Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee

Rosenlöcher-Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee

EINES TAGS sind unsre Nasen
staunend emporgerichtet,
da wir noch immer leben
und unsere Kinder auch.
Denn in den Vorgärten ist ein Geschrei
verwilderter Blumen über den Zaun,
und über der alten Zeit
gehen die Kindeskinder,
winkend, auf gläsernen Wegen,
unter den Lichtwasserfällen.

 

 

 

Schlußnotiz

„Nun, junger Mann, haben Sie etwas Neues geschrieben?“
„Wieso?“
„Man hat ja recht lange nichts Neues mehr von Ihnen gehört.“ –

Andauernd soll unsereins etwas Neues schreiben. Und immer fragen einen die, die das Alte auch noch nicht gelesen haben. Und das Neue natürlich auch nicht lesen werden, das bald wieder das Alte ist, so daß sie einen erneut nach etwas Neuem fragen können, bis man gestorben ist.
Freilich, auch unsereins liest lieber etwas Neues von sich. Zumal die vorliegenden Gedichte mit dem Wegfall der DDR nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben; ein, nicht umsonst vom Untergang ganzer Bibliotheken begleitetes, Verschwinden des ursprünglichen Bezugssystems, das für den Verfasser nicht ganz so überraschend gekommen wäre, wenn wenigstens er seine alten Sachen einmal gelesen hätte. – Jedenfalls scheinen sie ihn unterdessen, als Zickzackbewegungen einer Sinnsuche zwischen Veränderungshoffen und Zerstörungsangst, schon hinter sich gelassen zu haben: Indem er glücklich im Westen ankam, von etlichen Repressalien befreit; wie überhaupt von der Geschichte bisher erstaunlich glimpflich behandelt. – Doch halt, so völlig anders sind die Zeiten nun auch wieder nicht. Der hochfliegende Satz, daß der Einzelne Subjekt der Geschichte werden solle, klingt immer noch wie Hohn. Und auch die Zerstörungen gehen weiter, wenngleich mit bedeutend verbesserten Mitteln: so daß die sinnsucherischen Zickzackbewegungen vielleicht doch fortgesetzt werden wollen; und sei es auch nur als erneute Vergegenständlichungsarbeit. – Was aber die Bibliotheksuntergänge betrifft, so ist doch die Tatsache tröstlich, daß es die Kategorie des Vergessens unterdessen kaum noch gibt; weil, was nicht wahrgenommen wird, auch nicht vergessen werden kann. –

„Ob es was Neues gibt von Ihnen!“
„Aber gewiß, gleich, gleich.“
„Ach, wissen Sie, eigentlich wird viel zuviel Neues geschrieben.“

Thomas Rosenlöcher, Nachwort

 

Inhalt

Dieser Lyrikband Thomas Rosenlöchers wurde aus den beiden bereits zu DDR-Zeiten erschienenen Bänden Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz und Schneebier zusammengestellt. Etwas vom Damals ins Heute retten, das will Thomas Rosenlöcher mit dem vorliegenden Band, dessen Gedichte mit dem Wegfall des alten Staates nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben – und plötzlich gelten sie auch für heute. Humorvoll bis sarkastisch, mit Ironie und nicht unkritischem Auge betrachtet Thomas Rosenlöcher sich, den Zeitgenossen im Umbruch, seine Umgebung, und immer wieder wandert sein Blick auch nach oben – der Himmel über Sachsen ist der Himmel über der Welt.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

„… und bei mir sprach: man muß bescheiden sein.“

Leer waren die Dichterschubladen der einstigen DDR, als die Mauer fiel. Keine verstohlenen Ritzen, in der die heimliche, unterdrückte, große Literatur überwintert hätte. Und auch der große Wenderoman, den die Kritik förmlich herbeizuzwingen suchte, blieb aus. Die Nischen des ach so grauen Alltags im realen Sozialismus, die wurden dafür, je länger er tot war, nur um so größer. Und als dann der Eiserne Vorhang in Gespensterform zurückkehrte, als „Mauer in den Köpfen“, da mochte man meinen, nichts als Nischen, umrahmt von Stacheldraht und ein paar bösen Buben, sei der Sozialismus gewesen. Die idyllischste aller staatsfreien Zonen der DDR, die lag dem Schloß Pillnitz gegenüber, auf der anderen Seite der Elbe, am südöstlichen Rand Dresdens, genauer: in Kleinzschachwitz. Hier, in einen verwilderten Garten um eine unter den Zähnen der Zeit ächzenden Villa der Jahrhundertwende herum, hier hatte die ästhetische Moderne keinen Einzug halten können. Hier klang Eichendorffs Zwiesprache mit Baum und Blüte beinahe ungebrochen fort; hier war Brockes inniger Glaube an die unscheinbare Kreatur noch nicht ganz tot; Klopstocksche Rhythmen erfüllten das Gezweig, Serenaden aus dem Hause Carl Maria von Webers klangen vom anderen Elbufer her noch immer herein, und über alles hielten Engel ihre schützende Hand – aus Versen Rilkes und Albertis herübergesprungen. Hier hatte für eine Reihe von Jahren, bis die Krake des Kapitalismus in Gestalt von „Modernisierungsmaßnahmen“ heranrückte, der Dichter Thomas Rosenlöcher sein Domizil. Als er 1982 debütierte – wie sich versteht, hieß sein erstes, kleines Bändchen Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz –, stand er bereits weit in den Dreißigern und hatte eine durchaus tüchtige DDR-Jugend hinter sich, ABF, „Ehrendienst“ bei der NVA und SED-Mitgliedschaft inklusive. Für ihn hatte sich der reale Sozialismus mit dem Einmarsch in Prag seinen Totenschein ausgestellt. Protest war seine Sache nicht, der laute, gefährliche und kämpferische schon gar nicht. Daß Rosenlöcher als Endzwanziger noch einmal studierte und diesmal nicht Betriebswirtschaft, sondern Literatur, ist der Fingerzeig, wohin sein Rückzug ging (nach einem „absoluten Tiefpunkt in meiner Biographie“, der Nicht-Verweigerung einer Petition an den Staatsrat für die Ausweisung Biermanns, verfaßt von seinem Lehrer Max Walter Schulz). Die Blankverse zu Beginn seines Bändchens machten es dann unmißverständlich:

Im Garten sitze ich, am runden Tisch,
und hab den Ellenbogen aufgestützt,
daß er, wie eines Zirkels Spitze,
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Ein Baum umgibt mich.

