel verfasst und im Briefwechsel mit dem Regisseur die darin thematisierte Verbindung zur eigenen Schreibsituation anklingen lassen: „dem zustand der untätigkeit sich auszusetzen, dem unbekannten sich auszuliefern […]: der aneignung … jener mythen einer fremden zeit durch heutige theatermacher.“ Die Verbindung zur eigenen Arbeit markiert auf andere Weise ein Gedicht, das Brasch in seine Ausgabe der deutschen Übersetzung von Sophokles’ Sämtlichen Werken (Phaidron-Bibliothek der Weltliteratur, 1989) notierte: „Und führ mich in das Land neu / in dem das Gute von dem Schlechten / unterschieden werden kann mit einer Hand / Bewegung“.
Das Übersetzen war für Thomas Brasch weit mehr als eine Nebentätigkeit. Shakespeare zu übertragen hieß für ihn, sich mit der Meisterschaft auseinander zu setzen, Vorhandenes zu bearbeiten. Es bedeutete, Shakespeares Vermögen zu ergründen einen fremden, bereits existierenden Stoff noch einmal neu zu erzählen – und sich an dieser Fähigkeit und mit ihr zu messen. Brasch beanspruchte für sich das Diktum Walter Benjamins ,Übersetzen ist eine Form‘ und vertrat mit Bert Brecht die Auffassung, die Literaturgeschichte sei eine einzige Folge von Plagiaten: „Du kannst kein Theaterstück schreiben ohne befleckte Empfängnis. Eine Dramatik als Materialerlebnis gibt es eben nicht.“ Diesem Prozess kam das Übersetzen in nuce gleich. Es konnte aber auch dazu dienen, prekäre Phasen der kreativen Erschöpfung zu überdauern, sich zurückzuziehen und ohne Verantwortung für eigenes Erfinden „Wieder-Atmen-Lernen“. Das Übersetzen als ein besonderer Weg, um in die Passage zwischen Vergangenheit und Zukunft zu gelangen, die der Kristallisationspunkt eines künstlerischen Selbstverständnisses ist, das sich einer Poetik der Überlieferung von Gleichzeitigkeit verschrieben hat: „nicht Übersetzungen herstellen, sondern eigene Transportwege finden, im Gestern die Wurzeln des heute kenntlich machen, in der Fremdheit der anderen Kultur die Grimasse der eignen, nichts modernisieren, aber alle Gemeinsamkeiten betonen, ohne die Unterschiede zu verwischen.“

Epilog: „Halt Stop Anhalten“

VITA
nach rolf dieter brinkmann

1
im moor sah ich nach dem krieg oft
strafgefangene im torf graben es war
eine moorindustrie in der gegend um vechta wo
ich 1940 geboren wurde und
meine kindheit in nazigesellschaft zuerst und
später unter englischer besatzung verlebt wurde im krieg
gab es noch einen großen flughafen für die waffen und
für die katholisch verseuchte bevölkerung die producierte
vorwiegend hühner und masthähnchen oder war angestellt
in einem der großen zuchthäuser oder
lehrend tätig in der pädagogischen hochschule respective
der landwirtschaftsschule zwischen münster und oldenburg ein
riesiges eiergebiet im herzen unserer heimat (der torf ist inzwis
chen fast völlig erschöpft und die kuhställe zu
nightclubs umgebaut)

2
meine mutter leitete die küche im schloß schwarzenraben und
kehrte dorthin oft zurück nach dem krieg
in ihren gedanken und erzählungen als
sie köchin war auf dem flugplatz vechta ihre eltern
waren bauern mit dem namen ackfeld sie starb 1957
1958 ging ich von der schule ab und besuchte
die weltausstellung in brüssel acht jahre später
heiratete ich m. kramer und mein sohn robert wurde geboren
(beide teilen sich seit meinem tod
die urheberrechte an meinen veröffentlichungen)

3
zwei jahre bevor thomas brasch
in die bundesrepublik herübersiedelte ließ ich mein leben
zu seinem verdrusse unter einem personenkraftwagen
in london jetzt muß er gedichte montieren wie dieses
aus meinen bewerbungsunterlagen
für eintausend mark honorar

4
das leben ist etwas schwerfälliges häufig
möchte man rufen
HALT STOP ANHALTEN

Das Gedicht hält, was sein Titel verspricht und der Untertitel andeutet. Vorgestellt wird eine VITA, ein Lebenslauf, dessen Daten bis ins Detail mit der Biografie Rolf Dieter Brinkmanns korrespondieren. Thomas Brasch hat das Gedicht geschrieben als Vorwort einer Neuausgabe von Rolf Dieter Brinkmanns Rolltreppen im August, datiert auf den „8. Mai 2000, fünfundfünfzigster Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“. Es ist ein Musterbeispiel für Braschs Verfahren der Bearbeitung, Übermalung, Überblendung, seines eingangs erwähnten, auf Büchner rekurrierenden „kräftigen Umgangs mit den Vorbildern“ sowie seines „poetischen Begriffs von Gegenwart“.
Die lyrische Stimme, die hier ihr Leben und das Gedicht aus der Ich-Perspektive erzählt, ist die Stimme Brinkmanns aus dem Jenseits. Sie kennt Thomas Brasch und weiß sogar um sein augenblickliches Schicksal: „für eintausend mark honorar“ „gedichte montieren“ zu müssen. Das Verb „montieren“ spielt hierbei nicht nur ironisch auf eine – mehr oder minder gut bezahlte – handwerkliche Tätigkeit an, sondern führt zugleich ins Zentrum der ästhetischen Machart des Gedichts. Die ersten beiden Abschnitte sind nämlich exakt das: eine Montage. Zusammengefügt aus Versatzstücken eines Briefes, den Brinkmann am 23. Dezember 1974 nach Austin/Texas geschickt hat, zusammen mit Materialien über sein Werk und seine VITA. Adressat der Postsendung aus Köln war der deutsch-amerikanische Student Hartmut Schnell; die beiden hatten sich 1974 während Brinkmanns Gastaufenhalt am German Department der University of Austin kennen gelernt und standen seither in engem brieflichen Kontakt. Thomas Brasch kannte die „Briefe an Hartmut“, die 1999 von Maleen Brinkmann aus dem Nachlass herausgegeben worden waren: Ein Exemplar davon stand in seiner Arbeitsbibliothek, die Seiten 112 bis 114 des Bandes waren mit zahlreichen Anstreichungen versehen. Schnitte man die unterstrichenen bzw. wörtlich ins Gedicht übernommenen Formulierungen aus und klebte sie auf ein Blatt Papier – vom Anfangsvers „im moor sah ich nach dem krieg oft strafgefangene … torf graben“ über Signalwörter wie „katholisch verseuchte bevölkerung“ bis zu „weltausstellung in brüssel“ −, träte die Textsorte in Erscheinung, mit der Braschs Gedicht assoziativ spielt: ein Bekennerschreiben.
Nun ließe sich einwenden, Brasch liefere die Begründung für die Wahl seines besonderen Verfahrens selbst: „für eintausend mark honorar“ macht man sich keine große Mühe, sondern nimmt, was gerade greifbar ist, würfelt es rasch zusammen, schreibt es in Kleinbuchstaben (sieht nach Kunst aus) und fertig. Der Einwand greift freilich nicht nur zu kurz, er greift ins Leere. Denn Braschs Vorgehen verweist gezielt auf ein Kernelement der literarischen Programmatik Rolf Dieter Brinkmanns: „Man nimmt einen bereits ausgeschriebenen Text, streicht Wörter und Sätze durch und füllt die Leerstellen mit eigenen Wörtern und Sätzen“, „mach es neu und schreib deinen Namen darunter“, so Brinkmann in seinem legendären künstlerischen Manifest „Der Film in Worten“. Brasch hat die Aufforderung umgesetzt, im Sinne Rolf Dieter Brinkmanns – „nach rolf dieter brinkmann“, wie es im Untertitel heißt.
Das Verfahren der Überblendung und Gleichzeitigkeit, mit dem das Gedicht die beiden Namen und Autoren Brinkmann und Brasch bewusst ins Verhältnis setzt, kulminiert in den Schlussversen. Wer den Dreizeiler des vierten Abschnitts spricht, ist nicht zweifelsfrei zuordenbar. Die Spielräume zur Identifikation sind ins Allgemeine geöffnet, die Worte im Tonfall einer Sentenz gehalten:

