Ursula Krechel: Zu Marina Zwetajewas Gedicht „Auswanderer…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marina Zwetajewas Gedicht „Auswanderer…“ aus dem Band Marina Zwetajewa: Gedichte. –

 

 

 

MARINA ZWETAJEWA

AUSWANDERER
in welches New York?
Allhaß
auf den Buckel gepackt.

Ja wir Bären
wir Tataren – auch wir
von Läusen zerfressen
ziehn mit dem Feuer.

Das ist immer noch Schuld
doch aus Finsternis
Heerscharen
unseresgleichen.

Halbschielende
stahlschwarze Schlitze
gesträubte Mähnen
Schneesturm.

Im Namen des Herrn
im Namen der Vernunft
ja wir Verkrätzten
Aussätzigen – auch wir

Wolfslichter
aus dem Winterfell
der Russische Stern
gegen alle und alles!

Mörder der Väter –
in welche Wildnis gehts?
Mögen sie recht treffen
die Weltgeißel

„Ackervolk
aus dem Bett!“
Und mit dem Erschießer
kriecht der Erschossene.

Und vor dem gnädigen Kirchenportal
ein Bettler zum Bettlervolk:
„Die weißgedeckte Welt
gibts später!“

Übersetzung Christa Reinig

 

„Sprache ist Gefängnis. Leben auch.“

Dies ist ein Gedicht, das in seiner Unmittelbarkeit, in seiner Expressivität sofort überspringt, obwohl einige Bilder im Dunkel bleiben. Marina Cvetaeva verließ die Sowjetunion 1922; in dieser Zeit entstand das Gedicht „Auswanderer“. Es ist mitleidlos – mit der eigenen Situation, mit der Fremde, die der Emigrantin offen steht, mit der Situation, die sie ihr Land verlassen läßt. Wieviel Distanz, Abwehr und auch Ironie steckt in der kleinen Frage der zweiten Zeile! Als sei alles außerhalb Rußlands New York und als sei die Welt voll von austauschbaren New Yorks, babylonischen Städten, die der Fremden leicht verwechselbar bleiben, Kleingeld in fremder Währung. Es ist ein erbittertes Gedicht, selbstquälerisch, verzweifelt; es spricht mit großer Intensität von Rußland in einer umfassenden Gebärde, als könne Marina Cvetaeva es nicht loslassen. Die „weißgedeckte Welt“ ist ihr suspekt; auf die wird sie nicht warten wie die Bettler. „Ja wir Bären / wir Tataren – auch wir / von Läusen zerfressen“: so wütet sie gegen das Wüten, gegen die Wirren der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution.
Auffallend sind die kurzen, häufig nur von einem Wort gebildeten Zeilen, Zeilen wie Peitschenhiebe, unter denen sich jemand aufzuckend bäumt. Dies ist kein Rußland, auf das irgendjemand stolz sein könnte, weder auf die Kämpfenden, die „Erschießenden“, noch auf die „Erschossenen“. Der „Name der Vernunft“, der „Name des Herrn“ werden formelhaft angerufen – aber wozu? Es gibt nichts zu erbitten und zu erflehen. Das Chaos des Bürgerkriegs ist überall gewesen, hat alle getroffen:

Wolfslichter
aus dem Winterfell
der Russische Stern
gegen alle und alles!