Doch die Irrwege der Welt sind nicht verbannt aus dem poetischen Paradiesgärtchen, Gefährdungen lauern an den Pforten – und treten ein, zuerst als Irritation des Metrums, dann in einem kleinen, merkwürdigen Adjektiv:

Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün,
und langsam steigt das blütenreiche Meer
des frühen Jahrs. Die Vögel brülln wie irr.

Die fallenden Blütenblätter werden Schnee, doch die „Äste triefen schwarz“ und plötzlich ist aus dem wohligen Ein- ein Ausgeschlossensein geworden:

und von der Straße her kommt ein Geräusch,
das war mein Leben. Plötzlich
bin ich Luft
[…].

Die Mitte der Welt ist keine mehr, die Ferne lockt nun von jenseits der Landesgrenzen. Doch ohne seinen Garten mag der Dichter nicht fort. Als Trost bleibt märchenhafte Innigkeit:

[Ich] rede zu dem Baum,
ob er nicht doch die Länder wechseln könnte,
sein unerhöhtes Blühen aufzuführen,
wo einer noch mit seinem Ellenbogen
den Mittelpunkt der Welt markiert.

Hundert Weisen hat Rosenlöcher gefunden, um in seinem Refugium, das nicht weiter reichte, als spazierende Beine tragen können, nicht zu ersticken; um wenigstens im Vers hinaus in die weite Welt zu gelangen, ohne gleich in die Schlingen der Staatsapparaturen zu geraten – burleske Weisen mitunter, märchenhaft verspielte, schelmische, gelegentlich auch kalauernde. In hundert Arten weiß er seine Hingabe an die altehrwürdigen Metren und Formen mit dem, mal liebevoll, mal trotzig, im Alltagsding der Gegenwart versunkenen Blick zu brechen: Das Kleinste kann launisch, augenzwinkernd und doch nicht unernst in höchsten Tönen besungen werden, im Odenton zum Beispiel ein Bröckchen hundsgewöhnlicher „Seife, dich an mich verschwindend schwindest du an mir“. Auf den Spuren von Rabelais läßt er seine Beine – „O rasende Zellteilung“ – kilometerweit herauswachsen, bis sie die Hauptstadt bedrohen, und endet in der für ihn so kennzeichnenden sanften, verspielten Ironie:

Doch eh man meine weitgereisten Füße
absprengte, knapp vorm Brandenburger Tor,
geschahs, daß sie von selber stillestanden,
da ich in jenem Garten in Kleinzschachwitz,
in jenem Grün von nie gesehenem Ausmaß,
wo ich nachdachte über die Belange der unerhörten Rose und des Staats,
in Anbetracht des großen Trösters Himmel, den Finger an die Nasenspitze legte
und bei mir sprach: man muß bescheiden sein.

Es liegt eine Genauigkeit im Umgang mit dem Metrum in diesen Versen, eine ganz eigene, zart-innige Melodik, die man nicht mehr für möglich hielt. Von einem frischen, doch melancholischen Humor, der sich die Freiheit zum Ulk nicht verbieten läßt, sind sie durchwirkt, und so sind diese Gedichte, obgleich keine noch so bescheidene modernistische Dichtmanier Einzug hält, etwas anderes als das übel beleumundete DDR-„Biedermeier“ (Raddatz): Rosenlöcher kehrt nicht den Stürmen der Moderne den Rücken zu, um die kalten Winde des realen Sozialismus ungestraft zu überstehen – umgekehrt: Längst Totgesagtes überlebt, weil es dem Ich die Freiheit verleiht, die große Welt hineinzulassen, wann und wie es will und so nur um so sicherer der politischen Welt den Spiegel vorhalten kann. Nicht Willkür, sondern äußerste rhythmische Disziplin macht, daß das Ich blitzschnell zwischen Intimität und Komik, Hohn und Ulk, Pathos und Banalität zu modulieren vermag (und so „All“ sich mit „Haarausfall“ reimen zu lassen), ohne aus seinem Ton zu fallen. Rosenlöcher nimmt die Herausforderung der Geschichte an, doch ist seine Antwort die eines trotzig produktiven Ausharrens. Ein Leichtes ist ihm, Splitter von Spott auf die graue Funktionärswelt in seine wohlmetrisierten Zeilen einzulagern, an so überraschender Stelle bisweilen, daß „Lenin zwischen den Rabatten / auch nur ein König von Preußen“ genannt werden kann, ohne der Zensur zum Opfer zu fallen. „Der Mutschöpfer“, lange vor dem Mauerfall in Blankverse gebracht, „sieht die Weltgeschichte. / Die geht immer wieder schief.“ Daher bescheidet er sich mit dem Frühlingsgrün am Gartenzaun, erfreut, wie „Krokus zart die harte Erde bricht“. Doch wieviel Drohung liegt in seiner Quintessenz: „Vorerst noch verzichte!“
Wie das erste, so wurde auch ein zweites Bändchen mit Versen – Schneebier, 1988 – in der DDR mit bescheidenem Wohlwollen bedacht und in der Bundesrepublik überhört (mit Ausnahme Alexander von Bormanns, der dem Dichter mit einem Stipendium einen ersten Aufenthalt im Westen ermöglichte. Das Gedicht „Der Paßgänger“ erzählt gelassen von den neuen Ausblicken, die das brachte und die doch wenig zählen gegen die Freude, wieder daheim zu sein in der „grauen“, aber geliebten „Geometrie“ Dresdens). Eine erste Ausgabe im Westen ging in den Wirren der Vereinigung unter, doch 1990 fand dort ein erster, künstlerisch eher anspruchsloser, doch im Ton sich wohltuend vom Einheitsjubeln unterscheidender Prosaband Gehör. Ein zweiter Prosaband, nicht schlechter aufgenommen als der erste, ließ einen ins 20. Jahrhundert versprengten Abkömmling des empfindsamen Yoricks auf dem Brocken herumirren, ganz ungeniert am dort abgelagerten Traditionsballast vorbei. Ein drittes Prosabüchlein kehrte unterhaltsam, mit dem Rosenlöcher eigenen Humor und der ihn auszeichnenden Insistenz auf dem konkret Erfahrenen, noch einmal zu den Querelen ostdeutscher Befindlichkeit zurück. Dort finden sich schelmische Episoden aus der NVA-Zeit, die sich wie verspätete Kommentare zum frühen Gedicht „Übung“ ausnehmen. Auch der „Nickmechanismus“, der nach früheren Versen die DDR-Untertanen „zusammengefaßt [hat] / in einem System von Semmelgesichtern“, wird in burlesken Episoden noch einmal vorgeführt. Sticheleien und Seitenhiebe auf westdeutsche Konsum- und Eroberermentalität bildeten dabei das Gegengewicht, und sie zieren auch einen dritten, 1996 erschienenen Gedichtband, der das Ich zwar – naturgemäß – vermehrt auf Reisen schickte, doch im Fundament nur verfeinerte, kräftiger und variabler instrumentierte, was im Jahrzehnt zuvor entwickelt worden war: Das Verschwinden des stalinistischen Korsetts vermochte vorerst nicht, den Dichter davon zu überzeugen, daß man jetzt nicht mehr von Organisten oder Großvätern, die im Himmel spazieren, dichten dürfe, daß ein Wort wie „Zickzacksmaragd“ im ernsten Gedicht nichts zu suchen habe, daß es unzeitgemäß sei, „Herr Brockes sitzt am Fenster“ zu dichten, und hoffnungslos altmodisch fortzufahren:

Der Diener klopft an, bringt den Gottesbeweis
im Wasserglas, einen Kirschblütenzweig

Nein, die „Wende“ vermochte den Dichter Rosenlöcher nicht zur Umkehr zu bewegen, und so ist es nicht überraschend, daß ein neuer Band mit Gedichten, den der Suhrkamp Verlag vorlegt, kein neuer ist, sondern eine – in Kleinigkeiten überbearbeitete – Auswahl aus den ersten beiden Bändchen. „Andauernd soll unsereins etwas Neues schreiben. Und immer fragen einen die, die das Alte auch noch nicht gelesen haben. Und das Neue natürlich auch nicht lesen werden, das bald wieder das Alte ist“, rechtfertigt sich eine kleine „Schlußnotiz“.

Freilich, auch unsereins liest lieber etwas Neues von sich. Zumal die vorliegenden Gedichte mit dem Wegfall der DDR nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben; ein, nicht umsonst vom Untergang ganzer Bibliotheken begleitetes, Verschwinden des ursprünglichen Bezugssystems.

Und in der Tat, das „Bezugssytem“ der DDR-Lyrik der 70er und 80er Jahre, in das die nun wiederveröffentlichten Arbeiten hineingedichtet wurden, ist nur noch Spezialisten erinnerlich. Karl Mickels „Der See“, auf das uns eine kleine Anmerkung zum Gedicht „Die Entleerung“ als parodiertes Urbild hinweist, ist da wohl noch die Ausnahme. Wem aber stünde heute noch Peter Gosse vor Augen, wenn ein Rosenlöcher-Gedicht „Dädalus“ im Jetzt und Hier vorbeifliegen läßt mit allen möglichen anderen Vögeln (zumal keine Anmerkung hierauf verweist)? Uwe Greßmann, Endler, Kunert, Kito Lorenc, Volker Braun, Czechowski, sie alle klingen an in diesen Versen, denn alle waren Teil des halblauten Gespräches für Eingeweihte, das die DDR-Lyrik auch war. (Die Konversationsfäden, die Rosenlöcher aufnahm und fortspann, wurden dementsprechend von den anderen ihrerseits aufgenommen.) Schöner als in den Versen Rosenlöchers, die kunstbewußt und doch unbekümmert mit Blankvers und Hexameter, mit Moritatenzunge und hohen Tönen der Ode oder sogar der Bibel („Und siehe:“) daherkommen, anrührender könnten wir nicht daran erinnert werden, wie lebendig dieser dem öffentlichen Gedächtnis entschwundene Diskurs war. Nur unseren gewohnten ästhetischen Blick, geschult am linearen Bild der Moderne, den müssen wir aufgeben, wollen wir diese Poesie neu entdecken.

Sebastian Kiefer, Berliner LeseZeichen, Heft 2, 1999

Thomas Rosenlöcher in seiner jugendlichen Lyrikpower!

Der Gedichtband ist ne Zusammenstellung aus den beiden Gedichtbänden, die von Rosenlöcher noch in der DDR erschienen sind. Weggelassen hat er wohl die nicht ganz so tollen und ein paar „rote“ Gedichte. Der Autor hat ne Entwicklung durchgemacht. Hatte er anfangs noch an den Pseudosozialismus in der DDR geglaubt, so änderte sich das später. Die Gedichte in diesem Buch sind größtenteils klasse. Thomas Rosenlöcher in seiner jugendlichen Lyrikpower! Sein nächster Band, Dresdner Kunstausübung, der nach der Wende rauskam, hat mir zwar auch gefallen, aber ich hatte den Eindruck, dass der Autor hier mehr oder weniger mühselig nach Themen suchte, die Vergangenheit abgraste, weil sich in der Gegenwart nicht genug ergab. Aber, wie bereits gesagt, ganz anders in diesem Gedichtband, den ich sehr empfehlen kann!

Carolina „Carol“, amazon.de, 11.1.2012

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Michael Rutschky: Welcher Dichter ich gern wäre. Eine Wanderung durch neue Lyrik
Merkur, Heft 600, März 1999

 

Staat und Rose

– Laudatio auf Thomas Rosenlöcher zum Erwin-Strittmatter-Preises des Umweltministeriums des Landes Brandenburg 1996. –