das leben ist etwas schwerfälliges häufig
möchte man rufen
HALT STOP ANHALTEN

Die Verse beschließen den vierten Abschnitt des Gedichts, was von Bedeutung ist, bedenkt man Thomas Braschs erklärte „Schwäche für Zahlenmystik, und in der Kabbala steht die ,4‘, die vier Linien, die einen Raum umschließen, zum Beispiel für Gefängnis, Sarg oder Grab.“ Die Schlussverse des Gedichts könnten also Brinkmanns letzte Gedanken, Worte, Schreie imaginieren, bevor er unter die Räder kam. Die „schwerfälligkeit“, die auch die Lektüre jener drei Verse zu erfassen scheint, manifestiert sich im Apokoinu „häufig“, das beiden Satzteilen zugeordnet werden kann. Es staut den Lesefluss und ruft das Gefühl hervor, man komme nicht von der Stelle, sei gelähmt wie in einem Alptraum beim Versuch, vor einer unheimlichen Gefahr zu fliehen. Gelangt man endlich weiter, in den nächsten Vers und zum Halte-Ruf, ist es zu spät: das Auto, „das leben“, der Tod hat einen bereits überrollt. Scheinbar paradox artikuliert sich der Hilferuf zum Weiterleben als Todeswunsch in den Versalien „HALT STOP ANHALTEN“ – und schlägt zugleich von den dunkel und hoch aufgerichteten Schlusszeichen graphisch den Bogen zurück zum Titel: VITA.
Eulenspiegels Raserei in den Stillstand, Luciles unzähmbar nutzloser Schrei, Brunkes sonderbares Gleiten zwischen zwei Zuständen des Schlafs, Brinkmanns oder Braschs haltlose Halterufe: Sie alle leben am selben Ort – durch Bücher – in der poetischen Gegenwart.

Thomas Wild, Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens, Heft 6, 2004

„Gemeinsam wird 1 Land begrabt“

– Thomas Braschs Kampf um Sprache  und Form nach 1989. –1

Auf den ersten Blick mag es problematisch erscheinen, wenn man Thomas Brasch auch nach seiner 1976 erfolgten Ausreise aus der Deutschen Demokratischen Republik noch der DDR-Literatur zuordnen will.2 Seine Texte schreibt er ab 1977 in der BRD oder in seinem zeitweiligen Exil in der Schweiz und veröffentlicht fast ausschließlich im westdeutschen Suhrkamp-Verlag. Selbst seine Sujets scheinen sich zu wandeln: keine Auseinandersetzung, schon gar keine Abrechnung mehr mit dem Leben im realexistierenden Sozialismus; ja, der ,Spielort‘ vor der Ausreise begonnener Texte wird nicht selten von Ost nach West verlegt.3 Brasch verortet sich in seinen Selbstaussagen nach der Ausreise in einem metaphorischen Niemandsland – nicht DDR-Autor, nicht Exilschriftsteller will er sein; solche „Kategorien“ seien nichts weiter „als hilflose Versuche, einen Schreiber leichter konsumierbar zu machen, indem man ihn auf einen Punkt reduziert“.4
Gegen die Vereinnahmung als DDR-Dissident oder BRD-Autor aber wehrt er sich besonders heftig;5 schließlich lässt er sich sogar den Verzicht auf die (bundes-)deutsche Staatsbürgerschaft beurkunden:6 Brasch betrachtet sich „nach wie vor [als] Bürger der DDR, und alle zurückliegenden Konflikte zwischen mir und verschiedenen Institutionen meines Landes waren immer Konflikte über das WIE des Sozialismus, nie über eine Alternative zu ihm“.7 Es ist eine Äußerung von Statement-Charakter, die paradigmatische Qualitäten besitzt: Zum einen ist ihr Kontext (Brasch steht hier Christa Wolf 1987 nach Angriffen von Marcel Reich-Ranicki zur Seite) einer der zahlreichen Belege für Braschs anhaltende Verbundenheit mit der Kulturlandschaft der DDR.8 Zum anderen weist die zugrunde liegende Haltung ihren Sprecher als typischen Vertreter seiner (DDR-)Generation aus: Bei aller Kritik am realexistierenden Sozialismus bleibt diese Generation der sozialistischen Idee ausdrücklich verbunden.9
Eine genaue Lektüre bestätigt die geistige Verwurzelung in der DDR- Literatur auch für diejenigen Texte, deren ,Spielorte‘ in der BRD, dem restlichen Westeuropa oder den USA angesiedelt sind. Beispielhaft ist vor allem Braschs selbst die Wiedervereinigung überdauernder impliziter Dialog mit Heiner Müller.10 Doch auch Detailbeobachtungen erweisen sich als aufschlussreich: So knüpft Brasch etwa mit der Titelwahl für seinen Gedichtzyklus Der schöne 27. September an eine Initiative der Moskauer Zeitung Iswestija, Sprachrohr des höchsten Staatsorgans der UDSSR, von 1960 an – Schriftsteller aller Länder sollten damals den 27. September so genau wie möglich beschreiben. Bekanntheit erlangte Christa Wolfs Tagebucherzählung über ihren 27.9.1960, die sie über 40 Jahre hin fortführen sollte. Die Autorin selbst vermutete in Braschs Titelgedicht einen „kleinen Gegenentwurf“ zu ihrem Text.11 Auseinandersetzung und Kontakt mit den im Land gebliebenen Kollegen werden durch die Ausreise vielleicht erschwert, sie reißen jedoch nicht ab.
Ein Lebensthema des Autors ist die Instrumentalisierung und damit Degradierung des Menschen durch Gesellschaft und Staat – unabhängig von deren Organisationsform. Als einzig mögliche Gegenreaktion erscheint Brasch individuelle Verweigerung gegen jedwede Vereinnahmung. So zeugt sein Beharren auf Autonomie gerade von einer littérature engagée – die „ganz grundsätzliche Infragestellung der durch den Staat repräsentierten Ordnung“ ist Braschs Definition von Anarchismus:

die Annäherung an eine dem Menschen gemäße […] Unordnung, an eine Form Zusammenleben, die dieser Gattung gemäßer erscheint als der Staat, als diese Organisation. Und dieses ganz grundsätzliche In-Frage-Stellen, glaube ich, hat auch etwas mit Kunst zu tun.12

Bei Brasch ist das Private stets politisch – und Politikum. Dabei nutzt er die dialektische Kraft eines Dilemmas, das DDR-spezifisch ist: Literatur, die sich Freiräume jenseits eines Engagements für bzw. durch den Staat erstritt, wurde vom DDR-Publikum gerade als politisierend und engagiert gegen das politische System gedeutet.13
Ansonsten konstatieren seine Texte schon vor 1989 immer wieder, dass in der deutschen Geschichte kein Fortschritt auszumachen sei – in klarer Opposition zur offiziellen marxistischen Geschichtslehre des historisch-dialektischen Materialismus, den die DDR-Führung wie auch Teile der westdeutschen Linken vertraten.14 Zugleich aber versucht sein Werk auf formaler Ebene den Protest gegen diesen Stillstand: Es will sperrig sein, sich eben nicht vereinnahmen lassen, den Leser zum Nachdenken provozieren – und muss, um nicht selbst im Stillstand zu verharren, die Methoden hierfür immer wieder neu erfinden. So fordert Brasch 1985

eine Verwahrlosung der politischen und poetischen Regeln […], denn: „Das Alte ist tot aber mächtig, das Neue lebensnotwendig aber nicht in Aussicht.“ Nur der Ausbruch aus der Verwaltung, dem Behütetsein und der Eingrenzung bringt die Erstarrung wieder in Bewegung.15

Doch mit Mauerfall, Wiedervereinigung und dem Ende der Sowjetunion erscheint nicht nur das Nachdenken über ein ,Wie‘ des Sozialismus mit einem Mal sinnlos. Zusätzlich verliert West-Berlin, das zuvor immerhin räumlich entfernt gewesen war von dem Staat, zu dem es gehörte, seinen Insel-Status – der Staat, der sich nach Marx im idealen Kommunismus selbst abgeschafft hat und einer freien Gesellschaft Raum bietet, wird für Brasch nun auch hier wieder übermächtig spürbar, die Utopie der Anarchie ist ferner denn je.
Die Krise, in die der Autor mit dem Ende der DDR. stürzt, hat auch tiefgreifende Folgen für seine Literatur. Sein Anfang 1989 begonnenes Drama Stiefel muß sterben über die Ermordung August von Kotzebues, das im Suhrkamp Theaterverlag erscheinen sollte, zieht Brasch zurück, weil er es nicht als „schnell geschriebene[n] Reflex auf ein politisches Ereignis“16 verstanden wissen möchte – erst 1999 kommt es zur Uraufführung. Abseits des Baseler Programmhefts wird es erst nach seinem Tod publiziert, gemeinsam mit einigen kleineren dramatischen Texten und der um 1990 entstandenen Romeo-und-Julia-Adaption Liebe Macht Tod.17 Aus den letzten zwölf Jahren seines Lebens bleiben der Öffentlichkeit in erster Linie sieben Shakespeare-Übersetzungen18 im Gedächtnis, die Brasch u.a. für Claus Peymann, ab 1999 Intendant des Berliner Ensembles, erarbeitet hatte – und eine 97 Seiten schmale Novelle, die im Jahr des zehnten Mauerfall-Jubiläums publiziert wurde: Mädchenmörder Brunke.19 Der Text selbst war ein letzter Achtungserfolg Braschs zu Lebzeiten, erfuhr aber bislang nur zwei Auflagen. Im Interesse des Feuilletons stand dagegen schon bei Erscheinen der legendäre Schaffensprozess des Werks: „Jahrelang hat Thomas Brasch Texte angehäuft, nun hat er Mädchenmörder Brunke freigegeben“,20 titelte etwa die Berliner Zeitung. Auch nach seinem Tod belegen Nachrufe und Rezensionen, dass man Braschs Arbeit an Brunke wohl vor allem als Zeugnis eines grandiosen, doch letztlich spektakulär gescheiterten Unterfangens betrachtet. Von „mehreren tausend“, „10.000“ oder gar „14.000 dicht beschriebene[n] Manuskriptseiten“ ist die Rede.21 Das „später arg zusammen geschrumpfte[]“ Brunke-Projekt bewertete wohl nicht nur der Literaturkritiker Alexander Müller als „gewaltige[s] Vorhaben“, an dem Brasch zugrunde gegangen sei.22
Brunke als Großprojekt ist 2010 von der Brasch-Forscherin Insa Wilke überzeugend als poetische Reaktion auf die Wendezeit gedeutet worden.23 Das Brunke-Projekt versucht mit einem seiner Erzähler, „D. H.“, über die Zeitebenen 1905, 1956, 1968 und 1989 hinweg24 eine „Revision des 20. Jahrhunderts […]. Noch einmal an den Ausgangspunkt zurückkehren! Als noch alles offen war, als gesellschaftliche Gegenentwürfe zur westlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung noch realisierbar schienen.“25 Mädchenmörder Brunke erzählt in mehrfach gebrochener Erzählperspektive26 von der fatalen Obsession des Architekten D. H. mit dem (historischen) Fall Karl Brunkes, der 1905 einen Selbstmordpakt mit zwei jungen Frauen einging, letztlich aber nur die Tötung der beiden Mädchen ausführte. Der selbst von einer gescheiterten Beziehung traumatisierte D. H. unterstellt, dass Brunke eine ,Liebesmaschine‘ entwickelt habe, um den Menschen die Schmerzen der Liebe zu ersparen – deren Realisation sei vom Staat jedoch verhindert worden. Im Versuch ihrer Rekonstruktion verwandelt er sich mehr und mehr in Brunke (eine Variation des Braschs Werk fast leitmotivisch durchziehenden Wunschs, ,aus der eigenen Haut zu können‘), was wohl ursächlich für seinen vom Erzähleinstieg an bekannten eigenen Tod ist. Dabei spiegelt das schmale Bändchen in keiner Weise wider, was Brasch intendierte:27 ein alle Gattungsgrenzen sprengendes Projekt, tausende von Seiten stark, in dem Notizen, Vorarbeiten, Arbeitsmaterialien wie Zeitungsartikel oder Fotos, Gedichte, Schreibanläufe, poetologische Reflexionen und die auf mehreren Zeitebenen gebrochene Prosahandlung mit verschiedenen Erzählstimmen ineinander montiert sind.
Braschs Nachlass in der Akademie der Künste erzählt von beinahe manischem Schreiben, und aus ihm spricht auch das verzweifelte, tatsächlich als existentiell begriffene Ringen um eine neue Sprache und neue Formen. Im Rückblick ist man daher geneigt, Brunke als eine besondere Form des writer’s block zu begreifen, der durch das Ende der DDR ausgelöst wurde. Das Brunke-Bändchen musste der Suhrkamp-Verlag Brasch in jahrelangen Querelen, die auf beiden Seiten zu tiefgehenden Frustrationen und Verletzungen führten, geradezu abringen. Im TBA28 finden sich zahlreiche Hinweise auf verschiedene Veröffentlichungstermine von Brunke. Zunächst geplant war offenbar ein Erscheinen zur Frühjahrsmesse 1993,29 das dann auf den Herbst 1993 verschoben wurde.30 Verschiedene Dokumente zeigen jedoch, dass Brasch sich nicht an die Absprachen mit dem Verlag hielt: Am 4. April 1993 etwa mahnt Siegfried Unseld: „[G]ibt es einen neuen, definitiven Ablieferungstermin für BRUNKE?“; wenig später wendet sich der Lektor Rainer Weiss fast flehentlich an Brasch:

