Thomas Irmer: Zu Allen Ginsbergs Gedicht „Schluß mit dem Größten Schwanz“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Allen Ginsbergs Gedicht „Schluß mit dem Größten Schwanz“ aus dem Band Allen Ginsberg: Der Untergang Amerikas. –

 

 

 

 

ALLEN GINSBERG

Schluß mit dem Größten Schwanz

Schluß mit dem größten Schwanz den du je gesehen hast.
3 Uhr morgens, Wohnzimmer erfüllt von Stille, gelb erleuchtet,
und hinter den Vorhängen New York, ein Fenster hell
im Rohbau eines Wolkenkratzers.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFotos des Weißbärtigen Swami,
Sein und Bewußtsein erfreuend, angeheftet ans Bücherregal
voll von Kosmischem Milarepa, William Blakes
Prophetic Writings, Buddhist Logic & Hymn to the Goddess,
und manch anderem verspielten Band östlicher Lehre, Lyrik-Scheiße;
Poe sah, wenn er nüchtern war, seinen weißen Totenschädel,
Stein wiederholte gelassen einen einzigen Gedanken: Making
Americans, an der Schwelle zum Zeitalter der Raumfahrt,
das Denken ausbleichend bis es ein transparenter Ort wird. Friede!
Schluß mit dem körperhaften Verlangen nach Schwanz, mit dem Zorn
der Busfahrer Präsidenten & Polizisten anschreit.
Bis ans andere Ufer gegangen, leeres Haus, keine Liebhaber
die unter Bettlaken leiden, ungezeugte Babies ruhig.
Ein Aufwallen, ein bißchen Wärme im Unterleib, der Bus
kommt ruckend zum Stehen hinter der roten Ampel, Müllautos
heben ihren eisernen Hinterbacken, abgestandene Soße & Blech-
dosen sinken in die Erde auf dem Flugplatz. Wälder am Stadt-
rand bewegen ihre Zweige im kalten Wind, in der Dunkelheit
unterm weihnachtlichen Mond.

Übersetzung Carl Weissner

 

