Thomas Rosenlöcher: Schneebier

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Thomas Rosenlöcher: Schneebier

Rosenlöcher-Schneebier

RUMPELSTILZCHEN

Ja, ich humpel noch durchs Dunkel,
geht auch jeder hopps, nanu,
hinterm Buschwerk ein Gemunkel,
gleich in die Statistik ein.
Ja, ich hebe noch mein Bein
bei des Feuers Flackerschein,
tanzen mir auch meine Schuh,
da ich tanz, ich tanz, zertanzt,
Hilfe, selbst mein Hemd verwanzt,
schon auf die Strichlisten zu.
Ja, ich lenk noch meine Schritte,
ist auch selbst mein Name, bitte,
nur nicht nennen, mir zum Kummer,
siebzehnstellig, eine Nummer,
Fußgeschlenker, rings im Kreis,
statt daß ich mich in der Mitte
selber pack und, zack, zerreiß,
weil Statistik alles weiß,
weiß sie doch, starrt auch durchs Dunkel
Finsterhut an Finsterhut,
niemals, daß ich, o wie gut,
weiß, daß sie weiß, Doppelhumpel,
daß ich weiß, das sie weiß, Rumpel.

 

 

 

Der Regenwurm, meine Damen und Herren

Selbstverständlich hat es nicht des diesjährigen Klagenfurter Literaturspektakels bedurft, um im Westen bekanntzumachen, dass in der DDR nach wie, vor kapitale Lyrik geschrieben werde. Es hat höchstens in Erstaunen versetzt, dass nach zweieinhalb Jahrzehnten „Aderlass“ – sukzessiver Abwanderung namhafter Schriftsteller – immer und immer wieder bedeutende Gedicht-Opera im ,Anderen‘ Deutschland entstehen.
Wolfgang Hilbig, der 1989 in Klagenfurt Ausgezeichnete, publiziert seit gut zehn Jahren in West und Ost (in dieser Reihenfolge, d.h. tatsächlich mit bemerkenswertem Retard im Osten). Publiziert unverwechselbare Gedichtbände: schwer zugänglich, ohne schon hermetisch zu wirken, und von klassischem Niveau, ohne zu wiederholen, was längst gesagt ist. In arg vereinfachender Weise würde ich ihn zu einer mittleren Generation von Literaturschaffenden zählen: zu jener Generation, die schöpferisch ist und zugleich – kraft ihrer Zeitgenossenschaft – imstande, zu sichten, zu beobachten, zu taxieren. Zu jener Generation, die massgebliche statt parteikonforme Urteile zu fällen erstens vermag und zweitens den Mut hat. Glücklicherweise den Mut sich leisten kann, eben auch darum, weil sie in Ost und West namhaft ist. Manfred Jendryschik sehe ich in dieser Generation aktiv, Wulf Kirsten, Volker Braun, Elke Erb.
Eine verdienstvolle Tat dieser eben genannten (und gewiss anderer) ausgewiesenen Fachkollegen ist allemal, einem jüngeren Kollegen aufzuhelfen. So einmal mehr geschehen 1988 mittels Klappentext-Sätzen von Manfred Jendryschik zugunsten des zweiten Gedichtbandes von Thomas Rosenlöcher. Jendryschik nennt den Kollegen (Jahrgang 1947) im Kreis der DDR-Lyriker „bedeutend“; er führe mit dem Holz die Rede und sehe mit den Augen des Mondes heutige Landschaft.
War Rosenlöcher 1982 noch als neuer und sogleich höchst eigenständiger Autor gekennzeichnet worden (eine „Überraschung“) und hatte unter Neue Lyrik – Neue Namen figuriert (Auswahl 82 des Verlags Neues Leben), so ist dem Autor seither gelungen, in der Auswahl Die eigene Stimme (Aufbau 1988) berücksichtigt zu werden und Standpunkt zu fassen innerhalb der jungen Autoren-Generation (neben Böhme, Kerstin Hensel, Kolbe, Mensching, Kathrin Schmidt und mehreren anderen). Dass sich jetzt weiterhin, wie 1982, der dritte im Bunde, der Mitteldeutsche Verlag des Werkes von Rosenlöcher annimmt – auch noch anthologistisch, nämlich mit der Schublade. Texte aus erster Hand (1988) – macht die Etablierung des Autors vielleicht endgültig, hoffentlich entdgültig.
Wenn bloss auch noch der deutschlesende, lyriklesende Westen aufmerkte! Der Anfang ist getan. Im Salzburger Residenz Verlag ist jetzt Rosenlöchers zweiter Gedichtband, Schneebier, als Westausgabe erschienen. Seitenidentisch mit der Halle-und-Leipzig-Ausgabe, welche ich von einer DDR-Fahrt mitzubringen Gelegenheit hatte; seitenidentisch und typografiegleich, aber unter leicht verkleinertem Format und also mit geringfügig verkleinertem Schriftgrad. Broschiert natürlich, statt leinengebunden; dafür auf stärkerem Papier, also doppelt so dick. Ein anonymer Halbkartondeckel mit einer technischen Zeichnung packt das Buch ein – gegenüber dem ostdeutschen Schutzumschlag mit semirealistischem Gemälde-Konterfei (Claus Weidensdorfer). 168 Schilling (rund 22 Franken) anstelle der sieben Ostmark. – So sind die Welten, so ist der Buchhandel. Und doch möchte ich den Beweis antreten, Rosenlöchers Lyrik sei hier wie dort ihren Buchpreis wert.
Zwar gibt es in der jüngeren DDR-Lyrik seit wenigen Jahren auch Avantgarde. Falls eigentümlich etikettiert, so doch offiziell verlegte Sprachexperimente. Sie unterscheiden sich von bundesdeutschen Produktionen in nichts mehr; sie lassen die amerikanischen Paten bzw. Standbilder ebenfalls hinter sich; sie scheuen den Sprachhülsen-Ulk oder Non-Sense nicht. Jaja, Dada wohlbekannt, Surrealismus gründlich studiert! – Unterhaltsamste Muster stammen von Papenfuss-Gorek (dreizehntanz, 1988), von Jan Faktor (Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, 1989).
Zur Avantgarde zählt Rosenlöcher nicht. Er ist wohl ein Verblüffer, ein Schalk, ein Artist. Einer, der über seine Herkunft und – nicht zu vergessen – über seinen Tod räsonniert, aber auch einer, der Gedichte an seiner Nase, an Seife, an die Klopapierrolle, an die Zahnbürste riskiert. Er versteht es, sich kurz zu fassen, jedoch auch, ausschweifend zu sein – Zweizeiler gegen unstrophige Dreissig-und-mehr-Vers-Gedichte. Die Sonettformen riechen nach Übungs-, nach Schaustücken, dagegen die weniger formkünstlichen Predigt- und Erzähltexte gelingen unverwechselbar, und Tableau oder Deskription wechselt glückhaft mit Story und Traumbild, Stilleben oder Landschaft mit Vision.
Skeptisch machen mich Rosenlöchers mehrere Engel, sie leiten meines Erachtens ins Abseits. Indessen halten der Verschleppung eines noch vor siebzig Jahren wunderträchtigen Symbols jene Gedichte, welche Einsichten festschreiben, die Waage. Sie sind mir die liebsten, und ganz gewiss verdanken sie am ehesten den Kaufpreis des Bandes. – Oder ist es etwa kein Verdienst, nach tausendfachem Lob von Gottes edelster Flora des Dornbusches, nach tausendmaligem Ruhm der hehrsten Fauna des Regenwurms zu gedenken?

DER REGENWURM

Meine Damen und Herren. Ich hab
den Blick des Regenwurms gesehn,
mit dem er nach unseren Erfolgen spähte.

