Walter Hinck: Zu Georg Trakls Gedicht „Der Herbst des Einsamen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Der Herbst des Einsamen“ aus dem Band Georg Trakl: Die Dichtungen. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Der Herbst des Einsamen

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

 

Erfüllung und Abschied

Der „Einsame“ ist eine Schlüsselfigur der Lyrik Trakls, und in der Sammlung Sebastian im Traum, die 1915, also im Jahr nach Trakls Tod, erschien, beschließt „Der Herbst des Einsamen“ einen Zyklus von zehn Texten, der im ganzen den Titel des Gedichtes trägt. Aber Einsamkeit ist eine lyrische Grundsituation überhaupt, seitdem sich das Ich seiner Individualität bewußt geworden ist und Ich-Sein nicht nur als Beglückung, sondern auch als Ausgrenzung erfährt.
Trakl hebt die Isolation des Einsamen in einer Partnerschaft auf. Was das heißt, sagt die erste Strophe von „Verklärter Herbst“ (aus Trakls früher Lyriksammlung) unmittelbar:

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Der Einsame unseres Gedichts öffnet sich, nicht abgelenkt, mit allen Sinnen zur Welt, fast möchte man sagen: Erst die Einsamkeit schafft die Möglichkeit solcher Wahrnehmungsfülle.
Das Gedicht hält das Doppelgesicht der herbstlichen Jahreszeit fest, die Spannung zwischen Fruchtsegen und Vergehen, zwischen der kräftigen Färbung des Laubwaldes und dem Vergilben sommerlicher Schönheit, zwischen Erfüllung und Abschied. Was über die sichtbare Natur hinausweist, bleibt angedeutet: eine mythische Schau, die aus dem Flug der Vögel den Willen der Götter erschließen zu können hoffte, die christliche Bilderwelt mit Kreuz und Engel.
Hörbar wird das Gedicht als Komposition im Dreiertakt. Durch dreifache Reime vernetzen sich die drei Strophen. Dreifach taucht mit dem Blau dasselbe Farbwort auf. Bezeichnet das „reine Blau“ der ersten Strophe noch die atmosphärische Klarheit des Himmels, das Azurblau sonniger Herbsttage, so entzieht sich in der mittleren Strophe „des Abends blauer Flügel“, auch wenn sich damit ein Dunstblau oder die Dämmerung assoziieren läßt, schon genauerer Deutung. Nicht mehr gleichzusetzen mit der konkreten Farbe ist das Blau in den „Augen der Liebenden“.
Bei Gottfried Benn avanciert das Blau zur Farbchiffre (zum „Südwort“) schlechthin. In Trakls Lyrik findet es sich mehrfach als Merkmal der Reinheit, als Attribut der Engel: der Boten des Jenseits und der Erscheinungen des Beseelten. Grundsätzlich aber verbietet sich die eindeutige Auslegung. Denn Farbwörter können zwischen verschiedenen Stufen und Fassungen von Gedichten Trakls fast willkürlich wechseln, sind nicht mehr vom Bezugswort her bestimmt, sondern von Eigengesetzen der Gedichtstruktur. So läßt sich in der Schlußzeile des Gedichts das Schwarz der Tautropfen zwar als Farbe des Todes, aber auch als Korrespondenz zum „dunklen Herbst“ verstehen, als Antwort, die das Ende des Gedichts mit dem Anfang verklammert.
Wie sich von der ersten zur dritten Strophe der Tag über den Abend zur Nacht hin neigt, so führt auch in den Einzelstrophen die Bewegung vom Hellen – in der letzten Strophe stehen dafür die Sterne – ins Dunkle. Aber wenn am Ende des Gedichts die Bildlichkeit des Todes sich durchsetzt, so doch nicht im Sinne des Triumphs. Das „knöchern Grauen“ hebt die sanfte Gewalt der Liebe nicht auf. Die Vergänglichkeit wird als eine Kehrseite von „Frucht und Fülle“ hingenommen.
Ein wahres Kunstgebilde ist dieses Gedicht mit seiner klaren Architektur, mit der Musik seiner Reime und Alliterationen und dem Echospiel klangvoller Vokale und Doppellaute. Man muß die Lebensgeschichte des Autors nicht kennen, um von diesem Gedicht fasziniert zu sein. In einer Zeit, die eine geduldige Wahrnehmung der Natur kaum noch zuläßt und den Gedanken an den Tod nach Kräften verdrängt, geht von diesem Gedicht eines „Einsamen“ auch die Magie des Fremden, des Abhandengekommenen aus. Denn wir suchen in der Dichtung ja nicht nur Ebenbilder, sondern auch Gegenbilder.

Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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