Tom Schulz: Innere Musik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Tom Schulz: Innere Musik

Schulz-Innere Musik

BOBROWSKI IN FRIEDRICHSHAGEN

Sonnenschnee
wer sehen kann, kann sehen
die Dolden in ihrem Blütenstand

am See die Schwanenblume wuchs
wer sehen kann, kann sehen
das nahe Ende der Allee

die Pappeln neigen sich
zu Milch & Blut
in einer Bettlerschale

über schlesischem Granit
ein Gespräch wäre gut
unter Hölderlins Holunder

Stille von Zweigen sich
zu vertiefen in selbst
verständliches Gras

hier war der Osten ein Anflug
in Asche, geschehen versehen
begangen vergessen

wer hören könnte, würde fühlen
den Weg an die Wiedergeburtsmaschine
wie sehr die Gebetsmühle knirschte

knirschte das Gras; wir sangen
das Blut, von der Memel das Wasser
von einem Katzenteller die Milch

tausendmal hab ich den Sommer
zu Herzen gedreht &
er sang zu mir

dem Elsternpaar auf dem Wipfel
der Birken hab ich’s geflüstert
Johannes

 

 

 

Ist nicht jedes gelungene Gedicht

eine amouröse Verwicklung mit der Sprache? Das fragte Tom Schulz  in seinem  Nachwort zu Nicolas Borns Liebesgedichten, und es mag als geheime Devise des Autors stehen. Dass er sich von einer rein postmodernen Lyrik und ihren lexikalischen Fachsprachen abwendet, führt zu geglückten Figuren – wie seine Variationen auf Gedichte der Romantik und des Barock zeigen −, zu einem dunklen Traum in heller Nacht. Dichten heißt, wie Paul Valéry formulierte, Voraussehen. Schulz’ Gedichte entwickeln diese seherische Gabe. Sie beginnen (sich) zu verändern, indem sie Denken und Fühlen, Reflexion und Emphase in sich vereinen – Poesie als Innere Musik einer Durchquerung vergegenwärtigter Erinnerungslandschaften und Empfindungswelten. „Es gilt, die Dichtung wieder mit dem magischen Moment des Aufbruchs zu verbinden. Einer Reise um alle möglichen Welten, vor allem die imaginären. Es geht um Dichtung voll verrücktem Pathos und einer Unbedingtheit, Wildheit, Zärtlichkeit…“ Tom Schulz

Berlin Verlag, Klappentext, 2012

In seinem neuen Gedichtband Innere Musik

kehrt Tom Schulz sich von einer rein postmodernen Lyrik und ihren lexikalischen Fachsprachen ab und wendet sich verstärkt traditionellen Formen zu – und entwirft in der Fortschreibung aufs Neue ein mögliches Bild der Poesie.
In vier thematischen Abschnitten verschränkt und kombiniert Tom Schulz tierische, pflanzliche und menschliche Motive und Lebenswelten, durchschreitet geografische Erinnerungswelten, entwirft eindrückliche Figurationen und greift immer wieder das alte, zentrale Thema der Lyrik, die Vergänglichkeit alles Irdischen, auf.
In seinen Variationen zu Gedichten der Romantik und des Barocks, durch Reminiszensen an historische Orte, aber auch durch Bezüge auf expressionistische und zeitgenössische (Sprach-)Kunst, durch Zitate, postmoderne Anspielungen oder auch Brechungen leitet Tom Schulz den Leser auf poetische Entdeckungsreisen, eröffnet ihm neue Empfindungswelten und schafft es, ihm veränderte und neue Bedeutungsfelder zu erschließen – seine Gedichte beginnen (sich) zu verändern, indem sie Denken und Fühlen, Reflexion und Emphase vereinen.

Berlin Verlag, Werbeblatt, 2012

 

Und schweigen die Zeit zu Ende

Wie man überlebt. In einer kalten, prosaischen Zeit, in der man „den Schauer in den Unterführungen“ spürt und wie sich „die Welt um das Herzzentrum schließt“. In seinem neuen Gedichtband Innere Musik ölt Tom Schulz den „metallisch klappernden Briefkasten“ mit der „Süße des Nabels“, beschäftigt sich thematisch vorwiegend mit Gedichten des Barock, auch der Romantik. Durchaus gewagt, sich in Boomzeiten von Wortakrobatik und lexikalischer Fachsprachen an traditionellen Formen und einem alten literarischen Topos abzuarbeiten: der Vergänglichkeit, ein Thema das den Autor schon in seinem letzten Band Kanon vor dem Verschwinden faszinierte. Konsequent, nun auch konzeptionell jene Epoche heranzuziehen, die von der Spannung lebte zwischen Lebensgier und Todesbangen, Formalismus und innigem Erlebniston. Zwischen diesen Polen geht Tom Schulz auf Entdeckungsreise und nimmt all jene mit, die nicht nur für reflektiert-urbane Lyrik, sondern auch für die Wildheit und Zärtlichkeit der Sprache etwas übrig haben.
Das ist durchweg zeitgemäß, schöntraurig, auch verstaubt, zuweilen kitschig („dein schöner Schein erhellte die in Dämmer getauchten Stunden spärlicher Empfindungen“) oder auch bemüht barockesk („Wurmstichigkeit in verbotener Frucht“). Zum Glück folgt bei Tom Schulz oft die ironische Brechung, allein durch Gedichttitel wie „Nachtigallenkot“, „Die großmütterliche Konstante“ oder „Selbst mit Meerschweinchen“. Das nimmt die Schwere. Nur damit es kurz darauf umso schwerer wird:

ich habe zu enden wie der Monat.

Mit diesem Buch zieht der Winter ein. Eichendorffs „schläft ein Lied in allen Dingen“ wird geerdet:

es schläft
das Gras, die Sprache aller toten
Dinge, Gras
ich seh den Himmel nieder
gehen: zur Ruh.

Es geht um ein Verabschieden und Leiden. Und das geht leise voran, man spürt den ruhigen Atem, einen dumpfen Klang.
Der 1970 geborene und in Ostberlin aufgewachsene Autor ist seit Jahren eine bekannte Größe, nicht nur in der Berliner Lyrikszene. Viel Beachtung fand neben seiner letzten Einzelveröffentlichung auch die von ihm herausgegebene Anthologie alles außer Tiernahrung, in dem Schulz neue politische Gedichte präsentierte. Die Gegenwart verhandeln, wach und engagiert, das ist sein Metier. Dem geht er mit seinem neuen Band durchaus nicht „fremd“. Zwar umkreist er vermehrt transzendente Begriffsklopper wie Leben, Tod oder Schönheit und ist auch des Öfteren zwischen Himbeersträuchern und „geweihten Knöcheln“ unterwegs. Doch immer wieder tauchen neuzeitliche Konstanten auf, abgeranzte Freundinnen auf dem Raucherbalkon, eine Dame, die „in der Sonne flimmert wie das Testbild eines Theaterkanals“ oder „die Berge von Armenien in den Farben // auf einer New Yorker Palette, sie zeigen keinen // Himmel, denn sie wissen keinen.“
Tom Schulz verknüpft mehrere Referenzbereiche und das macht er so gekonnt, dass man die Tragik nicht nur mitliest, sondern mitfühlt. Erlösung gibt’s nicht:

zünden Sie sich ihr Paradies
mit der kalten Schulter an.

Und wieder wird es bitterkalt, „vor Mitternacht schneit es in mein Herz.“ Dieses Buch ist innerhalb eines groß angelegten Rahmens etwas sehr Persönlichem auf der Spur, an dem der Leser teilhat, wenn er sich darauf einlässt. Kommt, wir legen unsere Köpfe nieder „und schweigen die Zeit zu Ende“.

Peggy Neidel, die taz, 24.11.2012

Libellenschlag

Wenn Gottfried Benn von sechs oder acht perfekten Gedichten sprach, die einem Lyriker im Leben gelingen könnten, war er dann bescheiden in seinem Anspruch, oder war er masslos? Es ist schwer zu sagen, was so ein schmales Gebilde aus Sinn und Sound makellos erscheinen lässt. (Schönheit ist nicht begründbar; beschreibbar vielleicht.) Und doch hören wir schnell, wenn etwas nicht stimmt. Ein Zuviel an hohem Gefühl nährt den Kitschverdacht, ein Füllhorn ausgeschütteter Einfälle macht Verse zufällig und damit fragwürdig.
Ein kluges Wortspiel, schlecht dosiert, kippt unversehens in den Kalauer. Und dabei gilt, je kürzer der Text, umso grösser seine utopische Emphase. „M’illumino / d’immenso“ (Giuseppe Ungaretti), das ist perfekt gesagt, und Generationen von Lyrikern mag es genau darum gehen. Immer wieder anders. In seinem neuen Gedichtband Innere Musik schrammt Tom Schulz (Jahrgang 1970) viele Klippen. Und doch: Hier ist ein leidenschaftsbereiter Lyriker am Silbenwerk. Er pokert hoch im Einsatz von Wahrnehmungen und handwerklichen Mitteln, und meist gewinnt er – und manchmal wunderbar.
Es geht um irritierende Momente, um nicht genau bestimmbare, flirrende Augenblicke, die in ihrer flüchtigen Besonderheit nur das Gedicht festhalten kann:

was wir uns versprachen
fand einen Ausschlag in den Libellen

Gelingt er, gibt der Text dem Erleben etwas zurück, als intensivierende Verwandlung, paradoxe Erdung, Dank. Gleich im ersten Stück, „Von einem Schlafbaum der Wind“, das dem Band programmatisch vorangestellt ist, findet sich eine Poetologie in nuce:

auf Hochebenen, wir haben sie niemals
bezogen, der Schlaf ist ein Schneeleopard
die Hänge hinab, die Laken der Seen

in dünner werdender Luft verstanden
wir die Atemtechnik einer flachen Wiese
hiesig waren wir nie: im Schweben