Er krümmte sich zu meinen Füssen
und kaum unterscheidbar vom Kopf war sein Schwanz.
Doch während ich dies noch bedachte,
wandt er sich kummervoll ab
und schraubte sich unter die Erde.

Ich schlug
lang hin und wühlte Büchsen Flaschen
aufwärts mich abwärt stand
grabtief, als jener winzige Wurm
auf mich herniedersah,
dass ich ihn schon durch mein Haupt gehn spürte,
bedächtigen Fusses. Ich riss
den zuckenden Kopf ab, der längliche Leib
ging hin her, ich wollte ans Licht.
Doch siehe, er trug ein erneutes Haupt,
das sprach, was verfolgst du mich,
bevor er von dannen ging,
alles, was einst gelebt hat,
umzuwandeln und das Gebaute
zu unterminieren, ein Schöpfer

erneuten Beginnens – und ich
frage Sie, meine Damen und Herren,
wo ist sein Denkmal hochaufgerichtet,
und wann kommt der Tag, da die Deutsche Post
sowie die Vollversammlung der Völker
seiner gebührend gedenken werden.

Rainer Stöckli, Neue Zürcher Nachrichten, 21.11.1989

Die Arbeit des Fröhlichseins

Doch jemand muß hier noch die Arbeit machen
und fröhlich sein. Das ist mein Teil.

1
In seinem Gedicht „Das Holz der Rede“ beschreibt er diese Arbeit so: das lyrische Ich hält einen stürzenden Apfelbaum mit der eigenen Schulter aufrecht, um „ihm das Blühen zu ermöglichen – bewahrt so, als ein neuer Atlas, die Welt vor dem Einsturz. Und das Ich gewinnt dabei selber halt, wird schließlich zum Baum, der seine Blüten treibt, seine poetische Rede knarrt.
Blühen ist in Rosenlöchers Gedichten ein gewichtiges Argument und eine häufige Pointe, vom „unerhörten Blühen“ im Garten bei Kleinzschachwitz bis zum „Gänseblümchengezwitscher“ oder der „Tonnenlast riesigen Blühns“ im neuen Band. Der Dichter setzt die Gartenarbeit fort, die er einst als die Dialektik von „dem Birnbaum Mut zureden“ und „Gras wachsen lassen“ definiert hatte.
Und das Stichwort der „apokalyptischen Säge“, die den Baum bedroht, schlägt eine Brücke zur Apokalypse, wo vom „Holz des Lebens“ (vom paradisischen Lebensbaume) die Rede geht.
Der poetische Garten, den Rosenlöcher so fruchtbar zu machen weiß, ergäbe eine sehr enge Arena für seinen Pegasus, wäre da nur die heimische Nische umschrieben, die bedrohte Idylle, ein Naturbild, das sich einer Un-Natur entgegenhalten läßt. Doch dieser Garten weitet sich – mit seinen hohen Himmeln, Unterkellerungen, seinen Verlängerungen in die Vergangenheit und die Zukunft – zum Bild der Welt. Und Paradies, als Verlust und Sehnsucht, bleibt assoziierbar, wenn auch mit humorig-ironischer Distanz:

Aber der hohe Specht tat seine Flügel auf,
auf denen in goldenen Farben das Bild eines Gartens war,
mit runden Bäumen äpfelbestickt
und einem Wasserfaß,
daneben ein Leopard saß und über das Leben nachdachte

ein Rosenlöcherisches Paradies.

2
In Brechts Botschaft an die nachgeborenen Dichter hieß es:

Das arglose Wort ist töricht… Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Ist in den Gedichten Rosenlöchers ein Argloser am Werk? Es finden sich deutliche Signale, daß der Autor die Nachrichten empfangen hat. Von „Augen rauchzerfressen“ wird berichtet und vom „Schlotetodesschatten“, vom „Bächlein müllverschütter“ und vom „toten Fluß“. „Die Wälder starben lautlos in der Ferne“. Drahtverhaue werden gesichtet, brennende Erde, brennende Menschen. Der Autor erzählt vom „Labyrinth der finsteren Systeme“, von der Bombe, von „Hagel und Geknirsch“ und dem „Schnee vom vergangenen Jahr“, der aus den Lautsprechern fällt. Oder von einer Industrie, die „mit großem Ernst menschenleer rasselnd rauchte“.
Die Blüten, oft mit Schnee und Eis assoziiert, können unversehens zu Chiffren des Todes werden; das Bild des blühenden Baumes verwandelt sich in das der Atomexplosion.
Die „allmähliche Exekution der Natur“ und der „damit einhergehende Verlust wesentlicher menschlicher Beziehungen“ (so nannte es Rosenlöcher in seinem Eichendorff-Aufsatz) bilden unzweifelbar die Mitte vieler Gedichte. Dennoch ist Rosenlöchers Drang, heiter über den Problemen zu stehen, unverkennbar.
Da er den Ernst allzuoft negativ besetzt findet, setzt er ihm den Un-, ja Antiernst entgegen und hat davon eine reiche Klaviatur verfügbar: von kauzigem Scherz, Ulk und Jux über die schwankhafte Episode bis zu Spott, Sarkasmus und, schwarzem Humor, daß einem das Schmunzeln gefriert, das Lachen im Hals steckenbleibt. So in dem Debütband, wenn er Verkehrspolizisten, „umweht von Abgasfahnen“, begeistert die Arme ausbreiten ließ, wenn er tröstete, „sei furchtlos, der neben dir hockt, / starb längst, du kannst mit ihm schweigen“, oder wenn er nun aus der Abgestorbenheit des Flusses mit scheinbar zynischer Zuversicht folgert:

Was hab ich nur. Es geht, es geht doch alles.
Selbst noch der tote Fluß fließt fort.

Hymnisches Pathos wird unterlaufen, zerbrochen, aufgehoben in humoristischer Würde, oder es tritt überhaupt nur in seiner parodistischen Karikatur in die Szene. Rosenlöcher nutzt Ironie, um den Ernst auszuhöhlen, scheinbare Gewißheit aufzulösen. Er bringt Sagen und Meinen in Gegensatz. Und der changierende Sinn, die Diffusität der Botschaften zwingt den Leser, der wahren Meinung des Autors nachzugrübeln und vor allem die eigene zu ermitteln.
Da kann sich Feierliches als Nonsens, Banales als Tiefsinn entpuppen. Wenn man ein Gedicht „Der Mensch“ überschrieben findet, wird es ziemlich sicher auf einen Jux hinauslaufen. Wenn von „meines Haufens Lehm“ gehandelt wird, darf man Hymnik, Pathos und womöglich Tiefsinn erwarten.