Schon wieder ein Sachse. Und noch dazu einer, der aus seiner Herkunft kein Hehl macht. Der Beliebtheitsgrad des Sächsischen außerhalb der Landesgrenzen läßt seit Franz Grillparzers Schmäh zu wünschen übrig. Späterhin haben vornehmlich Männer der Politik, die sich nach Berlin abordneten, dafür gesorgt, daß den Kabarettisten der Stoff nicht ausging. Kurz und schmerzlich, die Hochachtung vor der meißnischen Kanzleisprache, wie sie Martin Luther hegte, ist längst gekippt worden. Weshalb aber kamen in den zurückliegenden Jahrzehnten so viele Lyriker aus Dresden und dem sächsischen Umfeld? Auffallend viele. Ob dies dem Sättigungsgrad des kulturell gedüngten Bodens oder der Stellung der Gestirne zuzuschreiben ist, ob sich der Sensibilitätskoeffizient unter bestimmten, zum Beispiel repressiven Auspizien verdichtet oder ob dies schlicht den Hebungen und Senkungen beidseits des Elblaufs geschuldet ist, soll hier nicht ausgeforscht werden. Es wäre freventlich, ausgerechnet hier Saxophilie treiben zu wollen. Auch das Hohelied auf eine sächsische Dichterschule, aus der, wenn die Legende so fort und fort wuchert, bald die komplette ostdeutsche Lyriker-Mannschaft hervorgegangen sein wird, soll hier nicht angestimmt werden.
Nein, die Rede müßte sich, der Preis legt dies nahe, weit eher um die Frage drehn, wo und wie sieht sich Thomas Rosenlöcher in der Welt um. Worauf baut er in seinen Gedichten? Was um alles in dieser Welt, die nur aus der Umwelt des Menschen zu bestehen scheint, verhilft ihm zu dem Weltvertrauen, noch und immer wieder auf Gedichte zu setzen?
Das Werk läßt sich klar nach Genres trennen und ist somit überschaubar. Neben einigen Kinderbüchern und Hörspielen stehen drei Gedichtbände und zwei Prosabücher im Mittelpunkt des bisherigen Schaffens. Nicht zu vergessen die weit verstreute Publizistik, deren Bündelung bevorsteht. Herausgehoben aus diesem Streugut sei die rückblickende Selbstbefragung „Der Nickmechanismus“. Ein Vortrag innerhalb der Redenreihe Kulturort Nutte Europa, veranstaltet von der Leipziger Freien Akademie. Vorerst nachzulesen im Reclam-Sammelband Das Vergängliche überlisten. Rezensent Heinrich Vormweg hebt an:

Der Dichter Thomas Rosenlöcher aus Dresden hat einen Hang zur Selbstentlarvung.

Wie auch immer gemeint, der ungute Beigeschmack bleibt. Vielmehr ist Rosenlöcher ein Selbstbekenner, der sich nicht scheut, in den Spiegel zu sehen. Er zieht alle Register, um das Komische an und in sich richtig komisch finden zu können. Diese konterkarierenden Brechungskünste und Gefühlsmischungen zeichnen auch den Lyriker aus, so sehr, daß er sich unverwechselbar gemacht hat. Mit Auskünften zum literarischen Werdegang ist er, bislang jedenfalls, eher zurückhaltend gewesen. Um so dankbarer greife ich zu einer beiläufigen Passage, die sich in der Selbstbefragung findet. In Kapitel 33, das vom Ein-Nicken als eine der vielen Formen des Nickens handelt, ist von der Vorlesungsmüdigkeit die Rede, die dazu verführte einzunicken:

Und doch verdanke ich – denn immer kann der Mensch nicht schlafen – gerade dem tonnenweise auf die Studentenköpfe herabgewälzten Sprachmüll, daß ich mich zu wehren begann; unbewußt eine Gegensprache suchte; Individuation. Las, meist Sachen außerhalb jeder Politik: Mörike, Eichendorff, den Anti-Becher Bobrowski, Rilke natürlich und Hölderlin. Schwänzte wochenlang die Uni, versuchte Gedichte zu schreiben. Setzte damit jenen Teil meiner Biographie fort, der nicht zu verstaatlichen ist, nicht einmal nachträglich und auch nicht durch mich selbst.

Die Geburt des Poeten im Hörsaal. Wenn das keine plausible Erklärung ist, weiß ich nicht.
Rosenlöcher hatte nach dem Studium der Betriebswirtschaft und einigen Jahren Praxis als Ingenieurökonom nochmals drei Jahre studiert, „auf Schriftsteller“ am Institut für Literatur in Leipzig. Sein Formbewußtsein und die explizite Beherrschung von lyrischen Stilmitteln läßt die Vermutung zu, daß er zumindest im Lyrikseminar nicht zum Einnicken verführt, sondern mit Rüstzeug versorgt worden ist. An die Öffentlichkeit trat er erst 1982 als Fünfunddreißigjähriger mit dem Band Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz. Der programmatische Titel sprach sich rasch herum und blieb im Gedächtnis. Er ist weit mehr als nur trotzige Ortsbestimmung und biographischer Verweis. Wie andere wußte auch er aus der Not eine Tugend zu machen. Wenn schon nicht die große Welt zu besichtigen ist, dann wird das Mikroklima um so subtiler ausgeforscht. So wird der vorstädtische Villenort Kleinzschachwitz, der ebenso Zitzschewig, Zschieren oder Pratzschwitz heißen könnte, zum Mittelpunkt der Welt erklärt. Der Ellbogen des Stützarms gilt ihm dabei als Zirkelspitze. In dieser adaptierten Haltung wird der Leser seiner Gedichte ins Bild gesetzt, das auf Walther von der Vogelweide verweist:

Ich saß auf einem Steine
und deckte Bein mit Beine;
den Ellenbogen setzt ich auf
und schmiegte in die Hand darauf
das Kinn und eine Wange.
So grübelte ich lange,
wie in der Welt man könnte leben…

Wie in der Welt man könnte leben? Wie leb ich hier? Um diese Frage kreisen Rosenlöchers Gedichte. Das Gedicht „Der Wald“ aus dem Band Schneebier variiert das Grundmuster:

Ich saß auf einem Stumpf in der Natur.