[D]ie letzte, also neuste, also San Francisco- bzw. Flughafen-Fassung von Brunke ist wunderbar gelungen. Ich bitte Dich wirklich, jetzt nicht mehr tollkühn zu ändern, sondern das Goldstück in Ruhe zu lassen, so gut es eben geht.31

Doch für Brunke findet Brasch noch lange Zeit keine Form der Veröffentlichung, weder zu den dann angepeilten Frühjahrs- bzw. Herbstmessen 1995 noch 1998.32 Und selbst nach Erscheinen von Mädchenmörder Brunke arbeitet er noch an Publikationsentwürfen, in denen die große Anlage des Projekts angemessen wiedergegeben werden könnte. U.a. sollte eine 1.000 Seiten starke Faksimile-Fassung im Dezember 1999 unter dem Titel Die Liebe und ihr Gegenteil als erste Ausgabe der von ihm geplanten Zeitschrift Sprechsaal veröffentlicht werden. Realisiert wurde aber weder die neue Brunke-Version noch das Zeitschriftenprojekt.33
Die Gründe für seine Brunke-Schreibkrise hatte Brasch schon 1996 (!) gegenüber Unseld analysiert und diese Krisensituation u.a. auf die Wende zurückgeführt:

Ich habe an „meinem“ BRUNKE über Gebühr festgehalten […], um mich zweier Dinge zu entziehen, die ich 1989/90 als eine Bedrohung empfand: den Schmerz über den Verlust meines Ortes durch die Wiedervereinigung „meiner“ Stadt und die Furcht vor der endgültigen Abwesenheit dessen, was man Lieben nennt.34

Dabei ist der ,Ort‘ hier in Abgrenzung zur ,Stadt‘ sicherlich ein gedanklicher – mit dem politischen Ende der DDR verliert Brasch die eigene Positionierung dazwischen, im Niemandsland zwischen den beiden Staaten und Systemen, die ihm zuvor ermöglichte, sich nicht festzulegen und nicht ,leicht konsumierbar‘ zu werden.35 Zugleich erscheint 1989 nicht nur als Ende des realexistierenden Sozialismus, sondern als endgültige Verabschiedung der sozialistischen Utopie. Die deutsche Wiedervereinigung ist für Brasch ein Szenario des Schreckens, da sie droht, die Reibungen und Widersprüche zu glätten, die für seine Arbeit so relevant sind und die sich in seiner Poetik der ständigen Veränderung spiegeln.
Angelegt ist das fast manische Weiter- und Umschreiben bei Brasch, seinen poetischen Maximen gemäß, schon von jeher. Bereits veröffentlichte Texte werden immer wieder hervorgeholt und überarbeitet, wandeln Anlage oder Gattung, finden sich als Fragment in neue Texte integriert36 – mal in Varianten publiziert, doch oft auch nur dank des Nachlasses überliefert. Änderungen quasi ,in letzter Minute‘ waren ebenfalls schon vor 1989 typisch für seine Arbeitsweise – der Klappentext der Erstausgabe des Gedichtbands Der schöne 27. September etwa zitiert noch zwei Texte, die im Band selbst nicht mehr zu finden sind. Arbeitsprozess und Textgenese spiegeln dabei vor wie nach 1989 Braschs Kunstanspruch: Das eigene Werk muss immer wieder in Frage gestellt werden, der Künstler so in Bewegung bleiben.37 Brasch glaubt nicht daran, dass Texte direkt in den Lauf der Geschichte eingreifen können38 – doch seine poetologische Forderung nach ständiger Veränderung ist Protest gegen den gesellschaftlichen Stillstand. Im Prozess des Arbeitens, im Überschreiten von Form- und Gattungsgrenzen bewahrt er sich einen Rest von Utopie.39 Während die Ausreise von 1976 als Zäsur jedoch eine „immense[] Produktivität“40 bewirkte und Brasch danach zu einem der namhaftesten Autoren seiner Generation avancierte, belegt Brunke, Produkt der als traumatisch empfundene Wendezeit, eine Radikalisierung von Braschs ästhetischen Prämissen, die sich nun kaum noch in Hinblick auf Publizier- und Lesbarkeit zügeln lassen.41 Die große Anlage des Brunke-Projekts wird einem breiteren Publikum schon allein durch die Schwierigkeiten der Dokumentation wohl nie vermittelt werden können.
Für Brasch gelten nicht zufällig ausgerechnet Büchners Woyzeck und Brechts Fatzer als wegweisende Texte, gerade weil sie fragmentarisch und ,unfertig‘ sind – was sich nach Brasch nicht intendieren lasse:

Fragmente entstehen, weil einer nicht fertig wird mit etwas, obwohl er es will, nicht weil er es will. Brecht ist am FATZER gescheitert und dieses Scheitern war symptomatisch und hat deshalb eine große Schönheit.42

Entsprechend muss man Braschs Brunke-Fragment auch deuten als ästhetische Entgegnung auf die als Horrorszenario empfundenen Glättung aller Widersprüche (die ihm stets Voraussetzung seines Kunstschaffens waren),43 was die Wiedervereinigung für ihn implizierte.

