Wladimir Majakowski: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Wladimir Majakowski: Gedichte

Majakowski-Gedichte

HÖREN SIE ZU!

Hören Sie zu!
Ja, wenn man die Sterne entzündet,
heißt das, daß es not tut irgendwelchen Kerlen?
heißt das: es sei in jemands Willen begründet?
heißt das: jemand nennt diese Spuckspritzer –
aaaaaPerlen?

Da hastet er hin
unterm Mittagsstaube,
hinter ihm seine Angst,
vor ihm sein Glaube,
stürzt zu Gott voll Sorge,
er käme zu spät,
weint,
küßt dem Herrn die nervigen Hände,
bettelt:
„Ich will meinen Stern, Majestät!
Die sternlose Qual, ich schwörs,
wär mein Ende!“
Dann wandelt er in Spannung,
wenn auch äußerlich gelassen,
sagt zu jemandem: „Gehts jetzt besser?
keine Furcht?
sich fassen!“

Hören Sie zu!
Tja, wenn man die Sterne entzündet,
heißts, daß es not tut irgendeinem Herrn?
heißts: unbedingt jeder Abend
dachüber mündet
in wenigstens einen aufleuchtenden Stern?!

 

 

 

Majakowskis Leben und Werk

Das also ist… Majakowski!
Ebenso schlicht und groß
wie Sowjetrußland selbst.
Aus einer New Yorker Arbeiterzeitung, 1925

1
Groß wie Sowjetrußland! Das konnte nur ein Dichter sein, aus dessen Werk der lebendige Geist des gewaltigen sozialen Umbruchs spricht, der sich seit 1917 in Rußland vollzieht. Das Wunder, das die Revolution vollbracht hat – es ist auch an dem Bogen meßbar, der sich vom ersten bis zum letzten Gedicht, Poem, Drama oder Aufsatz dieses Großen der Literatur spannt. Er selbst hat die Poesie einen Weg zum Sozialismus genannt. Sein stolzes Bekenntnis „Ich bin Bürger der Sowjetunion“, die selbstbewußte Herablassung und der Spott, mit dem der Ich-Held seiner „Verse vom Sowjetpaß“ 1929 auf die kapitalistische Welt herabsieht, sind Ausdruck der vollständigen Umkehrung jenes Lebensgefühls, dem 1913 Majakowskis Verzweiflungsschrei entsprang, als ihm die Leidenden und Ausgebeuteten „riesige Tränen“ zu Füßen legten, damit er ihren Schmerz auf sich nehme (Tragödie „Wladimir Majakowski“).
Die Revolution wurde zu seiner Revolution. Das Werk eines Puschkin, Lermontow, Nekrassow, eines Gogol, eines Saltykow-Stschedrin – er führte es auf neuer Etappe weiter. Je tiefer er die Revolution verstand, je bewußter er ihr sein Werk widmete: sein ungewöhnliches Talent, desto mehr wurde er zum echten Neuerer der Dichtkunst; desto tiefer ergriff er seine Zuhörer und Leser. Majakowskis Entwicklung war zielstrebig, auch wenn es ihr keineswegs an Widersprüchen gefehlt hat und er mehrfach „über sich selbst hinwegstieg“ („Den Liebhabern von Jubiläen“, 1919). In den zwanzig Jahren Arbeit, über die er im März 1930 mit einer Ausstellung Rechenschaft ablegte, hatten sich nicht nur Inhalt und Diktion seiner Werke verändert, grundlegend verändert hatte sich auch die Zusammensetzung seiner Zuhörer und Leser. Auf der Ausstellung sagte Majakowski:

Das Entscheidende… besteht darin, daß der Leser, der Zuhörer von einst, den man in den Salons traf (vorwiegend junge Damen und Herren),… unwiderruflich dahingegangen ist. Nur das Arbeiterauditorium, nur die Proletarier- und Bauernmassen, jene, die jetzt unser neues Leben bauen, die den Sozialismus errichten und ihn auf die ganze Welt ausdehnen wollen – nur sie müssen zu den tatsächlichen Lesern werden. Und ich muß der Dichter dieser Menschen sein.

2
„Eine sozialistische Kunst zu schaffen“, hatte sich Majakowski schon früh vorgenommen: 1909/10, als er im Zusammenhang mit dem Auffliegen einer illegalen Druckerei sechs Monate im Gefängnis zubrachte. 1893 in der Familie eines demokratisch gesinnten Försters geboren, verlebte Majakowski seine Kindheit in Georgien und stand schon während der Schulzeit unter dem Eindruck revolutionärer Aktionen. Als er nach dem Tod des Vaters mit Mutter und Geschwistern 1906 nach Moskau übersiedelte, schloß er sich sehr bald der SDAPR an. Der Gefängnisaufenthalt 1909/10 war bereits der dritte des „Genossen Konstantin“, wie sein Parteideckname lautete. Um sein künstlerisches Vorhaben verwirklichen zu können, kehrte er nach der Entlassung nicht zur Parteiarbeit zurück. Er nahm sich vor, intensiv zu lernen: Malerei. Doch zu dichten hatte er bereits in der Einzelzelle Nr. 103 begonnen. Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß Majakowskis Zuwendung zur Kunst zugleich eine Kampfansage an die Kunst der Weltflucht, an den Symbolismus, war. Diese Strömung, 1910 bereits im Zerfall begriffen, hatte „die Dinge, für uns sehbar“ mystisch zu einem Widerschein, einem Schatten der „nicht erspähbaren“ Dinge erklärt (W. Solowjow). Majakowski indessen wollte gerade das „Sehbare“ durchschaubar machen – für die Unterdrückten, die sich nach Glück und Freiheit Sehnenden. Ihnen galten seine ersten Verse, sein erstes Drama. Aber den Kampf nahm er als einzelner auf, nicht als Mitglied der damals illegal wirkenden revolutionären Partei. All dies prägte Inhalt und Form seiner frühen Arbeiten.
Frappierend ist von Anfang an die Originalität und die extrem emotionale Ausdruckskraft seiner poetischen Bilder. Die Menschenfeindlichkeit der kapitalistischen Welt läßt ihn zum Anwalt ihrer Opfer werden: Der „Mensch ohne Ohr“, der „Mensch ohne Auge und Bein“, „Frauen mit kleinen, mittleren, riesigen Tränen“ fordern von ihm, daß er sie erlöse. Wie aber ihr Glück erzwingen? Wen angreifen? Wem sich verbünden? Das Glück ist ein Traum:

Man sagt, irgendwo – ich glaube in Brasilien – gibt es einen glücklichen Menschen.

Die Anklage schleudert Majakowski symbolisch Gott ins Gesicht, den er als Dieb überführt (Tragödie „Wladimir Majakowski“, 1913). Es gelingt ihm sogar, Gott zum Schluchzen zu bringen:

Durchs Himmelreich, unterm Arm meine Bücher, rennt Er und rezitiert mich allen. („Aber dennoch“, 1914)

Zu dieser Zeit stellt Majakowskis „Gotteslästerung“ noch eine exzentrisch-emotionale Rebellion dar. Wenige Jahre später tritt an ihre Stelle bereits eine überlegen spöttische Gestaltung himmlischer Akteure und Aktionen.
In Majakowskis Frühperiode ist der soziale Feind noch nicht als Klasse erkannt, die nur im Klassenkampf zu schlagen ist (vgl. später die satirischen Porträts, z.B. „Stinnes“, 1923). Majakowski erfaßt ihn in äußerlichen Merkmalen als den aus seinem Fett platzenden, blasierten Parasiten, der sich auch unter seinen Zuhörern in den Literatencafés befindet. Noch verschwendet er an ihn seine Kraft. Ihn fordert er heraus:

… dann spei ich ins Antlitz euch. („Da habt ihr!“, 1913)

Erhebt sich Majakowski zunächst auch allein, um den Feind anzuprangern – überlegene Kraft schöpft er aus seiner vom Schmerz um den Menschen genährten, unerschrockenen Empörung. Doch diese Empörung ist der Verzweiflung benachbart:

Ich bin einsam, wie das letzte Auge eines Menschen, auf den sich die Nacht der Blindheit senkt! („Ich / Einige Worte über mich selbst“, 1913).

Durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges spitzten sich die gesellschaftlichen Widersprüche zu. Immer vernehmbarer brandete „die Flut“ sogar an A. Blocks „Nachtigallengarten“, um ihn, den Symbolisten, dem Zauber der schönen Unbekannten zu entreißen. Im Herbst 1914 traf Majakowski zum erstenmal mit Gorki zusammen, dem Schöpfer des „Danko“, der sein Herz als Fackel erhebt. Zu dieser Zeit hatte er schon sein Poem „Wolke in Hosen“, sein erstes programmatisches Werk (1914/15), in Angriff genommen. Das Leid von Millionen setzt auch sein Herz in Brand, vier Aufschreie sprengen sein „Ich“, das zu klein für ihn wird:

Weg mit eurer Liebe! Weg mit eurer Kunst! Weg mit eurer Ordnung! Weg mit eurer Religion! („Vorwort zur zweiten Ausgabe“, 1918)

Mit ätzender Schärfe wendet sich Majakowski gegen jene Dichtung, die mit Sewerjanin von Liebe und Nachtigallen singt, während die hungernde Straße der Sprache beraubt ist. Liebe! Wo ist denn Raum für sie in der bürgerlichen Gesellschaft, in der das Geld auch über die Beziehungen der Geschlechter triumphiert und die unverhüllte fleischliche Liebe des Dichters an der bürgerlichen „Moral“ zerbricht? Was will ein Gott, der die Welt nicht besser einzurichten vermochte? Stolz stellt sich Majakowski an die Seite der „Hymnendichter der Eisenhütten, der Fabriken und Laboratorien“. Neben das „Ich“ tritt das „Wir“:

Mir ist schnurz und piepe,
daß bei Homer und Ovid
keine Rußpockigen sich umtun, wie unsresgleichen.
Goldfeld unsrer Seelen! Ich weiß: – im Zenit
tät bei dessen Anblick die Sonne erbleichen.

Gebete sind Nichts gegen Sehnen und Muskeln.
Uns Gnaden erbetteln? Das schiene pervers uns!
Wir halten
– ein jeder –
im Faustgriff robust
denn die Transmissionsriemen
des Universums!

Diese Worte gelten bereits einem anderen Zuhörer als jene im Gedicht „Da habt ihr!“. Aus solchem Bewußtsein der Kraft der Arbeiter, der Kraft des werktätigen Volkes – mag das Poem auch noch Stimmungen der spontanen Rebellion, ja, auch der Resignation ausdrücken – erwächst Majakowskis Voraussage der Revolution. Der ursprüngliche Titel des Poems, von der Zensur gestrichen und nach 1917 vom Dichter nicht wiederhergestellt, war allein schon eine kühne Kampfansage:

Der dreizehnte Apostel.

Durch die vorrevolutionären Werke des Dichters fegen geradezu atomar-emotionale Kettenreaktionen. Sein intimstes Erlebnis, Unglück in der Liebe, wird ebenso zur Verdichtung von Klassenkampf und Krieg, wie es umgekehrt den Blutrausch der Schlachten überschreit:

Leute! Heraus aus der Schützengräben Enge! Euren Krieg könnt ihr später beenden!

Das Poem „Die Wirbelsäulenflöte“, 1915 geschrieben, läßt etwas von den Konflikten ahnen, die für Majakowski dieses Jahres „erfreulichstes Datum“ mit sich brachte: im Juli lernte er Lilja und ihren Mann Ossip Brick kennen. Doch der Dichter abstrahiert von dem autobiographischen Fakt: Die Tragödie des Herzens – bereits Bestandteil der Tragödie „Wladimir Majakowski“ (siehe: „Der Mensch mit den zwei Küssen“) und in jedem Poem aufs neue erfaßt – gestaltet er als sozialen Konflikt, erhebt er zur Anklage gegen die Herrschaft des Goldes. Und sei das Feuer der Leidenschaft „so grell wie das Wangenrot der Tuberkulösen“, so stark, daß der Dichter den Namen seiner Liebsten „ins Eisen kratzt, in der Katorga Finsternis küßt“, nicht sie entscheidet über die Beziehungen der Geschlechter:

Ich brüll ihm:
„Vortrefflich!
Ich troll mich!
Wie fein!

Greif zu.
Sie bleibt dein.
Nur behäng sie mit Roben;
laß Schmetterlingsflügel in Krepp verfetten!
Paß auf, sonst entfliegt sie, ins Freie enthoben.
Doch Brillanten am Hals sind bindende Ketten!“

Künder der wachsenden revolutionären Stimmung breitester Volksschichten und Ankläger jener Gesellschaft, die um des Profits willen den Massenmord, den Krieg entfesselt hatte, wurde Majakowski in seinem 1915/16 geschriebenen Poem „Krieg und Welt“. Er widmete es „Meiner Lilja“, aber:

Wie kann ich durch Front, durch Getös und Schreien
der Liebe den Weg zum Lebendigen bahnen?
Ein Fehlschritt –
und die letzte der Klein-Liebeleien
stürzt ab ins qualmige Garnichtsmehr-Ahnen.

