Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten

Braun-Handbibliothek der Unbehausten

SCHICKSAL DER SCHLENSTEDTSCHEN BIBLIOTHEK

Bücher wirft man nicht weg
War die stehende Redensart
Im Atrium bis an die Decke: die Berge!
Von Zeit und Rauch imprägniert, was das gekostet
Hat. Und dann der Tod, die Söhne beide
Schlagen das Erbe aus, einmal drin wohnen
Lebenslang reicht. Ein Antiquar
Staubte sie ab für beinahe nichts
Erwirb es, um es zu versetzen
Was ein Halbjahrhundert aufliest
Zerschreddert das nächste, wer schreibt, handelt
Und geht.

 

 

 

Inhalt

Wovon spricht die Dichtung zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Noch immer, oder nun erst, von der Wildnis der Gesellschaft.
„Am Kilometer Null der Empörung“, auf der Puerta del Sol in Madrid, sah Volker Braun die Handbibliothek, die seinem neuen Buch den Titel gibt. In ihm stehen die Gedichte wie in improvisierten Regalen, einzelne kleine Schriften, leicht herauszugreifen und zu benutzen. Und von „Wanderwesen & Fabelarbeitern“ ist darin die Rede, den Nackten und den Vermummten, der ungesättigten Menge („ein Riß geht hindurch bis zum Bodensatz“), der unbehausten Menschheit. Der Dichter sieht sich auf der warmen Erde, worin die Sohlen wohnen, eine „Zuflucht der Sinne“ suchend und „Lust, nicht Hoffnung ziehend aus dem Rohstoff“. Die vier Sammlungen entstanden in zehn Jahren neben den Prosa- und Theatertexten.
„Gedichte sind der Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche.“

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Widerstand im Warenhaus

– Eine Seele, vom Fleisch gefallen: Neue Gedichte von Volker Braun, der sich in Handbibliothek der Unbehausten wieder als Meister aller Formen erweist, mit Hilfe von Goethe, Brecht und Dante. –

Ja, mein Sehnen geht ins Ferne
Wo ich heitre Dinge treibe.
Doch bestimmen mich die Sterne
Daß ich fest am Boden bleibe.

Wer summt sich so etwas vor? Es klingt nach Goethes „Freisinn“ aus dem West-östlichen Divan:

Und ich reite froh in alle Ferne
Über meiner Mütze nur die Sterne.

Doch 2016 geht es anders weiter:

Und so gern ich mich erhebe
Zieht mich eine Last nach unten
Eingenäht in mein Gewebe
Hat sie ihren Ort gefunden.

Bei Goethe hatte es noch geheißen:

Er hat euch die Gestirne gesetzt
Als Leiter zu Land und See;
Damit ihr euch daran ergetzt,
Stets blickend in die Höh.

Der neue Dichter heißt Volker Braun, und sein jüngster Band zeigt, dass er nicht nur Goethe kann, sondern auch Brecht:

Viertausend Jahre die Sandale binden
So wird ein Schuh daraus. Fünftausend Jahre
Sitzen, und nun wissen was ein Stuhl ist.
Zehntausend Jahre Umgang mit den Göttern:
Ungläubig! Wer will uns missionieren.
Aber ach abertausend in Gesellschaft
Und kein Jahr kann es so weitergehen.

So lautet das Gedicht „Erfahrung (Rede Lao Mas)“, und wie man sieht, enthält es eine Menschheitsgeschichte in sieben Zeilen, die in offener Unruhe enden.
Wer innerhalb von wenigen Seiten das Register so wechseln kann, der kann noch mehr, der kann eigentlich alles. Sonette in englischer und italienischer Form, elegische Distichen, Blankverse, Vers libre, Spruchdichtung in Paarreimen, Prosagedichte – alles hat Platz auf nur hundert Seiten, und wirklich alles ist staunenswert gelungen, weil leicht, unangestrengt, wie es vielleicht nur die meisterliche Lässigkeit des Alters erlaubt. Volker Braun geht auf die achtzig zu, man tritt ihm also nicht zu nahe, wenn man an die vielen großen Lyriker erinnert, die in einem Spätwerk noch einmal zu neuer, großer Form aufliefen.
Wer es nicht glaubt, soll gleich weiterlauschen, diesmal einem Distichon, im Wechsel von Hexameter und Pentameter, völlig regelrecht:

Abgemagert mein Leib, er weiß mir den Grund nicht zu sagen
Hart ragt das Sternum heraus, unten am Brustbein der Rist.

Wie sich ein weicher Busen daran befestigen könnte
Der mein Blut beschleunt; fest wie auf ewig vertäut.

Und die Seele, auch sie, fühlt sich wie vom Fleisch gefallen
Zwangsernährt von dem Schrott. Bring ich sie durch und womit.

Der Titel heißt ganz heutig und bedrohlich „Befunde“, und damit wird angezeigt, dass es nicht um eine Stilkopie geht (oder um die Stilkopie einer Stilkopie, denn das Genre der Elegie kam in der deutschen Klassik ja direkt aus dem antiken Rom). Aufgegriffen wird eine Haltung. In strenger Fassung wird ein Lebensmoment bilanziert, schmerzlich. Einem sprachlichen Goetheanismus („beschleunt“), dem Vers geschuldet, antwortet sogleich ein vollkommen zeitgenössisches Vokabular: „Zwangsernährt von dem Schrott“, in einem ganz regelrecht rhythmisierten halben Pentameter. „Römisch“ ist daran vor allem die existenzielle Nüchternheit. Die Elegie kann auch singen oder ländlich flöten, dann wird das Versmaß unter einem Legato fast unhörbar:

Glutender Sommer. Die Äste brechen von Äpfeln
In jedem Kriebsch sitzt der Wurm und wird vom Wege gekickt.

Dass Volker Braun ein Meister der Formen ist, der die Dichtungssprachen der deutschen Klassik und der europäischen Moderne mühelos aufgreifen kann, war bekannt. Diese Fähigkeit ist nicht einfach eine Begabung, sie ist auch mehr als historistisch-postmodernes Virtuosentum. Zwar darf man heute durchaus daran erinnern, dass Volker Braun und Robert Gernhardt fast gleichaltrig waren. Doch was bei Gernhardt ein spielerischer Umgang mit den Möglichkeiten im Garten der Vergangenheit ist, das blieb bei Braun Erprobung von Geschichtsphilosophie. Gernhardt macht poetische Zeitkritik, Braun ist Dialektiker, und Welten trennen ihn vom lustig-operettenhaften Aristokratismus des Goethe-Mimen Peter Hacks. Seine Gedichte sind Antworten oder Rückfragen. An den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park erkennt er das revolutionäre Potenzial des „Gesprächs über Bäume“, das Brecht noch mit heroischer Geste untersagen wollte, weil es ein Schweigen über so viel Untaten einschließt – so hat sich die Welt verändert.
Wenn Braun den Limbus der Göttlichen Komödie Dantes aufruft, den Ort, wo die edlen Geister des heidnischen Altertums verweilen, denen das Heil versagt ist, mit „Gram ohne Qualen“, dann wird daraus ein Trauergesang auf verstorbene Lehrer und Freunde, die vergebens an die Erlösung durch die kommunistische Utopie glaubten. Wie bitter-dantehaft ist die Pointe, dass der noch lebende Wolf Biermann hier unter Gestorbenen auftaucht, aber mit dem in Klammern gesetzten Zusatz „(als er noch jung gewesen)“ – er war also einst ein anderer, zu jener Zeit, als Volker Braun den Protest gegen seine Ausbürgerung unterzeichnete. Fast wie eine Selbstkritik könnte man da ein Sonett lesen, in dem Braun die unvergängliche Schönheit von Dantes Versen als die schärfste denkbare Rache vorstellt:

Nie war die Rache so süß wie im Lied
Des süße Verse ewig dauern.
Wir lesens noch und wieder mit Erschauern.