Der Zirkelschlag reicht bis nach Goppeln, ein Dorf, nach dem sich Ende des vorigen Jahrhunderts eine auf Pleinair approbierte Malerschule genannt hatte, bis an die Lustwandelorte der Dresdner, nach Moritzburg, vor allem aber schließt diese kleine Welt die Kulturdörfer Pillnitz und Hosterwitz ein mit ihren sanften, noch immer romantischen kleinen Gründen, die allemal der Elbe beispringen. Carl Maria von Weber, Ludwig Richter und seine Schülerschar hatten in dieser Gegend das Romantische in der Landschaft als ästhetischen Wert entdeckt und gepriesen. Dieser Lebensbereich wird von der Elbe dominiert. Der vornehmlich von den Industrieorten Heidenau und Pirna mißbrauchte Strom sensibilisierte das ökologische Denken und Gewissen der Anlieger, allerdings erst, als ihr Strom bereits zur Kloake heruntergewirtschaftet worden war, als Rohr an Rohr Giftfracht in den Fluß leitete, weithin ungebremst, zumal sich die wie Kanonenrohre militant gestreckten Batterien nur bei Niedrigwasser verrieten. Umwelt überall. Das Kleinteilige verführte zum genauen Hinsehen und schärfte den kritischen Blick. So kann man den Gedichten größtmögliche Glaubwürdigkeit geben. Ohne auf Dokumentation von Verfallsstadien natürlicher Lebensräume aus zu sein, leben die zu Gleichnissen verdichteten Texte von ihrer Genauigkeit im Detail, von der gewissermaßen Beweiskraft ausstrahlt.
Von dem Debütband an zählt Rosenlöcher als einer mit eigener Stimme. Er wurde sogleich wahrgenommen. Und dabei ist es geblieben. Mit dem zweiten Band Schneebier (1988) vermochte er noch draufzusetzen. Sowohl durch sprachlich, lyrisch gebändigte Verse als auch durch Bekennermut gegenüber den innerweltlichen Zeitläuften, die wie die Elbe längst tot sind, aber die Eigenheit haben, dennoch fortzulaufen. Totes Fließen. Thematisch war sein Terrain weithin abgesteckt. Indem er den Grund, auf dem er stand, lag, saß, ging, ausgeforscht hatte, war er auch zu sich selbst gelangt, hatte erfahren, wer er eigentlich ist, was in ihm steckt an Möglichkeiten kreativer Modulation. Auf das Modulieren war es ihm dabei besonders angekommen. In der jüngst erschienenen dritten Sammlung Die Dresdner Kunstausübung (1996) kehrt er nach unruhigen Umbruchjahren zur Lyrik zurück. Das Dresdnische, wiederum als Fahnenwort gesetzt, hier stehe ich, ich kann nicht anders, aber bereichert um Reiseerfahrungen, um Ausbrüche ins Weltläufige, wie sie nach dem Verschwinden des Staates DDR, als wär dies Gebilde ein Bovist gewesen, samt aller restriktiven Eingrenzungspraktiken, möglich bis notwendig geworden sind. Dazwischen liegen zwei Prosabücher, die für Popularität im zweigeeinten Deutschland sorgten. Einmal das Tagebuch Die verkauften Pflastersteine, in dem Rosenlöcher als Augenzeuge nächster Nähe festgehalten hat, was vom Herbst 1989 bis zum Frühjahr 1990 tatsächlich geschah, als sich im Tal der Ahnungslosen plötzlich Weltgeschichte unerwartet revolutionär abspielte. Zum andern Aufzeichnungen von einer Harzreise auf Heinrich Heines Spuren: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Am Tag, als die harte D-Mark auch im Osten Deutschlands verbindliches Zahlungsmittel wurde, setzte sich der Fußgänger in Bewegung. Beide Bände bleiben hier schnöderweise außer Betracht.
Ehe ich nun auf den Naturbezug in den Gedichten Thomas Rosenlöchers komme, erlaube ich mir einen Rückgriff auf das Zentralwort „Natur“. Jean Paul muß noch guten Grund gehabt haben, mit beschwörender Gewißheit ausrufen zu können:

Hohe Natur, wenn wir dich sehen und lieben, so lieben wir unsere Menschen wärmer; und wenn wir sie betrauern oder vergessen müssen, so bleibst du bei uns und ruhest vor dem nassen Auge wie ein grünendes abendrotes Gebirge. Ach, vor der Seele, vor welcher der Morgentau der Ideale sich zum grauen, kalten Landregen entfärbt hat, bleibst du, erquickende Natur, mit deinen Blumen und Gebirgen und Katarakten treu und tröstend stehen.

Nachzulesen im Titan, erschienen 1800 bis 1803. Da wird eine Natur vorgeführt, die von Ewigkeit zu Ewigkeit auferbaut zu sein scheint. Doch schon wenig später beginnt dem Erzromantiker Joseph von Eichendorff zu dämmern, daß die Zeit eines ungebrochenen Naturbegriffs abzulaufen beginnt. Ich beziehe mich dabei auf Thomas Rosenlöchers Interpretation eines der schönsten Eichendorff-Gedichte, das anhebt „Ich wandre durch die stille Nacht, / Da schleicht der Mond so heimlich sacht…“; 1826 entstanden. Um diese Zeit oder um ein geringes später beklagt Heine, daß „der Kohlendampf die Sangesvögel verscheuchte und der Gasbeleuchtungsgestank die duftige Mondnacht verdarb“. Wie stark um 1900 ökologisches Bewußtsein ausgeprägt war, soll hier stellvertretend ein Beispiel veranschaulichen. Der württembergische Landeskonservator Eugen Gradmann bemerkt in seinem Buch Heimatschutz und Landschaftspflege (1910):

Wir können schlechte Luft gesundheitlich verbessern, indem wir Sümpfe trockenlegen, Wälder pflanzen u. dgl. Wir können sie hygienisch und optisch verschlechtern und das Himmelslicht trüben mit dem Staub, dem Rauch und Ruß und den Abgasen, die wir in unseren Betrieben entwickeln… Der Steinkohlenrauch zerstört durch die schwefligen Säuren, die er niederschlägt, die Oberfläche der Werksteine, namentlich der feinbearbeiteten, an unseren Baudenkmälern, also gerade das künstlerisch Wertvollste an ihrem Körper. Der Ruß und die Abgase verhindern die Bildung des Edelrostes an Kupferbelägen und Erzgußwerken. Die Gase und die Säuren schädigen den Pflanzenwuchs, besonders die Koniferen, und erschweren sogar den Anflug der Flechten und Moose an Mauern und auf Dächern, womit die Natur so gerne die Bauwerke patiniert und malerisch mit der Landschaft zusammenstimmt. Die Verminderung des Kohlenrauches ist also eine Art von Denkmalpflege und Naturschutz und insofern ein Stück Landschaftspflege.