Nichtfertigwerden, Nichtnäher- und ankommen bedeutet innerhalb dieses Selbst- und Kunstverständnisses kein Scheitern.44

Die Shakespeare-Übersetzungen in den 1990er-Jahren betrachtet Brasch (ähnlich übrigens wie das Phänomen des writer’s block)45Bei aller Gefährlichkeit des ,Sich-Durchkämpfens‘ durch den writer’s block – „[v]iele Autoren sterben genau an so einem Phänomen“ – betrachtet Brasch ihn auch als Chance: „ein immer wiederkehrendes Moment, gegen das man angehen muss, oder dem man auch erliegen darf bzw. sogar sollte, für eine gewisse Zeit, um auszuruhen in einer Art Scheintod für sich selber.“ Zitiert nach: ThomasWild: „,Der vierte Band ist entweder ein Selbstmordversuch oder es ist der Versuch, eine Tür aufzustoßen‘. Ein Gespräch mit Thomas Brasch über Uwe Johnson“. In: Roland Berbig (Hg.): Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche – Dokumente – Essays. Berlin 2002, S. 516–540, hier S. 521. Im Folgenden: Wild. als ein „Luftholen zwischen zwei großen Phasen, ein Wieder-Atmen-Lernen. [… ] Im Umgang mit Shakespeare zum Beispiel habe ich keine Verantwortung gegenüber den Stoffen“. Eine so genutzte Pause könne letztlich „zu einer ganz neuen Ästhetik führen.“46 Und tatsächlich erweist sich die politische Wende um 1989 auch abseits von Brunke als formale und thematische Zäsur in Braschs Werk, wie etwa die Arbeit an neuen Lyrik-Projekten zeigt. 1993 hatte Brasch im Mainzer Selbstverlag die 15 Gedichte umfassende Ausgabe Jetz is nich mehr vor zwei Jahr publiziert, deren Texte sämtlich aus Veröffentlichungen zwischen 1975 und 1980 stammen. Auch wenn die aufwendig gestaltete Publikation durch den Preis und eine geringe Auflagenzahl (20 Stück plus Belegexemplare) die Öffentlichkeit der Gedichte stark einschränkt, wird die dauerhafte Gültigkeit ihrer poetischen Sprache also sozusagen noch einmal vom Autor besiegelt. Ganz anders dagegen erscheinen Form und Sprache im kleinen und für diesen Zweck neu geschaffenen Zyklus zwei offne fenster ODER ein liebes paar,47 der 1999 mit einer eigens zu den Gedichten entwickelten Serie von Grafiken des Malers Strawalde in der Edition DSCHAMP der Galerie auf Zeit erscheint. An die „hohe Musikalität“ und die „Erneuerung traditioneller Formen“, für die Brasch anlässlich von Der schöne 27. September 1980 als erster den neu geschaffenen FAZ-Literaturpreis bekommen hatte,48 erinnert hier nichts mehr:

ihm war psychologisch häufig übel
das kam, weil seine kindheit mußte heraus
also stellte sie neben sein bett ihren hellblauen kübel
und rief: Ö, ruf mich doch an bei, ach, na gut, bei klaus49

Der Bruch mit der früheren lyrischen Sprache des Autors ist deutlich50 – die Umgangssprache hat Einzug gehalten, die Syntax holpert wie das Metrum, und die Verspaare wirken nur Reim und Kalauer geschuldet.
Wie auch anderen DDR-Autoren ist Braschs Literatur im Feuilleton mitunter der Verlust der künstlerischen Potenz nach der Wende bescheinigt worden.51 So merkt sein westdeutscher Kollege Yaak Karsunke zu Braschs posthum veröffentlichter später Lyrik an:

Einen Ausweg aus den beruflichen und privaten Konflikten hat Brasch in Drogen gesucht. […] In einzelnen Texten scheinen immer noch frappierende Wortfügungen auf, aber oft verliert sich der Autor in Reimzwängen oder Wortspielereien, die bis zum Kalauer gehen.52

Doch vorschnell sollten auch die puns, die optischen Spielereien und der angebliche ,Reimzwang‘, die zahlreiche nie veröffentlichte Gedichtentwürfe aus der Nach-Wendezeit prägen, nicht als Hinweis auf Kreativitätsverlust beurteilt werden.53 Brasch erprobt hier eine neue, gemäß seiner ästhetischen Forderung aus den 1980er-Jahren tatsächlich ,verwahrloste‘ Sprache, die radikal mit den poetischen Konventionen bricht. Ob ihre Wirkung über die schon in früheren Publikationen mit anderen Mitteln54 angestrebte Irritation der Leser hinaus reicht, bleibt sicherlich fraglich. Doch betrachtet man zwei offne fenster genauer, so ergibt sich als von Vorgänger-Texten her durchaus vertraute thematische Klammer der Gedichte die Sehnsucht nach dem Eins-Werden mit dem geliebten Anderen – und ihre immer wieder konstatierte Unerfüllbarkeit. Wie im zitierten Brief an Unseld („die Furcht vor der endgültigen Abwesenheit dessen, was man Lieben nennt“) ist dieser Topos offenbar eng verknüpft mit dem Zeitgeschehen. Schlüssel begriffe wie „Kommunismus“ und „Gemeinwesen“, vor allem aber die fast ausschließlich um Vereinigung und Trennung kreisende Metaphorik des Zyklus’ lassen vermuten, dass in der auf den ersten Blick sinnverweigernden, provokanten Sprache des Gedichts auch die Unvereinbarkeit von Utopie und System verarbeitet wird. Ein lyrisches Ich präsentiert als Erzählerfigur mit Autoren-Maske55 die Vorgänge um das nicht zusammenfindende ,liebe paar‘ und leitet die Gedichte mit fast programmatisch anmutenden Eröffnungsversen ein:

Ich will Weggehen nicht lernen
und anders sprechen nicht tun
56

Dass dieser gegen Veränderung gerichtete Anspruch auf Bleiben, auf Sich-treu-Bleiben, nicht einzulösen ist, zeigt das sich anschließende zweite Gedicht. Die Weigerung, Weggehen und ,anders Sprechen‘ zu lernen, wird durch das Bild des gerade zum ewigen Lernen verdammten Sprechers geschwächt:

muß ich ein schüler bleiben
schule ist ein fluch

Nun erst beginnt mit dem dritten Gedicht die Außensicht auf das ,liebe paar‘, und entsprechend kann man die vorangegangen Verse poetologisch deuten: Angekündigt wird die ,neue‘ Sprache des Zyklus’, die nur durch äußeren Zwang erlernt wurde und die das alle Ebenen ergreifende Scheitern in sich trägt – „(so blieb das lieben ärmlich wie das schreiben)“.
Brasch verharrt nicht in dieser verwahrlosten Sprache, obgleich noch weitere, im Entwurf stecken gebliebene Nachlassgedichte offenbar in ihr zu sprechen versuchen. Für 2001 plant er noch einmal einen Gedichtband, diesmal wieder mit Suhrkamp: Sprechsaal Der in seiner letzten überlieferten Fassung 59 Seiten starke Band versammelt 51 Gedichte von Ende der 1960er- bis in die späten 1990er-Jahre; nur wenige davon sind zuvor schon einmal veröffentlicht worden.57 Es ist ein Band, der eine genauere Untersuchung verdiente – als lyrisches Vermächtnis von Thomas Brasch,58 sparsam in der Auswahl aus immerhin gut 500 Gedichten und Gedichtentwürfen im Nachlass und offenbar sorgsam komponiert. Strukturiert wird der Band von Gedichten mit einem Protagonisten: B. Sie sind aus der Arbeit an Brunke hervorgegangen, doch die in Sprechsaal geplante Verkürzung auf das Initial spielt natürlich auch mit der Maske ,Brasch‘. B. sollte laut Thomas Wild „die Leser wie durch ein leeres Theater führen, ihnen die Türen […] öffnen, hinter denen dann Gedichte hervortreten, die die vielfältigen Denk- und Schreibräume Thomas Braschs vorstellen“.59 Und tatsächlich öffnen die B.-Gedichte thematische Blöcke und kommentieren sie zugleich auf irritierende und anregende Weise;60 ein Verfahren, das in Aufbau und Gliederung an Der schöne 27. September erinnert.
Doch neben der Anknüpfung an das frühere Werk zeigt die Auswahl in Sprechsaal auch eine Verschiebung in den Topoi: Der schöne 27. September präsentierte eine politische Analyse der Gegenwart als Fortsetzung der nationalsozialistischen Vergangenheit und hatte als zentrales Thema die Organisation der anpassungswilligen Bürger als Staat – auch die Liebes- und Künstlergedichte des Bandes verhandelten die nur noch momenthaft zu erreichende Verweigerung der ,Entindividualisierung‘. Sprechsaal hingegen umkreist zum einen intensiv den Bereich der Literatur (Dichter-Dasein, Schreiben, Künstlerfiguren oder das Theater), zum anderen die unauflösbare Einsamkeit in den Zweierbeziehungen. Provokant-aggressive politische Attacken im Stile des 27. September fehlen hier vollkommen. Nur wenige der Texte in Sprechsaal thematisieren die Zeitgeschichte, obwohl sich doch im Nachlass noch weitere Gedichte finden, die um das Ende der DDR und damit auch das Ende der Besonderheiten der geteilten Stadt kreisen – mal ironisiert („Ach, hätte der gute Herr Overbeck / mir verweigert das Jahr Neunundachtzig: / Dann könnt ich noch träumen: Berlin mein Versteck, / behütet, bewahrt und bewacht mich. / […] / Doch warten Sie ab: Durch Fernsehn und Zeitung / findet die Wiedervereinigung ihre Verbreitung.“),61 mal als tief melancholisches Fazit formuliert:

gemeinsam wird 1 Land begrabt
und einsam sind die Leute.

Ich war mein Land. Man hat uns weggeschenkt.
Wo schläfst du, DDR, ich habe mich verrenkt.
62

Doch die Erfahrung von Verlust und Scheitern, die aus der Mehrheit der Sprechsaal-Texte spricht, trifft wie das Scheitern an der Liebe, das im Mädchenmörder Brunke oder in zwei offne fenster verhandelt wird, eine politische Aussage, „mein private room ist auch mein public place“,63 eine Radikalisierung der Maxime, dass das Private politisch ist, charakterisiert Braschs ästhetische Reaktion auf die Wiedervereinigung und schlägt sich symptomatisch auch auf der biographischen Ebene nieder: in seinem Ringen um eine publizierbare Form für das unvollendbare Brunke-Projekt.

Hannah Markus, aus Mirjam Meuser, Janine Ludwig (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland Band II, fwpf, 201

 

Unordentliche Notizen

1981
Lieber Thomas: deine Augenbrauen.
In München treffe ich einen Freund, der komischerweise dieselben Augenbrauen hat und mich auch sonst an Thomas erinnert. Aber alles, was ich an Thomas schön oder auffallend finde und bei dem Freund wiederentdecke – erscheint mir bei dem Freund nicht im mindesten bemerkenswert. Was erzeugt dieses starke Bild, diesen Nachdruck, wenn ich an Thomas denke? Die Wut, die Paranoia, das ständige Türen- und Fensterschließen, die Lust am Geheimdienst und an Verschwörungstheorien? Oder daß er nicht anders kann, als am Morgen nach einer durchzechten Nacht wieder anzurufen, seine Art am Telefon „Hallo“ zu sagen, seine Sehnsucht, seine Sucht nach Sehnsucht…?

Thomas im Abstand von einem Tag: Du brauchst mir, was du über mich schreibst, nicht vorher zu zeigen. Wann zeigst du es mir endlich?

Er will mir den Schlüssel zu seiner Wohnung nun doch nicht geben. Angeblich hat er nur einen. Außerdem wolle K. noch aufräumen, wisse nicht, wann er wiederkomme etc. Gefragt, was er am Ende für Bedenken habe – entgegen seiner wiederholten Beteuerung, ich könne dort jederzeit wohnen, wenn ich es nötig hätte – kommt heraus: Er möchte seine Manuskripte davor bewahren, gelesen zu werden, von wem auch immer. Das verstehe ich. Aber – in his shoes – würde ich für das Problem eine andere Lösung finden. Die Manuskripte wegschließen oder mich auf die Versicherung meines Freundes verlassen, daß sie nicht gelesen werden. Bei den Freundschaftsbeweisen, die einen längeren Atem erfordern – gemeinsame Reise nach Italien, Skiferien in der Schweiz, einen langen Brief erwidern, eine Einladung oder einen Abschied ernst nehmen – bin ich meist enttäuscht worden. Hinreißende Absichtserklärungen – danach Pause.