Doch eigentlich geht es um Trauer: Die Handbibliothek der Unbehausten erinnert an die Büchersammlung eines Freundes, die nach dessen Tod zerschlagen und verkauft werden muss.
Der historische Formenreichtum dieser Lyrik ist also dialogisch, angelegt aufs Wiederhören und Wiedererkennen, oft melancholisch, ebenso oft witzig, ohne Spur von Bitterkeit. Je länger das Ende der DDR zurückliegt, das ihren Linksabweichler zunächst ins Bodenlose zu stürzen schien, desto fruchtbarer werden für Braun nun die Freiheitsgewinne. Der gelassen Alternde wurde zum Dichter der Weltgesellschaft, dessen Horizont bis nach China und über alle Kontinente reicht.

Ihr wart das Volk. Jetzt soll ich Volker heißen
Und meinen Witz von unsrer Schwachheit nähren
Und Widerstand im Warenhaus bewähren.

Gesellschaft ist eine Etüde in G, unbedingt im raschesten Metronom zu spielen:

Was für ein immenses Gemisch
Aus lauter kommunen Ge wie Gedränge Geduld
Mit dieser geselligen Mitte, die etwas schafft
Anschafft und wegwirft. Welches Geschäft

Die Geschichte…

Und so ist hier auch ein vollkommen unübersetzbares Gedicht gelungen.
Einige der rührendsten Verse dieser nicht nur gedankenreichen, sondern auch sinnlich reichen Sammlung sind autobiografisch-familiär. Acht Enkel schaffen es kaum, einen vielhundertjährigen Eichbaum zu umfassen:

Daß
Etwas Lebendes es so weit bringt!
Acht Sprößlinge, sich an den Händen nehmend
Vermochten grade so, ihn zu umfassen
Und nicht der Kleinste hätte fehlen dürfen.

Dazwischen summt ein Goethescher „Dämon“ weiter, der nur von sich selbst weiß, vor aller Geschichte:

Mich beherrscht ein eignes Wesen
Heiter macht es mich und trüber
Davon kann ich nicht genesen
Von kleinauf war es mir über.

Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 18.11.2016

„Zieht mich eine Last nach unten“

– Volker Braun erspürt in seinen Gedichten, wie das Unbehauste offener denn je zutage tritt. –

Dichtung ist ein Parasit. Sie nährt sich von dem, was den Dichter auffrisst: jenes Elend der Welt, das sättigt; jene Sattheit also, mit der wir den Sinn aushungern. Der Dichter Volker Braun steht einsam im Gelände, zerscherbt ist das gläserne Bild der historischen Alternative. Aber nicht getrocknet der blutige Schaum, der sich dem Jahrhundert zynisch als Krone aufgesetzt hatte – die Welt kriegt sich nicht ein: Sie kriegt und kriegt, sie zieht also weiter von Vernichtung zu Vernichtung. Braun beschwört altchinesische Rollbilder wie eine Erinnerung an frühe alte Weisheiten des Miteinander, aber er sieht auch das Reich der Mitte amerikanisiert:

Chimerika.

Ein Beispiel für den letzten dialektischen Frieden:

Lös sich in deinem Gegner auf.

Der Dichter träumt unvermindert bloch- und brechtweit, aber „so gern ich mich erhebe / Zieht mich eine Last nach unten / Eingenäht in mein Gewebe“. Das erinnert an einen früheren Satz Brauns:

Ich zeige, daß der Feind am Werk ist, der wir selber sind.

Lust am Widerspruch ist auch Leiden – daran, wie viel im Leben widerrufen werden muss. Du willst Gemeinde, bist aber „traumatisiert im All / Deiner Einzelheit“. Der Mensch bleibt Störender bei seiner eigenen Erlösung. Das ist es, das Drama zwischen dem Nichtmehr und dem Nochnicht der Ordnungen. Ordnung? Stets das schlimmste Wort dafür, dass etwas ins Lot kommen soll.
Die Gedichte wandern durch Landschaften, gehen in Museen, sind in Todesahnung, erkalten vor der Freiheit, erwärmen sich am Enkel. Was dem Dichter weh tut:

Die Welt geht hin, die Anschauungen folgen.

Wie lange bleibt, was wir erleben, lebbar? Dichter sind nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das Hirn- und Herzkammern sprengt. Volker Braun bleibt sich, in diesem Auftrag, treu. Nur tritt das Unbehauste offener denn je zutage. Das ist Wahrhaftigkeit.

Hans-Dieter Schütt, neues deutschland, 26.11.2016

Neuer Lyrikband von Volker Braun

Das Buch beginnt mit einem Ja und endet mit einem Nein – mit dem Rückzug des Dichters aus der Arena der Gegenwart, die Volker Braun nicht mehr als die seine begreift. „Ja, mein Sehnen geht ins Ferne / Wo ich heitre Dinge treibe“, eröffnet der 77-Jährige seinen neuen Lyrikband, um 74 Gedichte weiter mit den Zeilen zu schließen:

Was ein Halbjahrhundert aufliest
Zerschreddert das nächste, wer schreibt, handelt
Und geht.

Sozusagen im Fortgehen reicht der Büchnerpreisträger seinen Lesern die Handbibliothek der Unbehausten. So lautet der Titel des Buches. Der meint die kleinen, improvisierten Büchereien, wie sie heute mancherorts zu finden sind, etwa auf der Puerta del Sol in Madrid, „am Kilometer Null der Empörung“.
Oder Resterampen wie jene, in der die Bibliothek des Germanisten Dieter Schlenstedt verschwand. Aber der Titel meint auch das, was Braun selbst liefert: Handreichungen eines unbehausten Linken.
Im Gedicht „Inferno IV. Limbus“, das den Aufenthaltsraum jener Seelen beschreibt, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossenen worden sind, ruft Braun die reform-kommunistische Freundesrunde der mittleren DDR-Jahre zusammen: Bahro und Heise, Bloch und Biermann „(als er jung gewesen)“.
Das ist der Kreis, in dem sich Braun verortet:

Unbelehrt von Zeit und Züchtigungen
Ich hatte ja den Glauben nicht gefunden
Im Kaufhaus, wo es nichts gab was es nicht gab
Wers glaubt wird selig!

Dahingestellt, ob Braun hier das „Kaufhaus“ als Metapher nicht über- und die Kapitalismuskritik unterfordert: Der Dichter zeigt sich auf einer neuen Stufe seiner Könnerschaft. Zur Schärfe kommt die Wärme des Blicks hinzu.
Braun kann sein zuweilen redseliges Pathos und effektheischendes Zitieren durchaus drosseln. Nicht die vorsätzlich politischen, sondern die persönlichen Gedichte überraschen, das, was hart am Schweigen spricht.
„Am Ufer Schilf, Gewisper aus vier Winden. / Ein Pfad von nackten Sohlen eingemuldet“: Danach sehnt sich der Dichter, der mit seiner Familie gerne Bäume umarmt. Lust statt Hoffnung, Grund statt Ziel, das sind die Orientierungen des Alters.
Dessen Sex ist offenbar das Reisen, das nach China und Mexiko, Griechenland, Spanien und in die Türkei führt. Eindrücklich gelingen Braun die Mitschriften der kollektiven und persönlichen Sprachlosigkeiten.
Großartig das Gedicht „Das schwere Gepäck in den Flughäfen“:

Und das mürbe Handgepäck, wie es verstohlen verstaut wird
Die Gestalten verwittert, wie sie hereindrängen, müde…

Daneben überzeugen kleine, wie hingetuschte Gebilde, die „Rede im Regen“ oder „Dämon“ heißen. Oder eine Notiz wie:

7.5.11. Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr.
Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.

In einem sechszeiligen Gedicht erinnert Volker Braun an die Opfer des sowjetischen Terrors, die bis heute wie lässliche Kollateral-Tote behandelt werden.
„Kolyma“ heißt das Epitaph, das den Überlebenden Schalamow zitiert:

Was ich gesehn hab
sollte niemand sehen
auch nicht erfahren…

Beinahe wortgleich findet sich das Zitat als „Stele“ in Reiner Kunzes letztem Gedichtband lindennacht. Die Generation der 50er-Jahre-Kommunisten wendet sich den schweigenden Gründen der Zeitgeschichte zu.

Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung, 14.12.2016

Wer macht das Geschäft, wer macht Geschichte?

– Braun schlägt sich in seinem neuen Gedichtband durch die unbehauste „Wildnis der Gesellschaft“. –

Ihn beherrscht ein eignes Wesen, heiter macht es ihn und trüber. Es schenkt ihm seine Freiheit, seine Engnis. Der gebürtige Dresdner Volker Braun, 77, nennt dieses Wesen „Dämon“ und meint damit sein doppelt qualbeladenes Dichterherz. Im neuen Band hören wir es schlagen, im wirren, wilden Takt der Zeit. Für den Büchner-Preisträger ist das Gedicht „Kern der literarischen Arbeit, ihr ernsthaftester Teil, das beiläufige Eigentliche“. Die Sprache der Poesie versteht er als Gegensprache zur normierten Sprache der Politik, als Gegenpol zum „Getwittere“ im Netz.
Der schmale, gewichtige Band versammelt Lyrik, die in den letzten zehn Jahren neben den Prosa- und Theatertexten entstanden ist. Man kennt einige der Gedichte aus Zeitungen oder von Lesungen. Wovon spricht die Dichtung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, fragt der Autor. „Noch immer, oder nun erst, von der Wildnis der Gesellschaft.“ Braun schlägt in den Texten einen weiten Bogen. Vom „Rückstands-Berg vom Fortschritt-Schacht“ auf einer Mansfelder Halde bis zu „Willkommen und Abschiebung“ afrikanischer Flüchtlinge, vom Bankenbeben in New York bis zum sauber gezeichneten NS-Lageplan von Birkenau:

Kein Millimeter Schuld, kein Fleckchen Schande.

Der Dichter sieht das Wanken des Weltkreises, den Wechsel der Zeiten und entdeckt am „Kilometer Null der Empörung“ auf einer Straße in Madrid die „Handbibliothek der Unbehausten“, die dem Band den Titel gibt. Sein Sehnen geht in die Ferne, doch er bleibt fest am Boden. „Die Zukunft ahnen, heißt die Gegenwart durchschauen“, schreibt der Dialektiker Braun. Er teilt seine kritisch-hellsichtigen Befunde auf seine Weise mit: radikal, gallig, gelassen, zornig, bitter, heiter, sprachschön und nachdenklich. Die Verse funkeln, die Metrik geht ihm souverän von der Hand, der Rhythmus stimmt. Ob Sonett oder Lied, ob Epos oder Streitschrift: Braun beherrscht sein Handwerk. Auffällig, dass er häufiger als früher mit gereimten Versen agiert. Er widerlegt die verbreitete Ansicht, dass sich nur mit Ungereimtem ein Reim auf die Welt machen lässt. Der Reim muss nicht Fessel, er kann auch Freiheit sein.
Gern fügt der in Berlin lebende Autor eine dialektgefärbte Zeile in die Texte ein. Wenn er auf gut Sächsisch witzelt „In jedem Kriebsch sitzt der Wurm“, ist damit nicht nur ein faulender Apfel gemeint. Ohne Komik, ohne Lachen ist Brauns Lyrik nicht zu denken. Am Nacktstrand von Hiddensee entdeckt er ein Stück Utopia: „Hier herrscht die Gleichheit in Gestalt der Blöße.“ Im Band finden sich Verweise und Zitate auf Dichter, die Brauns Arbeiten berührt und beeinflusst haben. Von Dante bis Goethe, von Fleming bis Mickel. Im Gedicht „Gespräch über die Bäume im Gezi-Park“ nimmt er eine berühmte Wendung Brechts auf und erweitert sie:

Was für eine Zeit, wo ein Gespräch über Bäume alle Untaten einschließt

Braun spielt auf das Massaker von 2013 auf dem Taksim-Platz in Istanbul an.
Eine Maxime Brechts hat sich Volker Braun zu eigen gemacht. Es gilt nicht die wirklichen Dinge zu zeigen, sondern „wie die Dinge wirklich sind“. Er fragt nach Macht und Markt. Wer macht das Geschäft, wer macht Geschichte? „Was sah ich Sehender? Das ganze Grauen.“ In „Kassensturz“ erinnert er an das Ende der DDR und sieht, wie brav das Volk danach agierte, bezieht sich in die Kritik ein:

Wo ist nun unser Mut? das Aufbegehren?

Bei aller Skepsis, allen sozialen Verwerfungen, dem Riss, der durch die Welt geht, lässt Braun nicht jede Hoffnung fahren. Früher brachte er den Weltzustand auf die Formel:

Ein Freudenelend ist das Leben.

Nun formuliert er:

Liebe finden fürs Kommende, höchste Kunst.

Rainer Kasselt, Sächsische Zeitung, 10.9.2016

Gesellschaftliche Entwürfe, bedacht und bedichtet

Nur selten sind im neuen Gedichtband des Büchner-Preis-Trägers Volker Braun Handbibliothek der Unbehausten Daten mit politischer Bedeutung zu finden. Aber politisch im besten Sinne des Wortes, also programmatisch, weil auf Bestandsaufnahme und Veränderung zielend, sind fast alle Gedichte, ausgenommen die wenigen, in denen der Dichter Privates beschreibt: Stammbaum und Alter. Im Gedicht „Gespräch über die Bäume im Gezi-Park“ (2013) geht es um die Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul, als sich der Protest von Umweltschützern gegen das Fällen von Parkbäumen zum nationalen Protest gegen die Zerstörung der Demokratie steigerte. Braun schließt im Titel und im Gedicht durchgehend an Brechts „An die Nachgeborenen“ an, ein berühmter Text der deutschen Exilliteratur. Indem Braun das Brecht-Gedicht wörtlich aufnimmt und erweitert  – das Gespräch schließt statt „vieler“ nun „alle Untaten“ ein  – setzt es die gegenwärtige politische Entwicklung in der Türkei zum deutschen Faschismus in Beziehung. Im Gedicht „Das beschädigte Parlament“ ist ein Vorfall im Bundestag für Braun Anlass, den gefallenen Zivilisten in Afghanistan ein Podium zu schaffen; Abgeordnete der Linken hielten Zettel hoch, auf denen die Namen toter Zivilisten von Kundus standen, die Abgeordneten wurden ausgeschlossen:

Fürchtet man, dass die namentlich Genannten
Zählen, wie gültige Stimmen…?

Auf solche politischen Vorgänge bezogen sind eine Handvoll der Gedichte.

Der Titel des Bandes wirkt aktuell, weil er an die Unbehausten erinnert, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in der Welt unterwegs sind. Braun hat auch sie im Blick, allerdings nicht als separaten Vorgang, sondern als Teil einer Welt und einer Gesellschaft, die zur Wildnis geworden sind, weil sie „abertausend“ Jahre Unwissen und geistige Unfähigkeit, damit auch geistiges Unbehaustsein, nicht beseitigen konnten, „Und kein Jahr kann es so weitergehn“ („Erfahrung“). Die Geschlossenheit der Konzeption, in der reale Politik und politischer Entwurf vereinigt werden, stellt eine neue Stufe im Schaffen Brauns dar. Sie ist die Folge einer Entwicklung, die die Welt in „Wilderness“  – in Wildnis, so ein Zyklus des Bandes  – versinken lässt. Brauns lyrisches Subjekt fand seinen neuen Ansatz „am Kilometer Null der Empörung“ („Wilderness 5“) auf der Puerta del Sol (Tor der Sonne), einem bekannten und vielbesuchten Platz in Madrid, wo sich der Kilometer 0 der fünf Hauptstraßen Spaniens befindet. Aber in Klammer steht „Dschuang Dsi“. Mit dem Hinweis auf den chinesischen Dichter (365–290 v. d. Z) und sein gleichnamiges Werk weist der Dichter dem Leser den Weg durch die mit literarischen, historischen und philosophischen Verweisen durchwirkten Texte. Der Leser wird in die Sicherheit einer „Handbibliothek“ eingeführt, die verbürgtes, überprüfbares und gesichertes Wissen enthält, das abrufbar ist. Aber dieses Wissen ist nicht mehr an einen Ort gebunden, denn die Welt ist wild geworden und der Mensch wird zum Unbehausten. Bedrohungen sind näher gerückt, aber hoffnungslos ist Brauns lyrisches Subjekt deshalb nicht, im Gegenteil:

Was ist die Zeit, die Macht? Sie ist vermodert
Während des neuen Tages Sonne lodert
(„Die Leguane“).