Zwei Weltkriege, die von Deutschland angezettelt wurden, haben derlei Beobachtungen weithin bagatellisiert oder ganz in Vergessenheit geraten lassen. Inzwischen sind die Schäden längst irreparabel, und wo es noch gelingt, sie zu begrenzen, muß das teuer bezahlt werden, nur vorwiegend nicht von den Verursachern. Die Verdammungsorgie aus der Sicht eines Grünen, der nur noch schwarzsieht, unterbleibt. Ich habe zu loben, nicht zu eifern. Erst Ende der sechziger Jahre, nachdem ich von der amerikanischen Biologin Rachel Carson Der stumme Frühling und von Robert Jungk Die Zukunft hat schon begonnen las, begann ich, meine Welt neu zu sehen. Die Vorstellung, menschliches Leben auf der Erde sei eine Selbstverständlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit, brach in sich zusammen. Ich mußte es aushalten, die Gefahren, die zur Endlichkeit führen, fortan mitzudenken, auch wenn mir dieser Bewußtseinsschub und Denkumbruch immerwährend zu schaffen macht ob seiner Unvorstellbarkeit. In den fünfundzwanzig Jahren dieses schmerzhaften Bewußtwerdungsprozesses war zu registrieren, wie kaltblütig auf Selbstzerstörung gesetzt wird. Immer nach der Devise „Nach uns die Sintflut“.
Sobenannte „Ökolyrik“ im strengen Sinne, rasch heruntergeredet und klischeegenügsam, schwebt Thomas Rosenlöcher nicht als Idealfall eines Gedichts vor. Seine Entwürfe – und dafür stehen viele Gedichte – haben einen längeren Atem. Fast immer schließen sie Selbstbefragungen ein, aus denen Weltentwürfe entwickelt werden. Da wird gefragt:

Wie reih ich mich in diese Schöpfung ein.
Wozu hab ich mein Abitur gemacht,
wenn ich vergehn soll wie ein Fingerschnippen.

Sinnsuche als existentielles Problem. Lebensanspruch, in aller Bescheidenheit: „Wenn sie uns nur leben ließen.“ Und immer die bohrende Frage: Was ist der Mensch? Worin besteht der Sinn des Lebens? Was liegt näher, als das bekannte Wort des Sophokles aus der Antigone zu assoziieren:

Viel Gewaltiges lebt, doch gewaltiger nichts als der Mensch.

Gewaltiger meint auch gewalttätiger. Rudolf Schottländer übersetzte diesen Passus:

Schrecken bereitet vieles – nichts
tieferen Schrecken als der Mensch.

Rosenlöcher ist überhaupt keiner Doktrin verpflichtet, wohl aber ästhetischen Prinzipien. Vielmehr baut seine Weltbetrachtung auf die natürliche Spanne von Leben und Tod und allem, was an Vitalität und Sterblichkeit darin beschlossen sein kann. Wohl huldigt er nicht dem Bergsonschen elan vital, wie ihn mein väterlicher Malerfreund Curt Querner verkörperte, wie dieser aber hat er sich die Fähigkeit bewahrt, unbändig staunen zu können, etwa über einen blühenden Kirschbaum, an dem jede Blüte „die Summe der Seligpreisungen“ birgt. Dieses Staunen wird zum schöpferischen Movens. Grün beflügelt die Phantasie. Allerdings ist das Faszinosum des großen Stauners nicht Ausdruck naiver Naturandacht und pantheistischer Verehrung. Es drückt auch Verwunderung darüber aus, daß derlei Kunststücke der Natur, was immer wir dafür zu nehmen bereit sind, immer wieder, immer noch gelingen. Es lebe der Frühling! „Archetypische Emotionen“ nennt man derlei Regungen, wie sie schon vorzeiten Barthold Hinrich Brockes befielen. Was da von unsereinem vorwiegend als vorsätzliche ästhetische Zugabe der Natur in Augenschein oder Kauf genommen wird, wirkt so kraß und verstörend, daß der blühende Baum zum Schreckbild wird. In jedem Hoffnungsschimmer bricht sich das Wissen um die Entfremdung des Menschen von der Natur und um die Gefährdung aller Lebensformen. „Wenn sie uns leben ließen!“ Was schlichthin für Natur genommen wird, meint zumeist bearbeitete, veränderte Natur, Verformungen, die bis zur Deformierung reichen. Ursprüngliche terrestrische Beschaffenheit reduziert sich zumeist auf Restbestände, auf Relikte, die ohne Schutzmaßnahmen nicht zu halten sind. Also eine Natur, der zunehmend die Rolle des Vorzeige-Idioten zugewiesen wird. Das heißt, sie und wir haben uns mit einigen wenigen Prozenten Anteil an der Gesamtfläche zu begnügen. So wird man bescheiden und ist bereit, jede noch nicht versiegelte Fläche, und sei sie bereits hundertmal um und um gewälzt, als blanke Natur zu nehmen. In urbanen Ballungsräumen schrumpft Natur ohnehin zum Zitat und Dekor in Gestalt des sogenannten Anstandsgrüns. Ich erlebe derzeit ein rapid-rabiates Gartensterben im Zuge nahezu flächendeckender Sanierungsarbeiten, architektonische Zerfallswerte treiben zur Eile. Und so wie es in Weimar geht, wird sich dies derzeit in allen anderen Städten abspielen, die Hauskäufer auf den Plan zu rufen vermögen. Gerade dem Garten als Lebensraum mißt Thomas Rosenlöcher eine wichtige Funktion zu. Hier wird ihm Natur in ihrem Kreislauf sinnliches Erlebnis. Hier erfährt er sich als natürliches Wesen existentiell. Seine Naturanschauung nimmt gewissermaßen im Gartenstück Anlauf zu Okularinspektionen mit Blick aufs Elbtal, sich weitend zum Panorama von den Elbhöhen. Zu diesen Bildern weiter Landschaft gehören auch Schreckensbilder der anderen Art, die Kehrseite jener Medaille, auf der ein blühender Baum zu sehen ist:

Das Tal war Dampf aus über dreißig Töpfen
und reich gestreut sein düsteres Gewölk.
Selbst aus der Ferne grüßte noch
das schüttre Fädchen eines Schlots
und hielt sich, eh es rührend schmal zerrann
und sicherlich mein Winken weiterreichte
zum nächsten Schlot, einsam auf grünem Feld,
und dies so fort, bis daß die Städte kämen
und Schlot um Schlot im Tagwerk des Gestanks.

So schritt ich aufwärts über eine Halde
aus toten Stiefeln, Büchsen, Regenschirmen,
und ab und an ein Kinderwagenwrack,
und hätte nie, daß je so viele Menschen
gelebt haben, geglaubt, für so viel Müll.
Und dabei war das Wort Müll völlig ratlos.
Den Hang herab Erbrochenes aus Plast.
Noch zwischen den Matratzen totes Haar.
Brände von Gummi. Oben der gewisse
aus einem Stück in Blei gefaßte Himmel.