Majakowski, „der einsame Herold“, weiß keinen realen Weg, wie der Kriegsbrand zu löschen ist. Er selbst will alle Schuld auf sich nehmen, um der Menschheit das Tor zur Versöhnung, zum Frieden zu öffnen. Utopisch-sozialistisch ist das Zukunftsbild, das er von der Verbrüderung der Völker zeichnet. Aber das erwächst aus Bildern vom Grauen des Krieges, die bis ins Herz treffen. Und noch mehr. Er, der in den ersten Kriegstagen vorübergehend der pseudopatriotischen Propaganda nachgegeben hatte, enthüllt mit unübertreffbarer Deutlichkeit:

Die Ärzte,
um das Massensterben zu enträtseln,
hoben einen Leichnam aus der Grube: –
siehe, da wand sich
in der arg zerfetzten
Seele als Goldmikrobe –
der Rubel.

Majakowski war Maxim Gorki verwandt in seiner Anprangerung des „gelben Teufels“ – des „Gebieters über Alles“; noch differenzierter als vorher erfaßt er ihn in dem Poem „Der Mensch“ (1916/17). Maxim Gorki verwandt war er auch in seiner Verherrlichung des Menschen. Selbst in seinem Stolz auf das eigene Menschsein glüht der Stolz auf die Schöpfung Mensch –

Das bin ich,
der sein Herz als Fahne hißte.
Das unerhörte Wunder des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und in seinem eigenen Schmerz brennt der Schmerz um das zerstörte Glück von Millionen. Oft werden aus Majakowskis frühen Poemen die beharrlich wiederkehrenden Selbstmordgedanken zitiert. Zum Gift greift des Dichters „Ich“ im Poem „Der Mensch“, nachdem er die Geliebte an den „Herrscher über Alles“ verloren hat. Natürlich äußert sich auch darin vor allem höchste Erlebnisintensität. Aber auf einen wichtigen Aspekt verweist S. Paperny: Majakowskis Lebenskraft, seine Daseinsfreude, seine Zukunftsverbundenheit lassen sein lyrisches „Ich“ stets den Tod besiegen; in „Der Mensch“ beginnt sein Herz sogar nach Jahrhunderte währendem Todesschlaf wieder zu schlagen.
Majakowski hatte sich in der Frühperiode seines Schaffens sehr bald zum Wortführer jener Volksmassen gemacht, die sich spontan empörten; schon damals sah er die Aufgabe des Dichters darin, Anwalt der „Straße“ zu sein. Er wurde seinerseits von der anschwellenden Woge der revolutionären Stimmung vorangetragen. Jene Kraft, die dem hereinbrechenden Sturm Richtung gab – er spürte sie, auch wenn sie, illegal wirkend, ihm selbst noch unsichtbar blieb.
Die Revolution, von ihm herbeigesehnt und mit vorbereitet, machte ihm sichtbar, wer ihr Führer und Organisator war. Sie gab Antwort auf seine Fragen, ließ ihn Gleichschritt aufnehmen mit den Kampfformationen der Arbeiterklasse, die seine Sehnsucht verwirklichten: für ihn und für die „Straße“. Darum brach der Marschtritt der Revolution unvermittelt in seine Verse ein, darum erkannte Majakowski sofort, an wen er sich nun mit seinen Gedichten zu wenden hatte:

Bürger!
heut stürzt das tausendjährige „Gestern“.
Heut überprüfen wir die Grundfesten der Welt.
Heut,
bis zum letzten Knopf in unsrer Weste,
wird das Dasein ins neue Gleis gestellt. Bürger!
dies – der erste Tag der Arbeitersintflut.
Wir kommen
zu Hilfe dem arg verstrickten All.

(„Revolution / Dichterchronik“, April 1917)

Majakowski erlebte die Februarrevolution in Soldatenuniform: als technischer Zeichner einer Autoschule in Petrograd, die motorisierte Einheiten für die Armee aufstellte. Mit Hilfe eines Obersten, der mit den Bolschewiki sympathisierte, hatten ihn Ende 1915 Freunde, unter ihnen Gorki, dort untergebracht, wo er trotz Militärdienst als Dichter gegen den Krieg wirken konnte. Die Provisorische Regierung war für Majakowski ein Provisorium im Hinblick auf die kommende sozialistische Revolution:

Besichtige Miljukow. Er schweigt. Aber ich kann mir nicht helfen: der Mann stottert. („Ich selbst“, 1922)

Auf das Bild der „Arbeitersintflut“ sollte Majakowski noch zurückkommen. Immer konkreter, immer tiefer sollte er in den künftigen Werken die Revolution, ihre Voraussetzungen und Perspektiven erfassen. Aber schon jetzt erhob er sich über die Ergebnisse und Ziele der Februarrevolution. „Seine Revolution“ war die sozialistische, die Oktoberrevolution! Ihr drängte er entgegen, wenn er angesichts der Fortsetzung des Krieges durch die Provisorische Regierung die Soldaten aufrief, sich zu ganzer Größe zu erheben und zu fragen:

Wofür kämpfen wir? („Fordert Rechenschaft“, 1917)

Ihr widmete er das Gedicht „Unser Marsch“ (November 1917). Kraftvoller Ausdruck seines Bekenntnisses zu ihr wurde das Gedicht „Linker Marsch“ (1918).

3
Neuerer der Dichtkunst, des Theaters, des Agitations- und Reklameverses… Das setzte das Durchdenken des Dichterhandwerks und das Experiment voraus, doch nicht das Experiment an sich. Zu einem echten Neuerer wurde Majakowski, weil er stets die von der Revolution geprägten Ideen am wirksamsten an jene heranzubringen suchte, die sie in Bewegung setzen sollten.
Eigentümlichkeiten der künstlerischen Form, die für Majakowskis Gesamtschaffen trotz späterer tiefgreifender Wandlungen charakteristisch werden sollten, prägten sich schon in den ersten Jahren seines Schaffens aus. Das war noch nicht die Sprache des wissenden Agitators, aber doch des Tribunen inmitten der sich erhebenden Volksmassen; noch keine intellektuell und emotional vielstimmige, differenzierte Dichtung, wohl aber eine, die das Recht des Menschen auf ein erfülltes, reiches Leben verfocht. Nehmen wir zunächst folgendes Beispiel aus der „Wolke in Hosen“:

Man schnüffelt: was brenzelt?
Was riecht nach Verbranntem?…
läßt Glitzervolk aufmarschieren
in Helmen.
Das Herz steht in Brand! Die Feuerwehrmannschaft
soll ja nicht in stampfigen Stiefeln
ausschwärmen!…

Die Metapher „Das Herz steht in Brand“, auf echt majakowskische Weise realisiert (buchstäblich genommen: die Feuerwehr mit allem Zubehör muß anrücken), das einzelne Schrei-Wort und, ebenfalls ein Schrei, die Pause statt des traditionellen syntaktisch-rhythmischen Versbaus (… aufmarschieren – in Helmen. – Das Herz…) – beides drückt, bis zum Bersten gefühlsgeladen, des Dichters Schmerz, seine innere Zerrissenheit aus.
Als Ausdruck des Protestes gegen Bestehendes verwendet Majakowski lästerlich-biblische Vergleiche („Dafür starben auf Golgathas Schädelstätte die Studenten…“), Vulgarismen („Ich, das Gespött der Menschheit von heut, lang und scharf wie ein schlüpfriges Lied…“), sarkastische Hyperbeln („Vor mir wird Napoleon mopshaft an der Leine trippeln.“). Aber zwischendurch kristallisiert sich Majakowskis Vers bereits zum kraftvollen Aufruf („Wir sollten sie in Demut um Hilfe bitten…, wir, Hymnendichter der Eisenhütten, der Fabriken und Laboratorien?!“).
Treffend schreibt L. Timofejew, daß sich bei Majakowski die Intonationen des Schmerzes mit zunehmender Reife der Einsichten in den gesellschaftlichen Prozeß zu Intonationen des Willens wandelten. Vergleichen wir nur den Einsatz äußerlich verwandter Metaphern in zwei Gedichten sehr verschiedener Entstehungszeit. In welch hilflosgrimmiger Wut enden die 1915 geschriebenen Verse „Seht, so ward ich ein Hund“:

da stand ich mit einemmal
auf allen vieren
und bellte regelrecht:
„wau, wau! wau!“

Auch die Eröffnungsmetapher in den „Versen vom Sowjetpaß“, 1929, läßt des Dichters „Ich“ als Ausdruck äußerster Zuspitzung des Gefühls zum wilden Tier werden. Aber welche konzentrierte Entschlossenheit drückt sie aus:

Mit Wolfszähnen wollt ich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaden Amtsschimmel
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaafassen…

Die Verschiedenheit der Grundhaltungen wirkt bis in den Aufbau der Verszeilen hinein: hier abrupt untereinandergesetzte Wort-Entladungen, dort die überlegen organisierte majakowskische Treppe.

Die Arbeit an Vers und Wort hatte unter anderem der Futurismus auf seine Fahne geschrieben. Zu ihm bekannte sich Majakowski viele Jahre lang. War der Dichter, zumindest am Beginn seines Weges, Futurist?
Zusammen mit D. Burljuk, W. Chlebnikow, A. Krutschonych veröffentlichte Majakowski 1912 den futuristischen Almanach „Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack“, worin das Wort, die Wortneuschöpfung als Selbstzweck zum Programm erhoben wurde. Im Opus Nr. 13 von Chlebnikow sah das so aus:

Bobäobi sangen Lippen
Wääomi sangen Blicke
Piääo sangen Brauen…

Objektiv geriet Majakowski allerdings von Anfang an mit solchen Forderungen in Konflikt. Zwar schrieb er 1913 in dem Aufsatz „Theater, Kinematograph, Futurismus“:

Jene, die entdeckt haben, daß das Wort, sein Schriftbild, seine phonetische Seite die Poesie aufblühen lassen, haben ein Recht auf Existenz. Diese Dichter sind die Entdecker des Wegs zur ewigen Blüte des Verses.

Aber im gleichen Artikel forderte er vom Dichter, der zur demokratischen Kunst stößt, daß er der Gesellschaft darüber Rechenschaft gebe, „unter welchen Bedingungen sein Schaffen, statt nur individuell notwendig zu sein, gesellschaftlich nützlich wird.“
Dem Futurismus entsprang das zu Majakowskis Praxis im Widerspruch stehende Bekenntnis:„… ich sage zu allem Geschaffenen: Nihil“ („Wolke in Hosen“); in der „Ohrfeige“ war sogar gefordert worden, Dostojewski, Tolstoi u.a. „vom Dampfer der Gegenwart“ zu werfen. Der Futurismus veranlaßte Majakowski zu manchen unergiebigen Verskonstruktionen (z.B. „ Von Straße zu Straße“, 1913), ließ manche schwerverständliche Neologismen oder Bilder zustande kommen. Noch im Gedicht „Unser Marsch“ (1917) wird der vom Thema gegebene revolutionäre Schwung durch formalistische Elemente gebremst. Aber Majakowskis Bekenntnis zu futuristischen Theorien stieß sich von Anbeginn an seinem Ringen um eine humanistische, von den Ideen des Sozialismus erfüllte, realistische Kunst. Vieles, was vom Futurismus als Endzweck deklariert wurde und was andere künstlerisch in eine Sackgasse führte, wurde für Majakowski zum Experiment (vgl. Majakowskis spätere Äußerungen zu Formproblemen, z.B. in „Wie macht man Verse?“, 1926). Mit Recht konnte die von Maxim Gorki geleitete Zeitschrift Nowaja shisn 1917 feststellen:

Die Schule der literarischen Bilderstürmer wurde… durch den unbarmherzigen Arm der Zeit gestürzt. Geblieben ist nur Majakowski, aber nicht, weil er Futurist gewesen ist, sondern, weil er hervorragendes dichterisches Talent hat.

Majakowski selbst schrieb in seinem „Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee“ 1921:

Dies gilt euch –
papierkostümierte Mystiker,
verrunzelter Stirnen Faselgedünst,
Futuristiker,
Imaginistiker,
Akmeistiker,
ganz verspinnwebt im Reimwerk-Gespinst.

Die Revolution wurde von den Massen gemacht, die zu den Herren der Straße geworden waren. Marschkolonne, Meeting, Massendemonstration wurden zu ihren charakteristischen Merkmalen. Zur Waffe für die Revolution konnte nur eine Poesie werden, die die Massen erreichte, ihnen ihre Interessen bewußt machte.

Von heut auf morgen gewähre man der neuen Sprache das volle Bürgerrecht! Der Aufschrei trete an Stelle des Melos, der Trommelschlag an die Stelle des Wiegenlieds.