Denn Niedriges gibt es nicht.
Hymnisch ist alles, was west…

Grundgestus der meisten Gedichte ist jene „humoristische Einstellung“, die Sigmund Freud als eine der höchsten psychischen Leistungen“, eine „köstliche und seltene Begabung“ verstand.
Rosenlöcher hat (in dem Gedicht „Anrede“) seine Brust eine „Mischmaschine der Gefühle“ geheißen. Seine lyrischen Texte könnte man Mischmaschinen der Stile, Traditionen und poetischen Verfahren nennen, sofern man beachtet, daß nicht beliebig, sondern streng nach hauseigenen Rezepturen vermischt wird.
So verwendet dieser Lyriker den Hexameter, wie er ihn bei Klopstock, Voß, Goethe, Hölderlin studieren konnte, zur Erzeugung eines „hohen Stils“, um damit „niedere“ Gegenstände zu behandeln. Er gebraucht den Blankvers, wie ihn die Shakespeare-Übersetzungen der Romantiker kultivierten, um heroisch-dramatische bis dämonische Landschaftskulissen zu entwerfen – gleichsam Ausschnitte aus ungeschriebenen Shakespeare-Tragödien der Gegenwart – und dann eine kleine clowneske Episode darin aufzuführen. Spanische Romanzentradition wird mit banal-grotesken Elementen durchwirkt, auch mit Moritatenstil („… und tat auf des Mundes Loch“), und solcherart verfremdet (manchmal auch verniedlicht). Außerdem nutzt Rosenlöcher das technische Arsenal der Romantik, des Symbolismus, des Surrealismus – und immer wieder der Folkloreüberlieferung (bevorzugt des Kinderreims).
Brecht hatte einst beklagt, in der deutschen Lyrik sei nach Goethe „die schöne widersprüchliche Einheit“ in eine „völlig profane“ und „völlig poentifikale“ Linie zerfallen. Rosenlöcher, wie so viele, versucht auf seine besondere Weise, die verlorene Einheit wiederzugewinnen. Er tut es, indem er Pontifikales profan und Profanes pontifikal darbietet. Er mischt die Traditionen von Hymne, Ode, Elegie mit denen des Spottgedichts, um Ernst ad absurdum zu führen. Aber oft auch schlägt bei ihm harmlos verspielte Heiterkeit in bitteren Ernst um, und zwar so entschieden, daß Signale, es sei auch diesmal nicht gar so ernst gemeint, wenig verfangen. Während sonst, in der Realität und in der Literatur, allenthalben aus dem Erhabenen ins Lächerliche gestolpert wird, vermag sich Rosenlöcher unversehens aus dem gewollt Lächerlichen ins Erhabene zu stürzen.
Obwohl Parodie als Verfahren vorherrscht, findet man keinen Text, der einhellig dem Genre „literarische Parodie“ zuzurechnen wäre. Nicht Gedichte und Schreibarten einzelner Autoren werden literarischer Satire ausgesetzt, sondern Haltungen, Stilrichtungen, Themen- und Motivtraditionen. Und was Rosenlöcher, alles in allem, letztendlich parodiert, ist der imaginäre Hymniker Rosenlöcher (der den unangefochtenen Ernst solcher Pose nicht finden kann und nicht finden will; der die Ausrufezeichen immer wieder in Fragezeichen umbiegen muß).
Der Gewinn an heiterer Souveränität fordert seinen Preis. Da entsteht Zuwachs an Freiheit; aber sie verwandelt sich in Narrenfreiheit, die niemand allzu ernst nehmen muß.
Lustige Phantasie bringt erstarrte Realität in Bewegung; aber zugleich trägt sie bei, Realität zu entwirklichen. Humor arbeitet einer resignativen Lähmung entgegen; aber zugleich leistet er der Illusion Vorschub, alles sei halb so schlimm, im Grunde ein Kinderspiel.

Eines Tags sind unsre Nasen
staunend emporgerichtet,
da wir noch immer leben
und unsre Kinder auch…

3
Das Titelgedicht, zu Beginn des Bandes und noch einmal auf der vorderen Klappe abgedruckt, zeigt programmatisch die Durchmischungstendenzen an. Schneebier, ein befremdliches Kompositum, vermag eine ganze Klaviatur von Assoziationen zum Klingen zu bringen. „Schnee“ ist bei Rosenlöcher Symbol für Blüte und Reinheit, aber auch für Bedrohung und Tod, nicht zuletzt für Banalität: „Schnee vom vergangenen Jahr“. „Bier“ tritt plebejisch gegen tradierte Wein-Metaphorik in die Schranken, man wird an Gosses „Durst auf Durst“ gemahnt und an die Ausgießung des heiligen Biergeistes in Rosenlöchers Debütband (zeigend, „wes Geistes wir waren“). Auch die Alltagsfloskel „das ist mein Bier“ wäre mitzudenken. Wieder eine bedrohlich-bedrohte Landschaft, nächtlich-eisige Naturkulisse, vor der sich ein Gag ereignet: Biertrinken als große theatralische Aktion, als poetisch bedeutsamer Vorgang, wohl auch synonym für Dichten. – Wieder verknüpfen sich Tiefsinn und Banalität, durchbrechen, durchdringen sich divergierende Stil- und Bedeutungsebenen.
Sechzig Gedichte, etwa so viele wie in dem früheren Band, sind in vier Gruppen versammelt. Deren Ordnung erschließt sich nicht leicht. Weder Themen und Motive noch Macharten noch Chronologie waren entscheidend für die Zuordnung. In jeder der Gruppen sind verschiedenartige Texte vereint, gleichartige wurden auf alle Gruppen verteilt – so entsteht wiederum Durchmischung. Am ehesten wären die Komplexe mit musikalischen Sätzen einer heiteren Symphonie vergleichbar, oder einem kunstvollen Gewebe, in dem sich die hindurchlaufenden Fäden, hervortretend und wieder verschwindend, zu verschiedenartigen Mustern ordnen.
Die Gedichte korrespondieren miteinander, spielen aufeinander an, verbinden sich zu Serien und Folgen. Der Autor liebt es, Einfälle, Gesten und Formeln mehrfach zu verwenden. Er vertraut auf gefundene Antworten, Modelle, Lösungen, variiert und parodiert sich selber. Und es besteht die Tendenz, eine relativ geschlossene Bilderwelt herzustellen, in der leitmotivische Wiederholungen komödiantisch-humorige Effekte erzeugen.

4
Das lyrische Ich weist Züge von Arglosigkeit und Harmlosigkeit vor. Das gilt noch mehr für die Ich-Figur, die in den Gedichten spazierengeht: ein Flaneur und Voyeur. Ein skeptischer Seher, der dem Mickelschen „So sah ich das“ sein „Doch fehlte mir der Glaube“ hinzusetzt. Dieses Ich sagt „das macht nichts“ oder „ouhh“ oder „so ist die Welt“, läßt sich höchst selten auf etwas ausführlichere Dialoge ein, schläft, oder schlafwandelt und hat seine wunderlichen, oft phantastischen Begegnungen.
Es ist eine Art Komödiengestalt in der Schalksnarren- und Schelmentradition, hat manches vom Simplex und vom Schwejk, auch vom Eulenspiegel (dessen Neigung zum Fäkalwitz ihm nicht fremd ist). Es erscheint entindividualisiert und typisiert, ist wie die andern Sachsen auch. („denn ich gehörte zu ihnen“) oder wie alle Angestellten („Aber auch ich heiße Knox / … und ich nicke bei jedem Wort, / denn wir sind alle zusammengefaßt / in einem System von Semmelgesichtern“). Ein Clown, ein Antiheld, eine Art Jedermann. Ein tumber Tor, der dem Leser das Klügersein leicht zu machen scheint. Und dieses Ich zelebriert seine kleinen Gebärden (aus einem sehr begrenzten Gestenrepertoire): schwenkt die Arme, winkt, trinkt, kichert, ballt die Fäuste…

Und wer da noch immer umhergeht
und seine Fäuste schüttelt,
muß über sich auch nur lachen
… Aber ich gehe dennoch umher
und schüttle die Fäuste…