So elliptisch, so schweigsam sind, viele Gedichte von Marina Cvetaeva, und in ihren Auslassungen tun sich Abgründe auf. In den westlichen Ländern war die Emigrantin, die der jungen Sowjetunion den Rücken gekehrt hatte, bald suspekt; sie gehörte auch nicht zu den hochherrschaftlichen russischen Emigranten, die, solange sie zahlen konnten, gerne gesehen wurden in den europäischen Hauptstädten. In der Sowjetunion war sie als Renegatin ebenfalls tabuisiert. Die Cvetaeva konnte sich selbst, und das ist die eigentliche politische Tragödie, nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus entscheiden. Sie begriff nicht, daß sie sich entscheiden mußte in einem historischen Augenblick. Ihre Revolution war eine, die in der Sprache und mit der Sprache stattfand.
In ihrem Gestus, ihrem Lebensstil war die Cvetaeva eine heruntergekommene Bohèmienne. Trockij rügte sie in Literatur und Revolution zusammen mit anderen Schriftstellern, sie empfinde eben noch auf die alte Weise, der neue Mensch wolle, brauche Lyrik. Trockij beklagte „die Altersschwäche einer derartigen Lyrik“, sprach von ihrer „Unbrauchbarkeit für den neuen Menschen“. Die neuen Themen und der alte bürgerliche Sprachschatz vertrügen sich nicht; wo diese bürgerliche Sprache auftauche, „zeugt sie zumindest von seelischer Trägheit und setzt sich allein dadurch schon in Gegensatz zu dem Bewußtsein des neuen Menschen“.
Der XX. Parteitag der KPdSU rehabilitierte 1956 viele Dichter, auch Marina Cvetaeva, aber diese Rehabilitation nutzte ihr wenig. Sie war den Kampf zwischen allen Fronten in äußerster Armut längst leid geworden.
Alle Kräfte der Cvetaeva waren darauf ausgerichtet, das Gefängnis der Sprache, das auch das Gefängnis eines Milieus war, zu sprengen. Die Tochter aus großbürgerlichem, kunstsinnigen Haus, in Lausanne und in Freiburg/Breisgau erzogen, hat früh – mit dem Lesenlernen – zu schreiben begonnen zum Stolz ihrer ehrgeizigen Mutter. Ein Kindermädchen aus Riga hatte Marina deutsche Gedichte gelehrt, durch eine Stiefschwester lernte sie früh Puskin und Gogol kennen, ihre Mutter war eine Schülerin Anton Rubinsteins. Von ihr hatte Marina die große Liebe zur deutschen Musik mit auf den Lebensweg bekommen. Gewaltsam versuchte die Mutter, ihre Tochter in die große musikalische Karriere zu pressen, die ihr versagt geblieben war. Als sie die zweite Frau des 22 Jahre älteren Professors für lateinische Geschichte und Kunstgeschichte Cvetaev wurde, wünschte dieser keine öffentlichen Auftritte der Konzertpianistin mehr. Sein Lebenswerk waren der Museumsfonds für die Antikensammlung der Universität Moskau und der Bau des Museums der Schönen Künste, heute Puškin-Museum.
In dieser gebildeten Familie entschloß sich Marina, das klassische häßliche Entlein, dick, unbeholfen und verschlossen, zur Literatur. 1906, nach dem Tod der lungenkranken Mutter, kehrte sie nach Moskau zurück. Immerzu wechselt sie die ihr verhaßten Schulen. 1908 reiste die 16jährige allein nach Paris, rauchte, trug kurzes Haar und hochhackige Schuhe, was ihren Vater so sehr beunruhigte, daß er Marina zusammen mit ihrer Schwester Anastassja in die Obhut einer Dresdner Pastorenfamilie gab. Dort sollte Marina Kochen und gesittetes, damenhaftes Benehmen lernen; der Versuch war vergeblich. Wieder in Moskau ließ das Schulmädchen auf eigene Kosten seinen ersten Gedichtband drucken. Er erregte auf Anhieb die Aufmerksamkeit berühmter Kollegen. Diese ersten Gedichte hatten noch die Eigenschaften der ebenso eleganten wie konventionellen Sprache der Moskauer Oberschicht; in den folgenden zwei Bänden fand Marina Cvetaeva zu einer einfachen und sehr direkten Sprache, deren Kühle, deren kalkulierte Selbstverständlichkeit häufig im Gegensatz zu den leidenschaftlichen Anlässen der Gedichte stand. Anastassja Cvetaeva berichtet in ihrem Erinnerungsbuch Kindheit mit Marina über Marinas erste Lesung, bei der Marina darauf besteht, mit der Schwester zusammen zu lesen.

