Tobias Lehmkuhl: Zu Marcel Beyers Gedicht „Verklirrter Herbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marcel Beyers Gedicht „Verklirrter Herbst“ aus dem Band Marcel Beyer: Falsches Futter. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum frohen Ende Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

 

MARCEL BEYER

Verklirrter Herbst

Der Funker: „Ver-.“ Gewaltig endet so der Tag.
„Aufklären.“ Sie hängen in den Leitungsmasten.
„Bild an Bildchen. Melden.“ Die Drähte brummen
sonderbar. „Hier Herbst.“ Hier Einbruch. „Hier
Verklirrtes.“ Die Toten, statisch aufgeladen.

Der Funker: „Melden.“ Da sagt der Landser: Es
ist gut. „48 Stunden in diesem Loch.“ Beinfreiheit,
Blickangst. Und jemand flüstert: Sie sind heiser?
„Falls wir jemals wieder raus.“ Das Bahnsteigklima
bringt mich um. „Noch.“ Die Viehwaggons
auf Nebengleisen. Wurstflecken.

Der Funker: „Aber selbstverständlich, du willst es
eiskalt, Junge?“ Ein Zug fährt an, den er besteigt.
„Da wird dein Hals aber kaputt sein, morgen früh.“
Scheitel, gebürstet. Nah dem Verteiler, sieht er,
sprühen Funken. „Junge, du willst es eiskalt?“ Ganz
spezielle Rasuren. Scharmützel. „Leich an Leiche
reiht sich.“ Ausrasiert. „Flackern.“ „Hinterköpfe.“

 

Marcel Beyers Trakl-Übersetzung

Marcel Beyers Gedicht „Verklirrter Herbst“ erschien 1997 im Band Falsches Futter. Es ist nicht das einzige Gedicht dieses Bandes, das den Krieg zum Gegenstand hat, es ist aber dasjenige unter den Kriegsgedichten in Falsches Futter, das bisher das größte Echo gefunden hat. Thomas Kling bezeichnet „Verklirrter Herbst“ als die „angebrachteste Trakl-Anverwandlung, die wir kennen“. Jörg Drews hebt es in einer Rezension hervor und nennt es als Beispiel für die „neue Unersetzlichkeit der Lyrik“. Dass hier ein „Bezug“ auf Trakls „Verklärter Herbst“ vorliegt, ist allerdings keineswegs eine „Plattitüde“, wie Drews meint, vielmehr handelt es sich bei „Verklirrter Herbst“ um eine tiefgehende Anverwandlung und Fortschreibung des 1913 erstmals erschienenen Trakl-Gedichts. Für sein Verständnis ist das Wissen um diese enge Verbindung und die parallele Lektüre beider Gedichte unabdingbar.
Worum es in Beyers Gedicht geht, verrät schon der Titel, wenn er auch einen Hinweis gibt, der enträtselt sein will. Der Neologismus „verklirrt“ speist sich weder aus der alltagssprachlichen Wendung „es klirren die Gläser„, noch aus einer literarischen Bezugnahme auf Hölderlins „klirrende Fahnen“ (obwohl gerade Trakls „Verklärter Herbst“ stimmungsmäßig Hölderlins „Hälfte des Lebens“ nahe steht), sondern aus dem Vokabular der Funktechnik. Die Technik strukturiert das gesamte Gedicht und prägt den Titel: Das „Maß für die nichtlinearen Verzerrungen, die ein Übertragungsgerät bei sinusförmiger Eingangsspannung verursacht“, nennt man in der Fachsprache „Klirrfaktor“. Die minimale Verzerrung des Titels (lediglich zwei Phoneme haben sich geändert) kündigt gleichzeitig die vollständige Verzerrung des Ausgangstextes an.
Die erste Strophe greift das rhythmische Schema des Trakl-Gedichts auf: Isoliert man die vier nicht in Anführungszeichen gesetzten Sätze, so erkennt man die vierhebige Versform von „Verklärter Herbst“ wieder:

Gewaltig endet so der Tag.
Sie hängen in den Leitungsmasten.
Die Drähte brummen sonderbar.
Die Toten, statisch aufgeladen.

