Walter Hinck: Zu Georg Trakls Gedicht „An die Schwester“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „An die Schwester“ aus Georg Trakl: Werke, Entwürfe, Briefe. 

 

 

 

 

GEORG TRAKL

An die Schwester

Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.

 

Ein Liebesgedicht der verschwiegenen Art

Frühverstummte Dichter haben recht eigentlich erst für die Nachwelt zu reden begonnen. Erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts (wieder)entdeckt wurden J.M.R. Lenz, der aus dem Schatten Goethes nicht hatte heraustreten können, und Georg Büchner, der im Zürcher Exil gestorben war. Posthum erschien der überwiegende Teil der Werke von Georg Heym, dessen Leiche man im Januar 1912 unter dem Eis der Havel fand, und von Georg Trakl, dem die Schrecken der Schlacht von Grodek im Herbst 1914 den Mut zum Leben nahmen.
Aber Trakls Verhängnis war nicht allein der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Beruf des Apothekers hatte ihm den Zugriff zu Drogen erleichtert. So gehört er in die Reihe der Lyriker von Samuel Taylor Coleridge über Charles Baudelaire zu Henri Michaux, die im Drogengenuß eine Steigerung der Einbildungskraft und die Erweiterung der geistigen Erfahrungen suchten.
Trakl suchte wohl auch Befreiung von Schuldgefühlen. Doch erlebte er nicht nur, „trunken von Mohnsatt“, die Seligkeiten der künstlichen Paradiese, sondern auch den Fluch der „dunklen Gifte“, die Nachtseite (oder Tagseite) der Betäubung und „Trunkenheit“:

meine Nerven sind zum Zerreißen.

Der im Jahre 1887 in Salzburg Geborene ist kein Lobredner der Stadt geworden. Einmal nennt er sie sogar die „vermorschte Stadt voll Kirchen und Bildern des Todes“. Und doch wird der Geist der Mozartstadt in seiner Lyrik lebendig: in der Übertragung der Musik in Sprache, in Wortmusik, Sinneswahrnehmungen setzen sich in Gehörtes um, die Erscheinungen beginnen zu tönen, die Vokale entfalten ihre Lautmusik. Das trifft zumal für das Gedicht „An die Schwester“ zu. Und wie sich in expressionistischer Malerei und Dichtung die Farbe ganz vom realen Gegenstand lösen kann, so auch hier. Manchen Leser mag das „blaue Wild“ an Franz Marcs „blaue Pferde“ erinnern.
Die Widmung des Titels gilt Trakls Lieblingsschwester Margarethe. Die Liebesgefühle waren nicht nur geschwisterlicher Art. Margarethe ist ihrem Bruder nach drei Jahren, im November 1917, in den Freitod gefolgt. Schmerzvoll war diese Liebe, doppelt schmerzvoll für Trakl, weil er die Schwester in die Drogenabhängigkeit mit hineingezogen hatte. Der an einem Karfreitag Geborenen wurde das Leid zur Bestimmung.
Trakl hat für das Gedicht die Form der dreizeiligen Terzine gewählt; in ihr umrahmen jeweils zwei Reimwörter (hier Wortwiederholungen) ein anderes, das in der folgenden Strophe seine Entsprechungen findet. Die Poetik schreibt der Terzine die Fähigkeit zu, den Ausdruck von Melancholie zu verstärken. Diese Möglichkeit nimmt Trakl fast buchstäblich wahr. Das Wort „Schwermut“, im mittleren, fünften Vers, bildet die Achse des Gedichts. Eine magische Kraft der Schwester ruft Jahres- und Tageszeiten und Landschaften auf. Allerdings sind Herbst, Schwermut, Weiher und Flug der Vögel überhaupt Leitmotive der Lyrik Trakls. Was sich aus der Unendlichkeit, von den Sternen auf das Karfreitagskind mit den verbogenen Lidern herabsenkt, ist es Erbarmen, Freundlichkeit?
Jede neue Lektüre hat mich für dieses Gedicht mehr erwärmt. Wie oft im alten Volkslied sind Liebe und Leid zwillingshaft vereint. Andererseits verfügt Trakl souverän über die Ausdrucksmittel moderner Lyrik. So wurden diese Terzinen zu einem der schönsten Liebesgedichte unserer neueren Literatur, einem Liebesgedicht der verschwiegenen Art.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreißigster Band, Insel Verlag, 2007

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