Verbunden werden die Bildbereiche von Landschaft (Hochebene, Seen, Wiese) und das suchende Unbehaustsein eines Wir (niemals, nie). Der Link ist der Schneeleopard, ein wildes, exquisites Tier der Höhe, das zugleich als ein Bild des sprechenden Ich bzw. Wir figuriert, wenn von ihm gesagt wird, er sei der Schlaf. Damit ist eine weitere Bildebene gegeben (Schlaf, Laken, Atmen, Atemtechnik, flach). Die Wörter strecken ihre „Flimmerhärchen“ (Benn) nach einander aus. Die „Seen“ liegen da wie „Laken“, aber mit Laken können auch die Betten der Schläfer „bezogen“ werden; nicht „bezogen“, nicht bereitet und nicht besetzt aber wurden die Hochebenen, wo das Wir nicht „hiesig“ werden kann. Extreme Landschaft färbt sich mit einem seelischen Ausgesetztsein. Aufgefaltet werden also auch die Rilkeschen Alpen, die „Berge des Herzens“. Das „Schweben“, in das die Zeilen münden, ist als Zustand des Schreibens realisiert.
In sechs Kapiteln öffnet Tom Schulz Sprachfluchten im Alltagsleben (in Polen, aber auch im norwegischen Stavanger, auf Sansibar oder der Friedhofsinsel San Michele). Die Gedichte nehmen Lektüreerfahrungen auf (Bobrowski, Trakl, die Barockautoren Opitz und Weckherlin), verbeugen sich vor Kollegen (Jan Wagner, Ron Winkler, Sylvia Geist). Sie gehen auf Hörerlebnisse ein (etwa Schubert, Chopin) oder Werke der Malerei („Selbst mit Meerschweinchen“ von Maria Lassnig). Liebesbegegnungen durchzittern die Texte, die oft Wortlieben, Sprachaffären meinen; die erotischsten Anflüge bleiben bilinguale Sensationen zwischen Zunge und Zeilenbruch.
Was wirklich ist, entscheidet das Wort. „Sommerschnee“ etwa entdeckt sich als Blütendolden (und doch bleibt der Schnee mit der Vokabel anwesend im Gedicht); die „Schwanenblume“ ist das Tier auf dem See, aber die Blume fasst den oftmals gesehenen Vogel in ein frisches Bild. „Wer sehen kann, kann sehen“, kommentiert die Zeile und sagt, dass das Gedicht im guten Fall Dinge zeigt, die eben noch nicht gesehen worden sind. Auch das Gedicht „Anemone“ spielt mit der Hyperrealität des beobachtenden Empfindens:

die Blumen sind Frauen
kleidsam an Nachmittagen
sehe ich sie aufgehen, bevor ich
mich ihnen nähern kann

ihren Knospungen

Dann stehen sie

über den Dingen
auf dem Küchentisch z.B.
wie hin und her gerissen
sie mich haben, die Blumen

von denen ich nicht kosten kann

Das erstaunlichste Kapitel ist vielleicht „Figurationen“; eine Galerie von hingetupften, schönen, schrägen Porträts: die Tagesmutter („im Sommer / muss man alle Mütter gut giessen“), die Alleinstehende, die Schattenschwestern, der Tanzbär, ein Mann aus Kuwait-City, der auf eine Frau wartet. Eröffnet wird die Galerie von der Geliebten:

manche nannten sie eine perfekte
Fälschung aus der Werkstatt von Delft
dabei kam sie aus Andalusien:
sie war reine Poesie ohne Sprache
wahre Musik ohne einen Ton

[…] wenn sie sich singen liesse, dann
in einem Chorwerk von Pergolesi

In den schönsten Passagen dieses Buchs wird, wer hören kann, Bilder hören.

Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 28.2.2013

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Tobias Roth: Endlich trägt der Palmbaum Früchte
fixpoetry.com, 26.10.2012

Timo Brandt: Tom Schulz und die Innere Musik
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 17.11.2013

 

IM SCHNEEBERGDÖRFL
(für Tom Schulz)

Über den Bergkamm gingen Wolken
das Herz war eine Hutablage
wir saßen bei den Katzen
der Ober brachte Selbstgebrannten
abends kamen Blitze

Björn Kuhligk

 

 

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Keystone-SDA
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Tom Schulz rezitiert seine Gedichte „Bobrowski in Friedrichhagen“ und „Krakau im Nebel“: Live-Mitschnitt seiner Lesung vom 19.6.2011 in der Offiziersmesse des Schulschiffs Deutschland, Bremen (Vegesack). 12. Internationales Literaturfestival Bremen „POETRY ON THE ROAD“.

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