Die Verse sind zwar nicht gereimt, die jeweiligen Endworte tragen aber die gleiche dunkle Prägung des Vokals a wie Trakls Jahr / Gärten / wunderbar / Gefährten. Zudem enden Vers 2 und 4 ebenso wie bei Trakl mit einer Senkung. Die Sätze stehen durch kurze Einwürfe im Telegramm- oder eben Funkstil getrennt da. Die rhythmische Homogenität wird also aufgebrochen, jedoch nicht völlig zerstört. Vielmehr schieben sich die kurzen Einwürfe sowohl in rhythmischer als auch in semantischer Hinsicht als zweite Schicht über das Traklsche Schema. Problemlos lässt sich die vollständige Eingangszeile („Der Funker: ,Ver-.‘ Gewaltig endet so der Tag.“) als sechshebiger Jambus lesen, zumindest, solange man sich aufgrund des Punktes nach „,Ver-.‘“ und der rätselhaften Bedeutung des Gesagten nicht beim Skandieren verunsichern lässt. Womit „Der Funker: „,Ver-.‘“ das Traklsche Schema erweitert.
Auch „,Hier Herbst.‘ Hier Einbruch. ,Hier! Verklirrtes.‘“ gibt sich als vierhebiger Jambus, wozu allerdings das dritte ,Hier‘ betont werden muss. Dadurch gerät „,Hier / Verklirrtes.‘“ zum Kulminationspunkt innerhalb der anaphorischen Reihung, obwohl dies dem ersten Anschein nach semantisch widersinnig ist: In der Abfolge der einzelnen Sinnpartikel lässt sich keine Linie erkennen, die in einen Höhepunkt gipfeln würde. Der Kontext legt nahe, dass es sich bei „,Hier Herbst.‘ Hier Einbruch. ,Hier / Verklirrtes‘“ um einen Funkspruch handelt, womöglich sogar um drei miteinander kommunizierende Funker. Diese müssten dann aber recht befremdliche Codenamen tragen, und der dritte Funker müsste sich in einem pathetisch-triumphalen Tonfall melden.
Mit viel gutem Willen ließe sich für das ganze Gedicht so etwas wie eine ,Geschichte‘ rekonstruieren: In der ersten Strophe werden gegen Abend Menschen an Leitungsmasten aufgeknüpft, ihre Körper stören die Funkübertragung. Die zweite Strophe scheint eine Bahnhofssituation während des Zweiten Weltkrieges zu beschreiben: Juden werden in Waggons gepfercht. Für Strophe drei lässt sich eine Interaktion zwischen einem Eingepferchten und einem zu Anfang jeder Strophe erwähnten Funker vermuten. Tatsächlich aber führen solche Rekonstruktionsversuche in die Irre, wie der Vierheber „,Hier Herbst.‘ Hier Einbruch. ,Hier / Verklirrtes‘“ beispielhaft zeigt, denn er steht zugleich als rhythmisch-semantisches Glied innerhalb des Gedichts und funktioniert darüber hinaus als metapoetischer Kommentar: Abgesehen vom Titel „Verklirrter Herbst“ wird Trakls Gedicht an dieser Stelle erstmals direkt angesprochen: „,Hier Herbst‘“. Es ist hier noch unentschieden, ob es sich um den ,verklärten‘ oder den ,verklirrten‘ Herbst handelt. Nach „Hier Einbruch“ aber triumphiert „,Hier Verklirrtes‘“ und es wird deutlich, dass sich erster und dritter ,Funkspruch‘ gegenüberstehen, dass es sich also bei ersterem nur um jenen aus der Vergangenheit handeln kann, der uns in diesem Gedicht nur mehr als lyrisches Echo erreicht: Trakls „Verklärter Herbst“. Ein ,Hier Verklärtes‘ ist nicht mehr möglich, ja wäre an dritter Position funktionslos, da es durch „Hier Einbruch“ überwunden bzw. untergraben wurde. Worin dieser Einbruch besteht, wird nicht offen ausgesprochen, nicht zuletzt aber ist es Beyers Gedicht selber, das es unmöglich macht, ,Hier Verklärtes‘ rhythmisch-semantisch triumphieren zu lassen und es dabei zu belassen, Trakls Gedicht fortzuschreiben. Mehrfach macht Beyer einen Bruch kenntlich, der dazu zwingt, über Trakls Gedichtwelt hinauszugehen.