Allen Ginsberg: Schluß mit dem Größten Schwanz

Als Allen Ginsberg (geb. 1926) Mitte der achtziger Jahre seine Collected Poems. 1947-1980 [Ges. Gedichte 1947-1980] in einem voluminösen Band herausgab, beabsichtigte er damit nicht nur die Zusammenschau seiner Dichtungen, sondern auch die Herstellung einer Autobiographie aus diesem Werk. Diese im Vorwort zuvörderst geäußerte Absicht darf, wie bei nur wenigen Dichtern sonst, vollkommen ernst genommen werden. Denn seine Texte sind aus seinem Leben und seinen Visionen entstanden, aus Liebe und Frustrationen, aus dem von ihm buchstäblich auf der ganzen Welt Erfahrenen wie aus dem Geträumten oder dem bloß zufällig Wahrgenommenen oder dem mit Lust Gelesenen. Ein Facettenreichtum also, der zweifelsohne die herkömmlichen Ebenen der Autobiographie sprengt und ihre scheinbare Ganzheit zerfallen läßt. Doch gerade hierin, in einer spätromantischen Haltung die Einheit von Leben und dichterischer Vision zu erreichen, lag von Anfang an eine Konsequenz, die dann zu einem bestimmten Zeitpunkt die amerikanische Lyrik der Nachkriegszeit revolutionierte, indem Ginsbergs Wirkung diese revitalisierte.
Geboren als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in Newark, New Jersey, war der junge Ginsberg im Amerika der vierziger Jahre, der Zeit des beginnenden Kalten Kriegs, nicht allein durch seine ethnische Herkunft sensibilisiert. Mit einem Vater, der auch nach den Moskauer Schauprozessen noch Kommunist war, und einer Mutter, die lange Zeit psychiatrisch behandelt wurde, war eine gesellschaftskonforme Identität im politisch erstarrenden Nachkriegsamerika schon von Hause aus kaum begünstigt. Andererseits mag Ginsberg mit diesen Voraussetzungen eines Außenseiters ungewöhnlich früh die Freiheit gefunden haben, sich zu seiner Homosexualität offen zu bekennen. Für sein Schreiben wie für sein später Jahrzehnte währendes Umherreisen, welches ja als der gelebte Ausdruck der nonkonformen Bindungslosigkeit gesehen werden kann, spielt dies als Anlage eine wichtige Rolle. Auch wenn er zunächst mit (disziplinbedingten) Unterbrechungen an der renommierten Columbia University in New York Englisch studiert, bis er kurz vor der Graduierung 1948 wegen Hehlerei in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird, um ihm als gutem Studenten das Gefängnis zu ersparen.
Das Studium der englischen Literatur zu einer Zeit, als die kalte Formstrenge des späten T. S. Eliot (1888-1965) zu herrschen begann, mit der die Theorie der Moderne als ,New Criticism‘ in den Seminaren endete, hat als Reibungsfläche gewiß zur Bildung von Ginsbergs literarischer Identität beigetragen. Seine Traditionslinie ist eine andere: der englische Romantiker William Blake (1757-1827), die Prosagedichte Rimbauds, die Langzeilengesänge Walt Whitmans. Dichtung real und visionär zugleich – und dem Leben zurückgegeben. Nicht, was damals üblicherweise gelehrt wurde.
Und auch sein Freundeskreis sieht in diesen späten vierziger und frühen fünfziger Jahren alles andere als akademisch aus. Er ist nur wenige Jahre später als Beat generation in die Literatur eingegangen: William S. Burroughs (geb. 1914), Jack Kerouac (1922-1969), der die erste Fassung von On the Road (1957; dt. Unterwegs) schon geschrieben hat; Gregory Corso (geb. 1930). Auch eine Bekanntschaft aus Paterson, New Jersey, wo Ginsberg zeitweise verschiedenen Jobs nachgeht, wird ihren Nachhall hinterlassen: William Carlos Williams.
Zeiten des Jobbens wechseln mit langen Perioden des Umherreisens (die schier unglaublichen Routen sind aus seinen Texten rekonstruierbar) und des Aufenthalts unter der Boheme in New York City, später dann sind die Anlaufpunkte auch in Kalifornien. Ginsberg schreibt Gedichte aus der unmittelbaren Erfahrung heraus, tagebuchartig, aber immer mit dem Anspruch, auch unter dem Einfluß von verschiedenen Drogen, diese Erfahrung zur Vision in einer ihr gemäßen Sprache zu gestalten. Aus dieser Haltung findet er seine Form des Gedichtes: lange Zeilen in langen Strophen, in denen das real Verarbeitete und das visionär Erlebte nur durch wenige syntaktische Mittel zusammengehalten werden und in deren Rhetorik das Alltägliche mit dem Feierlichen, aber auch dem Alptraumhaften zusammengehen kann. 1956 veröffentlicht Lawrence Ferlinghetti in San Francisco Ginsbergs Band Howl, and Other Poems (dt. Das Geheul u.a. Gedichte), dessen Titelgedicht in einem spektakulären und damit auch publicityträchtigen Prozeß als eine obszöne Anklage des modernen Amerika vor Gericht gebracht wird. Seither ist Ginsberg eine Berühmtheit. Ein häufig oberflächliches Bild, das sich allein auf diesen Text und die Umstände seiner Veröffentlichung beschränkt, wobei zu oft außer acht gelassen wird, welche neuen Ausdrucksformen und Inhalte dieses und viele andere Gedichte Ginsbergs und der Beats der amerikanischen Lyrik gewannen. Nicht nur in den USA wurde dies erkannt. In Deutschland trugen in den sechziger Jahren Rolf Dieter Brinkmann und der Übersetzer Carl Weissner zu einer intensiven und folgenreichen literarischen Rezeption bei. Und auch der Blick auf das vielseitige Gesamtwerk wird mit diesem einen spektakulären Fall etwas verstellt. Ganz zu schweigen davon, daß Ginsbergs Wirkung nicht nur eine Frage der literarischen Rezeption seiner frühen Gedichte geblieben ist, wenn er Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre engagiert gegen das Wiederaufleben fundamentalistischer Zensurbestrebungen in den USA auftritt.
Das abgedruckte Gedicht, vom 14. Dezember 1966 datiert, stammt aus einer Zeit, als Ginsberg ausschließlich in den USA umherreiste. Es wurde zuerst in dem Band The Fall of America: Poems of These States (1972; dt. Der Untergang Amerikas: Gedichte 1965-1971) veröffentlicht und gehört in der autobiographischen Aufarbeitung in Collected Poems zu einer größeren, als „Cross-country Auto Poesy chronicle“ (etwa: Chronik meiner Überland-Dichtung) bezeichneten Gruppe von Gedichten. Hier geht es um eine zeitweilige Rückkehr nach New York, was für die Stimmung des Gedichts wichtig ist. Einmal wegen der Atmosphäre der Stadt, zum anderen weil es wohl der Ort ist, an dem Ginsberg sich in seinem rastlosen Leben am längsten aufhielt und wo er wichtige und langwährende Freundschaften schloß.
Der Gestus ist in den Anfangszeilen tagebuchartig. Zunächst wird eine Stimmung beschrieben, die sich allein aus der Nachtzeit und der Beschreibung der Örtlichkeit zu ergeben scheint, wobei im elektrisch erleuchteten Raum die Stadt durch Vorhänge verdeckt ist. Der erste Satz ist irritierend als Eröffnung dieser Stimmung, zugleich aber der einzige Schlüssel zu ihrem Verständnis und den anschließenden Gedanken und Bildern. Der inneren Leere nach dem Onanieren, das, unterstützt durch das schon im Titel gegebene Bild von einem besonders großen Schwanz, ein besonders großes, visionäres Verlangen mitteilt, folgt eine ernüchterte Aufzählung von einem Foto und Buchtiteln auf dem Regal, die für Ginsbergs Denken und Fühlen maßgeblich sind – buddhistische Lehren und deren Poesie, Blakes Schriften. Diese sprechen von einer idealen Einheit von Körper und Geist im Verlangen wie im Streben. In dieser Stimmung wirkt deren Vision jedoch um so frustrierender („Lyrik-Scheiße“), und die Gedanken gehen zu amerikanischen Dichtern, deren dichterische Visionen zu Lebzeiten tatsächlich von der Umwelt frustriert wurden und deren Lebensumstände oft frustrierend waren: Edgar Allan Poe (1809-1849) und Gertrude Stein (1874-1946). Beide auch zu ihren Zeiten Erneuerer der amerikanischen Lyrik. Unvermittelt wird Steins The Making of Americans (entst. 1906/08, gedr. 1925), zugleich auch eine Anspielung auf die ,Geburt der Amerikaner‘, mit der ,Schwelle zum Zeitalter der Raumfahrt‘ in Beziehung gesetzt. Die sechziger Jahre waren voll von einer überschwänglichen Raumfahrtrhetorik, vor allem in der Politik, die damit technologischen Fortschritt noch zu rechtfertigen wußte: Die weiteren Bilder sprechen aber vom Ende der Liebe, gewissermaßen auch vom Ende aller körperlichen Liebe – „Schluß mit dem körperhaften Verlangen nach Schwanz“, „keine Liebhaber / die unter Bettlaken leiden“ – und greifen damit wieder die Ausgangssituation des Gedichts wie ein nun zerstörerisches Verlangen auf. In den folgenden Zeilen ist die Sexualmetaphorik des visionären Zeugens auf rein technologische, zudem tote, unfruchtbare Prozesse der Großstadt verschoben, die nun in der nicht mehr verhangenen Stadt aus dem Fenster beobachtet werden:

Müllautos
heben ihren eisernen Hinterbacken, abgestandene Soße & Blech-
dosen sinken in die Erde auf dem Flugplatz.

Nur am Stadtrand verharrt die Natur als Wald „in der Dunkelheit unterm weihnachtlichen Mond“, ein Bild, das auch auf die ,Geburt‘ der christlichen Gesellschaft verweist, deren düstere vorweihnachtliche und einsame Großstadtkälte Ginsberg in dieser Nacht des 14. Dezember 1966 beschreibt.
Das relativ kurze, scheinbar unzusammenhängende, von knappen Eindrücken durchbrochene Gedanken notierende Gedicht erweist sich als eine komplexe Vision, die aus einer nahezu alltäglichen Frustration heraus entwickelt ist. In diesem Sehen, und wie es im Zusammenhang der Stimmung, Gedanken und Bildmotive gestaltet ist, zeigt sich das charakteristische Moment von Ginsbergs Dichtung, die sich mit schonungsloser Offenheit aus seinem Privatesten in den offenen Raum der Gesellschaft begibt. Außerdem liefert dieser Text mit den Hinweisen auf Blake und den Buddhismus einige von Ginsbergs poetologischen und philosophischen Ansätzen, und man sollte sich auf eine vermischte Rhetorik aus Vulgarismen, originären Bildern und philosophischen Verweisen zugleich durchaus einlassen bei diesem Dichter.

Thomas Irmer, aus Peter Geist, Walfried Hartinger u.a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Lyrik der Moderne, Volk und Wissen Verlag, 1992

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00