Das Bild findet sich ähnlich in Friedrich Schillers „Der Spaziergang“:

die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns

Die Sonne mythischer Vergangenheit leuchtet, während Schiller den geschichtlichen Prozess seiner Zeit in Verbrechen und Verderben angekommen sah. An diese Idee scheint Braun anzuknüpfen, Weiterführungen der Menschheit sieht er im Rückgriff auf Bewährtes: Erinnerungen an das alte China, die Antike und die Klassik werden wach, dialektisch reflektiert unter Bezug auf Hegel („Chimerika 2“). Zitatmontagen und Anleihen bei anderen sind Hinweis auf das geistige Panorama, das Braun in diesen Überlegungen mitgedacht wünscht. Die Wanderung ist „Wandlung“  – ein wichtiger Begriff in Brauns Lyrik; sie ist das dauernde Bewegungsprinzip der Menschheit, die nie an ein Ziel kommt, sondern es stets vor Augen hat. Die Wanderung führt durch räumliche und zeitliche Gegenden, folgt literarischen Wanderungen wie Dantes Weg in das Inferno („Göttliche Komödie“) und trifft dort auf Schatten der Belehrung und Erkenntnis Suchenden, darunter Brecht und Eisler, Cremer, Busch und andere.
Die Gedichte sind nicht hoffnungslos, aber sie stammen von einem lyrischen Subjekt, das um die Gefährdungen der Menschheit ebenso weiß wie um den Untergang, das von Enttäuschungen zu sprechen weiß, die es erfahren musste und die auch sein Leben in Frage stellten, vor allem seine Mühen um eine neue Gesellschaft: „Kassensturz“ ist das Ergebnis der Veränderungen von 1989 bis 1990. In dem sprachlich saloppen, unpoetisch kalauernden Gedicht hat das lyrische Subjekt sich dem aktuellen umgangssprachlichen Ton der neuen Realität angepasst: „an das Eingemachte“ und „Ich krieg die Krise“ usw. 2006 beschrieb er in einer Rede die „dresdner Denkart“ als Einheit von „Arbeit und Leistung“, heute muss er auch das für gescheitert erklären:

Dummheit
Ists die dauern will
(„Das Elbtal“).

Andernorts war das anders. „Das Mannsfeld“ (sic!) und „Die Mettenschicht“  – beide Gedichte betreffen das Thema von Brauns Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011)  – benennen noch einmal die Folgen des Verlustes der Arbeit, erinnern an „Jahre hundert“, in denen gearbeitet wurde. Die Erinnerung ist so lebendig, „als hätte unser Wünschen nie ein Ende“. Arbeit wird zum Größten gesteigert:

Das höchste Wesen lebt in dem Gedicht
Vom Steiger, welcher kommt mit seinem Licht.

Volker Brauns Vertrauen gehört weder den „Wir sind das Volk-Rufern“ noch deren Wünschen, es gehört der Zukunft. Das bedeutet die Veränderung und Überwindung der heutigen Gesellschaft, „bis kein Halten mehr ist, dann schafft sie sich ab / und ist gewesen“ („Die Gesellschaft“). Für einen Neuanfang blickt der Dichter auf mythische und aufklärerische Positionen, Anfänge und Themen zurück. Deshalb greift er auch bei der eigenen Sehnsucht ins Rustikal-Natürliche („Das wünsch ich mir: Das Bretterhaus am Teich“); gesellschaftliche Entwürfe führt er, mit an Georg Büchner erinnernden Bildern, auf Ursprünge zurück („Ein Riss / Geht hindurch bis zum Bodensatz / Die Grundsuppe aufgerührt.“ „Die Gesellschaft“). Es geht Volker Braun nicht um ein Ziel („Der Überfluss“), sondern um die Bewegung, die von Entstehen und Vergänglichkeit erhalten wird. Brauns lyrisches Subjekt denkt eine Zukunft, die durch den Untergang der USA und den Aufstieg Chinas bestimmt wird:

Der Wahre Weg, ihr geht ihn, Söhne Maos.
Die große Ordnung und das große Chaos.
(„Beim Wiederbetreten der Zickzackbrücke“).

Im Eröffnungsabschnitt und im Eröffnungs- und Schlussgedicht des ersten Abschnitts ist Goethe, wie auch in anderen Texten, gegenwärtig: Der erste Abschnitt der fünf Teile (vier Abschnitte, ein Anhang) trägt den Titel „Dämon“, das erste Gedicht des Abschnitts heißt „Bestimmung“. Die Form wirkt bekannt, achtversig erinnert sie an die Stanze, das Druckbild an Goethes „Urworte. Orphisch.“ Auch der Titel „Bestimmung“ ist ein solches Urwort. Das den ersten Abschnitt beschließende Gedicht heißt dann tatsächlich so wie Goethes Gedicht „Dämon“; Ähnlichkeiten  – etwa die Verszahl  – auch hier. Aber die Silbenzahl stimmt nicht überein; sie und die deutliche Gliederung des Gedichtes in zwei Vierzeiler verweisen auf die Romanze. Es entsteht eine Spannung zwischen klassischem Vermächtnis und romantisch anmutender Sehnsucht, anklingend im ersten eröffnenden Vers:

Ja, mein Sehnen geht ins Ferne

Auch die in diesem Band sehr viel häufiger als sonst bei Volker Braun auftretenden Reime in den Gedichten, auch als Paarreime, verweisen auf dieses Konzept. An Eichendorffs Gedicht Mondnacht mit seiner weiträumig schweifenden Sehnsucht kann man denken, die „nach Haus“ möchte. Aber Braun, der solche Sehnsucht „nach Haus“ kennt, sieht seine Bestimmung darin, nicht seiner Fernensehnsucht zu folgen, sondern seiner „Bestimmung“, die irdisch ist und der Sehnsucht reale Ziele setzt:

Eingenäht in mein Gewebe
Hat sie ihren Ort gefunden

Das Eröffnungsgedicht „Bestimmung“ ist das Programm des Bandes.

Rüdiger Bernhardt, unsere zeit, 16.12.2016

Der Unbehauste

– Volker Braun bei den Frankfurter Lyriktagen. –

Er war der Nukleus der Frankfurter Lyriktage. Jedenfalls für Literaturreferentin Sonja Vandenrath. Um die neuen Gedichte von Volker Braun hat sie als Leiterin des Festivals die anderen Veranstaltungen herumgruppiert. Im intimen Seekatzsaal des Frankfurter Goethe-Hauses hat der letzte noch lebende DDR-Vorzeigedichter und Büchnerpreisträger des Jahres 2000 nun seinen jüngsten Lyrikband vorgestellt, der im vorigen Jahr unter dem Titel Handbibliothek der Unbehausten bei Suhrkamp erschienen ist. Lothar Müller, Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung, gelang in seiner Moderation das Kunststück, das obsolete Staatskürzel zu umschiffen. Der mittlerweile 78 Jahre alte Autor aus Berlin hingegen machte aus seinem Herzen keine Mördergrube: Ein Freund der Nato ist er immer noch nicht.
Brauns Anthologie beginnt konventionell, mit Kreuzreimen und vierhebigen Trochäen. „Bestimmung“ heißt sein Leitgedicht. Es hätte auch „Erdenkloß“ heißen können. Denn hier beklagt der Dichter im Goethe-Sound seine Erdenschwere:

Ja, mein Sehnen geht ins Ferne,
wo ich heitre Dinge treibe.
Doch bestimmen mich die Sterne,
dass ich fest am Boden bleibe.