Du gerätst immer mehr an den Rand
Mit dir kann sich niemand mehr identifizieren
Endlich zeigst du, statt auf der Woge zu schwimmen
Die Wunde!
Wirklich du wirst mir immer sympathischer
Wenn du dir jetzt noch dein Stammeln gestatten würdest
Wärst du ganz groß
Sagte der Freund umgeben von Frauen
Die Leitartikel über ihn lasen
Und zeigte mir seinen letzten Gedichtband
Mit der Hand die Banderole verdeckend
Hier spricht der Sprecher seiner Generation

Thomas fasziniert von der Dreckigkeit, vom „Fatalismus“ der Geschichte: Im Spanischen Bürgerkrieg verkaufte Stalin an Franco Panzertreibstoff. Die kommunistischen Hafenarbeiter von Marseille streikten und wollten das Benzin nicht verladen. Stalin schickte zwei GPU-Männer und ließ die Streikführer erschießen. Stalins Logik: die junge Sowjet-Republik muß ökonomisch erstarken, die französischen Kommunisten treiben objektiv Wirtschaftssabotage. Heute liefern die Sowjets Waffen nach Südafrika und an die antikommunistische Guerilla in Äthiopien.

 

1983
Thomas: als ich hier in dieser Wohnung, nach zehn Jahren Schreibtischarbeit, plötzlich merkte, daß ich am Fenster stand, auf den Verkehr heruntersah und dabei war, mir beim Anblick der vorbeifahrenden Autos einen runterzuholen, merkte ich: etwas ist falsch.

1994
Thomas abgemagert, angegraut. Seine Augen leuchten nicht. Wenn er jemanden nachäfft, egal wen, bedient er sich der Gestik der Debilen. Auch die Witze nicht mehr pointensicher, bzw. hundertmal erzählt. – Trotzdem rasch wieder die alte Vertrautheit. Spaß an seiner Monomanie. Er schreibt die siebte Version seines Romans über den Doppelmörder Brunke aus dem Jahre 1906. Erzählt die Geschichte jedem, auch wenn er sie nicht hören will: Freunden, Fremden, Huren, Polizisten. Öfter, will ich ihm glauben, sitzt er in einem Puff am Stuttgarter Platz in einem Hinterzimmer, trinkt einen Piccolo mit den Damen, schreibt, liest ihnen vor. „Ich glaube, ich bin dabei, die Familie neu zu erfinden.“

Die 10. Fassung seines Romans. Auf dem Tisch ein neuer Apple-Laptop, kniehoch auf dem Fußboden die Stapel von einem Dutzend verschiedener, ausgedruckter Fassungen. (Klaus Pohl hatte sich an dem Roman verhoben und sich einen Hexenschuß zugezogen. Er hatte Thomas angeboten, ihm beim letzten Umzug zu helfen. Thomas betraute ihn mit der Beförderung seines Brunke-Romans. Klaus traute seinen Augen nicht, als Thomas ihm drei Koffer zeigte – jeder seine dreißig Kilo schwer.) Wer schreibt auf dem Computer? Sekretärinnen, sagt seine Freundin, lange, blonde, hochbeinige. Thomas diktiert ihnen, und falls sie nicht da sind, diktiert er auf ihre Anrufbeantworter. Wunderschöne Sätze wie diesen: „Einen Fuß in die Tür stellen, hinter der ich mein Leben vermute“. Dann wieder Leerlauf, Wiederholung auf Dutzenden von Seiten, Angst vor dem letzten Satz.
Ich mache ein paar Vorschläge, wie man den Romanwust strukturieren könnte, laß uns drei Tage zusammensetzen. Thomas ist begeistert, aber dann weiß ich, alles, was wir heute sagen, ist morgen schon vergessen.
Später ein Reueanfall. Er habe einem seiner besten Freunde die Frau weggenommen. Nichts Neues, sage ich. Stimmt, aber ich hasse sowas! Er leidet unter seiner Amoral und pflegt sie. Ich hasse sie auch und profitiere. Er ist der unerschrockenste Gesprächspartner, den ich kenne.

 

1997
Thomas in seinem Zimmer: er kriegt den „Stern“-Artikel nicht hin. Mein Angebot, ihn zu redigieren, schlägt er aus. Scharrende, von Rauch und Suff wundgescheuerte Stimme. „Dein „Spiegel-Text war übrigens gut – bis auf ein Zehntel!“ Immer wieder dieselben, längst schimmligen Komplimente. Dein Plakat-Text im Kursbuch 16, Lenz im Warenhaus, etc. Implizit, seit damals nichts Gutes mehr. Wiederkehrende Sätze: Wir leben falsch, über das Wichtigste haben wir noch nicht geschrieben. Jede Nacht stellt er die Wohnung um – die Schriftstellerin über ihm in seiner letzten Wohnung tat dasselbe. Plötzlich Nierenschmerzen, Angst, zum Arzt zu gehen. Die Putzfrau, mit der er russisch spricht, hat ihm Gulasch gekocht. Wir gehen trotzdem runter in die Kneipe. Zwar hat er Schulden bei der Bank, dafür gibt er dem Bankdirektor Unterricht im Dichten.
Seine 68er Geschichten: vor der Verhaftung wirft er alle geklauten Bücher aus der Staatsbibliothek und seine „Spiegel“-Ausgaben in die Spree. Sie wollen nicht wegschwimmen, bleiben dick aufgebläht im Wasser vor ihm liegen. Er fischt sie wieder heraus und vergräbt den Papierberg. Schwer zu entscheiden, was Mythos, was Erinnerung. Er dreht den Lautstärkeregler bis zum Anschlag. Kinski liest Villon in der Zech-Übersetzung. Refrain: „das Bordell, in dem wir beide wohnen“.

1998
Seine verblüffende Präsenz, was Sprache und Literatur angeht, seine Genauigkeit selbst im Suff. Minutenlanges Extemporieren über deutsche Wörter wie „Kummer“, über den Unterschied zwischen „Furcht“ und „Angst“. Aus dem Stand zitiert er eine halbe Seite einer von Kleist verfaßten Ankedote, kommt von dort auf die deutsche „Lähmung“, ruft ein Hegelwort auf – die „Zugezogenheit des deutschen Gemüts“ –, ist schon bei Grimms Märchen – der deutsche Wald als „Ausgangsort deutscher Kultur“. Nun Hölderlin „O Volk, das du so blöde deine Seele leugnest“. Daß Jurek ihm das Wort „blöde“ einfach nicht glauben wollte. Wie er dann mit ihm um 5.000 DM wetten wollte und leider auf 100 DM runterging. Oder wie Jurek ihm den Titel – noch eine Wette – von Shakespeares What You Will nicht glauben wollte und auch diese Wette verlor. (Und ihm dann – „du schuldest mir übrigens noch 32 DM“ – exakt 68 DM ausbezahlte.) Eine schmale Entschädigung, findet er, für die Beleidigung, die in der Unterstellung lag, er wisse nach vier Monaten nicht mehr den Titel des Stücks, das er gerade übersetzte.
Dann seine Huren-Märchen. Lilo, die ihm einen kleinen Schreibtisch einrichtet. Er habe weite Teile seines Romans über den Mädchenmörder Brunke den Damen aus dem Etablissement vorgelesen und von ihnen die bisher sachkundigste Kritik erfahren. Seine beste Redakteurin – Lilo. Überall, abgerissen und mit Zweitagebart, ist er der Star. Erzeugt immer Bewegung, Unruhe, Empörung, Aufmerksamkeit allemal. Natürlich sucht er sich im Weinladen die entlegenste Flasche aus. Die Leiter, die aufgestellt werden muß, um den Grappa herunterzuholen. Immer der spezielle Wein, das spezielle Menü, nichts à la carte. „Herr Ober, andere Gäste bitte!“ sagt er in schönstem Ernst zu seinem Kellner und deutet auf den Nebentisch.

