Walter Hinck: Zu Gottfried Benns Gedicht „Gedichte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Gedichte“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Gedichte

Im Namen dessen, der die Stunden spendet,
im Schicksal des Geschlechts, dem du gehört,
hast du fraglosen Aug’s den Blick gewendet
in eine Stunde, die den Blick zerstört,
die Dinge dringen kalt in die Gesichte
und reißen sich der alten Bindung fort,
es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort.

Am Steingeröll der großen Weltruine,
dem Ölberg, wo die tiefste Seele litt,
vorbei am Posilipp der Anjouine,
dem Stauferblut und ihrem Racheschritt:
ein neues Kreuz, ein neues Hochgerichte,
doch eine Stätte ohne Blut und Strang,
sie schwört in Strophen, urteilt im Gedichte,
die Spindeln drehen still: die Parze sang.

Im Namen dessen, der die Stunden spendet,
erahnbar nur, wenn er vorüberzieht
an einem Schatten, der das Jahr vollendet,
doch unausdeutbar bleibt das Stundenlied −
ein Jahr am Steingeröll der Weltgeschichte,
Geröll der Himmel und Geröll der Macht,
und nun die Stunde, deine: im Gedichte
das Selbstgespräch des Leides und der Nacht.

 

 

Die Dinge mystisch bannen

Immer wieder wird das Lesen von Gedichten abenteuerlich dadurch, daß ich beim Eindringen in den Text an eine Stelle komme, wo plötzlich die Fangarme des Gedichtes zupacken, um mich nun nicht mehr freizugeben. In diesem Gedicht von Benn geschah es am Ende der ersten Strophe: „im Gedichte / die Dinge mystisch bannen durch das Wort“. Es war eine Reminiszenz, die mich elektrisierte, die Erinnerung an Eichendorffs Vierzeiler „Wünschelrute“: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Eichendorff deutet einen mystischen Zusammenhang zwischen dem Kern der Dinge und der dichterischen Sprache an: der Dichtermagier hebt ins Lied, was in den Dingen noch verborgen ist, noch ungeweckt.
Spricht Benn von einer ähnlichen mystischen Erweckung? Genaues Lesen läßt der Vermutung keine Chance. Es ist ja etwas Zerstörerisches, Kaltes, Bindung und Ordnung Zersprengendes, dem das Gedicht begegnet. Und nun zeigt sich, wie sehr frühere Textvarianten das Verständnis des Gedichtes klären helfen. In der ursprünglichen Fassung hieß es: „Es gibt nur eine Abwehr: im Gedichte / die Dinge mystisch bannen durch das Wort.“ Das Gedicht stellt sich also der Erfahrungswelt entgegen; es ist nicht Wünschelrute, sondern Zauberspruch, der den bösen Zauber der Dinge bannt, unschädlich macht.
Der Text gehört zur Gruppe der sogenannten „Biographischen Gedichte“ Benns. Entstanden ist er 1941, im dritten Kriegsjahr. Und die Kriegserfahrung war nicht dazu angetan, Benns Deutung der Weltgeschichte als eines Zerstörungsprozesses zu erschüttern. Auch unser Gedicht stellt den Zeitenlauf als ruinös („Steingeröll“ der „Weltruine“) und als Leidensgeschichte dar. Große Beispiele werden genannt: der betende Christus, an dem der Kelch nicht vorübergehen wird, dem die Passion bevorsteht, und Konradin, der letzte Staufer, der auf Befehl Karls von Anjou 1268 in Neapel enthauptet wurde. Wo aber das Gedicht sein Urteil spricht, fließt kein Blut, würgt kein Strang; sein „Gericht“ ist Schicksalsgesang.
Gott wird bei der Berufung auf den Namen dessen, der „die Stunden spendet“, nicht benannt, weil er nur „erahnbar“ und sein „Stundenlied“ unausdeutbar bleibt – dem bloßen „Geröll“ der Weltgeschichte, der Machtherrschaft und der Transzendenz ist kein Sinn abzulesen. Wieder erweist sich eine frühere Textstufe als hilfreich: „Kein Himmelstrost, / kein Trost aus der Geschichte, / Die Unschuld fällt, der Mord ergreift die Macht…“
Und diesem Zustand setzt die Vorfassung des Textes die „Tröstung“ im Gedicht entgegen, die „Biographie des Leides und der Nacht“. In der endgültigen Textgestalt, im „Selbstgespräch des Leides und der Nacht“, grenzt sich aber das Gedicht selbstsicherer von der Lebenswelt ab. Gegen das geschichtliche Dasein setzt sich das ästhetische autonom. Sogar die Trost-Funktion wird von der endgültigen Textfassung preisgegeben. Nur noch Monolog ist das Gedicht. Die Eichendorff-Reminiszenz war also eine Fehlzündung, doch erhellt sie Benns Gedicht. Es ist nicht die Sprache der Dinge selbst, die das Gedicht entbindet; das tiefe sympathetische Einverständnis des Lieds mit der Schöpfung ist bei Benn längst verloren gegangen. Das dichterische Wort bannt die Dinge, indem es sie unwesentlich werden läßt. Diese Gegenkraft des Gedichts aber bleibt Zauberkraft wie bei Eichendorffs Lied, und etwas von ihr wird erlebbar in der Form dieses Bennschen Gedichts, in der Musik der Reime und Wiederholungen, in dem Vers- und Satzschranken unterlaufenden Rhythmus, der auf die Gegenwendung am Strophenende hinlenkt, in dem Facettenreichtum der Schlüsselbilder und dem fremdartigen Reiz des „Südworts“ (wie „Posilipp der Anjouine“), der Bennschen Droge.

Walter Hinck aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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