Bei aller Urbanität Rosenlöchers fällt auf, daß Großstadtbilder für seine Art von Weltbetrachtung nicht eben typisch sind. Wie auch Heinz Czechowski reizt ihn vielmehr die Peripherie, an der Ländliches im Städtischen versickert und wo vice versa Urbanes über die Ufer schwappt, Land so überbaut, bis es völlig okkupiert ist. Die Entfernung des Menschen von sich selbst läßt sich von diesem Standort schärfer ins Auge fassen. Nicht unerheblich dabei ist sicherlich, daß er in diesem Stadtrandbereich aufwuchs, die entscheidenden Prägungen durch Anschauung erfuhr. Das Paradies der Betrachtung ließ ihn dem tiefsten „Rätselpunkt der Weltgeschichte“ immerhin sehr nahe kommen. Unter den Bedingungen der DDR bekam der Garten zusätzlich die Funktion eines Schutzraumes. Hier ließ sich das eingezwängte Ich etwas erweitern, so daß der Garten den Bewohner und Nutzer wie eine zweite Haut umgab. Gewiß auch Stimmungsträger für ästhetische Ansprüche, aber doch nicht „Speicher für räumlichen Genuß“, nur dann, meint Eduard Graf Keyserling in dem von impressionistischen Vorstellungen inspirierten Essay „Zur Psychologie des Komforts“ (1905), wenn die Natur diesen „Komfort“ bietet, hat sie Sinn. Diese Reduzierung auf einen stilechten Dekorativismus klingt am anderen Ende des Jahrhunderts freventlich in unseren Ohren. Rosenlöcher scheut sich nicht vor Personifizierungen und Beseelungen, als setzte er auf Gustav Theodor Fechners Panpsychismus. Eben weil er für ein Denken in menschlichen Maßen und Grenzen einsteht, das den Menschen immer noch als ein, wenn schon nicht natürliches, so doch naturabhängiges Wesen sieht, spricht er vom Bruder Baum. Auch so läßt sich Entfremdung, einschließlich der eigenen Fremdheit, ausforschen und bestimmen. Aber er verliert sich nicht in grüne Utopien: er weiß, wo er lebt:

Der Baum umgibt mich mit vielfachem Grün
und von der Straße her kommt ein Geräusch,
das war mein Leben. Plötzlich bin ich Luft.

Das nenne ich existentielle Betroffenheit. Das trifft mich ohne Umwege.
In einem frühen, kurzen, aber sehr intensiven Gespräch äußerte Rosenlöcher auf die Frage nach dem Verhältnis von exemplarischer Prägung in seinen Gedichten und dem alltäglichen, profanen Vorgang, von Phantastischem und Normalität:

Noch das Geringe finde ich mit dem Allgemeinen verknüpft, und so wie die überkommenen Mythen Grundmuster des Alltäglichen sind, hat selbst die kleinste Handlung noch einen mythischen Kern… (ich) versuche… das im Alltäglichen enthaltene Exemplarische zutage zu bringen und so ein von der Wirklichkeit ziemlich unabhängiges, vielleicht sogar über sie hinausgehendes, aber auf sie zurückverweisendes Wortgemenge zu schaffen. Dabei bin ich… vor allem auf Geborgenheit aus.

Mit fast jedem seiner Gedichte liefert Rosenlöcher ein Beispiel dafür, daß er das Geringe, Alltägliche ins Allgemeine hebt. So wie er es versteht, mit einer geradezu schwejkhaften Subtilität und Hintergründigkeit, jeweils in sächsische Mentalität gewendet, „das immerwährend Komische mit der Würde des Vorhandenseins zu verbinden“, weiß er den Gedichten eine unaufdringliche, unversehens und leicht geschürzt daherkommende Gleichniskraft mitzugeben. Darin zeigt sich ein Gutteil seiner Eigenart, seines Individualstils. Auf den ist er aus, das verbindet ihn mit den Lyrikern meiner Generation. Ganz speziell mit denen, die dem Dresdner Elbkessel entstiegen sind. Und vielleicht hat auch die Ermahnung „Sprich ordentlich, Thomas“, die seine Kindheit als Dauerton aufreizend genug begleitet haben soll, als Stachel mitgearbeitet bei der Ausformung eines unverwechselbaren Tones, in dem es auf die Stilbrechungen und Gefühlsmischungen ankommt. Exemplarisch der Blickkontakt mit dem Regenwurm als unverzichtbares Glied in der Kette, die den komplizierten Bau Leben in seinem Innersten zusammenhält, wohlweislich einer Kreatur in Verbundenheit zugewandt, die gemeinhin nicht Gegenstand der Poesie ist. Der schwedische Lyriker Harry Martinson ist da wohl die große Ausnahme:

Wer ehrt den Regenwurm,
den Ackersmann tief unter dem Gras im Erdreich.

Er ist der niedere, der untere Bauer,
dort wo die Äcker zur Ernte gekleidet werden.
Wer ehrt ihn,
den tiefen, den ruhigen Ackersmann,
den ewigen grauen kleinen Bauern im Erdreich.

Während hier „nur“ die Nützlichkeit des landwirtschaftlichen Mitarbeiters gerühmt wird, rückt ihn Rosenlöcher in die Schöpfung ein. Sieht die Gefahren, wie der Mensch ohne elementares Naturverständnis für Lebenszusammenhänge sich einbildet, dem natürlichen Kreislauf längst enthoben zu sein.
Das eine prägnante Beispiel muß hier genügen. Der Ausrottungsfeldzug läuft vor unser aller Augen ab. Die Natur reduziert sich auf Zitate. Die Namen fast aller Tiere sind noch besetzt mit Erinnerungen an deren Leibhaftigkeit. Unbemerkt verabschiedet sich die Grauammer. Selbst der Anblick eines Feldhasen oder Hamsters, noch kürzlich in stattlichen Populationen vorhanden, wird zu einem seltenen Erlebnis. Kaum haben sich in Thüringen einige Graureiher wieder eingeheimt und es dank phänomenaler Anpassung geschafft, ihre Brutkolonien etwas aufzustocken, müssen sie wieder dezimiert werden. Der Minister für Landwirtschaft und Umweltschutz in einer Person, vorzeiten bewahrter Schweinezüchter und Verfechter der Massentierhaltung, gibt, fast hätte ich gesagt „natürlich“, seinen Segen. Auf, auf zum fröhlichen Jagen! In Rosenlöchers Gedichten schwirren noch Schwalben, wird die Distel poetisch gekrönt:

Fernhin sah ich Schlotfahnen, schrägab zackig,
als über mir, als wäre sie mein Herz,
die Lerche hoch emporstieg. Sei doch still,
Macht kommt auf Macht. Machtlosigkeit hinkt mit.
Was soll sich da noch, denn zum Schlechten, ändern.
So dachte ich. Doch eine Distel stand
aufrecht, von Purpur überaus gefürstet,
in ihrer Stacheln Anmut filigran
und brach den Stein. Um sie her war geordnet,
was da an Landschaft, Feld und Hügel, lag,
und wo ich hinging, stand sie abermals.
Da wußte ich, wenn auch die Kommissionen
den Horizont mit Dynamit vergittern,
geht sie und geht, des Löwen stille Schwester,
auf den Beton, das Feld besetzend, zu.
Denn es wird Zeit. Die Stockwerke des Dunkels
muß ihres Krauts Gefieder gründlich zähnen
und, ringsumher von wilden Kletten starrend,
im Wunder ihrer Blüten übersteigen,
daß auch die Tiefe noch ein Abglanz trifft.