Unter den hier versammelten Dichtern war auch Majakovskij. Er war ungefähr in unserem Alter. Man sagte, das hier sei mehr oder weniger sein erster öffentlicher Auftritt. Kurzsichtig wie ich war, schaute ich ihn mir nicht näher an. Er war damals siebzehn. Was er an jenem Abend vortrug, weiß ich nicht mehr. Mich machte die Aussicht, gleich vor den riesengroßen Saal zu treten, ziemlich unruhig.
Als wir auf die Bühne hinaustraten, ging eine uns begrüßende Erregung durchs Publikum. Jedoch das ,hohe‘ Niveau dieser literarischen Versammlung verbot den Applaus.
Mit zwei völlig gleichen Stimmen, die bei jeder Senkung und Hebung zu einer einzigen verschmolzen, begannen wir, Marina mit damals noch langen Haaren, in einer schlichten, die Stirn freigebenden Frisur, ich kleiner und dünner als Marina, mit schulterlangem Haar, Marinas Gedichte vorzutragen. Wir vertrauten uns der Modulationsfähigkeit unserer Stimmen an und mieden das uns so verhaßte, ,bedeutungsvolle‘ Pathos der Schauspieler. Wir sprachen deutlich und einfach, rhythmisch. Wir rezitierten mehrere Gedichte
[…].
Einen Augenblick war Stille nach unserem letzten Wort. Dann brach der Beifall über den Saal herein: wie ein Frühlingsgewitter! Der in diesem Haus verbotene Beifall!

Wir standen verlegen auf der Bühne (verbeugten uns ungeschickt?), dankten, gingen nach hinten, während der Beifall hinter uns herbrandete… Ich weiß nicht mehr, ob er uns noch einmal zurückrief. Später fiel das Wort Triumph.
Das war der erste Abend von Marinas beginnendem Ruhm.

Mit neunzehn Jahren war Marina Cvetaeva schwanger. Sie heiratete Sergej Efròn, den achtzehnjährigen Sproß aus der Verlegerfamilie Efròn, die sich vor allem durch die Herausgabe der Efròn-Brockhaus-Enzyklopädie einen Namen gemacht hatte. Für das Moskauer Besitzbürgertum war diese Heirat eine unglaubliche Mesalliance, denn Efròn war Jude. 1912 wurde die Tochter Ariadna geboren. Ihr verdanken wir einzigartige Zeugnisse über die Dichterin als Mutter.
Die achtjährige Ariadna schrieb in einen Aufsatz, der 1973 in einem Fragment ihrer Erinnerungen in der Leningrader Zeitschrift Zvezda (Stern) abgedruckt wurde:

Meine Mutter ist seltsam. Meine Mutter ist wie keine Mutter ist. Mütter bewundern ihre und anderer Leute kleine Kinder. Meine Mutter liebt kleine Kinder nicht. Sie hat helle Haare, sie locken sich an den Schläfen. Ihre Nase hat einen Höcker, ihre Lippen sind hellrot, sie ist sehr dünn. Sie ist oft traurig, sie liebt Gedichte und Musik. Sie schreibt selber Gedichte. Sie hat es immer eilig. Nachts liest sie Bücher. Sie mag es nicht, wenn man dumme Fragen stellt, dann kann sie sehr böse werden. Manchmal läuft sie ganz verschlafen herum, dann wird sie plötzlich munter, beginnt zu reden und ist dann wieder irgendwo weit weg.

Die Schilderung eines Zirkusbesuchs mit der Mutter gerät der Tochter zu einem beispielhaften Portrait: die Mutter ist die einzige im Zirkuszelt, die über die Clowns nicht lachen kann.

Mit Fingern so hart wie Eisen drehte sie mein Gesicht zu sich, während sie zornig flüsterte: „Hör mir gut zu und merke dir, was ich dir jetzt sage. Wenn ein Mensch die Hosen verliert, so ist das nicht komisch. Wenn man einem Menschen ins Gesicht schlägt, so ist das nicht komisch, sondern gemein. Ein solches Lachen ist Sünde!“