Damit ist der Grundton seines Lebens angeschlagen: die Dissonanz zwischen der Sehnsucht nach der sozialistischen Utopie und dem schnöden Staatssozialismus. Von 1960 an war Braun Mitglied der SED, galt aber zugleich als staatskritisch. Er muss ein  begnadeter Taktiker gewesen sein, um sein Werk zum Druck zu bringen, den neun Stasi-Offizieren und 32 Inoffiziellen Mitarbeitern zum Trotz, die auf ihn angesetzt waren.
Seiner Stasi-Akte von 4.000 Seiten Umfang stehen nun seine Gedichte der vergangenen zehn Jahre auf rund hundert Seiten gegenüber. Er hat sie in vier Abteilungen nebst Anhang gegliedert. Aus den ersten beiden unter den Titeln „Dämon“ und „Dotterleben“ trug er Kostproben vor. Dabei fiel auf, dass er weit gereist ist. Ob er eine „Zickzackbrücke“ in China betritt oder einer „Totenfeier“ auf Santorin beiwohnt, wo erst der Tote und nach einigen Jahren auch seine Gebeine mit Weißwein gewaschen werden – Braun reimt munter „Söhne Maos“ auf „Chaos“ und „waschen“ auf „naschen“. Als Reisedichter will er aber nicht gelten. China führe vielmehr ins Zentrum des Buches. Schließlich habe Ulbricht einmal über ihn gesagt:

Er soll nach China gehen.

Was er wohl damit gemeint hat? Braun weiß es bis heute nicht. Aber 1988 war er in Schanghai.
Braun kommt aus einer anderen Welt. Wer kennt hierzulande schon den Autor Fritz Rudolf Fries und seine IM-Tätigkeit für die Staatssicherheit? Aber Brauns Gedichte wimmeln auch von verstehbaren Anspielungen – nicht nur auf Goethe, den sich der Vaterlose offenbar zum metrischen Ersatzvater erkoren hat. Auch Brecht klingt an, die französischen Enzyklopädisten sind zu hören und Dante ist es ebenso. Ihm hat Braun gleich mehrere Gedichte gewidmet. Etwa über „Die Liebenden. Vor Dante“. Dass es sich dabei um zwei 5.000 Jahre alte Skelette handelt, die vor einem Jahrzehnt bei Mantua „in inniger Umarmung“ von Archäologen gefunden wurden, erfährt man aus den Anmerkungen. „An jenem Abend lasen wir nicht weiter“, heißt es im Gedicht. Man glaubt, Paolo und Francesca zu hören, aber es war nur eine Zeitungsmeldung gemeint.

Claudia Schülke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.6.2017

Wortmächtig und fassungslos

– Volker Brauns neue Gedichte sind zornige und verzweifelte Psalmen der Aktualität. Wortmächtig und fassungslos zugleich hält der Dichter seine Sprache der Welt entgegen. –

Volker Braun ist eine der kraftvollsten Stimmen in der deutschen Literatur der Gegenwart – ob im Drama, in der Prosa, nicht zuletzt im Gedicht. Das war schon zu Zeiten so, als er in der DDR mit der DDR gehadert hat. Der hohe Ton, der ihm attestiert wird, ist erlitten, auch der, den er zitiert und variiert – ob er von Goethe, Hölderlin, Büchner, von Rimbaud oder Yeats stammt. Dieser hohe Ton, oft bis zum Zerreissen angespannt, hält einen schmerzhaft nahen Bezug zur politischen Aktualität.
Eben geht am Berliner Ensemble ein  Stück Volker Brauns über die Bühne, welches Die Griechen heisst.  Im ersten Teil macht es Papandreou, den Ministerpräsidenten a.D., und im zweiten Varoufakis, den Finanzminister a.D., zu Hauptfiguren. Gleichzeitig stellt es Verbindungen her zur attischen Antike und zu deren Suche nach demokratischen Prozessen.
Auch Brauns jüngste Gedichte im Band Handbibliothek der Unbehausten sind düstere „Psalmen der Aktualität“ – wie der Untertitel seines Rimbaud-Essays lautet. Sprachmächtig greifen sie weit aus, ob sie reimen oder nicht, und sie zielen mitten hinein in problematische Zonen unserer Tage. Unbehaust sind da noch immer, aber nicht mehr nur, viele der Abgewickelten des untergegangenen ostdeutschen Staates und  seiner einstigen Utopisten, wie Volker Braun einer war als Dissident.
Er trägt bis heute schwer am Bruch in seinem politischen und persönlichen Leben.  Anfang der neunziger Jahre hat er dafür Verse gefunden, die inzwischen weithin Signal geworden sind:

Mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.

Dass sein Text durch die Wende unverständlich werde, wie es im gleichen Gedicht „Eigentum“ hiess, die Klage zieht sich auch hinein in den eben erschienenen Band. Da aber weitet er die eigene Geschichte entschieden aus auf unser aller Gegenwart.
Er selber ist geblieben, was er 2008 in  der Chronik Werktage 2  dem verstorbenen Freund Peter Rühmkorf zugebilligt hat: „ein widergänger und gegensänger“. Der Autor folgt dabei demselben ästhetischen Prinzip wie damals, als er der sozialistischen Staatsmacht, die jede Verlautbarung im Namen des Subjekts für strafbar erklärte, verdächtig war. Er setzt sich aus mit seinem ganzen Ich, mit Körper und Seele. Dann erst darf die poetische Arbeit in Gang kommen, die seit je leidenschaftlich Aufklärung leistet. Brauns Texte beklagen Willkür, globale Kälte – das aber stets unter konkreten Umständen. Dieser Schriftsteller überzeugt nicht zuletzt darum, weil er sich selber zum Medium macht, weil er reist, liest, hinschaut und von den Selbstzweifeln redet, die ihn heimsuchen.
Im Gedicht „Declaration of Shame“ von 2014 beispielsweise. Es handelt von der umkämpften Stadt Kobane und unserer zwiespältigen Rolle beim täglichen Mitansehen des syrischen Krieges. Diese Art der Teilhabe lösche uns aus, meint das Gedicht. Unsere Existenz, die zum Zuschauen verurteilt ist, wird leer, anrüchig angesichts der Leiden:

Wir kämpfen nicht in Kobane, wir sterben nicht in Kobane
Wir sind wie nicht vorhanden.

(Verweis)  Das „Gespräch über die Bäume im Gezi-Park“  (entstanden 2013) greift Brechts Verdikt aus der Nazizeit auf, gemäss dem ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen sei, weil es so viele Untaten verschweige. Hier verhält es sich gerade umgekehrt:

Was für eine Zeit, wo
Ein Gespräch über Bäume alle Untaten einschliesst.

Es geht um scheinbar wenig, um ein paar Bäume in Istanbul, „eine grüne Lohe in der Glut des Zements“. Sie sollen gefällt werden, „niedergehauen“ – ein kleines „Massaker am Morgen“. Doch einer der Demonstranten harrt „unendlich müde, unendlich lange“ aus, lässt einen Wald aus seiner Seele wachsen. Weil er „dort ruhig auf der Strasse steht“, wird er schuldig gesprochen, „ist erreichbar für das Unrecht“. Der Autor dreht die Zeilen Brechts um, dessen Mann im Exil unbehelligt „dort ruhig über die Strasse geht“ – geplagt allerdings von schlechtem Gewissen. Denn für seine Freunde in Not ist er „nicht mehr erreichbar“.
Braun bricht auf, wann immer er kann, nicht nur in fremde Länder, sondern auch in fremde Textlandschaften. Aus alter und neuer Zeit zitiert er Satzfragmente, baut sie ein und baut sie um. Solch passioniertes Collagieren ergibt spannungsreiche, auch provokative Kompositionen.
„Wilderness“, das zentrale Stück des Bandes, ein Langgedicht in zehn Teilen aus dem Jahr 2012, beruft sich auf Ezra Pound und Pasolini, nicht weniger auf „Paradise Lost. A Poem written in Ten Books“. Wie bei Milton muss auch bei Volker Braun der Teufel die Hand im Spiel haben, doch er nennt ihn nicht. Stattdessen errichtet er ein Panorama von Greueln und Weltkatastrophen aus jüngerer Zeit. Jede einzelne steht stellvertretend für andere: die stürzenden Twin Towers; die „Waffe Breivik“; das „Bombodrom Bagdad“, an den Namen eines sowjetischen Truppenübungsplatzes in Brandenburg erinnernd, das „Getwitter“ drumherum; die Demonstrantin auf der Puerta del Sol in Madrid, unbehaust; die Migranten von Cádiz, das Kliff erklimmend oder „eingerollt in die krachende Plane der Brandung“. Im „staugesteuerten“ Auto wird die verratene Göttin der Fruchtbarkeit angerufen:

O Gott Demeter. Das Korn verbrennt in Motoren. – Fahr zu, Idiot.