Die Überlagerungen, die es schwierig machen, einzelne rhythmische Einheiten voneinander abzugrenzen, laufen parallel zu Überlagerungen semantischer Einheiten, wie es anhand der unentschiedenen Ausrufung „,Hier Herbst‘“ schon gezeigt wurde. In der zweiten Strophe tritt dieses Verfahren noch deutlicher hervor. Nehmen wir die Verse 9 bis 11: „,Falls wir jemals wieder raus.‘ Das Bahnsteigklima / bringt mich um. ,Noch.‘ Die Viehwaggons / auf Nebengleisen. Wurstflecken.“ Die Sätze „Das Bahnsteigklima / bringt mich um“ und „Die Viehwaggons / auf Nebengleisen“ bilden wieder rhythmisch und klanglich die letzten beiden Verse der zweiten Strophe von „Verklärter Herbst“ nach: „Gebt noch zum frohen Ende Mut. / Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.“
Durch „,Falls wir hier jemals wieder raus‘“ ließe sich Vers 9 jedoch auch als sechshebiger Trochäus lesen. Entscheidend aber ist das zwischengeschaltete „Noch“, das sowohl als Senkung funktioniert als auch als Hebung (was die Vermutung nahelegen würde, dass es sich um einen frühen Zeitpunkt der Judendeportation handelt, als die Viehwaggons noch nicht zum Einsatz gekommen sind oder eben noch die Viehwaggons von den Nebengleisen abgefertigt werden müssen). Aber weder endet der erste entsprechende Trakl-Vers auf einer Senkung, noch setzt der zweite mit einer Hebung ein. Es gibt also keinen gesicherten Anhaltspunkt, der entscheiden könnte, welchem Satz das Wörtchen ,noch‘ zuzuordnen ist.
Die dritte Möglichkeit, nämlich „Noch“ völlig isoliert aufzufassen, wäre mindestens ebenso überzeugend, wie wenn man es dem einen oder anderen Satz zuordnete. Geht man davon aus, dass sich der Rhythmus bei diesem Zwitterwesen aufhebt, dass Betonung und Nicht-Betonung ineinander fallen und auf diese Weise eine rhythmische Leerstelle schaffen, so zeigt sich, dass auch in semantischer Hinsicht ein Nicht-Vorhandensein von „Noch“ eine besondere Qualität hätte. Wenn sich „Noch“ außerhalb des Gedichtes befindet, wenn lediglich graphisch markiert wird, was rhythmisch und semantisch nicht vorhanden ist, dann wird der floskelhafte Satz ,etwas bringt mich noch um‘, dieser O-Ton, wieder zurückverwandelt in eine unmetaphorische Aussage. Der Tod ist in diesem Gedicht wörtlich zu nehmen. Sein Schrecken aber verbirgt sich trotz allem in dem, was nicht gesagt wird bzw. was nicht erklärt wird. Gleich neben ihm stehen lächerlich die „Wurstflecken“, ebenso als rhythmische und semantische Leerstelle. Diese sind zudem aber ein grotesker Auswuchs der parataktischen Reihungen, deren klanglich-rhythmischer Bezug zum Ausgangstext häufig stärker ist als ihr semantischer Bezug untereinander.
Zur Verdeutlichung des eben Gesagten lassen sich noch weitere bittere Korrespondenzen anführen: Der Traklsche „Vogelzug“ hat sich in „Viehwaggons“ gewandelt, und aus der „Reise“ sind bei Beyer „Nebengleise“ geworden. Wo der „Vogelzug“ grüßt, fehlt den „Viehwaggons“ jeder kommunikative Aspekt, und wo die „Reise“ einen großen Bogen spannt, liegen die „Nebengleise“ im Abseits. Außerdem ist das „frohe Ende“ bei Trakl noch mit Hoffnung („Mut“) aufgeladen, Beyers Bahnsteigklima bringt hingegen einfach „um“. Das isoliert stehende „Noch“ erweist sich im Hinblick auf Trakls „Gebt noch zum frohen Ende Mut“ als geradezu zynischer Kommentar, da es als einziges Wort von Beyer direkt für die Adaption der zwei Verse aus „Verklärter Herbst“ übernommen wurde. Der parataktische Bau von „Verklirrter Herbst“, mit dem sich Beyer in die antike Tradition erhabener Rhetorik stellt, verhindert eine klare Ein- und Zuordnung der einzelnen Sinnpartikel in einen erzählerischen Gesamtzusammenhang. Die Möglichkeit, jede Einheit als Artikulation einer neuen Stimme aufzufassen, weist hin auf die potenziell unendliche Anzahl von sich in diesem Raum artikulierenden Stimmen.