Immer wieder grundiert Selbstironie das Gedicht, die das Ich und sein Tun, seine Aussagen und Berichte fraglich macht.
Zu Rilkes berühmtem Sonett auf den „archaischen Torso Apollos“ (der den Betrachter herausfordernd anblickt und durchschaut) hatte Rosenlöcher in seinem kleinen Rilke-Essay vermerkt: der habe ihm sein „Du mußt dein Leben ändern“ umsonst vorgehalten. Aber im Gedichtwerk Rosenlöchers finden sich zahlreiche parodistische Anklänge an dieses Motiv. Die Ich-Figur wird häufig auf vieldeutig-vielbedeutende Weise angeschaut. So im früheren Band von jenem rührigen Liebespaar. Neuerlich von elf Katzen („Kaum, daß ich in den Hof trat“), einer holländischen Frau mit riesiger Katze („Der Paßgänger“), der Natur in Gestalt eines Igels („In wirrer Nacht“), einem gespenstigen „Aufsteigenden“ oder den Toten Altägyptens…
Ein Sonderfall, der Anschauen und Augeschautwerden vereint: wenn sich das Ich im Spiegel betrachtet. „Fenster im Spiegel“, „Das Mahl“ („Ich erkannte / mich kaum und äußerst ungern…“), „Dreißigstes Jahr“ im früheren Band, „Vierzigstes Jahr“ in der Sammlung Schneebier nutzen solche Konfrontation. Die drei letztgenannten sind Sonette – und oft genug in der Lyriktradition wurden Sonette von ihren Autoren zur Selbstbespiegelung und Selbstprüfung verwendet. Rosenlöcher parodiert diesen Vorgang. Im „vierzigsten Jahr“ skizziert er sein Gegenüber mit wenigen groben Umrißlinien (einer mit Bart und Bauch, feistzufriedenem Antlitz). Das Ich, verstört und provoziert durch den Anblick seines selbstgewissen Antipoden, speit dem Spiegelbild, also gleichsam sich selber, ins Gesicht. Und wendet sich nun erheitert ab; das Spiegelbild jedoch nickt weiter. Das kann heißen: das Rollen-Ich läßt sich nicht in einem einzigen Akt der Wandlung abtun (so Jürgen Engler in seiner subtilen Lesart; siehe NDL, Heft 6/1989). Aber auch: das Spiegel-Ich nimmt den Speienden nicht allzu ernst, es weiß, der wird ebenfalls weiternicken. Oder: das Spiegelbild nickt zu allem, auch zu seiner eigenen Verurteilung.
Differenziertere Spiegelbilder ergeben sich zuweilen dort, wo das Ich sich in Gegenständen, Tieren, Pflanzen spiegelt. Beispielsweise im Regenwurm, der erst unter, dann plötzlich, in einer Art Identitätstausch, über ihm steht, ein Rivale in seinem Bemühen, „alles, was einst gelebt hat, / umzuwandeln und das Gebaute / zu unterminieren, ein Schöpfer / erneuten Beginnens…“

5
In den Gedichten werden verschiedene Nachbarkünste in Anspruch genommen, liefern Themen, Motive, Kunstmittel. Von Theatralischem war schon mehrfach die Rede. Einige Male sind Vorgänge im Bild eines Konzerts erfaßt. Gesang wird zum Synonym für Dichtung, vermag gar eine Internationale der Singenden zu begründen, „aller Länder Zwerchfelle“ vereinigend.
Auffällig extensiv ist Malerei beteiligt. Lessing hatte seinerzeit versucht, in seinem „Laokoon“ Literatur von Malerei zu emanzipieren. Rosenlöcher hält es mehr mit dessen Vorgängern, den „malenden Schreibern“ (Bodmer), und mit der Formel von Opitz, daß „Poeterei / Ein redendes Gemäld und Bild, das lebe, sei“. „Schön gemalte Bilder“, oft in naiver Manier ausgeführt, stehen im Zentrum vieler Gedichte, stellen Schreckens- und Verheißungsentwürfe kontrastreich gegenüber („Die Landschaft mit der kahlen Stange“, „Die Türme“, „Das Schreckensbild“, „Der Wald“, „Der Paßgänger“, „Der Mensch“). Und die meisten der Texte lassen sich unschwer Genres der Malerei zuordnen: Landschaft, Genrebild, Porträt, sogar Tierbild und Stillleben. Wenn der Autor seine Szenarien entwirft und die Vorgänge schreibt, verfügt er über eine weitschweifende Rhetorik; aber seine Figuren läßt er nahezu stumm agieren, so daß ihre Auftritte in allen wesentlichen Ausdruckswerten von einem Maler ins Bild gefaßt werden könnten.
Das gibt den Szenen etwas von jener statuarischen Schönheit „mit festem Hintern“, die puppenhaft „auf grünem Hügel sitzt“ („Unerwartetes Auftauchen“), bis der Autor sie umfängt und mit ihr hangab rollt, ein „kicherndes Kontinuum“ zu erzeugen. Auch Schiller hatte einst („Über Anmut und Würde“) von einer „fixen Schönheit“ geschrieben und ihr gegenüber die „bewegliche Schönheit“ hervorgehoben, „Anmut“, die vom Subjekt selber hervorgebracht werde. „Anmut“ ist auch für Rosenlöcher eine bedeutsame Kategorie: sein „rettender Engel“ setzt auf sie die größten Hoffnungen. Durch Kunstmittel des Humors und der Ironie gelingt es dem Autor zumeist, malerisch fixierte Schönheit in Anmut zu verwandeln.

6
Mit der Lyrik der DDR finden wir Rosenlöcher durch vielerlei Bindungen verwoben. Vor allem mit Gedichten jener Generation, die noch vor wenigen Jahren die mittlere genannt werden konnte. Mickels rechtens gerühmtes Gedicht „Der See“ war schon in Rosenlöchers „Entleerung“ variiert worden. Mickels Begriff „Torkeltanz“ wird nun in einen „Originaltorkeltaumelspringtanz“ verwandelt und gesteigert. Der kraftvolle, hintergründige Humor eines Kito Lorenc hat Wirkungen gezeitigt. Endlers „Sichdenberghinunterrollenlassen“ wurde zelebriert. Kunerts Baum, der seine Wurzeln aus der Erde riß, um sich in die Kämpfe der Zeit zu mischen, findet Nachfolge: bei Rosenlöcher galoppiert eine ganze Baumherde durch die lyrische Landschaft („Bäumegetrappel“). Greßmann müßte häufig genannt werden, vor allem, wo der Frühling, der „große Specht“, und Schilda ins Bild kommen, wo die Zahnbürste hymnisch besungen wird. An Peter Gosse, der Thomas Rosenlöcher am Leipziger Literaturinstitut ein Lehrer und Förderer war, erinnern deutliche Anklänge. Es überrascht, daß Rosenlöcher trotz seiner Parodierlust gänzlich darauf verzichtet, diese Autoren parodistisch zu attackieren. Er nimmt die Fäden früherer Gespräche auf – und verfährt dabei so wenig epigonal, daß ihn ganz unbekümmert läßt, ob sich seine Gedichte mit den jeweils angespielten an Gewicht und Originalität messen können. Neuerdings entdecken wir bei Heinz Czechowski Echos auf Rosenlöcher-Gedichte. So  antwortet er auf die Sentenz „Schönheit war / nur Lüge, die uns sanft macht für das Ende“ mit einem „Ab und zu / Gelingt noch ein Vers, / Der schön ist und / Doch nicht verlogen.“