Am Schluss aber weitet sich der Blick hinaus ins Universum. Und von den wolkigen Haufen entstehender Sterne geht’s dann, ebenso unberaten,  hinein zum Higgs-Teilchen ins Innerste der Materie.
Angesichts von Elend und Ausbeutung thematisiert der Dichter gleichzeitig das Schreiben darüber, das ihn überfordere. Es sind, wie im ersten Teil des Epos dargelegt, die Worte selber, die sich weigern, all das zu benennen. Die Verse, Strophen, Bilder scheuen sich, müssen mit Zweigen und Stöcken hervorgepeitscht werden. Und kommt das Epos dann doch in Gang, verhält es sich so, dass die Sprache mehr weiss als der, der sie braucht. Der allerdings vertraut ihr dann doch so sehr, dass er zu den wortmächtigsten Lyrikern der Gegenwart zählt. Ein anspruchsvolles Dichten ist das, widersprüchlich, oft zornig und verzweifelt. Inmitten der vielen harmlosen Befindlichkeitsbekundungen in der heutigen Lyrik darf es nicht ungehört verhallen.

Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 17.11.2016

Die Seele, wie vom Fleisch gefallen

– Schonungslos klug: Neue Gedichte von Volker Braun. –

Dass sich ein Dichter wie Volker Braun lebenslang treu bleiben wird, stand stets außer Frage. Er war nie ein Anecker, der aneckte um der Provokation willen. Er eckte an, weil er sich provoziert sah von den Zuständen der Welt. Ob die nun von Hinz und Kunz ideologisiert worden ist, von Heuschrecken-Aktionären und der ihnen hörigen Politik verwirtschaftet oder von denkfaulen Volksmassen mit Füßen getreten wird.
Ein ebenso treuer wie kluger Beobachter ist der 1939 in Dresden geborene Dichter alle Jahreswenden und Wendejahre hindurch geblieben. Gut ein Jahrzehnt nach seinem bislang letzten Lyrikband hat der Dramatiker und Prosaautor nun eine Handbibliothek der Unbehausten nachgelegt, seine Auswahl der in dieser Zeit entstandenen Texte. Sie beweist, dass auch im 21. Jahrhundert – jetzt erst recht (mal wieder erst recht!) – das lyrische Ich des philosophisch versierten Braun ein trefflicher Ratgeber und Mahner sein kann. Damit ist er seinem Lehrer Brecht treu geblieben.
Dies literarisch bestätigt zu bekommen, ist ein Vergnügen. Mitunter ein anstrengend herausforderndes, was ja den Wert des Vergnügens nur erhöht. Im Gegensatz zu Brecht scheint sich Braun aber um die Vergeblichkeit nachdenklich aufklärerischer Worte wenig vorzumachen. Gekonnt verwebt Volker Braun leidvolle Zeitgeschichte mit persönlichem Schicksal, berichtet von Befunden, nach denen sich seine Seele „wie vom Fleisch gefallen“ fühlt. Kein Wort der Larmoyanz, wenngleich „Zwangsernährt von dem Schrott“, so doch ein hellwacher Beobachter, der trotz Fernweh „fest am Boden“ bleiben muss:

Und so gern ich mich erhebe
Zieht mich eine Last nach unten

Dennoch treibt es den Dichter oft in die Ferne, wo er scharfsinnig beobachtet, wie das chinesische Wirtschaftswunder gedeiht und verdirbt, kommt dabei mit Konfuzius wie mit Hegel ins Gespräch und konstatiert:

Die Dialektik fickt die Logik.

Erbarmungslos offen und schonungslos klug sind diese Befunde, in denen auch die „Dünkeldeutschen“ ihr Fett abkriegen, „Willkommen und Abschiebung“ sowie die von der Bundeswehr getöteten Menschen in Kundus bedichtet werden. Befunde, die aphoristisch pointieren: „Die Wolke des Vergessens / Zieht hinter der Menschheit her“, sowie mit Wortspielen erschrecken:

So vollbring ich mein Verhängnis
Und erleide mein Gelingen.

Es ist wie eine Weltreise, die beim Lesen unternommen wird. In die Welt der Poetik, in die zeitlosen Abgründe Dantes – selbst aus dessen „Inferno“ grüßen anzüglich Parallelen wie „So dienten wir und schadeten der Sache“ –, um nur eine Seite weiter in Birkenau zu stehen, dann in Kolyma, später im Slum von Medellín. Das Schaudern kurzer Verse will erst mal verkraftet werden, ehe es via Yukatan quer durch Europa gehen wird, wo überall Menschen Menschen dienen und schaden. Doch überall ein „Fetzen Hoffnung“, auch wenn es im Weltkreis „an das Eingemachte“ geht.
Manches Resümee verpackt Volker Braun in schlichte Fragen:

Was sind wir noch zum Schein, was sind wir schon?
Ein Bettelvolk. Ich sags auch mir zum Hohn.

Anderes begründet er resignativ: „Weil die Welt bedroht ist von der Schließung“, um dann doch ganz provinziell ins Elbtal einzuziehen, wo sogar „Milbradts Nischel“ Eingang in die Dichtkunst findet. Man liest und staunt. Aber selbst ein Poetenphilosoph wie Volker Braun nimmt nicht nur den globalen Zirkus aufs Korn, sondern wird ganz menschlich und privat, wenn er sich fragt „Wie war es, als ich glücklich war“, sich am Nacktstrand von Hiddensee beobachtet und – gewiss nicht nur für sich persönlich – festhält, „Müde, Material der Macht zu sein“. Auch der Blick zurück nach vorn scheint schwierig:

Hier stand ich lächelnd wartend auf die Wende.
Gewiß, sie kam. Das Warten nimmt kein Ende.