Abstrakte Aufrufe genügten nicht in der Dichtung, als es in der Wirklichkeit darum ging, den Straßenkampf so zielsicher zu führen, „daß zuallererst Telegrafenämter, Bankhäuser und Arsenale in die Hände der auf ständischen Arbeiter fallen“ („Wie macht man Verse?“, 1926). Dieser Inhalt prägte die oratorisch-gestische Diktion von Majakowskis Gedichten nach 1917:

Adleraug sollte verfehlen?
Altes sollte uns blenden? Kräftig
der Welt an die Kehle,
proletarische Hände!
(„Linker Marsch“, 1918)

4
Oft werden Majakowskis Worte zitiert:

Man muß die neue Macht begrüßen und mit ihr Kontakt aufnehmen.

Zwar bekannten sich auch andere Schriftsteller schon damals zu dem neuen Staat: Demjan Bedny, der künftige Autor der „Hauptstraße“, hatte als „schädlicher Bauer“ bereits seit 1911 in der Parteipresse publiziert; Alexander Block, der bald das erste sowjetische Poem „Die Zwölf“ schaffen sollte, war Anfang 1917 zusammen mit Majakowski einer von wenigen, die der Einladung des Zentralen Exekutivkomitees zu einer Beratung im Smolny folgten; für Waleri Brjussow wurde „der Umbruch 1917 zu einem gewaltigen Umbruch im eigenen Leben“; Alexander Serafimowitsch übernahm im November 1917 die Redaktion der Literatur- und Kunstrubrik in den Iswestija. Dennoch war die Zahl derer, die uneingeschränkt an die Seite der Bolschewiki traten, zunächst nicht groß. Auf der Tagung eines Provisorischen Komitees der Kunstschaffenden am 30.11.1917 in Petrograd stimmte allein Majakowski mit den obenstehenden Worten den Ausführungen Lunatscharskis, des Volkskommissars für Aufklärung, zu.
Schon im Jahre 1918 schuf Majakowski das Mysterium buffo, das erste sowjetische Theaterstück. Noch stützte er sich – wie auch andere russische Dichter – auf die biblische Legende von der Sintflut, um Maßstäbe für den Sturz einer Epoche und den Anbruch einer neuen zu finden. Aber mit Hilfe der Allegorie brachte er den Klassenkampf zwischen den „Unreinen“ und den „Reinen“ ganz unmystisch auf die Bühne: Fliegt in dem Stück zunächst nur der „Negus“ von Bord der Arche, weil er alle Nahrung allein verschlingt, so folgt ihm dann der „demokratische“ Ministerrat des „türkischen Pascha“, des „russischen Kaufmanns“ usw. Die „Unreinen“ liquidieren eine Ordnung, die auf dem Prinzip beruht:

dem einen die Brezel,
dem andern das Loch von der Brezel,
und gelöst ist das Rätsel
der demokratischen Republik.

Die Stärke des Stückes liegt in der Anprangerung. Des Deutschen „Hoch Vaterland!“ und des Italieners „Eviva Italia!“ münden angesichts der revolutionären Sintflut in ihr Credo:

Es gibt keine Vaterländer.

Aber die Gestalten der „Unreinen“ bleiben noch blaß. Der Schornsteinfeger, der Schmied, die Wäscherin haben noch kein individuelles Gesicht, ihr Kampf ist noch nicht der konkret-historische, organisierte. Als „unbeugsamer Geist des ewigen Aufruhrs“ kommt „Der Mensch“, eine symbolische Gestalt, über das Wasser der Sintflut, um sich in die Muskeln der „Unreinen“ zu hüllen. Das „Gelobte Land“, in dem festlich geschmückte Maschinen auf ihre wahren Herren warten, ist noch eine Utopie. Bedeutungsvoll ist im Mysterium buffo die im Volkstheater verwurzelte Verschmelzung des Erhabenen und des Komischen. Die satirisch-humoristischen Töne in dem Stück zeugen von Majakowskis wachem Sinn für die grandiosen Maßstäbe der proletarischen Revolution.
Die Aufführung des Mysterium buffo am 1. Jahrestag der Oktoberrevolution erzwang der Dichter gegen erbitterten Widerstand. Die Sabotage durch Mitarbeiter der Theaterabteilung im Volkskommissariat für Volksbildung überwand er schließlich mit Hilfe des Volkskommissars Lunatscharski. Durch Aufrufe in Petrograder Zeitungen an die „Genossen Schauspieler“ warb er Mitwirkende. Majakowski kämpfte, diskutierte, überzeugte. Er kolorierte selbst die Plakate und ließ sie austragen. Er übernahm kurzfristig drei Rollen, als im letzten Moment einige Darsteller verschwanden. Ganz im Sinne Majakowskis, der die Massen erreichen und mobilisieren wollte, bezog der Regisseur Meyerhold auch den Zuschauerraum in die Handlung ein.
Bestimmend für die Neufassung des Mysterium buffo im Jahre 1921 war die fortschreitende historische Wirklichkeit. Der Bürgerkrieg ließ den „Rotarmisten“ an die Stelle des „Schornsteinfegers“ treten. Der „russische Kaufmann“ war zum „Spekulanten“ geworden, hatte bereits Bekanntschaft mit der Tscheka gemacht. Statt der „hysterischen Dame“ begegnet uns die „Dame mit den Schächtelchen“, eine russische Emigrantin, die sich zuletzt versuchsweise zur „Kamtschatka-Nation“ bekennt. Historisch-konkrete Gesichter nahmen der „Engländer“ als Lloyd George und der „Franzose“ als Clemenceau an…
Weit zurück lagen die Jahre, da Majakowski seine Identifizierung mit den Millionen Geknechteten und seinen Protest in dem dichterisch gestalteten „Ich“ zu erfassen gesucht hatte: Tragödie „Wladimir Majakowski“ usw. Auf dem Wege, sich als „seines Volkes Führer und Diener zugleich“ zu begreifen, ließ er jetzt umgekehrt sein „Ich“ hinter das „Wir“ der Millionen Herren der neuen Gesellschaft zurücktreten. In seiner Vorbemerkung zur zweiten Variante des Mysterium buffo überantwortete Majakowski die Rechte an dem Stück den künftigen Schauspielern, Inszenierern, Rezitatoren, Herausgebern:

Ändert jeweils seinen Inhalt, macht den Inhalt zeitgemäß, heutig, minutengerecht!

Sein Poem „150 000 000“, das 1920 – vor der zweiten Variante des Mysterium buffo – entstand, hat Majakowski sogar mit Vorbedacht anonym veröffentlicht. Er wollte nicht nur „Millionen lobpreisen, Millionen sehen“, er wollte auch – Individualisten wie Andrej Bely in die Schranken weisend – Stimme der Millionen sein.

Hundertfünfzig Millionen:
so heißt der Meister dieses Poems.

Das Poem „150 000 000“ widmete Majakowski dem Krieg, den die Sowjetmacht gegen die Interventen und die innere weiße Reaktion zu bestehen hatte. Seine Gestaltung des Themas vom „Championat des weltumfassenden Klassenkampfes“, der im Zweikampf Iwan gegen Wilson gipfelt, ging auf das russische Volksepos, die Byline, zurück. Der Dichter sparte keine Hyperbeln, um Wilsons Macht darzustellen. Mochten auch diese Hyperbeln ein satirisches Bild des seelenlosen parasitären Pomps zeichnen – um wieviel höher ist der Sieg Iwans zu bewerten, der den Streit zwar mit bloßen Händen aufnimmt, aus dessen Wunden jedoch, als sei er eine Art trojanisches Pferd, unerschöpflich neue Streiter treten! Noch ist im Poem „150 000 000“ der Kampf der Arbeiterklasse nicht realistisch erfaßt, noch wird seine Organisiertheit von einer phantastischen Elementaraktion verdeckt, zumal sich gegen Wilson zusammen mit Millionen Menschen auch Tiere, Insekten, Gegenstände – darunter sogar Schränke und Garderobenständer – erheben. Im Sinne des Futurismus negierte Majakowski individuelle Helden; die Gestalt Lenins, der „nur mit Mühe das riesige Herz Rußlands in Gang bringen konnte“, ist noch nicht historisch entwickelt und tritt in dem Poem nur sporadisch auf. Aber daß Majakowski durch die Gestalt des Iwan die proletarische Revolution zugleich als nationalen Befreiungskampf erfaßt hatte, war ein wichtiger Schritt vorwärts – gemessen etwa an den „Unreinen“ im Mysterium buffo.

5
Noch ehe Majakowski das Poem „150 000 000“ beendete, begann das ROSTA-Kapitel seiner schöpferischen Biographie. Das erste ROSTA-Fenster, ein Agitationsplakat, das aus den Nachrichten der Russischen Telegrafenagentur schöpfte und viele Betrachter anzog, hatte der Künstler M. Tscheremnych gestaltet und in der Vitrine eines Moskauer Geschäfts ausgehängt. Bald darauf stieß Majakowski zu ihm. Zweieinhalb Jahre lang, von Ende 1919 bis Anfang 1922, bestimmte er faktisch die politische Thematik der ROSTA-Fenster. Für mehr als tausend „Fenster“ schrieb er die Texte, über fünfhundert versah er selbst mit Zeichnungen. Die ROSTA-Fenster enthielten in der Regel eine Serie von Zeichnungen mit Untertexten, die alle einem Thema gewidmet waren. Die Originale wurden mit Hilfe von Schablonen vervielfältigt.
„Die satirischen ROSTA-Fenster sind eine phantastische Sache“, schrieb Majakowski später.

Eine Handvoll Künstler, auf Handarbeit angewiesen, diente damit einem Volk von hundertfünfzig Millionen. Telegrafische Nachrichten wurden augenblicklich zu Plakaten verarbeitet, Dekrete im Handumdrehen als Tschastuschki (Stegreifvierzeiler) publik gemacht. („Nur keine Erinnerungen“, 1927)

Die ROSTA-Fenster mobilisierten die Bevölkerung zum Kampf gegen die Interventen:

Stolz setzte die Entente sich in Marsch.
Doch vor unserm Tor fand der Stolz ein Ende,
da gabs nur ein „kehrt!“ und die große Wende.
(ROSTA-Fenster Nr. 627, 1920)

Sie riefen die Bauern auf, die Rote Armee zu versorgen, verspotteten menschewistisches Versöhnlertum, erläuterten die Rolle der Tscheka, propagierten die Bildung von Stoßbrigaden…
Die ROSTA-Fenster als Kunstgattung waren aus neuen gesellschaftlichen Bedingungen hervorgegangen. Zum Unterschied von den Plakaten, die man in Büros mit Muße betrachten konnte, war es ihre „erste und wichtigste Aufgabe, aufzufallen, eine vorbeihastende Menge, ob sie will oder nicht, mit allen Mitteln vor jenen Losungen zum Stehen zu bringen, vor denen sie stehenbleiben soll“ (Rede über die künstlerische Propaganda auf dem ersten allrussischen Kongreß der ROSTA-Mitarbeiter, 1920).
Faktisch organisierter Propagandist der Partei, der den Betrachter der ROSTA-Fenster von einzelnen Lebenserscheinungen zu politischen Schlußfolgerungen führte, reifte Majakowski als realistischer Dichter. Noch in „150 000 000“ war die Zukunft ein romantischer Traum: weggespült sind die Wüsten, Bäume schmücken sich mit festlichem Flor –

auf dem übergrünten Platz,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavoreinst Sahara geheißen,
wo heut die alljährlichen Volksfeste gleißen.

Nunmehr – 1921, nach Beginn der Neuen ökonomischen Politik – agitiert der Dichter für die Ablieferung der Naturalsteuer durch die Bauern, damit die Fabriken wieder arbeiten können, damit es wieder Eisen und Stahl gebe und Rußland, statt zu sterben, erblühe (ROSTA-Fenster Nr. 285).
Die ROSTA-Fenster, die volkstümlich, klar und lakonisch sein mußten, waren auch eine wichtige sprachliche Schule für Majakowski. Er nutzte Sprichwörter und Fabeln, reinigte seine Sprache vom „poetischen Drumherum“ („Ich bitte ums Wort“, 1930), damit ihn der Arbeiter, Bauer, Rotarmist verstand. Die ROSTA-Fenster wurden beispielgebend für alle sowjetischen satirischen Zeitschriften.
Die NÖP, auf den vollen Sieg der sozialistischen Wirtschaft gerichtet, gab vorübergehend auch dem kapitalistischen Sektor Auftrieb. Majakowski, der mit seinem Gedicht „Letzte Seite im Buche des Bürgerkrieges“ soeben noch ein letztes „Hoch“ auf die Helden des Kampfes gegen den äußeren Feind ausgebracht hatte, trat an die neue Front mit satirischen Gedichten gegen das Spießbürgertum, das seine Zeit gekommen glaubte:

Hurra! ein dreifaches Hoch auf die Helden!!!