7
Vor allem in seinem Zyklus der „Engel“-Gedichte handelt Rosenlöcher immer wieder von Kunst und Künstlerexistenz. Vergleicht man seine Engel mit denen Trakls, Rilkes oder Albertis, wirken sie merkwürdig klein, von geringer Spannweite – sie ähneln Spielzeugfiguren aus dem Folkloremuseum. Czechowski nennt sie „harmlos-vergängliche Wesen“: (Die „Riesenengel“ ergeben keinen Gegenbeweis, sie sind nur vergrößerte Kleinengel.) Aber aus eben ihrer Geringfügigkeit resultiert ihr Gewicht. „Der Schutzengel“ meint bei Rosenlöcher einen Schurzbedürftigen, der seinen Helfer bestärkt, indem er ihm zu helfen erlaubt. Manche der Engel sind sehr kindlich gehalten, „eene, meene, mink“, und das Spiel wird mit Drops, Ohropax und dem Lodenmantel Gottes bis zur Albernheit getrieben. Aber das Kichern des „Kicherengels“ („als ändere ein Kichern schon die Welt“) verbündet sich mit dem schmalen Rufen des „Engels der Beharrlichkeit“ und dem Flüstern des „rettenden Engels“. Rosenlöcher setzt auf das Kleine, Stille, auf Blühen, Humor, Dichten. Eine Botschaft, der des Lao-tse vergleichbar, „daß Schwaches über Starkes siegt“. Da ist Hoffnung beteiligt, als wachse die Rettung mit der Gefahr. Zugleich aber ist auch die fragwürdige Haltung seines Jedermann-Ich, das sich für sein Nicht-Tun herausreden will, dem Widerspruch des Lesers anheimgegeben.
Einer von seinen zarten Flügelfiguren sagt der Autor nach, sie habe im Fach Demut eine Fünf. Distanziert er sich hier von der Hybris seines „rettenden Engels“; der allein mittels Anmut die Labyrinthe der finsteren Systeme zu entwirren hofft? Oder deutet er an, all seine Bescheidenheitstopoi, in vielen Gedichten beider Bände vorgeführt, seien nur ironisches Spiel gewesen; und Selbstironie, die sein Dichten in so starkem Maße bestimmt, sei nur die Maske höchster Selbstgewißheit?
Die Gedichte überschauend, meine ich eher, der Autor laufe Gefahr, der Suggestivität seiner Bescheidenheitsformeln zu erliegen und in Demut allzu gute Noten zu bekommen. Er gibt sich der Selbstbescheidung hin, als hätte er seine Begabung schon ausgeschöpft, und begnügt sich öfter mit Variationen des schon Gefundenen. Vielleicht sollte er einen „Engel der Unbescheidenheit“ entwerfen, der ihm neue Haltungen, Themen, Formen zutrüge, der ihn verlocken könnte, den „Originaltorkeltaumelspringtanz“ zu versuchen, der in den Gedichten vorerst nur proklamiert, aber nicht getanzt wird.

8
Wer Rosenlöcher noch immer für einen kauzigen originellen, klugen, sympathischen Spaßmacher hält, dem sei entgegnet: ein Fröhlichmacher. Das ist etwas sehr anderes.

9
Der Rezensent verzichtet darauf, in dem Mitte 1989 entstandenen Beitrag neuere Erwartungen (die wohl die Lyrik verändern werden) nachträglich geltend zu machen: es wäre ungerecht gegenüber einem Autor, der redlich das Seine, ihm damals Mögliche getan hat.

Hubert Witt, neue deutsche literatur, Heft 446, Februar 1990

 

Laudatio auf Thomas Rosenlöcher

– Zur Verleihung des Hugo-Ball-Förderpreises 1990. –

Aber wer weiß schon wohin.
Und wie die Geschichte ausgeht.
Daher dieses Händeschütteln
und diese feuchte Methode
einander beim Abschied zu küssen.

 

(…)
und auch das Meer hat gelacht
über die unvergänglichen Staaten.
Das gab ein Gelächter
(…)

Lieber Thomas Rosenlöcher –

Mit den unterschiedlichen Hoheitszeichen ihrer Herkunftsländer werden zwei voneinander geschiedene Literaturen in der Geschichte verschwinden. Auch ein Abschied – ohne Gelächter. Es gab sie und es gibt sie – noch: zwei deutsche Literaturen. Zwischen ihnen mehr als die Grenze und die Entfernung – von Pirmasens nach Kleinzschachwitz; dazu Unterschiede und vor allem die Unkenntnis der Überheblichen.
In diesen sächsischen Weltwinkel des „Dreibuchstabenlandes“ bin ich nie gelangt. Anders als der Namenspatron unseres Preises, Hugo Ball, der Dresden 1913 bereiste und festhielt:

Grazilbarock steigt das Antlitz der Stadt schwarz und phantastisch mit Türmen, Glocken und Brücken in den mondstrahlenen Abendhimmel.

Prophetisches hat Ball damals wahrgenommen:

Wahnsinn und Umsturz: atemberaubende Dinge, die kommen werden, die kommen werden.

Dorthin bin ich nie gekommen. Wenig trostreich, daß die Welt vielleicht überall Provinz ist, und die vermeintliche Idylle immer mehr teilhat an der unheilen Welt – zwischen Pirmasens und Kleinzschachwitz. In dieses Tal der Elbe, ins „Tal der Ahnungslosen“, wo „sanft wie Tiere gehen die Berge neben dem Fluß“ – über Leipzig hinaus nach Dresden – bin ich nie gekommen. „Wer das Dichten will verstehen, / Muß ins Land der Dichter gehen; / Wer die Dichter will verstehn / Muß in Dichters Lande gehen.“ In seinem Garten in Kleinzschachwitz bin ich Thomas Rosenlöcher nie begegnet – nur seinen Gedichten, wie aus dem Bilderbaum von einem lyrischen Luftikus vor meine Füße geschüttelt, Wortmacht gegen Machtworte. Gedichten, die Kunde geben von einem lyrischen Landvermesser – „und sitze in Sachsen und schau in den Schnee“ – Gedichten, in denen ein Topograph von seiner sächsischen Heimat erzählt, geschrieben von einem Dichter, der „Inventur“ auf seine, „bescheidene“, aber nicht beschwichtigende Weise betrieben hat – „irgendwie leben nannte sich schon Glück“ –, und der seine Flaschenpost in sarkastischen Versen der Elbe anvertraute. Denn: „Selbst noch der tote Fluß fließt fort.“
Nirgendwo wurden Gedichte so ernstgenommen wie auf dem „Eiland“ DDR, nirgendwo gedieh literarischer Streit heftiger als über Gedichte – nirgendwo läßt sich das Lebensgefühl von Generationen besser ablesen als in 40jähriger DDR-Gedicht-Geschichte.

„Vierzigstes Jahr“ hat Thomas Rosenlöcher ein Gedicht getauft, Lebensbespiegelung und Rollenspiel in der Form des englischen Sonetts:

Wer geht, der geht. Das geht noch gut mit mir.
Sprach ich und ging mit schütter wirrem Haare
durch der Fontänen rauschendes Spalier,
gelassen in der Gnade meiner Jahre

die Straße lang: bis ich im Kaufhausfenster
umringt von Büchsen wen mit Bart und Bauch
sah, daß ich dachte: Seh ich schon Gespenster,
und höflich nickte. Doch er nickte auch.

Daß ich ihm, der da zuckte, wenn ich ruckte,
denn höflich hatte er noch stets, geschickt
machtlos im rechten Augenblick, genickt,
gradwegs ins feistzufriedne Antlitz spuckte.

Das Glas traf, mich umwandt, ging, wieder heiter,
doch der im Spiegel nickte weiter.