Michael Ernst, Ostragehege, Heft 83, 1.3.2017

Volker Brauns Handbibliothek der Unbehausten

Im zurückliegenden Jahrzehnt schrieb Volker Braun vor allem Prosa, gelegentlich auch Theatertexte. Sein jüngster, Die Griechen, kommt nun, am Ende der Peymann-Ära, gar auf die Bretter des Berliner Ensembles, zumindest auf die Probebühne. Gedichte aber seien „der Kern der Arbeit, das beiläufige Eigentliche“, notierte der Poet für die Buch-Klappe.
Die Freunde seiner Lyrik mussten sich in Geduld üben, da der vorletzte Gedichtband Auf die schönen Possen vor elf Jahren erschien. Nun gut, auch Goethe, Hölderlin und Heine haben keine Lyrikbände im heutigen Verständnis komponiert, sondern eher Zyklen vorgelegt. Braun strukturiert den Band ähnlich, indem er einen Zyklus mit China-Gedichten sowie die Gedichtgruppe „Wilderness“, die bereits separat erschien, in die Sammlung aufnahm. Brauns Band ist wiederum fünfteilig und enthält (wie der Vorgänger von 2005) am Schluss einen „Anhang: Zeitgeist 2“.
Wie der Bandtitel berichtet der letzte Text gleichermaßen von einer Buchsammlung, vom Schicksal der „Schlenstedtschen Bibliothek“. „Was ein Halbjahrhundert aufliest / Zerschreddert das nächste…“ Dieter Schlenstedt, dem Braun hier auch den Nekrolog „Todesstunde“ widmet, war ein enger Freund, ein hochgeachteter Literaturwissenschaftler, der dem Autor mit Energie und Witz half, 1985, nach vier Jahren, den deftig-satirischen „Hinze-Kunze-Roman“ in der DDR durchzuboxen.
Aus Brauns Tagebüchern wissen wir, dass der Dichter ein vielgereister Mann ist, der seinen Fuß fast auf jeden Kontinent setzte. Diese Reisen liefern Material, geben vielfältige Anregungen. In den Gedichten ist etwa die Rede von China, dem Nahen Osten, Südamerika, Spanien und Frankreich. Selbstredend liefert Braun keine „Reisegedichte“, sondern er erkundet soziale Probleme, setzt sich mit der Geschichte, der Literatur, Kunst und Philosophie der fremden Länder auseinander. „Der Wahre Weg, ihr geht ihn, Söhne Maos. / Die große Ordnung und das große Chaos.“, heißt es in dem Text „Beim Wiederbetreten der Zickzackbrücke“. Auffällig an diesem Zitat und an anderen Stellen ist, dass Braun mehr und mehr den Reim nutzt, hier gar den volkstümlichen Paarreim. Nicht wenige Gedichte sind eingängig, erinnern in ihrer Einfachheit und Tiefe an den lapidaren Stil des Lehrers Brecht. Mit ihm korrespondiert er kontrapunktisch, auf höchstem Niveau in dem Langgedicht „Inbesitznahme der grossen Rolltreppe durch die Medelliner Slumbewohner am 27. Dezember 2011“. Während Braun tief betroffen schildert, wie Slumbewohner in Kolumbien aus dem Gesichtsfeld der Reichen gebaggert werden, konnte Brecht im Exil die „Inbesitznahme der großen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft“ noch feiern.
Volker Braun nutzt die Palette lyrischer Möglichkeiten. Sie reicht vom Zweizeiler bis zum Sonett („Der vertriebene Dante“), von der Elegie zum Prosagedicht („Erwachen. Nach Lu Xun“). Zu seinem Geburtstag (am 7. Mai 2011) notiert der Dichter: „Ein schöner Tag. Mein zweiundsiebtes Jahr. / Kein Lüftchen weht. Wie war es, als ich glücklich war.“
Ein Dutzend seiner Gedichte aus dem Zyklus „La traboule“ besteht aus streng gebauten, einstrophigen Zehnzeilern, darunter erneut ein Hiddensee-Text, der an derber Direktheit kaum zu übertreffen ist („Der Nacktstrand“).
Zwei der lyrischen Texte gehören in das Umfeld von Brauns provokantem Prosaband Die hellen Haufen, mit dem der Erzähler 2011 den tapferen Kalikumpeln aus Bischofferode ein Denkmal gesetzt hatte („Die Mettenschicht“, „Das Mannsfeld“ [sic! –  U. K.]).
Man lasse sich indessen nicht täuschen: Wie stets bei diesem Poeten sind etliche Gedichte hermetisch, erschließen sich schwer, auch wenn uns der Dichter hier und da durch „Anmerkungen“ zu helfen versucht. Braun benötigt einen forschenden Leser, der bereit ist, als Co-Produzent zu agieren. Der Dichter setzt nicht selten Kontexte voraus, die der Leser zunächst nicht hat oder wohl mitunter nicht haben kann.
Der Band enthält wenige private Gedichte („Stammbaum“ etwa), hier und da thematisiert Braun seine ostdeutsche Sozialisation, erinnert er doch knapp an Brecht, Eisler, Busch, Cremer, die Philosophen Bloch, Heise und Teller, an Bahro und Biermann („als er jung gewesen“), Fühmann und den Regisseur Dresen (Senior) („Inferno IV. Limbus“).
Zu Beginn des Bandes trägt ein Gedicht den medizinisch anmutenden Titel „Befunde“. In der Tat spricht Braun hier von Krankheit, auch von eigenen Gebrechen. Vor allem jedoch interessiert sich der Lyriker für gesellschaftliche Befunde, blickt er besorgt auf den Zustand der Welt. Er registriert nun (vor allem in „Wilderness“) einen Mangel an Hoffnung und Utopien.

Am Kilometer Null der Empörung. Du hockst
In der Handbibliothek der Unbehausten

Die Szene ist in Spanien angesiedelt. Dem Autor bleibt der Kontrast, die Erinnerung an den großen Ernst Busch, an sein Lied „Madrid du Wunderbare“.

Ulrich Kaufmann, Das Blättchen, 26.9.2016

Neue Gedichte eines großen Lyrikers

Volker Braun begab sich zehn Jahre auf Reisen und dabei ist dieses kleine Bändchen entstanden.
Der Hauptteil des Bändchens besteht aus Gedichten. Was er schreibt, das ist ein wenig an Goethe und Brecht angelehnt. Wie immer ist es aber der Schreibstil von Volker Braun. Ein wenig frech, aber auch in sich gehend und dazu von sich selbst schreibend.
Mir gefällt „Den Nackten und den Vermummten“ sehr gut. Volker Braun greift die Dinge auf, geht sie an und gibt ihnen eine Gesicht. Mal ist es Prosa, dann sind es wieder kleine Verse, die er anbietet.
Was er schreibt ist aktuell, manchmal mit Unmut und Schmerz geschrieben, aber durchaus kraftvoll, und es ist eine Lyrik, die zu lesen sich lohnt.
Volker Braun war im Osten, aber auch im Westen, ist wieder angekommen in der Unbehaustheit, und der Ort ist Nirgends. „Der Mensch aber richtet sich ein, auch in der Unbehaustheit“. So ist der Mensch nun einmal gestrickt. Er ist zwar „frei“, aber der Wind bläst ihm entgegen, er trotzt dem und ist doch irgendwie verloren. Gedanken, die bewegen und vielleicht sogar tragen…………
Die Stationen der Reise von Volker Braun waren Städte auf dieser Welt, aber auch wieder mitten in der Gesellschaft. Er schreibt vom Sehnen hach der Ferne und doch treibt es ihn immer wieder zurück…….
Auch hierfür eine Einladung zum Lesen.

CVJM, amazon.de, 1.4.2017

„Mein Sehnen geht ins Ferne…

Lyriker haben sich schon früher gern in die Fremde aufgemacht. Nun war Volker Braun unterwegs, aber nicht nur in fremden Ländern und Städten sondern auch in der „Wildnis der Gesellschaft“. Den über siebzigjährigen Autor treibt eine Bestimmung

Ja, mein Sehnen geht ins Ferne
Wo ich heitre Dinge treibe.

Er ist ein kritischer Betrachter und spickt seine Beobachtungen mit biografischen Elementen:

Mich beherrscht ein eignes Wesen
Heiter macht es mich und trüber

Einige Stationen seiner lyrischen Reise sind China, Paris, Birkenau, Wien, Santorin, Dubai oder Belfast. Neben dem Ausland war Braun auch in der Heimat unterwegs – z.B. im Elbtal oder im Mansfeldischen („Ein Land wie konstruiert auf flacher Flur… Ein jeder Hügel scheint nun eine Halde.“). Die Gedichte, eingeteilt in fünf Abteilungen, entstanden in den letzten zehn Jahren und sind eine Mixtur von Reiseeindrücken, Alltagswirklichkeit und lyrischem Ich. In einigen Gedichten wird auf Literaturwerke Bezug genommen (z.B. „Diener zweier Herren“, Bertolt Brecht oder Lu Xun). In der letzten Abteilung „Anhang: Zeitgeist 2“ überwiegen gesellschaftliche Betrachtungen (u.a. „Wir kämpfen nicht in Kobane…“). Der Titel des Lyrikbandes entstand in Madrid, wo Braun die Handbibliothek sah.
Brauns Gedichte sprechen eine deutliche Sprache und schreiben gegen das Vergessen an. Neben Weltanschauung und Kritik kommen aber auch Humor und Reiselust nicht zu kurz.