Übrigens –
die haben immerfort
genug Huld gefunden.
Jetzt
reden wir ein Wort
von den Lumpenhunden.
(„Über die Lumperei“, 1921)

Majakowski richtete darüber hinaus seine Satire gegen Unzulänglichkeiten beim Aufbau des Neuen. Er verspottete. Bürokraten, die sogar „ein Großtintenfaß zu kaufen“ nur auf einer Sitzung beschließen können („Die auf Sitzungen Versessenen“, 1922), und Propagandisten, die für die Löcher „im Gesamtmaßstab der Mjasnizkajastraße“ blind sind, weil sie nur „gesamtrussische Maßstäbe“ kennen („Gedicht von der Mjasnizkaja, dem Frauenzimmer und dem gesamtrussischen Maßstab“, 1921). Lenins öffentliche Anerkennung für das Gedicht „Die auf Sitzungen Versessenen“ – „was die Politik angeht, so übernehme ich die Garantie, daß das vollkommen richtig ist“ – öffnete dem Dichter die Spalten der Iswestija, deren Redakteur vorher die Publikation seiner Gedichte unterbunden hatte.
Das Thema der Revolution schließt das Thema der Liebe ein: 1923 beendete Majakowski sein Poem „Das bewußte Thema“. Der „Gebieter über Alles“ aus dem Poem „Der Mensch“, der dem Liebenden einst nur „des Scheiterhaufens Feuer“ ließ, hat seine Macht verloren. Ist er aber schon ganz geschlagen? Wie verwirklicht sich in der neuen Gesellschaft das individuelle Glück? Angesichts des wuchernden Spießertums, das unter der NÖP Morgenluft witterte, sagte Majakowski dem Alltag den Kampf an:

Jenem Alltag, der sich in nichts geändert hat, jenem Alltag, der jetzt unseren erbittertsten Feind darstellt, weil er uns in Spießer verwandelt. (Rede auf dem Disput „Der Futurismus heute“, 1923)

Die Alltagsgewohnheiten der Gesellschaft – sich eingeschlossen – meint Majakowski, wenn er in dem Poem vermittels komplizierter Assoziationen den Feind im eigenen Herzen an den Pranger stellt. Die „Urzeit der Höhlenbewohner“ wird lebendig: die nagende Eifersucht offenbart des Helden Bäreninneres – Fell, Stoßzähne und Krallen. Die Verzweiflung seiner Vergangenheit tritt ihm entgegen: sein „Ich“ auf der Newabrücke, dem er vor sieben Jahren den erlösenden Sprung in die Tiefe verwehrt hat:

Biederst dich an
aaaaaaaaaaaaaan die fremde Kaste?
Schmausest
aaaaaaaaaaund schmatzest,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadein Bäuchlein wird rund?
Und huldigst dem Hausbrauch,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaans Fremde dich passend,
und schlüpfst in ihr Glück wie ein Huhn oder Hund?

Ein Komsomolze – wird er dem Verzweifelten Rettung bringen? – erschießt sich; wie ähnlich sieht er Majakowski, dem „Kommunisten und Bären“. Doch das Schrecklichste: auch inmitten der Heiligabend-Gesellschaft, die es ablehnt, jenem auf der Brücke zu Hilfe zu kommen – zufrieden Tee trinkend, ein rotgerahmtes Marxbild an der Wohnungswand – erkennt er „sich selbst“. Der Dichter schrieb das Poem während einer schweren Krise in seinen Beziehungen zu Lilja Brick, mehr noch, nach S. Paperny überwand er die seelische Not beim Schreiben des Poems.
In späteren Arbeiten Majakowskis wird der Widerspruch zwischen persönlichem Glück und gesellschaftlichem Interesse durch eine Liebe aufgehoben, die den Liebenden mit einem Kopernikus wetteifern läßt („Brief aus Paris an den Genossen Kostrow über das Wesen der Liebe“, 1928). Die Liebe des Dichters zur Frau will sich in der gemeinsamen schöpferischen Hingabe an die sozialistische Gesellschaft bestätigt finden („Brief an Tatjana Jakowlewa“, 1929). Aber schon im Poem „Das bewußte Thema“ sah Majakowski die Lösung des Konflikts – im Gegensatz zur vorrevolutionären Schaffensperiode, als auch im Namen der Liebe die bestehende Ordnung angegriffen werden mußte – im Bekenntnis zu „diesem Leben“, in einer Liebe, die bewirkt, daß der Vater für seine Leute „zum mindesten die Welt bedeute, die Mutter – mindestens die Erde“.
Spätestens seit 1923 beschäftigte Majakowski der Gedanke an ein Poem über den Führer jener Revolution, die das Tor zur wahren Menschheitsgeschichte aufgesprengt hatte. In jenem Jahr entstand das Gedicht „Wir glauben es nicht“. Von Lenins Tod erschüttert, schrieb Majakowski das Poem „Wladimir Iljitsch Lenin“ (1924). Anläßlich der ersten Lesung des Poems am 18.10.1924 im Haus der Presse in Moskau erklärte der Dichter:

Das ist vielleicht das Ernsthafteste von allem, was ich bisher gemacht habe.

Tatsächlich wurde „Wladimir Iljitsch Lenin“ zum ersten großen poetischen Werk des sozialistischen Realismus.
Schon 1920 hatte Nikolai Tichonow seine Versdichtung „Sami“ einem orientalischen Boy gewidmet, in dem die Kunde von „Lenni“ das Bewußtsein seiner Menschenwürde weckte. Etwa zur gleichen Zeit wie Majakowski schuf Maxim Gorki sein Werk über Lenin. Obwohl beide seit einem Zerwürfnis Anfang der zwanziger Jahre keinen neuen Kontakt gewinnen konnten, zeigte sich in ihrem Herangehen an diese künstlerische Aufgabe erneut ihre Wesensverwandtschaft. Die Menschlichkeit Lenins, die Gorki im Porträt aufleuchten ließ, erschloß Majakowski in der historischen Rolle, die Lenin bei der Befreiung des Volkes aus Unterdrückung und Ausbeutung gespielt hat.

Was hat er getan?
aaaaaaaaaaaaaaWer ist er
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund von wannen –
dieser Mensch, der menschlichste von je?

Das überblenden von dem kurzen Leben Uljanows zu „des Genossen Lenin langem Leben“, von dem wohl schon „vor zwei Jahrhunderten“ erste Zeugnisse bekundeten, öffnet den Blick für die Geschichte der Arbeiterbewegung, die ihn gezeugt hat.
Das Leitmotiv vom kommenden „Erlöser“, „Richter, Rächer, Vorkämpfer“, von Mal zu Mal qualitativ gesteigert, markiert die Etappen der Klassenkämpfe auf dem Weg vom „Knurren der Vorstadt“ über die Erkenntnisse des „Älteren Bruders“ Marx bis zum Auftreten Lenins. Konzentriertester Ausdruck der philosophischen Idee des Poems sind die Verse über die Partei. Die Schlußzeilen sind nicht nur These:

Wir sagen: Lenin –
aaaaaaaaaaaaaaaaund meinen: die Partei;
wir sagen: die Partei –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaund meinen: Lenin.

Lenins Ziele und die Interessen der Werktätigen bilden eine Einheit: Sogar der Analphabet begreift „den Sinn des Alls“, wenn er Lenin hört; und wer für die Freiheit kämpft, ist Leninist, auch wenn er Lenin nicht kennt. Aber erst zu der von Lenin zusammengeschweißten Partei vereint, „sind die Kleinen – Bezwinger“. So löste Majakowski – historisch-konkret – zum erstenmal das Problem der Beziehung zwischen Führer und Masse.
„Wladimir Iljitsch Lenin“ ist ein lyrisch-episches Poem. Majakowskis Erschütterung über Lenins Tod, die sich vereint mit dem großen Schmerz seines Volkes, schließt den Leser emotional für den historischen Rückblick auf. Indem er Lenin als genialen Vollender des historisch herangereiften Kampfes, als „Vater und Sohn der großen Revolution“ erfaßt, bereitet er das Umschlagen tiefster menschlicher Trauer in die bewußte Entschlossenheit vor, die Revolution unbeirrt zum Siege zu führen. Für den Dichter, dessen „Ich“ für Millionen spricht, heißt das:

Ich bin glücklich,
aaaaaaaaaaaaadaß nun ein Teil
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadieser Kraft ich bin,
des großen
aaaaaaaaaGefühls,
aaaaaaaaaaaaaaaadas da Klasse heißt.

Den historischen Sinn der Opfer, die der Kampf gefordert hat, verdeutlicht Majakowski, indem er sie an den Siegen der zwanziger Jahre mißt. So erinnert er jene, die als Bevollmächtigte des Volkes seit der Revolution in Kremlsesseln Dekrete schreiben, an „Sibiriens Trakte“, die sie einst als Strafgefangene des Zaren durchschritten. Umgekehrt schaffen seine lyrischen Exkurse in die Zukunft die Distanz, aus der die historische Bedeutsamkeit des Zeitgenössischen erkennbar wird. So ersteht aus einem „Rückblick von dort einst auf unsere Tage… der Fünfundzwanzigste – jener erste Tag“. Die Möglichkeiten erweiternd, die vor ihm Nekrassow für das Poem erschlossen hatte, löste Majakowski in der Poesie jene Aufgabe, der sich zu jener Zeit Furmanow, Serafimowitsch, Fadejew in der sowjetischen epischen Prosa widmeten: die künstlerische Gestaltung des neuen Menschen der sozialistischen Gesellschaft. Bis zum heutigen Tage bannt sein Poem den Leser durch das Bekenntnis zur Parteilichkeit:

Ich säubere mich unter Lenins Sonne, um in der Revolution denn vorwärts zu schwimmen.

6
Majakowski poetisierte nicht die Widersprüche, er attackierte sie; auch darum sind seine Verse bis heute lebendig. Vor 1917 hatte der Kampf jener Erde gegolten, die „fett geworden war wie eine Mätresse“ („Wolke in Hosen“). Nach 1917 hieß es, auf der Erde, „mit der man gefroren“, „mit der man gehungert“ und „die man erstritten“ („Gut und schön“), den Sozialismus zu verwirklichen. Des Dichters Bild von dem Helden, der dies vollbrachte, gewann immer mehr an Kraft und Tiefe. Entscheidend dabei war die aktive Auseinandersetzung sowohl mit der neuen, sozialistischen als auch mit der alten, kapitalistischen Welt.
Neunmal reiste Majakowski ins Ausland. 1922 besuchte er Riga, im selben Jahr Reval, Stettin, Berlin, Paris. 1923 war er in Königsberg, Bad Flinsberg, Berlin, auf Norderney. 1924 hießen seine Reisestationen Riga, Berlin und nochmals Riga, Berlin, Paris. 1925 fuhr er nach Königsberg, Berlin, Paris, Saint Nazaire, Santander, Havanna, Veracruz, Mexico City, Laredo, New York, Rockaway, Cleveland, Detroit, Chicago, Philadelphia, Pittsburgh, Le Havre, Riga. 1927 besuchte er Warschau, Prag, Berlin, Paris. 1928 reiste er nach Berlin, Paris, Nizza. Seine letzte Reise 1929 führte ihn nach Berlin, Prag, Nizza, Monte Carlo.
Selbstbewußt, jederzeit Herr der Situation, humorvoll, sarkastisch-geistreich ist Majakowskis Ich-Gestalt in den „Versen vom Sowjetpaß“ (1929), die gewissermaßen Bilanz aus allen Reisen ziehen. Die feierlich-polemische Abgrenzung des „purpurnen Ausweises“ gegen „jedes Amtsformular“, die Überlegenheit angesichts der Metamorphosen des „Kontrollors“ und des ratlosen Blickwechsels von Spitzel und Gendarm, denen die wortlose Solidaritätsbezeigung des Gepäckdienstmannes gegenübersteht – alles widerspiegelt die reiche Individualität der eigenen Persönlichkeit des Dichters und zugleich die Einzigartigkeit seiner Heimat – der Sowjetunion.
Die Kontrastsituation seines „Ich“ gegenüber der alten Welt, Majakowskis Solidarität mit den Ausgebeuteten ist in allen seinen Auslandsgedichten enthalten. Eine geradezu explosiv geladene Erwartung des deutschen „Siebzehnerjahrs“ kennzeichnet die Deutschlandgedichte der Jahre 1922 bis 1924. Im „Arbeiterreich Berlin-Nord“ sieht der Dichter angesichts der dort herrschenden Not „ein besseres, drittes, ein Rotes Berlin“ zur Welt kommen („Zweierlei Berlin“, 1924). „Vom Oktober durchwettert“, projiziert er sogar eine Szene des Klassenkampfes in ein idyllisches Kurreservat der Reichen („Norderney“, 1923). Natürlich gab es im Deutschland jener Jahre auch Grund zu solchen Vorahnungen. Vom Standpunkt des künftigen Hausherrn vermerkte Majakowski nach seiner Begegnung mit Frankreich, man müsse die „Notre Dame“ schonen beim Sturm „auf die Präfektur schräg drüben“ („Notre-Dame“, 1924). Und das Amerikagedicht „Wolkenkratzer im Längsschnitt“ (1925) gipfelt in der Feststellung:

Ich strebte
aaaaaaaaasiebentausend Werst nach vorn –
und gelangte
aaaaaaaaaaasieben Jahr nach hinten.