Nur zu schnell war die Cvetaeva selbst Opfer. Ihr Mann wurde Offizier der Weißen Armee; in den Wirren des Bürgerkrieges riß die Verbindung zwischen dem Ehepaar ab. Efròn flüchtete mit versprengten Teilen der Weißen Armee in die Türkei und reiste von dort in die Tschechoslowakei, wo er sich an der Prager Universität einschrieb. Als ehemaligem Weißgardisten waren ihm alle Wege nach Rußland abgeschnitten.
1921 bis 1923 erschienen von Marina Cvetaeva sieben Bände Gedichte, teils in Moskau, teils in Berlin, wo aus Kostengründen viele russische Autoren gedruckt wurden; Papier war damals in der UdSSR kostbar und teuer. Als sie 1922 die Sowjetunion verließ, hatte sie das Fundament zu einer Lyrik gelegt, auf der ein Majakovskij, ein Chlebnikov aufbauen konnten. Arm wie eine Kirchenmaus, unfähig in allen praktischen Dingen des Lebens, mit dem Stigma der klassenfeindlichen Reaktionärin behaftet, die in ihrem Gedichtzyklus Schwanen-Nistplatz die Weiße Armee besungen hatte, war sie eine Fremde – der Klassenzugehörigkeit, den ästhetischen Vorstellungen nach. Verbürgt ist die Nachricht, daß ein Einbrecher, der die Dürftigkeit ihres Zuhause sah, sich erbot, ihr Geld zu geben.
Ende 1925 zog die Familie nach Paris. Die ökonomische Lage war nach wie vor katastrophal. Die Familie lebte davon, was Ariadna mit dem Stricken von Pudelmützen und anderen Handarbeiten verdiente: fünf Francs pro Tag. Als die Cvetaeva es 1928 wagte, den in Paris auftretenden Vladimir Majakovskij öffentlich zu loben, verlor sie die letzten Sympathien und wurde als Kommunistin gebrandmarkt. Von ihrem letzten, 1928 in Paris erschienenen Gedichtband wurden so wenige Exemplare verkauft, daß er noch Ende der fünfziger Jahre beim Verlag zu haben war.
Marina Cvetaevas Gedichte sind voller Alliterationen und Wortwiederholungen. In ihren knappen Zeilen ist sie eher an der Eigentümlichkeit eines einzelnen Wortes denn am Metrum interessiert. Ihre Sprache ist anspielungsreich und verschlüsselt, schön und seltsam gegen ein enges Leben geschrieben, kühn und aggressiv, äußerst bewußt. Sie stellt Anforderungen an ihre Leser und zögert nicht, Genauigkeit über Deutlichkeit zu stellen, wenn diese beiden Möglichkeiten in ihrer Arbeit kollidieren. 1928 schrieb sie in einem Brief:

In der Emigration drucken sie mich zuerst besinnungslos, dann besinnen sie sich, stellen mich zurück, nachdem sie festgestellt haben, daß da etwas ist, was nicht ihnen gehört: es ist von dort. Der Inhalt mag ,unser‘ sein, aber die Stimme klingt nach ,drüben‘.

Ihr Biograph Simon Karlinski drückte es so aus:

Die romantisch Konservative in der Politik hatte endlich der Tatsache ins Auge zu sehen, daß sie in der Lyrik revolutionär war.

Ihr Mann, der sie jahrelang gedrängt hatte, in die Sowjetunion zurückzukehren, ging während des spanischen Bürgerkriegs nach Spanien und setzte sich von dort in die Sowjetunion ab. Nun stellte sich heraus, daß Efròn jahrelang für den sowjetischen Geheimdienst GPU gearbeitet hatte; er war an der Ermordung des Trockij-Sohnes Andrej Sedóv beteiligt. Als Mann, der zuviel wußte, wurde er in der Sowjetunion erschossen.

Niemand nahm Marina Cvetaeva ab, daß sie von der geheimdienstlichen Tätigkeit ihres Mannes nichts gewußt hatte. Nach dem Sieg des Faschismus in Spanien, nach der Annexion der Tschechoslowakei durch das faschistische Deutschland war ihr Bewegungsraum noch beschränkter. Sie selbst stand im Verdacht, russische Agentin zu sein. Zusammen mit ihrem Sohn Sergej kehrte sie im Juni 1939, kurz vor Kriegsausbruch, nach Moskau zurück. Ihre Schwester Anastassja saß im Arbeitslager; im August 1939 wurde Ariadna ebenfalls zur Lagerhaft verurteilt. In Marina Cvetaevas Tagebuch findet sich im September 1940 der entsetzliche Satz:

Seit einem Jahr suche ich nach einem Haken, um mich zu erhängen.

Ein Jahr später, am 31.8.1941 in einer tatarischen Bauernkate, wohin sie nach dem deutschen Überfall verschickt worden war, hatte sie diesen Haken gefunden. Nur ihr Sohn nahm an ihrer Beerdigung teil. Er fiel drei Jahre später an der Front.
Zwei Jahre nach ihrem Tod schrieb Boris Pasternak, der sie lange umworben hatte aus der Ferne:

Im Schweigen deines Fortgehens
gibt es einen verborgenen Vorwurf.

Der Vorwurf ist öffentlich.

Lesarten. Gedichte, Lieder Balladen. Ausgewählt und kommentiert von Ursula Krechel, Luchterhand Verlag, 1982

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