Und schließlich, Sie dürfen zustimmend nicken, nirgendwo hat Literatur in ihren Antworten auf eine Lebenslandschaft so reich und so vielstimmig geklungen wie in Thomas Rosenlöchers sächsischem Herkunftswinkel. Seine Gedichte erinnern auch daran, daß Verse weniger Gefühle sind – als Erfahrungen. Der von Adolf Endler so getauften „Sächsischen Dichterschule“, geprägt von Generation der heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen Rainer Kirsch oder Reiner Kunze aus Döbeln und aus Oelsnitz, der Wulf Kirsten aus Klipphausen und allem der Dresdener Autorenschar Karl Mickel, Heinz Czechowski und Volker Braun, folgt Thomas Rosenlöcher in seinen Gedichten auf seine Weise nach. Echos der Tradition; gemeinsame Vorbilder und Motive werden erinnert, anverwandelt und umspielt.
Im lyrischen Ensemble dieses verschwindenden Dreibuchstabenlandes hat Thomas Rosenlöcher sein eigenwilliges sächsisches Solo gesungen, in seinen Gedichten als sensibler Seismograph und manchmal warnender Wandersmann die von Geschichte gezeichnete Natur- und Kulturlandschaft seiner Heimat Dresden erkundet, wo die alltäglichen Dinge das Eigentliche enthüllen.
Jahrgang 1947, gehört Thomas Rosenlöcher schon der Generation der „Hineingeborenen“ an; hineingeboren in die bald erstarrenden stalinistischen Verhältnisse eines gefrorenen Friedens, nicht geboren zu aufopferungs- und mühevoller Lust am sozialistischen Aufbau. Allerdings nach dem Abschluß der Zehn-Klassen-Schule und der Handelskaufmannslehre, vor dem Abitur und vor dem Studium sowohl der Betriebswirtschaft als auch – ganz DDR-typisch – der Literatur, nämlich am Leipziger Johannes R. Becher-Institut, mußte Thomas Rosenlöcher noch seinen „Ehrendienst“ bei der „Nationalen Volksarmee“ absolvieren. Ein schulterzuckendes „Tja“ hat er in meinem Gedichtband hinter dieser biographischen Notiz vermerkt. „Tja“, solche Dichter sagen lieber „Ich“ als „Wir“, mit ihnen ist kein Kollektiv, kein Staat zu machen. Auch wenn das Neue Deutschland, das Thomas Rosenlöcher – wenigstens jedenfalls im Gedicht – morgens nach dem Küssen seiner Frau gelesen hat, auch wenn das „ND“ zum Erscheinen seines ersten Gedichtbandes mit dem unvergeßlich eingeprägten Titel Ich lag im Garten Kleinzschachwitz (übrigens versehen mit zwei Notaten zu Rilke und Eichendorff) grotesk akklamierte: „deutlich wird seine Überzeugung, daß er sich nur in der Gesellschaft finden kann, mit der er sich eins weiß und von der Anstöße zu produktiver Auseinandersetzung ausgehen“.
Des böse lachenden Poeten bittere Verse, nie in eins, auch nicht mit sich, sonst wäre er wohl kein Dichter, haben geantwortet: „An langen Bärten hängen die Propheten / und klopfen mit dem linken Fuß im Takt (…)“
Das Taktmaß seiner Verse ist der Trotz – des sarkastischen Spötters mit engel-sächsischen Zungen eher denn der einer sibyllinischen Stimme, die uns hymnisch hermetisch-„Pontifikales“ entgegenraunt.
Thomas Rosenlöchers Gedichte trotzen mit widerständig-beharrendem Humor, listig, satirisch-grotesk, bisweilen bitter; trotzen, nicht ohne elegisch-wehmutsvolle Trauer über Verluste oder Verzichte – „doch mir schien, man wußte, daß ich aus verlorener Zeit kam“ –, über Vernichtetes und Vergessenes, über ungetröstete Geschichte und untröstbare Natur. „Die Erde aufgeteilt, gerecht – wir hätten’s gern gesehen“, die Schlußzeilen aus Peter Huchels „Hirtenstrophe“ stehen als Widmung in meinem Gedichtband; übrigens erst nach dem November 1989 geschrieben.
Diese Gedichte bleiben, trotz ihrer Metaphern, assoziativ-anschaulich und gegenständlich, erwachsen alltagslyrisch der Gelegenheit, nahe den vertrautesten Orten, Menschen und Dingen, wollen nicht aktuelles Parlando treiben oder ästhetischh-exaltierte Sensationen suchen.
In seinem kürzlich erschienenen Dresdener Tagebuch Die verkauften Pflastersteine hat Thomas Rosenlöcher notiert:

Der wohl übliche, hier allerdings gemäßigte, Kampf zwischen Avantgardisten und Tradition. Die einen erneuern die Literatur und die anderen schreiben trotzdem etwas. Die Avantgardisten erneuern die Kunst, indem sie derart eindrucksvoll auf sie verzichten, daß es auch schon wieder eine Kunst ist. Manche von ihnen stellen das Elend in der Welt gleich an sich selber dar. Ärgerlicherweise nehmen sie von mir kaum Notiz.

Das hat sich geändert.
Thomas Rosenlöcher ist Poet konstatierter Erfahrungen und beobachteter Nähe – nicht Poetologe. Seine Gedichte sind kein sächsisches Dada, sie wollen nicht mit Sprache gegen Sprache experimentieren, nicht herrschende DDR-Sprache zertrümmern. Sie allenfalls zersingen: im Sonett und Hymnus, im Rondo oder Ritornell. Am klassischen Erbe-Maß geschult, weiß Rosenlöcher wie kein anderer sich frei im Metrum zu entfalten oder den festen Versfüßen zu entfliehen. Schnodderig-spielerisch bedienen sich Sprechweisen der klassischen Tradition, deren erhaben-hoher Ton und Pathos sich am Profanen ironisch auflösen. Das „Erbe“ – nicht nur der Dichtung – geht zuschanden.
„Denn Schönheit war / nur Lüge, die uns sanft macht für das Ende.“ Die Wort- und Bildtradition, die in Thomas Rosenlöchers Gedichten widerhallt, ist romantisch-naturlyrischer Herkunft, ältestem Bestand unserer Dichtung zugehörig.
So ruht er denn am liebsten wohl im Garten:

Im Garten sitze ich, am runden Tisch,
und hab den Ellenbogen aufgestützt,
daß er, wie eines Zirkels Spitze,
den Mittelpunkt der Welt markiert.
Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün
(…)

Der Garten, scheint es, ist auch dieses deutschen Dichters liebster Ort, sein Musen-Mittelpunkt, sein Dichtergarten, hier bittet er die Tradition, die Dichterfreunde in Vergangenheit und Gegenwart zu Tisch. Hätte Bertolt Brecht an  ihm gesessen, wir würden sein zum Aphorismus vernutztes Gedicht „An die Nachgeborenen“ vernehmen:

Was sind das für Zeiten, wo
ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
weil es ein Schweigen über soviele Untaten einschließt.

Und Thomas Rosenlöcher hätte mit vielleicht nur einer Zeile seines „Dornbusch“-Gedichts geantwortet: „Die Wälder starben lautlos in der Ferne“.
Oder – er hätte heftiger und kraftvoll mit seinem sächsischen Timbre, mit Humor und Realitätssinn die letzte Strophe seines Gedichts „Das Schreckensbild“ aus dem Gedichtband Schneebier (von 1988) deklamiert:

Und doch nahm ich im Gehn mein Weiterschreiten
als kleines Beispiel, daß sich alles fände,
über die Kippe kommend, und ich stand.
Denn vor mir stieg, mein rundes Staunen füllend,
ein Chaos auf, ein wildgehäuftes Duften,
gleichviel vom Sog des aufgeschmolznen Himmels
und Erdfeld angezogen: Schwerelos.
Und sonder Zwischenraum, indes doch Bienen
ins schneebedeckte Innere einflogen,
da sich das Weiß ins Weiß hob ohne Laut,
und oben aus dem Blütengletscher noch
ein Zweig aufragte, seltsam bittend,
daß ich nicht wissend wie noch was nun werden
soll einwärtslief, beständig hinter mir
das Schreckensbild des Kirschbaums, der da blüht.