Bereits an den zitierten Gedichten ist ablesbar, wie Majakowskis anfängliche emotionelle Überhöhung in der Vorausschau der Revolution einer immer nüchterneren, differenzierteren Beziehung zur Wirklichkeit Platz machte. Zutreffend konstatiert Alexej Mettschenko, von einem scherzhaften Vergleich Majakowskis in der Skizze „Meine Entdeckung Amerikas“ ausgehend: Der Bogen spannte sich von der romantischen, unrichtigen, aber treffenden Darstellung Amerikas in „150 000 000“ (1920, noch vor der ersten Begegnung mit dem Ausland entstanden) bis zur realistischen, richtigen und treffenden Darstellung in den späteren Amerikagedichten. Die Reklamemiß bei Woolworth, so scheint es Majakowski, bezieht sogar ihn in ihre Traumwelt ein. Sie kennt nicht, wie „wir“, das „Mittel von anderer Artung“,

das Werkvolk
aaaaaaaaaaain alle Etagen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazu setzen, –
ohne Wunschtraum,
aaaaaaaaaaaa aaaaohne Heirat,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aohne Erbschafts-Erwartung.

(„Das Fräulein und Woolworth“, 1925)

Das Aufbegehren Majakowskis gegen die Illusionen bringt Perspektive und poetische Spannung in das Gedicht, charakterisiert ihn zugleich als sozialistische Persönlichkeit.
Wo Majakowski seine Naturbilder nicht wie in „Norderney“ als Symbol oder als Kontrast zu politischen, philosophischen Ideen zeichnet, sondern sich ausnahmsweise von Exotik zu „reiner“ Naturlyrik inspirieren läßt, dort ironisiert er zumindest scherzhaft seine Begeisterung:

aufrecken sich
aaaaaaaaaaaKakteen:
aaaaaaaaaaaaaaaaawie Röhren vom Samowar.
(„Die Tropen“, 1926)

Uneingeschränkt gilt jedoch seine Begeisterung einem solchen Wunderwerk der Technik wie der Brooklyn-Brücke, der er poetischen Reiz abgewinnt, indem er sie noch für Forscher aus einer fernen Zukunft zum Zeugen des hohen Entwicklungsstandes der zeitgenössischen Technik erhebt. Und doch gibt es eine Einschränkung:

von hier aus
aaaaaaaaaaastürzten sich die Arbeitslosen
kopfüber
aaaaaaaain den Hudson
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaahinab.
(„Die Brooklyn-Brücke“, 1925)

7
In den USA offenbarte sich für Majakowski selbst in dem „Wolkenkratzer im Längsschnitt“ (vgl. das gleichnamige Gedicht, 1925) „ganz unser Krähwinkel, lang vorm Oktober“. Das lag an dem reaktionären Charakter einer Gesellschaft, die versprach, vielleicht „der letzte bewaffnete Verteidiger der hoffnungslosen Sache der Bourgeoisie“ zu werden („Meine Entdeckung Amerikas“, 1926). In der Sowjetunion schöpfte er demgegenüber sogar aus dem Krähwinkel, der Kusnezk damals noch war, die Gewißheit:

Vier Jahre noch,
aaaaaaaaaaaaaaund an dieser Statt
steht Gorod-Sad,
aaaaaaaaaaaaaadie Gartenstadt!
(„Erzählung vom Kusnezkstroi…“, 1929)

Mit herbem Lakonismus zeichnet sein Erzähler Chrenow den romantischen Gegensatz zwischen der „Urwildnis’“ des heutigen Kusnezk und dem morgigen „Auflohn“ des Hüttenwerks. Kontrastierend, wirkt der zitierte Refrain wie ein Kampflied; immer eindringlicher geflüstert, reflektiert er keine bloß äußerliche Kollektivität, sondern den Zusammenfluß der unbeugsamen inneren Entschlossenheit jedes einzelnen der „Leute von Kusnezk“.
Majakowski zeichnet die neue Beziehung derer zum Sowjetstaat, die sich bewußt sind, seine neuen Herren zu sein. Einer von ihnen, zieht der Gießer Iwan Kosyrew aus seinem Glück des „Einzugs in die neue Wohnung“ den Schluß:

Sehr richtig ist diese unsere Sowjetmacht. (1928)

Eine Begegnung mit dem Dampfer Theodor Nette erhellt für Majakowski schlaglichtartig: Unsterblichkeit entspringt in der neuen Gesellschaft ethischen Normen, die – wie von Theodor Nette zu entscheidender Stunde bewiesen – im Kommunismus für jedermann Selbstverständlichkeit werden.

Eine programmatische Sache, wie seinerzeit „Wolke in Hosen“, nannte Majakowski sein Poem „Gut und schön“. Zunächst entstanden 1927 die späteren Kapitel 2 bis 8. Sie waren für eine szenische Leseaufführung am Leningrader Kleinen Operntheater zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution bestimmt. Dem Werk eignet also nicht zufällig Dramatisch-Szenisches. Zum Jubiläum lagen bereits alle neunzehn Kapitel des Oktoberpoems vor. Das Werk ist, wie etwa auch Poeme von Bagrizki, Selwinski, der jüngsten Historie Sowjetrußlands gewidmet.
In „Gut und schön“ stoßen jedoch nicht Charaktere unmittelbar aufeinander wie im klassischen russischen Poem; schon gar nicht Charaktere „mit Warze“, mit menschlichen Schwächen, wie es eine damals verbreitete Theorie forderte (vgl. Selwinskis „Uljalajewstschina“). Nicht der Konflikt eines oder einiger zentraler Helden mit der Umwelt lädt dieses Werk mit Dynamik, wie es noch in der „Wolke in Hosen“, bei aller Eigenart schon des frühen Majakowski geschieht. Wohl begegnen dem Leser auch in „Gut und schön“ individuelle Gestalten: Lenin, Kerenski, „der Stabskapitän und der Herr Adjutant“, Block, Majakowski selbst. Aber nicht ihr individuelles Schicksal, nicht die Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit macht das Sujet des Poems aus, sondern die gesellschaftliche Umwälzung in Rußland und die daraus resultierende Entwicklung des Volkscharakters.
Den Sieg des Smolny über den Winterpalast, den Sieg der ersten Arbeiter-und-Bauern-Republik über „die dreimal Verfluchten“, die den jungen Staat dann mit Krieg überzogen – Majakowski zeichnet ihn nicht bloß äußerlich nach. Ihm geht es um die ethisch-moralische Umwertung der Werte durch den neuen Herrn des Landes. Nicht umsonst stellt er gegenüber:

Oktoberwinde,
aaaaaaaaaaaain alter Weise,
wehten
aaaaaaund blähten verwitterte Fahnen,
und über die Brücken
aaaaaaaaaaaaaaaaaliefen Geleise,
und wieder
aaaaaaaaafuhren
aaaaaaaaaaaaaaadie Straßenbahnen.
Doch anders lief
aaaaaaaaaaaaaihr gewohnter Lauf:
die Straße
aaaaaaaades Sozialismus
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahinauf!

Mit dem „Matrosenbaß“, der die „Provisorischen“ für abgesetzt erklärt, betritt der neue Herr die Szene. Unmittelbar vorher hat der Putilowmann bereits einen „Lauskerl… ertappt und erschreckt“ zurechtgewiesen: „… raus mit der Uhr, die du eingesteckt –! Anjetzten gehört die Uhr – Uns!“ So kündigt sich schon in der Geburtsstunde der neuen Gesellschaft jenes Bewußtsein an, das morgen die Kommunisten zum Subotnik zusammenkommen lassen wird –

in unsre Waggons,
aaaaaaaaaaaaaaaauf unsrem Gleis
verladen wir
aaaaaaaaaaa
unser
aaaaaaaaaaaaaaaaHolz.

Majakowski verhehlt es nicht: Diese Kommunisten waren noch die Minderheit. Aber sie standen für die Zukunft. Polemisch wendet sich Majakowski dagegen, anarchische Ausschreitungen überzubewerten. In das poetische Bild seiner Begegnung mit A. Block in den Revolutionstagen nimmt er fast buchstäblich auf, was er bereits 1921, in einem Nachruf auf Block, berichtet hatte:

„Gefällt es?“ frage ich ihn. „Gut“, sagte Block, fügte aber dann hinzu: „Auf dem Dorf hat man mir die Bibliothek verbrannt.“

Den Sieg der Revolution befestigen hieß für die Partei, die befreiten Volksmassen selbst umerziehen, den „Orkan, vom Hirn zum Büchsenhahn, Rauch von Bränden, Lärm vom Baugebiet“ in „feste Bahn“ lenken.
Die neue Vaterlandsbeziehung, das neue Glücksideal wächst im Kampf für die neue Gesellschaft, triumphiert in diesem Kampf über die aus dem Gestern herüberreichende Denkweise der Kleinbürger, Schmarotzer, Spekulanten. Der Dichter, der sich – anders als in seinen frühen Werken – über die episch gestaltete Wirklichkeit erhebt, löst sich auch als Gestalt des Poems nicht in einem undifferenzierten Bild des Volkes auf: Sein individuelles Erlebnis der Zeit läßt in ihm das bewußte Bekenntnis seiner Liebe zu diesem „elenden Land“ reifen. Jenes „Väterchen“, das seinen Acker pflügt und ein Gedicht macht, die „Männer meines Mossowjets“, ja – der Dichter selbst als Gestalt des Poems: Wie weit sind sie, vor den Augen des Lesers gewachsen, am Ende des Poems von jenen entfernt, die sich am Beginn des Werkes gegen die alte Staatsmacht zu einen begannen und den Bolschewiken alles gaben:

Groschen, Kräfte und Stimmen!

Weil Majakowski den Prozeß solch tiefgreifender Wandlungen im Bewußtsein des Volkes überzeugend darzustellen vermocht hat, bricht das Morgen wie von selbst durch die Zeilen seines Poems:

Mein Land
aaaaaaaaaaist ein Knabe –
drum:wage!
aaaaaaaaaaaeinwirf! und
beweise!

8
Im Namen dessen, was „Gut und schön“ ist und werden soll, entstand auch Majakowskis Satire. Ungeschrieben blieb zwar ein Poem, das der Dichter unter dem Titel „Schlecht“ plante. Aber seine „Kavallerie gespitzter Geistesblitze“ („Mit aller Stimmkraft“, 1930) setzte er in zahlreichen satirischen Gedichten nicht nur gegen den äußeren Klassenfeind ein, sondern auch gegen verkappte Feinde und Mißstände im eigenen Land.
Allerdings hatte die politische Anerkennung Lenins für „Die auf Sitzungen Versessenen“ die Gegner einer sowjetischen Satire keineswegs aus dem Felde geschlagen. Noch am 8.1.1930, auf einem von Michail Kolzow geleiteten Disput zum Thema „Brauchen wir die Satire?“, vertrat ein gewisser Blum die Auffassung, in Sowjetrußland würde Satire zwangsläufig antisowjetischen Charakter annehmen:

Dahinter kann sich sehr bequem der Klassenfeind verstecken.

Majakowski parierte den Angriff. In seinem Gedicht „Stütze der Gesellschaft“ hatte er bereits 1928 einen Typ gezeichnet, der seine Zwielichtigkeit auf folgende Weise gegen das Scheinwerferlicht der öffentlichen Kritik abzirschirrnen sucht: „Wen rüffeln Sie?“ –

Gestern
aaaaaaaden Iwanow,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaheute
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
und morgen –
aaaaaaaaaaaaden Sowjet-Ministerrat!

Aber ob Majakowski die „Stütze der Gesellschaft“ im Monolog sich selbst demaskieren läßt, ob er den Speichellecker porträtiert, indem er einen „Leitfaden“ voll praktischer Ratschläge für „werdende Kriecher“ publiziert, ob er die idyllische Illusion des Spießers durch eine Parodie auf Moltschanows Brief an seine Liebste zerreißt – stets ist hier im Gegensatz etwa zu seinen Amerikagedichten die gesellschaftliche Wirklichkeit der Maßstab, dem die jeweiligen – negativen – Typen nicht standhalten.