In der letzten Strophe von „Verklirrter Herbst“ erfährt das Traklsche Schema seine krasseste Umformung: Nach fünf Versen in der ersten, sechs in der zweiten, stehen in dieser Strophe sieben Verse statt jeweils vier im „Verklärten Herbst“. Jedoch nur mehr ein Satz daraus entspricht dem Nachbildungsprinzip, das für die bei den vorangegangenen Strophen dargestellt wurde. „Ein Zug fährt an, den er besteigt“ ist ein vierhebiger Vers, der mit einer Senkung anfängt und mit einer Hebung endet, ein lupenreiner Jambus, ebenso wie Trakls „Es ist der Liebe milde Zeit“. Das Endwort enthält auch bei Beyer den Umlaut ei. Es ist das letzte Aufglimmen einer Ordnung, die sich nun ganz im Chaos des Krieges auflöst. Trakls „Wie schön sich Bild an Bildchen reiht –“ wird wieder aufgegriffen, nachdem es in der ersten Strophe bereits angeklungen war („Bild an Bildchen. Melden“). Kurz vor Schluss heißt es: „Leich an Leiche / reiht sich“. Ein ganz und gar schreckliches Bild. Hat man allerdings den Ausgangstext im Kopf, so erscheint dieser Satz als groteske Verzerrung: Aus einem scheinbar harmlosen Satz, einem verklärenden Kommentar wird durch Auswechslung eines Wortes ein konkretes Bild.
Makaber wirkt auf den ersten Blick das Gedichtende. Werden die Leichen von Gehängten, denen vor ihrer Exekution die Nackenhaare ausrasiert wurden  (zumindest war dieses Verfahren zur Entlausung oder vor dem Guillotinieren üblich), nun verbrannt, sodass Flammen um ihre Hinterköpfe züngeln? Geschrieben steht: „spezielle Rasuren. Scharmützel. ,Leich an Leiche / reiht sich.‘ Ausrasiert. ,Flackern.‘ ,Hinterköpfe.‘“ Das Verb „flackern“ ist hier substantiviert. Man kann auch sagen: Es gewinnt Gestalt. Die Verzerrung der Sinuswellen, des Empfangs wird fassbar. Wieder steht mit „Ausrasiert“ ein eine leere Stelle bezeichnendes Wort wie „Hier Einbruch“ und „Noch“ außerhalb der in Anführungszeichen gesetzten Textumgebung. Die bewusste Aneinanderreihung von Bildelementen in „Verklärter Herbst“ („Wie schön sich Bild an Bildchen reiht“) wird bis zur völligen Deformation und Entblößung der Traklschen Natur- sowie der eigenen Kriegsbildlichkeit fortgesetzt.
Trakls Naturgedicht wird durch Beyer nicht willkürlich in ein Kriegsgedicht übersetzt. Der lebensbedrohende Schrecken, der dem Krieg seine Qualität als Objekt erhabener Empfindung verleiht, ist in Trakls Herbst-Erfahrung bereits angelegt: Als negative Folie liegt der Tod unter der verklärten Herbstbeschreibung. Ein Ausblick auf ein zukünftiges Werden wird nicht gegeben, das vorgeblich als „schön“ empfundene Jahresende läuft auf ein völliges Vergehen hinaus, es „geht in Ruh und Schweigen unter“. Beyers Gedicht nun verzerrt in zunehmendem Maße Trakls Bild- und Sprachwelt und kommentiert gleichzeitig die Deformation, die sie zufügt. Die Eingangszeile lässt sich bereits als Ausblick auf das Ende des Gedichts lesen: ,Ver-gewaltigt‘ wird die Sprache und vor allem der Wunsch, Sinnzusammenhänge herzustellen. ,Gewaltig‘ ist aber auch alles Erhabene. Durch die groteske ,Ver-‘zerrung oder ,Ver-‘schiebung des Wortes ,Gewaltig‘, seine ,Vergewaltigung‘, scheint das Erhabene in grotesker Gestalt im Wort „,Ver-.‘ Gewaltig“ selbst auf.
Lässt sich bei Trakl noch die „Frucht der Gärten“ pflücken und kommunizieren bei ihm selbst die „schweigenden, Wälder“ mit dem Betrachter, so hängen bei Beyer keine Früchte in den Bäumen, sondern Tote in Leitungsmasten. Das, was die Drähte, an denen sie hängen, von sich geben, bleibt unverständlich, denn sie „brummen sonderbar“. Indem Logik und Perspektive solcherart gebrochen und Sprache und Bilder opak werden, erfährt der Krieg eine Darstellung, die zwischen grotesker Verzerrung einer (romantischen) Gegenwelt und der erhabenen Gewalt harter Fügung oszilliert.

neue deutsche literatur, Heft 554, März/April 2004

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