Walter Hinck: Zu Wolf Biermanns Gedicht „Ballade vom preußischen Ikarus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolf Biermanns Gedicht „Ballade vom preußischen Ikarus“ aus Wolf Biermann: Preußischer Ikarus

 

 

 

 

WOLF BIERMANN

Ballade vom preussischen Ikarus

1.
Da, wo die Friedrichstraße sacht
Den Schritt über das Wasser macht
aaada hängt über der Spree
Die Weidendammerbrücke. Schön
Kannst du da Preußens Adler sehn
aaawenn ich am Geländer steh

aaadann steht da der preußische Ikarus
aaamit grauen Flügeln aus Eisenguß
aaaaaadem tun seine Arme so weh
aaaer fliegt nicht weg – er stürzt nicht ab
aaamacht keinen Wind – und macht nicht schlapp
aaaaaaam Geländer über der Spree

2.
Der Stacheldraht wächst langsam ein
Tief in die Haut, in Brust und Bein
aaains Hirn, in graue Zelln
Umgürtet mit dem Drahtverband
Ist unser Land ein Inselland
aaaaaaumbrandet von bleiernen Welln

aaada steht der preußische Ikarus
aaamit grauen Flügeln aus Eisenguß
aaaaaadem tun seine Arme so weh
aaaer fliegt nicht weg – und stürzt nicht ab
aaamacht keinen Wind – und macht nicht schlapp
aaaaaaam Geländer über der Spree

3.
Und wenn du wegwillst, mußt du gehn
Ich habe schon viele abhaun sehn
aaaaus unserm halben Land
Ich halt mich fest hier, bis mich kalt
Dieser verhaßte Vogel krallt
aaaund zerrt mich übern Rand

aaadann bin ich der preußische Ikarus
aaamit grauen Flügeln aus Eisenguß
aaaaaadann tun mir die Arme so weh
aaadann flieg ich hoch – dann stürzt ich ab
aaamach bißchen Wind – dann mach ich schlapp
aaaaaaam Geländer über der Spree

 

Partisan zwischen den Parteien

Warum nimmt die mythische Gestalt des Ikarus so viel mehr als die seines Vaters Daedalus unsere Einbildungskraft gefangen, warum der kühne, aber den väterlichen Rat mißachtende und abstürzende Sohn mehr als der Erfinder der künstlichen Flügel, dem das Experiment und damit die Flucht aus dem kretischen Labyrinth übers Meer gelingt?
Weil der Erfolgreiche zwar unsere Bewunderung, aber der Scheiternde unser Mitgefühl erregt? Weil uns das Unvollkommene mehr anrührt als das Perfekte? Weil wir uns – auch oder gerade in einer Zeit, da die Erde von einem dichten Flugnetz überzogen ist – mit der Unsicherheit unseres Daseins eher in Ikarus als in Daedalus wiedererkennen?
Wolf Biermann stellt in einem der „Vorworte“ seines Lieder- und Gedichtbandes Preußischer Ikarus die Frage ähnlich, und die Ballade ist seine Antwort. Der Anlaß zur Entstehung der drei Strophen mag äußerlich sein, die Selbstidentifikation Biermanns mit Ikarus ist es nicht. Ein Freund, so berichtet er, hatte ein Foto geschossen, das ihn vor dem gußeisernen preußischen Adler zeigt, der auf der Weidendammer Brücke in Berlin das Ende des Staates Preußen überdauerte. Dieses Foto, auf der vorderen Einbandseite des Buches abgedruckt, erweckt für einen Augenblick den Eindruck, als wüchsen die herabhängenden Flügel des Adlers aus den Schultern Biermanns. Immerhin gab diese „halbalberne Szene“ die Anregung zur Ballade.
Worin für Biermann die Entsprechung zur Situation des im Labyrinth gefangenen Ikarus besteht, bleibt nicht zweifelhaft: wie Kreta ist die DDR ein „Inselland“, freilich nicht von Meereswellen „umbrandet“, sondern „umgürtet“ von Draht und Gewehrläufen. Das Eingezäuntsein ist zur zweiten Natur der Menschen geworden, der Stacheldraht schneidet tief in das Denken der Menschen ein. Darin wird eine Hinterlassenschaft jenes Geistes gesehen, für den hier der preußische Adler steht – eine Hinterlassenschaft, die auch Bertolt Brecht beobachtet hatte: „Gewohnheiten, noch immer“, überschrieb er eine seiner „Buckower Elegien“. Den Kommandoruf „Zum Essen!“ kommentiert er:

Der preußische Adler
Den Jungen hackt er
Das Futter in die Mäulchen.

Biermann ahnt, daß ihn der „verhaßte Vogel“ irgendwann einmal in seine Krallen nimmt und zu einem zweiten Ikarus werden läßt. Der Schluß der Ballade ist Vorausschau auf den Absturz. Dieser Schluß aber las sich anders nach Biermanns Ausbürgerung aus der DDR im Jahre 1976. Von seiner „Furcht vor einem Absturz eines Tages“ hatte er gesprochen. „Eines schlimmen Tages im Westen. Falls ich im Westen leben müßte, das wußte ich, würde ich nie wieder eine Zeile schreiben.“ Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet.
Obwohl exiliert, war der nach Hamburg Zurückgekehrte doch, mit einem Paradox Heinrich Bölls zu sprechen, „ein In-die-Heimat-Vertriebener“, und der Liedermacher dachte nicht daran, im Westen stumm zu bleiben. Im Gegenteil, er hat es mit seinen Interviews und seinen Songs und Balladen fertiggebracht, sich in alle Nesseln zu setzen. Der unverbesserliche Kommunist, Sohn eines in Auschwitz umgekommenen jüdischen Werftschlossers, ließ sich von den Schmähungen und Drohungen der äußersten Rechten nicht einschüchtern und von keiner Gruppe der zerstrittenen Linken zur Galionsfigur machen. Er ist der Partisan zwischen den Linien der Parteien und ihrer Dogmen.
Für den Freiheitssänger Georg Herwegh fand Heinrich Heine, einer der literarischen Wahlväter Biermanns neben François Villon und Bertolt Brecht, das ironische Bild der „eisernen Lerche“, die „himmelhoch“ sich schwingt, aber „die Erde aus dem Gesichte“ verliert. Der Liedermacher Biermann, entschlossen, die Freiheit der individuellen Mündigkeit zu behaupten, behält als Ikarus die Erde im Auge – auch die Möglichkeit, abzustürzen, zu scheitern.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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