Um den „Frühling des Menschentums“ („Gut und schön“) gegen Verspießerung, Versumpfung, Bürokratisierung zu bewaffnen, schrieb Majakowski auch die Komödien Die Wanze (1928) und Das Schwitzbad (1929). In scharfen Konflikten der szenischen Handlung entlarven sich hier sehr betriebsame, selbstbewußte, negative Gestalten. Sie unterliegen nicht so sehr der individuellen Überlegenheit ihrer Gegenspieler als den Forderungen der Realität. Vernichtend trifft sie der Dichter mit einem Spott, den er an dem Widerspruch zwischen ihrem Wert und ihrer Anmaßung zündet. Darin folgt Majakowski den besten Traditionen der russischen Komödie und Satire seit Gogol.
Prissypkin (bei Huppert: Bratfisch) aus der Wanze ist nicht mehr ein Spießbürger der alten Gesellschaftsordnung, der sich an die Arbeiterklasse anzupassen sucht (vgl. „über die Lumperei“, 1921). Prissypkin, „früherer Arbeiter, früheres Parteimitglied, zur Zeit Bräutigam“, begeht Verrat an seiner Klasse. Für ihn ist die proletarische Herkunft nur noch Spekulationsobjekt:

Zwar ist ihm… ein einzelnes, privates Parteibuch abhanden gekommen, dafür aber hat er eine ganze Mappe voll Obligationen der öffentlichen Staatsanleihe erworben.

Prissypkin ist gefährlicher als der alte Spießer, weil er – im Gegensatz zu diesem – die Anpassung des Arbeiters an die Bourgeoisie praktiziert. Er findet sogar eine „ideologische“ Begründung dafür:

Wofür hab ich gekämpft? Fürs schönere Leben hab ich gekämpft. Nun halt ichs zwischen den Pratzen… Im Falle eines Notfalls werd ich meine Bürgerpflicht zu erfüllen wissen…

Von der Komposition der Komödie bis zur kleinsten Replik – alles legt Zeugnis ab von Prissypkins hochstapelndem Parasitentum. Soja Berjoskina (bei Huppert: Zoja Birkelein) liebt ihn noch wer weiß wofür, Prissypkin hat sie weggeworfen. Seine Einheirat in die Nöpreiche Friseursfamilie Rinnesans vollzieht sich, ohne daß auch nur das Wort „Liebe“ fällt. Die Schönheit, die Prissypkins Spiritus rector Bajan (bei Huppert: Trombon) zum „Motor des Fortschritts“ erklärt, wird in Formalismen und Bildungssplittern pervertiert; symbolisch dafür ist schon die prätentiöse Änderung des Namens Prissypkin in Pierre Skripkin (Bratfisch-Fiedelbratsch). Sogar zur Feuersbrunst, in der die Hochzeitsgesellschaft bis auf Prissypkin verbrennt, kommt es um des grotesk mißverstandenen „guten Tones“ willen.
Das Urteil über Prissypkin wird bereits von den scharfsichtigeren unter seinen ehemaligen Arbeitskollegen gefällt: Während er im „Mädchen“ und im „Bloßfüßigen“ Sentiments weckt, wirft ihn der „Schlosser“ zur Tür hinaus. Aber Majakowski genügt das nicht. Um den Spießbürger wie durch eine phantastische Lupe zeigen zu können, läßt er fünfzig Jahre später die Wissenschaftler dessen eingefrorenen Körper auftauen. Die „Schwielen“ des „werktätigen Menschen“ erweisen sich als Täuschung. Nach turbulenten Szenen demonstriert der Zoodirektor die Gemeinsamkeiten zwischen Prissypkin und der mit aufgetauten Wanze, während Soja Berjoskina für sich den Schluß zieht:

Fünfzig Jahre hab ich vorausgelebt – und hätte vor fünfzig Jahren eines solchen Auswürflings wegen das Leben lassen können…

Stellte Majakowski in der Wanze Prissypkin hauptsächlich vor das Gericht der Zukunft, so spielt das Schwitzbad bereits völlig in der Gegenwart. Antipoden sind der Erfinder Tschudakow (bei Huppert: Käuzerich) und Pobedonossikow (Trutzwackerl), der Chef einer grotesken „Hauptverwaltung für Koordinierung und Kompromißprojektierung“. Zwar tritt in der Komödie – als Delegierte des Jahres 2030 – die Phosphoreszierende Frau auf: Sie soll die Besten in das kommunistische Zeitalter überleiten. In Wahrheit verdeutlicht sie mit ihrem Urteil nur „die ganze Großartigkeit“ dessen, was Arbeitslust, Opferbereitschaft, Erfindungsgabe bereits in der Gegenwart vollbringen. Die Reise in die Zukunft erfolgt auf Tschudakows phantastischer Zeitmaschine, für die Pobedonossikow jede Hilfe abgelehnt hatte:

Träumer brauchen wir nicht.

Obgleich Pobedonossikow als Typ von Anfang an festgelegt ist, offenbart die Komödie immer neue Seiten seiner Perversion sozialistischer Verhaltensnormen: den Anspruch auf „generelle, direktivenmäßige“ Leitung bei völliger Ignoranz im einzelnen; die Vorstellung von einem „Winkelchen des Sozialismus“, wo die Papiere auf Fließbändern zirkulieren… Zu den dramaturgischen Kunstgriffen, mit deren Hilfe Majakowski Pobedonossikow bis ins Innerste durchleuchtet, gehören Szenenwiederholungen mit vertauschten Rollen: Zum Beispiel wird Pobedonossikow selbst zum „Kritiker“ des Amtsschimmels, als er im Vorzimmer seines Büros ansteht, um einen Platz in der Zeitmaschine zu erlangen; jetzt allerdings behauptet er, den Zeit-Apparat habe sein „Apparat“ erfunden. Im dritten Aufzug gar läßt Majakowski Pobedonossikow in eigener Person über die beiden ersten Aufzüge des Schwitzbades räsonieren:

Solche Typen gibt es bei uns nirgends.

Wo Pobedonossikow und sein Anhang alles (von Sozialismus bis Telefon) seines echten Inhalts berauben, dort sprechen die wirklichen Schöpfer des Sozialismus eine ganz exakte Sprache. Nicht umsonst verlangt ein Bundesgenosse Tschudakows von Pobedonossikow:

Da du nun mal ein Verantwortlicher bist, so sollst du auch verantworten.

Der dienstfertige Scheinoptimismus eines Pobedonossikow bricht sich bei der Prüfung durch die Phosphoreszierende Frau am begründeten Optimismus der Menschen, die den „über gang vom Fließband zum Führungsstand, von der Raspel zum Arithmometer“ meistern. Sie wollen nirgendhin mitgenommen werden, weil es ihnen wichtiger scheint, an Ort und Stelle den Fünfjahrplan in vier Jahren zu verwirklichen: Dies dechiffriert die eigentliche Idee der Zeitmaschine.
So gestaltet Majakowski seine Komödien ebenso wie seine gesamte Satire zu einer „Roßkur, die die gründlichsten Heilkräfte freimacht“ (Wandspruch zum Schwitzbad).

9
Mit Recht konnte Majakowski 1930 im Vorspruch zu einem Poem „Mit aller Stimmkraft“ für sich in Anspruch nehmen:

wohlan,
aaaaaaasowerd uns
aaaaaaaaaaaaaaaaazum Gemeinschaftsmonument
der hart
aaaaaaain Kämpfen
aaaaaaaaaaaaaaaaaauf erbaute Sozialismus.

All seine Fähigkeiten hatte er diesem Ziel untergeordnet. Viele hervorragende Werke des Dichters sind seine unmittelbare Antwort auf Beschlüsse des ZK der KPdSU. „Ich stehe nicht abseits der Partei und halte mich für verpflichtet, alle Resolutionen dieser Partei zu befolgen, obwohl ich kein Parteibuch in der Tasche habe“, erklärte Majakowski im März 1930 in seiner öffentlichen Rechenschaftslegung über 20 Jahre Arbeit.
„Harte Kämpfe“ gab es auch auf dem Weg der Literatur. Wenn das Thema vom „Platz des Dichters im Arbeiterstaat“ seit 1926 in Majakowskis Werken zunehmend Raum gewann, dann kündete dies nicht nur von gewachsener schöpferischer Reife; es war zugleich Bestandteil eines scharfen Streitgesprächs.

1923 hatte Majakowski die LEF-Gruppe begründet (Linke Front der Künste), zu der u.a. N. Assejew gehörte. Sie war damals als „Bewältigung des großen sozialen Themas mit allen Mitteln des Futurismus“ gedacht („Ich selbst“). Unter Majakowskis Redaktion erschien 1923–1925 die Zeitschrift LEF, 1927/28 die Zeitschrift Nowy LEF. LEF bot dem Dichter einen gewissen organisatorischen Rückhalt in literarischen Auseinandersetzungen, insbesondere mit den Theoretikern der RAPP (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller), die ihn sektiererisch unter die sogenannten „Mitläufer“ einreihten, weil er nicht proletarischer Herkunft und vor allem nicht Mitglied ihrer Gruppe war. Schlagfertig parierte Majakowski, er betrachte sich als proletarischen Dichter, die Dichter jener Gruppe aber als seine Mitläufer (Rede auf einer WAPP-Konferenz, 22.12.1928). Ganz im Sinne des ZK-Beschlusses von 1925 „über die Parteipolitik auf dem Gebiet der schönen Literatur“ forderte der Dichter, der literarische Wettbewerb solle beantworten, welche Schriftsteller „proletarisch“ seien. Allerdings standen auch die Theorien und die Praxis derer, die während der vielen Reisen Majakowskis die Zeitschrift LEF machten (vor allem N. Tschushak), im Widerspruch zu seiner schöpferischen Praxis, selbst wenn er sie oft aus Solidarität verteidigte. So gipfelten die Thesen von der „Dichtkunst als Produktion“, von der „Literatur des Faktes“ – die auch Majakowski propagierte – bei O. Brick in der verhängnisvollen Forderung:

Man muß der Literatur die Aufgabe stellen: nicht Menschen, sondern die Sache geben, nicht Menschen, sondern die Sache darstellen, nicht für Menschen, sondern für die Sache Interesse wecken. (Aufsatz „Literatur des Faktes“, 1929)

Welch bewegende Gestaltung menschlicher Beziehungen enthält demgegenüber Majakowskis Poem „Gut und schön“, an dessen Beginn die Worte stehen:

Fall hin,
aaaaaaaaerhitzt,
aaaaaaaaaaaaaaund schlürfe den Trank
aus dem reißenden Strom
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanamens „Fakt“!

Auch in seinem Verhältnis zu den Klassikern der russischen Literatur sprengte Majakowski bald die engen Grenzen des LEF. Davon zeugt nicht nur das an Puschkin gerichtete Bekenntnis:

Ich liebe Sie, doch nur als Menschen, nicht als Mumie. („Jubiläumsverse“, 1924)

1928 verließ Majakowski diese „ästhetische Gruppe, die unseren Kampf als Fakt an sich aufgefaßt und aus der revolutionären Literatur ein in sich abgekapseltes ästhetisches Unternehmen gemacht hat“ (Rede auf einer MAPP-Konferenz, 8.2.1930). Trotz aller vergangenen und gegenwärtigen Fehden schloß er sich 1930 der RAPP an, „insoweit sie die parteiliche und sowjetische Linie verwirklicht“. Überdies war er schon seit 1922/23 ständiger Mitarbeiter sehr vieler Zeitungen und Zeitschriften außerhalb des LEF geworden. „Wie zum Dienst, fast täglich, kam er in die Iswestija“, berichtet V. Perzow. In der Komsomolskaja prawda, wo er 1926 zu publizieren begann, erschienen seine Gedichte meist im redaktionellen Teil, lieferten Schlagzeilen, standen gleichberechtigt neben Leitartikeln. Das gilt beispielsweise für „Brief an Moltschanows Liebste…“, „Ich will Dieb werden“, „Beamtenseele“, „Erntemarsch“.
Majakowski stellte höchste Ansprüche an die künstlerische Meisterschaft, an das „Wie?“ jeder Zeile. Sein Hauptkriterium für ihren Wert war jedoch die Frage:

wofür ist diese Zeile geschrieben? (Aufsatz „Genossen!“, 1929)

In „Wie macht man Verse?“ zeigt Majakowski an Hand des Gedichts „An Sergej Jessenin“ detailliert, wie er selbst seine Forderungen verwirklichte. Sogar ein Reklamevers konnte Aufgabe des Dichters sein, wenn er zum Beispiel dazu beitrug, daß man auf dem Dorf den Säuglingen nicht schmutzige Lappen in den Mund steckte:

Nie gab es Schnuller, die besser taugen – als alter Mann noch möcht ich dran saugen. (vgl. Rede auf der Veranstaltung anläßlich des zwanzigjährigen Arbeitsjubiläums, 25.3.1930)

Demgegenüber galt Majakowskis ganzer Spott jener Literatur, die als Abbild bürgerlicher Zersetzung „schöne Samentierchen in schöner Landschaft“ darbietet (Das Schwitzbad).
Dem Dichter der Revolution konnte kein enger Kreis von Lyrikkennern genügen. Majakowski suchte das Gespräch mit seinem Leser und Zuhörer. Allein auf die letzten vier Jahre entfallen über 200 Lesungen in über 50 Städten der Sowjetunion; dazu kamen die Vortragstourneen im Ausland. Überall gehörte zum Programm: „Antwort auf Fragezettel“. Der Saal faßte nicht alle Interessenten, wenn Majakowski den Streit über eine Presseattacke öffentlich austrug:

LEF oder Bluff? Für den LEF sprechen A. Assejew, O. Brick… W. Majakowski. Dagegen L. Awerbach, A.K. Woronski … und alle aus dem Auditorium, die es wünschen.