Er überlegt, ob er den Verlag wechseln soll. Er hatte den Lektor nach Wochen des Wartens, in denen er jeden Tag auf einen Anruf wartete, endlich an der Strippe. Ein windelweiches Lob am Telefon: etwas wie „ein insgesamt schöner und genauer Text“. Thomas stellt ihm eine Fangfrage: Wie finden Sie eigentlich diesen brachialen Wechsel der Erzähldramaturgie auf S. 168? Daß es plötzlich die beiden Mädchen sind, die den Mädchenmörder Brunke umbringen? Kurzes Zögern, dann die Antwort: Großartig, wirklich überraschend. Da wußte ich, sagt Thomas, daß mein Lektor den Text nicht gelesen hatte. Denn natürlich war nirgendwo von einem Mord der Mädchen an Brunke die Rede. Ist das etwa kein Grund, den Verlag zu wechseln? Noch ein Grund, den Verlag zu wechseln. Ein anderer Lektor habe ein Original-Manuskript mit dreihundert Gedichten mitgenommen und „verlegt“. Verleger „verlegen“ Manuskripte, und das in 95% der Fälle! Außerdem sei der Lektor nicht bereit gewesen, seinen Flug Thomas zuliebe um zwei Stunden zu verschieben – es gäbe schließlich noch andere Autoren. Ihr müßt euch klarmachen, daß ihr von uns lebt, wir – die Brecht, Weiss, Johnson, Brasch, ob groß oder klein – wir sind eure Arbeitgeber!
Und dann: Ich habe meine dreihundert Gedichte gelesen, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlecht sie sind, wie kitschig, pennälerhaft und pathetisch! Und diese Reime, o Gott, diese Reime.
„Ihr Westdeutschen“ – er benutzt diesen Ausdruck immer noch.
Irgendwann und aus anderen Gründen meine Gegenrede: warum mußt du von Kind auf immer alles zerreißen, zertrampeln, was dich wärmt. Ich weiß, dein Vater, das Gefängnis, dein Judentum, aber das alles sind doch Ausflüchte…
Er flippt aus. Vor die Tür gehen, die Sache auf der Straße klären. Trotz vieler Angebote seinerseits und prompter Bereitschaft meinerseits – wir haben uns noch nie geprügelt.

 

1983
Von Thomas diesen Traum: Ich blicke in den Nachthimmel und entdecke in der Gegend des großen Wagens ein W, dann weitere Buchstaben, die sich zu einem Kurzgedicht zusammensetzen (dessen Zeilen ich nicht mitgeschrieben habe, aber es waren gute Zeilen). Kurz darauf ist der ganze Himmel mit Buchstaben und Gedichten aus zart glimmenden Sternen bedeckt. Ich streite mit Thomas, welche Gedichte von ihm und welche von mir sind.

Peter Schneider, aus Martina Hanf und Kristin Schulz (Hrsg.): Das blanke Wesen Thomas Brasch, Theater der Zeit, 2004

 

 

Annette Maennel erinnert sich an Thomas Brasch und veröffentlicht bei weibblick.com die Episoden Wie ich Thomas Brasch kidnappte und Wie Thomas Brasch um meine Hand anhielt.

 

 

 

 

Kristof Schreuf: Wer durch mein Leben will

Jens Uthoff: Die Suche nach dem Woanders

Peter Nowak: Liederabend mit Thomas Brasch

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Hans-Dieter Schütt: Zu den Partisanen! Die es nicht gibt
neues deutschland, 19.2.2015

 

Lena Brasch liest Thomas Brasch zu dessen 70. Geburtstag am 19. Februar 2015 in der Rumbalotte Continua.

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Katrin Wenzel: Thomas Brasch: Ein Störenfried in Ost und West
mdr KULTUR, 19.2.2020

Nikolai E. Bersarin: Thomas Brasch zum 75. Geburtstag – Die Utopie des Augenblicks
bersarin.wordpress.com, 19.2.2020

Zum 20. Todestag des Autors:

Kai Pohl: Nur lange Fragen
junge Welt, 3.11.2021

Erik Zielke: Dankbar für die Widersprüche
nd, 2.11.2021

Joachim Dicks: Thomas Brasch – ein Schriftsteller im Niemandsland
ndr.de, 3.11.2021

Johanna Adorján Interview mit Marion Brasch – „Eine Fantasie über einen Mann, der mein Bruder war“
Süddeutsche Zeitung, 11.11.2021

Carolin Würfel Interview mit Lena Brasch – „Er hat die DDR gehasst und geliebt“
Die Zeit, 10.11.2021

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Internet Archive +
Kalliope +KLG + Interview
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotos +
deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Thomas Brasch: Berliner Zeitung 1 + 2 ✝
literaturkritik.de ✝ Der Freitag ✝ Neues Deutschland

Trauerrede von Fritz J. Raddatz am 21.11.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

 

In dem von Martina Hanf und Kristin Schulz herausgegebenen Band Das blanke Wesen Thomas Brasch finden sich Erinnerungen an Thomas Brasch u.a. von Josef Bierbichler, Ulrich Zieger und Friedrich Christian Delius. Und weitere hier.

 

Katharina Thalbach: Leben & Arbeit mit Thomas Brasch († 3.11.2001)

 

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin – Ein Abend für Thomas Brasch im Literaturhaus Leipzig.

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der große Brasch“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Brasch, der“.

 

Thomas Brasch in Interviews, Gesprächen und Szenen (u.a. mit Günter Grass, Tony Curtis und Katharina Thalbach).

 

Thomas Brasch ist gerade in Westberlin angekommen und Georg Stefan Troller begleitet ihn durch sein neues Leben.

 

Thomas Brasch’s Brandrede beim Erhalt des Bayerischen Filmpreises 1981.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 1/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 2/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 3/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 4/5.

 

Thomas Brasch-Interview 1988 Teil 5/5.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00