Arkadien liegt nicht in Sachsen, und Thomas Rosenlöcher „glotzt“ weder romantisch, noch ist er grüner Empörungspoet, er sucht nicht naturlyrisch gestimmten tröstenden Ton, der idyllisches Glück in anschauendem Fühlen findet: – „da Augen zum Sehen nicht taugen, / denn sie sind verstellt von Beton“.
Thomas Rosenlöcher ist kein beschaulicher Schollensänger, befördert nicht in lyrischem Lauschen aus dem Buch der Natur bukolische Nachrichten von Wiesen und Wäldern, Larven und Lurchen – eher bedrohliche Schreckensbilder: sieht „Schlotetodesschatten“, warnt ohne zu jammern, „Kein Vogel. Riesige Maschinen fraßen den Horizont ab“ – oder „An schwarzer Mauer schwarze Industrie entleert sich schweigend in das schwarze Wasser.“
Natur ist in solchen Gedichten nicht mehr Kulissenreservat und Stimmungsbild für rein Jahraus-Jahrein, die in Verse verwobene Restnatur ist in Thomas Rosenlöchers Gedichten nicht nur Bildarsenal und Motiv – sondern vor allem Geschichtschiffre, politisches Menetekel der Zerstörung, der zerfallenden Wirklichkeit, die nicht nur die der DDR war, sondern auch unsere ist – zwischen Pirmasens und Kleinzschachwitz.
Aus Kleinzschachwitz sind Thomas Rosenlöchers Gedichte angekommen, bei uns, bei mir. Hier nun spreche ich lobredend über sie, gratuliere zum nach Hugo Ball benannten Preis von Herzen – wohl wissend, daß die beste Lobrede auf einen Dichter dessen Gedicht bleibt.

DIE VERLÄNGERUNG

Ich lag in meinem Garten bei Kleinzschachwitz
in einem Grün von niegesehnem Ausmaß
und sah, nachdenkend über die Belange
der unerhörten Rose und des Staats,
hoch über mir den großen Tröster Himmel,
als ich, kam das vom heftigen Nachdenken,
ein sanftes Ziehn in meinen Beinen spürte.
Ich wachse noch, sprach ich und freute mich.
Jedoch die Füße lagen schon am Zaun,
vor dem sie einen Augenblick verharrten,
eh sie losfuhrn. O rasende Zellteilung
an Häusern aufwärts, abwärts, über Dächer.
Wo sie hinkamen, stockte der Verkehr,
die Reichsbahn tobte, Menschen stauten sich,
bestaunten dieses langgestreckte Wunder
und übten sich daran im Balancieren.
Doch längst war es, die Sparte frohe Zukunft
durchfurchend, aus der Stadt hinausgeglitten,
schlief sanft in Wäldern, rauschte durch Kornfelder
ins Läuten stiller Mittagsdörfer ein,
und frohen Mutes fuhr ein Vögelein
auf einer Zehe mit, tandaradei,
doch hinterher, einsam, die Polizei
mit ernstem Blick quer durch den Staub der Äcker
in eines Sees noch unerforschte Tiefen,
wo sie verschwand. Der Staat war in Gefahr.
Denn meines Leibes Doppelröhre nahm
kaum, daß sie aufgetaucht war aus den Fluten,
Kurs auf die Hauptstadt. Die Regierung tagte,
kein Wort kommt in die Zeitung, Helikopter
erhoben sich, der Lage Herr zu werden,
die Straßen füllten sich mit Dynamit.
Doch eh man meine weitgereisten Füße
absprengte, knapp vorm Brandenburger Tor,
geschahs, daß sie von selber stillestanden,
da ich in meinem Garten bei Kleinzschachwitz,
in jenem Grün von niegesehnem Ausmaß,
wo ich nachdachte über die Belange
der unerhörten Rose und des Staats,
in Anbetracht des großen Trösters Himmel
den Finger an die Nasenspitze legte
und bei mir sprach: Man muß bescheiden sein.

Christian Döring, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 118, Juni 1991

Das Sächsische als Verlierersprache

– Rede zur Verleihung des Hugo-Ball-Förderpreises. –

Meine Landessprache ist sächsisch. Sächsisch durften wir schon als Kinder nicht reden. „Sprich anständig, Domas“, sagte die Mutter, die auch sächsisch sprach. „Sprich ordentlich, Domas“, sagte der Lehrer, der auch sächsisch sprach. – Selbst der Versuch, irgendwie berühmt, das heißt Schauspieler zu werden, scheiterte in meinem Falle an der Landessprache. Denn während ich mich der Bühne um eine möglichst lebensechte Darstellung von Hänsel und Gretel bemühte, schlug der Regisseur die Hände vors Gesicht. „Mann, spricht der säuisch!“ Die Bühne betrat ich nie mehr.
Sächsisch sei kein Dialekt, sondern eine Maulfaulheit, sagte der sächsisch sprechende Lehrer.
Wo gibt es das sonst im vielsprachigen Deutschland? Selbst wenn Schwäbisch, Bayrisch oder Platt als Zeichen für die Beschränktheit des jeweiligen Sprechers genommen wird, gilt es doch wenigstens dem jeweiligen Sprecher als Ausdruck seines Stolzes und Beharrungsvermögens. Allein die Sachsen schämen sich vor sich selbst, wenn sie den Mund aufmachen. Allein sie verbieten sich ihren Dialekt von vornherein: „Das heißt nicht heeßt, das heeßt heißt.“
Welche Deformationen mag dieses fortwährende: „Sprich ordentlich, Domas“ in einem Menschen bewirken? Dieses ständige Klopfen auf den Schnabel, der ihm gewachsen ist? Solange, bis ihm der Schnabel selbst im Wege ist? Bis er verstummt oder anfängt, mit frisierter Schnauze zu sprechen?
Haben wir hier eine Ursache für die oft konstatierte, in Residenzdresden stärker als in Messeleipzig ausgeprägte, sächsische Unterwürfigkeit?
Sollte die Beurteilung einer Sprache oder eines Dialekts womöglich schwankend sein? So daß sich die scheinbar objektive Klangwirkung mit den Zeiten ändert? In Abhängigkeit vom jeweiligen Gebrauchswert des Idioms und historischen Gewicht der Völkerschaften und Völkchen, ihrem geschichtlichen daherkommen und den wechselnden ökonomischen Verhältnissen? Immerhin galt die dem Sächsischen wohl verwandte, sogenannte „Meißnische Kanzleisprache“ zur Zeit der großen Silberfunde so ziemlich als das Höchste. Und noch dem Frankfurter Goethe soll das Leipzigerisch recht angenehm in den Ohren geklungen haben. Einigermaßen hatten sich die Sachsen ja immer wieder aufgerappelt. So nach dem Dreißigjährigen Krieg, in dem sie, um auch einmal zu siegen, hin und wieder die Fronten wechselten und auf diese Weise stets auf der Seite der Verlierer standen. So nach den Schlesischen Kriegen, als sich das Sammeln von Bildern wenigstens zeitweise für ungünstiger erwies, als das Sammeln von Soldaten.
Dann aber kamen die Napoleonischen Kriege, da dieses Unglückshuhn von einem sächsischen König unter seinem Federhut dem Napoleon selbst dann noch nachlief, als selbst die Preußen die Wende vollzogen hatten und Freiheitskrieger geworden waren. – Von nun an fand die Sachsen so gut wie jeder komisch. Keine Nachrichten mehr über den Wohlklang ihrer Sprache. „Die Sprache dieser Leute beleidigt mein Ohr“, schreibt Grillparzer in sein Tagebuch. „Drääsden. Gestern abend hier angekommen… Diese quäkenden Frösche mit ihrer äußeren Höflichkeit und inneren Grobheit…“ –
Aber bitte, Herr Grillparzer, waren diese, zugegeben, grob und dumpf erscheinenden Laute nicht auch der Nachhall fortwährender Demütigungen und Niederlagen? War dieses Quäken aus der Tiefe nicht auch der Widerhall der vorsätzlichen grillparzerischen Verachtung?
Mußten die Sachsen nicht auch so sprechen, weil sie längst „Die Sachsen“ waren, und einer immer den August machen muß? – Sächsisch als Verlierersprache. Trotz Old Shatterhand. Und noch längst hatten die Niederlagen kein Ende. – Wer aber hatte am Ende das Bußgeld für den 2. Weltkrieg zu zahlen? Wer saß nach dem Bau der Mauer Kopf an Kopf mit den Preußen, hinter der Mauer, während die Schwaben und Bayern wie selbstverständlich davorsaßen und bald schon dreinschauten, als hätten sie das auch verdient? Freilich, die Mauer ist Eigenbau gewesen. Ausgerechnet der spitzbärtige Landesvater hat sich des sächsischen Tonfalls bedient. Sächsisch als Ulbrichtsprache. Sächsisch als „off de Bardei is Verlaß“ – Sprache der Arbeiterverräter. Old Shatterhand war Funktionär geworden.
Wo Sächsisch gesprochen wird, macht, kurz gesagt, immer einer den Dummen. Sie „dehnen“ schimpft Grillparzer, „jede Silbe, verlängern jedes Wort hängen überall ein Lieblings-E an, so daß ihre Sprache ein förmliches Mäh, Mäh von Schafen wird…“ – Aber hat das Sächsische, Herr Grillparzer, nicht gerade als Verlierersprache, auch seine eigene Würde? Kann uns nicht auch das Mäh, Mäh von Schafen etwas sagen, wenn sich dahinter ein vollständiger Mensch verbirgt? Ist ein langgedehntes „Määnsch Du, das haut wieder rein“ nicht ebenfalls Ausdruck von Tapferkeit? Bringt es in seiner Drastik nicht die Wirklichkeit am ehesten zum Leuchten? Zu schweigen davon, daß sich hinter den armseligen „Ouhhs“ der Sachsen die List dessen verbirgt, der trotzdem weiß, was er wert ist? Bieten die langgedehnten, mulmigen Vokale nicht innerhalb ihres Mulmens Momente von Geborgenheit? Ist Lächerlichkeit nicht eine Form der Anmut? Grillparzer schweigt. Er ist überfragt. – Fragen wir ohne ihn weiter:
Darf Literatur im O.k.-Zeitalter, wenn schon nicht die Sprache der Kinder, so doch wenigstens andeutungsweise die Sprache der Verlierer sprechen?
Freilich: Ein einziges Mal in der sächsischen Kummergeschichte ist Sächsisch nicht die Sprache der Verlierer gewesen. Sie erinnern sich: Obwohl die Preußen Wochen später, als es schon nicht mehr gefährlich war, die Revolution im Fernsehen der ganzen Welt vorführten, war „Wir sind das Volk“ vor allem auf Sächsisch gerufen worden. „Oh weh“ dachte ich damals, vor langer Zeit, einem Jahr: „Nichts güldet mehr.“ – Nicht einmal das Gedicht, das ich geschrieben hatte und für eines meiner Hauptwerke hielt:

DER PASSGÄNGER

Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee.
Ich saß über Amsterdam
auf einem Balkon mit gedrechselten Stäben
und sah unterm Giebel mir gegenüber
ein Zimmer, in dem eine riesige Katze,
blaßrote Gladiolen und eine Frau
den ganzen Vormittag lebten
und mich plötzlich ansahn. Ich stand
vor dem Hauptbahnhof Dresden,
und grauer war die Geometrie
und geometrischer das Grau
und Lenin zwischen den Rabatten
auch nur ein König aus Preußen. Ich saß
hoch über Amsterdam, unten
die Straße in täglichem Aufruhr, Schiffsorgeln,
schaukelnde Straßenbahnen,
drei Polizisten in vollem Galopp
und sämtliche Fahrradfahrer der Welt
die Knaben die Mädchen die Knaben
kutschierend, dazwischen, im Durcheinander,
dicht neben den Schienen erglänzte
ein goldener Ritter. Ich stand
vor dem Hauptbahnhof Dresden,
und drüben war Fußball, und Ouhh!
riefen die Sachsen verloren mal wieder.
Da sagte auch ich leise Ouhh,
denn ich gehörte zu ihnen,
samt diesen, meinen betrüblichen Hosen.
und sitze in Sachsen und schau in den Schnee.

Unterdessen haben die Sachen wieder zu verlieren begonnen, der eine das Haus, in dem er wohnt, der andere seinen Arbeitsplatz. Freilich, der Gewinn überwiegt, und sei es die weite Welt. Auch für unsereinen ist die Zeit des in-Sachsen-sitzens und in-den-Schnee-Schauens vorbei. Wer kann, darf sich ausprobieren, ist doch Regionalität ohne Weite auf Dauer nur Provinz. Der selbst jetzt noch, trotz meiner Bemühungen, hörbare, leicht sächsische Tonfall, die Sprachmelodie der Verlierer, wird sich ohnehin immer wieder zwischen die Worte schleichen. Nicht ganz so ins Heroische gehend wie bei Richard Wagner, aber wenn möglich das immerwährend Komische mit der Würde des Vorhandenseins verbinden. Ein Beharrungsvermögen, das, wenn es „Ich komme gleich“ sagt, meint, daß es nie käme. Eine plebejische Drastik, gerichtet gegen die Diktatur des Abstrakten. – Kürzlich fragte mich, als ich zur Elbfähre hinunter ging, einer der dortigen, an das Kneipengeländer gelehnten Trinker:

„Nuu, Rosenlecher. Dichdest de wieder?“
„Ach was, Spaziern geh ich.“
„Klar dusde Dichden: ,De Vöchel singen im Gezweig.‘“

Obwohl ich sah, daß ich fortkam, war mein Gesamtwerk noch nie so treffend charakterisiert worden.

Thomas Rosenlöcher, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 118, Juni 1991

 

Diesseits der Idylle: Schriftsteller Thomas Rosenlöcher mit Katrin Wenzel in einem Gespräch aus dem Jahr 2017

 

 

Allein ein Kichern ändert schon die Welt – Ahmad Mesgarha liest in Hoppes Hoftheater Lyrik und Prosa von Thomas Rosenlöcher

 

ANZIEHUNG
Für Thomas Rosenlöcher

Am Schreibtisch saß ich und dachte Belangloses
Grad der feinsten Art als meine Finger plötzlich
und wie Zunder knackten. Da wuchs schon
bestaunt von mir zwischen Zeigefinger und Daumen
eine zweite Hand. Griff nach der Feder
und schrieb in sütterliner Schönheit Verse.
So mehrten sich, das Zimmer schon beengend,
die mir entstehenden Hände zwischen den Fingern
wie Hefepilze. Zuletzt flogen Schreibmaschinen
mir durchs Fenster und in die jüngsten Hände,
zum Zweifingersystem blieb keiner Hand die Zeit
und ich redete mir ein, gradwohl mein Körper
sich stählte im Anprall herbeistürzender
Schreibutensilien: Wie anziehnd ist ein Schreibender!
Da klatschten all meine kleinen Hände jubelnd mir zu.

Peter Wawerzinek

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Dichter und Wende-Chronist
Bayerischer Rundfunk, 19.7.2017

Friedrich Dieckmann: Weltfremdling in der Zeitenmühle
Süddeutsche Zeitung, 27.7.2017

Karin Großmann: Ein kleiner Jubel Glück und ein Hieb auf den Kopf
Sächsische Zeitung, 29.7.2017

Dirk Pilz: Engel hat sich der Dichter abgewöhnt
Frankfurter Rundschau, 28.7.2017

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rosenlöcher“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Thomas Rosenlöcher

Thomas Rosenlöcher liest am 11.5.2021 in der Textilrestaurierungswerkstatt der Museen der Stadt Dresden.

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