Majakowskis Dichtkunst – vom Thema über die Syntax und Wortwahl bis zum Metrum – verlangte nach dem großen Forum. Deshalb schrieb er:

Ich fordere fünfzehn Minuten im Rundfunk. Ich fordere, lauter als die Geiger, das Recht auf die Schallplatte. (Artikel „Erweiterung der Wortbasis“, 1927)

Neun Filmszenerien aus den Jahren 1926 bis 1928, dazu mehrere früher datierte Fragmente und Libretti zeugen von Majakowskis Engagement in dieser massenwirksamen Kunst. Der Film war damals noch stumm. Um so beachtenswerter war des Dichters Experimentierszenarium „Wie geht es Ihnen?“. Mit spezifischen, nur der Filmkunst eigenen Ausdrucksmitteln bringt er „wirkliche Dinge und Fakten“ ins Spiel. Jeder Vorgang in seinem Arbeitstag, jeder seiner Gedanken nimmt in dem Szenarium sofort konkrete Gestalt an: Die Zeitungen, die seine Köchin bringt, verwandeln sich in die Erdkugel; während er von einem Erdbeben liest, wankt sein Zimmer von Erdstößen.
Detaillierte Kenntnis von der Praxis des sozialistischen Aufbaus war Majakowski wichtigste Quelle seines Schaffens. Wie hoch er sie bewertete, bezeugt indirekt diese seine Warnung:

Der Arbeiterschriftsteller löst sich meist, sowie er zur Literatur kommt, von der Produktion, und nach zwei, drei Jahren verliert er den Kontakt zur Arbeitsthematik. (Rede auf dem zweiten, erweiterten Plenum der Leitung der RAPP, 6.9.1929)

Feinfühlig verhielt sich Majakowski zu Arbeiterkorrespondenzen. Vom Poem „150 000 000“ bis zum Schwitzbad – immer wieder wandte er sich persönlich an den Arbeiterzuhörer, um die Wirkung seiner Werke zu prüfen. Resolutionen von Parteikomitees und Arbeiterforen – zum Beispiel „Dieses Stück ist für die Arbeiter geschrieben, vor allem für uns, die wir als Arbeiter verantwortliche Funktionen erhalten haben…“ – führte er gegen wiederholte Versuche ins Feld, die Veröffentlichung seiner Werke zu hintertreiben oder sie als für den Arbeiter „unverständlich“ hinzustellen. Und dem „Proletarier des Planeten“ widmete er in seinem letzten Werk all seine „hundert gut parteigetreuen Bücher“.

10
Am 14. April 1930 schoß sich Majakowski ins Herz. „Ungeheuerlich. Unbegreiflich“, schrieb Demjan Bedny tags darauf. Viele Deutungen sind seither versucht worden, aber bis heute bleiben Majakowski und sein Tod unvereinbar: so sehr geht er

wie ein Lebender,
aaaaaaaaaaaaaader mit Lebenden spricht
(„Mit aller Stimmkraft“)

in das Bewußtsein immer neuer Lesergenerationen ein.
Noch in seinem Abschiedsbrief „An alle“ bedauerte Majakowski, auf einen Wandspruch zur Schwitzbad-Aufführung verzichtet zu haben:

Ich hätte das doch durchfechten müssen.

Wieviel hatte er bis dahin durchgefochten, zuletzt angesichts eines Boykotts seiner Jubiläumsausstellung und des regiebedingten Mißerfolgs seines Schwitzbades im Theater. Wie viele hatte er sich aber auch mit seinem „rauflustigen Charakter“ zu Feinden gemacht! Mit Bitterkeit sprach er auf der Veranstaltung aus Anlaß von zwanzig Jahren Arbeit am 25.3.1930 selbst davon. In den letzten Wochen setzte ihm auch noch eine Halskrankheit zu, die ihm sein öffentliches Auftreten erschwerte. Um wieviel stärker bedurfte er, extrem sensibel, liebevoller Anteilnahme. – 1929 war die Schauspielerin Veronika Polenskaja in sein Leben getreten. Noch am 12. April 1930 fragte Majakowski sie, ob er sie als „seine Familie“ ansehen dürfe…

Das Liebesboot
aaaaaaaaaaaaamußte am Dasein zerbrechen,

sagt eine Verszeile in Majakowskis Abschiedsbrief. Hatte wirklich der verschiedentlich beschworene „Doppelgänger in Majakowski“ die Oberhand gewonnen, der nach Zärtlichkeit verlangte und dem der „Agitator“ Majakowski „auf die Kehle“ trat („Mit aller Stimmkraft“)? Überzeugend widerlegt V. Perzow die Doppelgängerthese. Majakowskis gesamtes Schaffen wurzelt in der Liebe. Der Dichter selbst schrieb darüber, als er am Poem „Das bewußte Thema“ arbeitete:

Sie läßt die Gedichte und die Werke und alles übrige entstehen. Die Liebe ist das Herz des Ganzen… (Tagebuchbrief)

Nicht zufällig stammen auch die Verse im Abschiedsbrief aus Vorarbeiten für einen zweiten Vorspruch zu „Mit aller Stimmkraft“, wo es weiter heißt:

In solchen Stunden steht man auf und redet
zur Welt, zum Universum, zur Historie –

Diese Verse blieben Fragment. „Gebt niemandem die Schuld daran, daß ich sterbe, und unterlaßt, bitte, jeden Klatsch“, schrieb Majakowski. „Der Tote hat das ganz und gar nicht geliebt…“ Zehntausende Moskauer zogen an der Bahre vorbei, um von Majakowski Abschied zu nehmen; so tief war schon damals die Wirkung seiner Persönlichkeit und seiner Werke. „Majakowski hebt an“ nannte noch zehn Jahre später N. Assejew ein Poem, in dem er der nicht welkenden Kraft des Dichters Tribut zollte:

Von kommenden
Siedlern
unseres Erdballs
wird nach ihm
(das weiß ich!)
ein Neu-Stern benannt.

A. Wosnessenski, vierzig Jahre nach Majakowski geboren, trifft den Dichter in Paris als Brücke, die sich aus der ROSTA-Vergangenheit zu uns herüberschwingt (Assoziation angesichts eines Majakowskiporträts auf dem Pont des Arts). Im Schaffen unzähliger verschiedenartiger, origineller sowjetischer und ausländischer Dichter wirken Majakowskis Traditionen fort. Louis Aragon nannte dies das Wesentlichste:

Einige Philosophen lehrten mich, die Welt zu verneinen. Der Dichter Wiadimir Majakowski lehrte mich, daß man sich an die Millionen Menschen wenden muß, an diejenigen, die diese Welt umgestalten wollen.

Leonhard Kossuth, Vorwort

Majakowski in Deutschland

1
Mit diesem Band wird die bisher größte deutsche Majakowski-Ausgabe eröffnet. Ihr voran gingen rund fünfzig Jahre deutscher Begegnung mit Majakowski.
Johannes R. Becher schrieb 1940 rückblickend:

Von den Wellen der großen russischen Revolution herangetragen, brach sein Name über uns herein. Man erzählte einander von seinen Versen, irgend jemand hatte sie gelesen und gab das Gelesene weiter. Diese Erzählungen erschienen damals unwahrscheinlich, nahezu legendär… („Der Weltentdecker“, Prawda vom 14.4.1940, russ.)

Tatsächlich begann das Thema „Majakowski in Deutschland“ mit der Oktoberrevolution: Ihre Botschaft suchte der links orientierte deutsche Leser damals vor allem in den neuen Werken der russischen Literatur. Von 1918 an wurden Gorkis Artikel über die neue Wirklichkeit deutsch publiziert. Blocks „Die Zwölf“ erfuhren innerhalb zweier Jahre vier deutsche Nachdichtungen. Über die Aufführung von Majakowskis Mysterium buffo Oktober 1918 berichtete ein Augenzeuge, sehr beeindruckt, in der Zeitschrift Aktion vom 15.11.1919 („Kunst im roten Moskau“); das war die erste deutsche Majakowski-Rezension.
Die ersten deutschen Nachdichtungen wurden nicht in Deutschland geschaffen. Erste Versuche trug Wladimir Neustadt am 1. Mai 1918 im Moskauer Café Pittoresque als Zugabe zu einem Originalprogramm Majakowskis vor. Der nächsten Übersetzung stand die deutsche Arbeiterbewegung Pate: Auf dem 3. Kongreß der Komintern Juni/Juli 1921 in Moskau vertrat die Delegation der KPD deren zweitstärkste Sektion. Zu Ehren des Kongresses wurden drei Aufführungen und zwei öffentliche Generalproben des Mysterium buffo in deutscher Sprache veranstaltet. Die Nachdichtung besorgte Rita Rait, eine russische Studentin, bei der Majakowski zeitweilig Deutschstunden nahm. Hilfe fand sie bei dem deutschen Regisseur Reinhold Reichenbach, einem ehemaligen Assistenten Max Reinhardts, und beim Autor. Majakowski schrieb sogar einen Prolog, eine Szene und einen Epilog eigens für die deutsche Fassung. Unter dem Eindruck der Aufführung nannte J. Gumperz in der Zeitschrift Der Gegner das Stück den „Anfang eines neuen Theaters in Rußland. Mysterium Buffo ist die große, erhabene, begeisterte und begeisternde russische Revolution…“ Zu den Zuschauern gehörte Ernst Thälmann.
In Deutschland erschien die erste Majakowski-Nachdichtung Juli 1921 in der Zeitschrift Menschen: Ausschnitte aus „Krieg und Welt“, deutsch von Iwan Goll. Die zweite: „Linker Marsch“, deutsch von Josef Kalmer, erschien Herbst 1921 in der Aktion. Doch viel Zeit sollte noch vergehen, ehe die Aufgabe bewältigt wurde, Majakowski „nach seiner Methode, mit seinen Mitteln“ wiederzugeben (darum ging es ihm selbst bei der Arbeit von Rita Rait). Zunächst beeindruckten seine Gedichte den Leser in Deutschland schon durch ihre Thematik.
Natürlich spiegelten sich im deutschen Interesse für Majakowski unterschiedliche Grundhaltungen. Wer bei den russischen Schriftstellern die „nahezu völlige Abkehr von aller aktuellen Politik“ suchte wie der Literaturhistoriker Arthur Luther, für den hatte Majakowski 1922 bereits „völlig abgewirtschaftet“ („Russischer Brief“ in Das literarische Echo, Heft 20/1922); ein Dementi Arthur Luthers mit neuen Entstellungen folgte 1924 („Geschichte der Russischen Literatur“, Leipzig 1924). Indessen hatte Wieland Herzfelde Majakowskis ersten Aufenthalt in Berlin 1922 benutzt, um mit ihm einen Vertrag über die deutsche Herausgabe von „150 000 000“ durch den Malik-Verlag abzuschließen. Die Nachdichtung übernahm Johannes R. Becher, wahrscheinlich kam er 1922 auch schon zum erstenmal mit Majakowski zusammen.
Majakowski war oft in Deutschland. Des Deutschen unkundig, wandte er sich mit seinen Vorträgen und Lesungen vorwiegend an Russen, die hier lebten. Doch fand schon 1924 in der Berliner Mansardenwohnung des Schauspielers Alexander Granach ein Treffen Majakowskis mit Künstlern des Max-Reinhardt-Theaters statt. Gustav von Wangenheims Gedicht „Majakowski in Berlin 1924“ zeugt von dem großen Eindruck, den der Dichter dort hinterließ. Majakowski hoffe, heißt es darin,

Daß auch an seiner Stimme
Einst viele Stimmen
Laut werden möchten
In dem deutschen Land!
Und wenn sie rufen werden:
Links! Links! Links!
Wird er dabei sein!