Und so könnte ich, müßte ich fortfahren, die Robinie vorführen, den Dornbusch, das Kamel, den Molch, die Kirschbaumepistel zitieren, die Spanne zwischen den Gartenstücken und den stillen Gründen ausmessen. Immer öffnen sich die Gedichte. Noch vom Rasenstück des Wäscheplatzes ist der Blick auf die Welt gerichtet und deren elementare Strukturen zwischen Himmel und Erde, „nachdenkend über die Belange der unerhörten Rose und des Staats“. So wie Schnee oder blühende Kirschbäume als Metaphern für Reinheit, für unzerstörte Natur stehen, werden die einfachen Wahrnehmungen in der Landschaft, ob mit Krähe, Schwan, Mond, Stern benannt, zu Chiffren des Lebendigen, einer existenzerhaltenden Natürlichkeit. Welch drohende Erhabenheit, wenn eine Landschaft mit der kahlen Stange ins Blickfeld rückt, mag da das Atomkraftwerk Rossendorf am Rand der Dresdner Heide aufscheinen oder der scheußliche Fernsehturm. Wüßte ich nicht, diese malerisch gesehenen Landschaften sind der eigenen Anschauung entnommen, wäre ich versucht, an Paraphrasen, Umsetzungen ins Gegenwärtige zu Bildern von Caspar David Friedrich zu denken. Aber vielleicht hat der Maler immerhin den Blick des Betrachters geschärft für besagte drohende Erhabenheit. Sehr gern verwendet Rosenlöcher das Mittel der Hypertrophierung. Auf die Spitze treibt er es damit in „Die Verlängerung“, einem Gedicht aus dem ersten, 1982 erschienenen Band. Dem Ich, das da auftritt oder vielmehr in seinem Garten bei Kleinzschachwitz liegt, wachsen die pedestrischen Extremitäten immer länger. Am Ende sind sie zu lang für ein kleines Land, so daß er sich wie Gulliver fühlen muß, der in seinem Bewegungsdrang behindert wird, allerorten an Grenzen stößt, so daß die weitgereisten Füße abgesprengt werden müssen. Die Paraphrase auf ein allzu bekanntes Weltreich, über dessen Ewigkeitswahn und Unfehlbarkeitsdogma sich einer krank lacht, der Rosenlöcher verteufelt ähnlich sieht, endet mit dem Vorsatz: „Man muß bescheiden sein“. Von weiter oben grüßt der „große Tröster Himmel“. – „Irgendwie Leben nannte sich schon Glück.“ Stoff und Form, mit Vorliebe kontrastierend gegeneinandergesetzt, bauen ungewöhnliche Spannungsfelder.

Denn Schönheit ruht in Schönheit in der Stille,
sie zu zerstören und sie doch zu fassen.

Die Gefühlsmischmaschine in der eigenen Brust läßt Pathos nicht aufkommen, vielmehr sorgt sie für Möglichkeiten kritischer Distanz. Distanz zum Objekt und Distanz zu sich selbst. „Wer je die Schönheit…“ Am Ende des Jahrtausends eine abgearbeitete alte Frau, kreuzlahm und humpelfüßig, gehn gesehn haben, schwer bepackt. War’s nicht Niobe?
„Du aber sollst Plinius heißen.“ Sagt er zu sich. Zu wem sonst?
Wenn einer zum Lustigmacher gekürt wird, muß er auf der Hut sein. Etikettierer, denen es auf Griffigkeit ankommt, heißen ihn Landvermesser und Luftikus. Weil er artistisch zu verblüffen weiß und sehr schalkhaft sein kann. In meinem südsüdostmeißnischen Sprachverständnis ist das einer von nur geringer spezifischer Wichte. Meine Rede wollte darauf hinauslaufen, daß dies partout nicht trifft. Es ist nicht so einfach in Deutschland, seinen Landsleuten mit Humor ernste Sachen zu sagen. Vielleicht hat Rosenlöcher doch recht:

Wo sächsisch gesprochen wird, macht immer einer den Dummen.

Sächsisch als Verlierersprache!? Aber nicht doch, Rosenlöcher! Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Raum und Zeit ausmessen, mit der Gewißheit, die David Hume als erster aussprach:

Die Gegenwart ist allemal älter als die Vergangenheit.

Zeitlichkeit erleiden. Vergänglichkeit erfahren, leiblich. Wie flexibel sächsische Querköppe sein können bei allem Stehvermögen, stellt Thomas Rosenlöcher glänzend unter Beweis. Aus freien Stücken behaupte ich, er ist ein Dichter, einer von Format.
Als er einmal zur Elbfähre lief, fragte ihn ein vor einem Kneipengeländer lehnender hochprozentiger Zeitgenosse: „Nu, Rosenlecher, dichdesd de wieder?“ – „Ach was, spaziern geh ich.“ – „Klar dusde dichden: De Veechl sing im Gezweich.“ – „Noch nie war mein Gesamtwerk so treffend charakterisiert worden“, sagte sich Rosenlöcher auf dem Weg zur Elbfähre hinunter.

Wulf Kirsten, neue deutsche literatur, Heft 512, März/April 1997

 

Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017

 

 

 

KIRSCHBAUM
für Thomas Rosenlöcher

Und jetzt:
vollkommene Gebärden,
schwanfederweiß und schwere-
los, ein Blüten-
blätterfall, in dessen Kreis
ich stehe, angelehnt, die Rinden-
risse tief im Rücken –

es ist der Überfluss
an Licht, der mich so trunken
macht, das Überfließen

jenes Weißes
vor dem falben Weiß
des Himmels, ein Vorhang,
der sich öffnet
jenseits
meines Blicks.

Christine Hansmann

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017

Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017

Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017

Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rosenlöcher“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Thomas Rosenlöcher

 

Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.

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