Manfred Orlick, amazon.de, 15.9.2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Heinz W. Pahlke: Volker Brauns Gedichtband Handbibliothek der Unbehausten hält die Sehnsucht lebendig
buchentdeckungen.de, 26.10.2016

Michael Krüger: Lyrikempfehlung 2017
lyrik-empfehlungen.de

Dietmar Jacobsen: Umsehen im Eingemachten
literaturkritik.de, Nr. 3, März 2017

André Schinkel: Leviten für die Kassenstürzler
fixpoetry.com, 11.10.2017

 

Rückkehr des Echos – Große Fuge: Volker Braun und Alain Lance lesen aus ihren Gedichten und präsentieren sich gegenseitig. Veranstaltung im Lyrik Kabinett, München am 16.5.2022

 

Volker Braun

Dichtung als Geschichte der Zeit

– Volker Braun (geb. 1939) gehörte zu den ersten Autoren der „Sächsischen Dichterschule“, die ich zu Beginn der 60er Jahre im Mitteldeutschen Verlag veröffentlichen konnte – ihn zuerst mit seinem Band Provokation für mich 1965. Seitdem stand ich mit allen seinen Werken in Verbindungen. Ich schrieb mehrfach über ihn, zuletzt im Band Im deutschen Dichtergarten. Lyrik zwischen Mutter Natur und Vater Staat. Texte aus fünf Jahrzehnten, Stuttgart 2018.
Wir sind von Beginn an eng befreundet. –

Was bleibet aber, stiften die Dichter
Friedrich Hölderlin

Was erfährt man bei Betrachtung dieses Werkes über Jahrzehnte hinweg? Volker Braun hat in all seinen Versen, in Prosa oder Drama nichts weniger als die Erfahrungen des persönlichen und damit des gesellschaftlichen Lebens in einem Lande zur Sprache gebracht, wie man sie treffender und komprimierter nicht formulieren könnte.
Jahre, die ich mit seinen Zeilen pflastere – Wege und Abwege. Um- und Irrwege, die ich stets zur Verfügung habe. Verse, der Zeit abgelauscht, abgerufen, abgerungen und abgewonnen. Dichtung, die ich, bedenkend und bedenkenlos, mit gutem Gewissen aufrufen kann: Provokation für mich (1965), die doch als Provokation an alle gemeint war. 

Mein bebautes Land, zufrieden, nicht schön
Das ein Trost ist, das verletzbare, friedliche
Frei von den Ufern der Länder! aber es tröstet mich nicht

hieß es in Wir und nicht sie (1970).

Gedichte Gegen die symmetrische Welt (1974) gerichtet, im Training des aufrechten Gangs (1979) „Ich kann es nicht anders machen“, ahnungsvoll Langsamer knirschender Morgen (1987).
Worte, die Momente und kontinuierliche Folgen, spontane Einfälle und sinnfällige Metaphern, die zugleich eine Epoche anpeilen, im Lustgarten, Preußen zusammenfassen und im großen Gedicht „Das Eigentum“ das Bleibende eines gesellschaftlichen Umbruchs markieren, der uns seitdem im Bann hält, so dass ich es hierher setze.

DAS EIGENTUM

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.

Wie auch sein Großer Frieden (1979), einst Wunschtraum-Drama, bis heute nur auf der Bühne stattfindet und nicht auf Kontinenten. Und wir, wie auch immer, in einer Übergangsgesellschaft (1987), von der man das Ende nicht kennt.
Seine Gedichte also nicht nur Gelegenheitsgedichte, wie sie seit Herrn Gottsched zum Begriff geworden sind oder wie es Goethe in seiner Dichtung und Wahrheit formuliert: „die erste und echteste aller Dichtarten, […] verächtlich auf einen Grad, daß die Nation noch jetzt nicht zu einem Begriff des hohen Wertes desselben gelangen kann“, sondern als Zeit-Gedicht, wie man es damals und heute selten findet, das Eigentliche unseres Lebens, das Poetische, das immer recht hat, „weit über das Historische hinaus“, wie es schon der alte Fontane wusste, das „Bleibende“, von dem Hölderlin spricht. Bleibendes über alle Parteien und staatliche Ordnungen hinweg.
Es ist schon so, Verse seiner Jugend treten unvorhergesehen mit denen des Alters in Kontakt
„Zyklus für die Jugend“, da Bilder und Redensarten mutwillig-genial durcheinanderwirbeln, zum Sinnbild traktieren, die Freiheit des „Jazz“, „Flüche […] für zeitfremde Leute“, „Vorläufiges“, die die Funktionierenden und die Funktionäre zur Verzweiflung brachten, so dass sie seine dichterische Existenz bedrohten, was heute keiner mehr weiß, geschweige denn verstehen kann, der unsere Vergangenheit ausblendet oder zur Opferrolle heroisiert. Dichterische Stimme, die sagt:

[…] EHRLICH waren sie
(Das ist doch schon was zuzeiten der Zäune und Türschlösser)

Jugendlich „Immerwährendes“, das wir erstaunt lesen können bis in die Ausschweifungen des „Wilderness“ heutiger Tage –

Und ich wittre wieder die Gier
Gemeinsamkeit,
aaaaaaaaaaaaadas Notwendige, ohne Zwang
Unbändige Freiheit.

Exemplarisches – Utopia – verschrien wie einst, totgesagt zu einer Wende und wieder auferstanden

Gewaltig, absurd wie ein neuer Krieg.

Es lassen sich zwischen Zeilen unwiderstehlichen Beginns einer

Mitteilung an die reifere Jugend –
Nein, die Bäume unserer Lust könnt ihr nicht konstruieren…

zu gegenwärtigen Versen unversehens Brücken schlagen, dichterisches Pathos über Dezennien hinweg „Weltall Atlantis“, mit dem Menetekel

Lust, nicht Hoffnung! ziehn aus dem Rohstoff
Wir Versinkenden in den Planquadraten, daheim
In Legoland in Medien,
aaaaaaaaaaaaaaaaaastillen die Untergangssehnsucht
Warenflut, „Schicksal“ (d.h. nicht handeln).
Liebe finden fürs Kommende, höchste Kunst.

wie einst und für immer:

Ich sage es, und indem ich es sage
Ist es mehr als ich weiß
In diesem
Lärmgewohnten Jahrhundert.
1

Gerhard Wolf 2014/2020, aus Gerhard Wolf: Herzenssache. Memorial – Unvergessliche Begegnungen, Aufbau Verlag, 2020

 

 

DER SANDWEG
Für Volker Braun 

Darwin, wenn er sich auf dem Holzweg wähnte
Suchte den Sand, seinen Rundpfad durchs Holz:
Sein Laufrad, seine Tretmühle. 

Vorübergehend blätterte er im Buch der verstockten
Natur, der grünen Hure, die sich jedem gibt
Nicht um Fest-: um Fersenzins. 

Geduldig mittelte er ihre Jahrtausend-
Schritte, die uns winzig
Scheinen. Blindlings meinen wir 

Müden Pilger, alles müsse in Sprüngen gehn
Daß wir den Fortschritt noch erleben. Spinner
Vernetzen ihr Dosendasein 

Madenhacker prüfen die Bonität kapitaler
Stämme. Außer Moos nix los. Und der Efeu, der Empor-
Kömmling, exekutiert sein lautloses Jointventure. 

Evolution oder Revolution? Den Rindern
Und Golfern auf ihrer Wiese
Ists einerlei. Während ich das knirschende 

Orakel begehe, widmen sie sich ihrem Pansen
Ihrem Handicap, und haben ein Lächeln
Für meine Höhlenzweifel. 

Im Kreis irrend, seh ich die Natur
Die Blutuhr, im Zeitraffer abschnurren, starre
Aus Schweinsritzen aufs zifferlose Blatt. 

Richard Pietraß

 

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

 


Volker Braun – 50 Jahre Autor im Suhrkamp Verlag.

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