Mit seinen Deutschland-Gedichten war Majakowski schon damals „dabei“: „Deutschland“ (1922), „Norderney“, „Schon“, „Solidarität“ (1923), „Zweierlei Berlin“ (1924). Leidenschaftlich reagierte er auf den Sturz der Cuno-Regierung und die Bildung von Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen…
Viele weitere sowjetische Schriftsteller waren in Deutschland um die Mitte der 20er Jahre bereits populär geworden: W. Iwanow, A. Serafimowitsch, D. Bedny, L. Leonow. 1923 wurde die „Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland“ gegründet; ihr gehörten Thomas Mann, Albert Einstein, Ernst Rowohlt an. Die Erkenntnis, daß gute Beziehungen zur Sowjetunion im Interesse des deutschen Volkes selbst liegen, setzte sich in immer weiteren Kreisen durch. – Sprunghaft nahm 1924/25 die Zahl der Majakowski-Nachdichtungen zu: Sechs Nachdichter veröffentlichten insgesamt neun Gedichte und eine Kurzfassung von Majakowskis autobiographischer Skizze. Johannes R. Becher hatte allein vier Gedichte übertragen: „Linker Marsch“, „Deutschland“, „über das Gesindel“ und „Jungkommunistisches Lenin-Lied“.
Höhepunkt war jedoch die deutsche Buchausgabe der „150 000 000“ (1925). Natürlich mußte ein so eigenwilliger Dichter wie Johannes R. Becher, der noch dazu kein Russisch verstand, der Nachdichtung seinen Stempel unverkennbar aufdrücken:

Geschoßhagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus.
Feuerböen geschleudert zickzack,
Schlagwetter, Tretminen –
Plätze platzen
Haus hüpft an Haus…

Die einander hetzenden Verse, die abgehackt aneinandergereihten, erregenden Bilder sind Majakowski verwandt, entstammen aber dennoch mehr Bechers damaliger „lyrisch gegliederter Aufruf-Prosa“ (A. Abusch). Über die Wirkung der Ausgabe hieß es in der Zeitschrift Der Querschnitt:

Wenn man dies gelesen hat, bleibt der Simultaneindruck der Massenversammlung, unserer Maschinenzeit, ihrer Verulkung und Bewunderung, und über ihr der roten Fahnen. (Heft 5/1925)

Auch Aufsätze in zunehmender Zahl, aus dem Russischen übersetzt und original, erweiterten die Kenntnis über Majakowski. Natürlich spiegelten sich darin widersprüchliche Wertungen aus des Dichters eigenem Land: seine Identifizierung mit dem Futurismus, die „Mitläufer“-Theorie, Wichtig war jedoch, zum Beispiel, daß deutsche Autoren allmählich die Besonderheit von Majakowskis Poetik richtig erfaßten. So formulierte es Franz Jung:

Majakowski schreibt sozusagen synkopisch, mit Rhythmus und Gegenrhythmus, er kennt die Bedeutung der Pause, und in der orchestralen Behandlung seiner Wortdynamik arbeitet er nach bestimmten Gesetzen… („Wladimir Majakowski und seine Schule“, in Arbeiter-Literatur, 5–6/1924).

1927 war bereits die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland Veranstalter eines eindrucksvollen Treffens mit Majakowski. Er selbst nannte später als Teilnehmer „Gelehrte, Schriftsteller, Regisseure, Genossen aus der ,Roten Fahne‘“. Anfang 1929 fand ein weiterer Vortrag statt, diesmal auf Majakowskis Initiative „im proletarischen Milieu, auf der Hasenheide“. – „So. stark war die Wirkung seiner dynamischen Persönlichkeit“, schrieb F.C. Weiskopf darüber, „daß die Zuhörer von der ihnen unverständlichen (aber richtig erahnten) Darbietung mitgerissen wurden.“ Befriedigt erklärte Majakowski:

Sie haben mich verstanden, weil sie gemerkt haben, daß ich einer von ihnen bin.

Immer neue Nachdichter versuchten sich an Majakowski. Manche Gedichte erschienen bereits in der zweiten oder dritten deutschen Fassung. Einzelne Übertragungen kamen dabei den Originalen zumindest stellenweise recht nahe, z.B. Maria Einsteins Nachdichtung des „Linken Marsches“ (1927):

Dort,
Hinter Bergen von Weh erstrahlend,
Weitet sich endloses Sonnenland.
Über Hunger hinweg,
über Meere von Qualen
Stampft mit Millionenschritt den Sand!

Die Gedichte Majakowskis fanden in einen Hamburger Arbeiterkalender für das Jahr 1925, der sich als „Handbuch der proletarischen Revolution“ anbot, ebenso Eingang wie in Josef Kalmers Anthologie Europäische Lyrik der Gegenwart, in der es heißt, Gedichte seien „ein Genußmittel – mit dem Strohhalm zu saugen“ (Wien/Leipzig, 1927); dies spricht von einer Wirkung des Dichters, der sich schon zu damaliger Zeit auch in Deutschland niemand entziehen konnte.
Am 20. Februar 1929 erwarb der Malik-Verlag von Majakowski „das alleinige Verlags- und Bühnenvertriebsrecht auf die deutsche Übersetzung sämtlicher bis heute deutsch noch nicht verbreiteten und aller zukünftigen Werke des Autors für alle Auflagen und Länder, mit Ausnahme der Werke in Versen“. Vergeblich hatte Majakowski schon 1927 gehofft, Die Wanze im Theater Erwin Piscators am Nollendorfplatz in Berlin unterbringen zu können. 1929 setzte sich der Filmregisseur Slatan Dudow für eine deutsche Aufführung ein. Damals kannte das Berliner Theater am Schiffbauerdamm bereits den Text des Stückes: B. Tschistowa belegt das durch die Publikation eines Briefes, mit dem sich die Theaterdirektion Ende 1929 beim Festlandverlag nach den Theaterrechten erkundigte. 1930 nahm das Schauspielhaus in Frankfurt/Main die deutsche Uraufführung des Stückes in seinen Plan auf. Warum die Aufführung trotzdem nicht zustande kam, war bisher nicht festzustellen. Doch das deutsche Manuskript gelangte, laut A. Fewralski, nach Madrid; auf seiner Grundlage wurde dort eine spanische Fassung angefertigt und inszeniert.
Wie populär Majakowski bereits vorm Machtantritt des Faschismus in Deutschland war, zeigte nicht zuletzt der Widerhall auf die unerwartete Nachricht von seinem Tod. Nachrufe erschienen in der literarischen und in der politischen, in der bürgerlichen und in der Arbeiterpresse, in zentralen und regionalen Blättern. In der Weltbühne nannte der Franzose Henri Guilbeaux Majakowski den „unstreitig… größten Dichter Sowjetrußlands und einen der größten Lyriker unserer Zeit“. In seiner ausführlichen Analyse grenzte er ihn aufs entschiedenste gegen den Futurismus ab. Arthur Sakheim, damals erster Dramaturg am Frankfurter Schauspielhaus, setzte Majakowski – entgegen vielen irrigen Auffassungen – zur klassischen Literatur in Beziehung: Prissypkin und Bajan aus der Wanze, Pobedonossikow aus dem Schwitzbad seien „schneidend sarkastisch gesehene Figuren im Geiste Gribojedows und Gogols“. Tendenz schade der Lyrik nicht:

Man denke an Shelley, Heine, Robert Browning, Nekrassow…

Verleumderische Nachrufe im jesuitischen „Gral“ und anderswo ließen auf ihre Weise erkennen, für wie „gefährlich“ man dort den Einfluß Majakowskis in Deutschland bereits einschätzte.

2
Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz zu Berlin war nur der Auftakt zum faschistischen Vernichtungsfeldzug gegen die humanistischen Werke der deutschen und der Weltkultur. Im selben Jahr gab eine NS-Kommission die erste „Liste verbotener Bücher“ heraus, der weitere folgten. Nachdem die Werke von Becher, Brecht, Seghers, Kästner, Barbusse, Hasek, Hemingway und unzähligen anderen zur Vernichtung bestimmt worden waren, erschien in der „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ 1935 auch die Verbotsangabe „Majakowsky, Wladimir: Sämtliche Schriften“. Soweit Zeitschriften und Zeitungen, die Majakowski einst publiziert hatten, nicht ebenfalls verboten oder gleichgeschaltet wurden, emigrierten sie. Die Weltbühne ging nach Wien, dann nach Prag; dort fand vorübergehend auch der Malik-Verlag Zuflucht.
Es erscheint paradox: Nach allen Verboten sollte 1943 ausgerechnet die faschistische Bücherkunde eine mehrteilige Artikelfolge über die sowjetische Literatur veröffentlichen. Mit gesonderten Beiträgen wurden Scholochow, Gorki, Ostrowski und Majakowski bedacht. Natürlich diente das Ganze dem Zweck, den Sowjetstaat und seine Literatur zu verleumden. Nicht umsonst hieß die Folge „Die Gefahr aus der Steppe“. Der Hintergrund dieser Publikationen wird verständlich, wenn man im selben Jahrgang der Zeitschrift der Betroffenheit darüber begegnet, „daß das sowjetische Minsk Bibliotheken und Büchermassen aufwies, wie sie für eine entsprechende deutsche Stadt einfach unvorstellbar sind“ (Richel, „Das Buch in der Sowjetagitation“). Eine Riesenarbeit bei „der deutschen Neuordnung der Dinge“ sah der Autor voraus. Glücklicherweise brach 1943 bereits die Zeit an, da die sowjetische Armee die Kultur ihres Landes und Deutschlands vor dieser Art „Neuordnung“ rettete.
Als Thomas Mann nach den USA übergesiedelt war, erklärte er schlicht und recht:

Wo ich bin, ist die deutsche Kultur (Heinrich Mann, „Ein Zeitalter wird besichtigt“).

Verallgemeinernd könnte man sagen, daß sich die vom Faschismus exilierte deutsche Kultur auf allen Kontinenten der Erde Stützpunkte errichtete. Zu den großen Leistungen der emigrierten Schriftsteller gehörte ihre Übersetzungstätigkeit, die verständlicherweise auch eine Auseinandersetzung mit den Nationalliteraturen der Asylländer einschloß. Die besten Bedingungen für die weitere Beschäftigung mit Majakowski bot begreiflicherweise die Sowjetunion. Doch auch in andere Länder nahmen deutsche Schriftsteller ihr Wissen um Majakowski und sein Werk als geistigen Besitz mit sich.
Alfred Wolfenstein, der 1927 an dem Empfang für Majakowski in Berlin teilgenommen hatte, gab 1938 in Amsterdam den Sammelband Stimmen der Völker heraus. Als Ziel des Buches nannte er:

Humanität durch die Magie der Kunst.

Es enthält u.a. einen Ausschnitt aus „150 000 000“ in der Nachdichtung Johannes R. Bechers. Sigismund von Radecki veröffentlichte 1940 in Zürich den Sammelband Der Glockenturm mit einer eigenen Nachdichtung von Majakowskis „Unerhörtem Abenteuer“. Den Emigrantenkolonien in den verschiedenen Ländern waren aber auch deutsche Publikationen aus der Sowjetunion zugänglich. So hat Max Zimmering, der zunächst in der CSR, dann in England lebte, Majakowski ab 1935 durch die Internationale Literatur und Das Wort näher kennengelernt. Beide Zeitschriften erschienen in Moskau. In England stieß er überdies auf die englischen Majakowski-Übertragungen von Herbert Marshall.
In der Sowjetunion gab es bereits vor 1933 deutschsprachige Verlage, Zeitungen und Zeitschriften. Zum literarischen Zentrum der deutschen Emigration wurde jedoch die Internationale Literatur / Deutsche Blätter. Dem Redaktionskollegium gehörten die Schriftsteller Becher, Bredel, Huppert, Weinert und Wolf an. Hier sollten ab 1935 Hugo Hupperts, ab 1939 auch Franz Leschnitzers Majakowski-Nachdichtungen erscheinen. Das Wort wurde von 1936 bis 1939 herausgegeben, geleitet von Brecht, Feuchtwanger (beide lebten außerhalb der Sowjetunion) und Bredel.
Hugo Huppert eröffnete mit seiner Arbeit eine neue Etappe in der deutschen Majakowski-Übertragung. Der österreichische Kommunist und Schriftsteller hatte Majakowskis Dichtwerk schon 1923/24 kennengelernt: „Was mich sofort verblüffte und nicht mehr losließ“, schrieb er später, „war die blank und scharf geschliffene Realistik, die, völlige Einschmelzung der ,Prosaismen‘, die Sprengkraft der Metaphern.“ Huppert veröffentlichte schon damals eigene Gedichte. Sie enthielten Elemente, die ihn für Majakowski besonders empfänglich machen mußten. Die neue Bücherschau schrieb 1928 in Heft 9, bei Huppert würden „erst im revolutionären Aufruf… Gefühl, Intellekt, Form – eins“. 1928 folgte Huppert einer Berufung nach Moskau, um dort wissenschaftlich editorisch an der Marx-Engels-Gesamtausgabe mitzuarbeiten. Sein Buch Sibirische Mannschaft (1934) bezeugt als erstes von mehreren, wie intim der künftige deutsche Majakowski-Interpret auch mit den Menschen und der revolutionären Praxis des Landes wurde, das ihm für rund zwanzig Jahre neue Heimat werden sollte.
Bald nachdem Huppert 1928 mit Majakowski persönliche Bekanntschaft geschlossen hatte, trug er ihm eine erste Variante seiner deutschen Fassung des „Linken Marsches“ vor. Die Nachdichtung wurde jedoch erst am 14.4.1935 veröffentlicht.
Auf den „Linken Marsch“ folgten in relativ kurzen Abständen weitere Majakowski-Nachdichtungen Hupperts. 1940 kam in Moskau bereits das Buch Zwei Dichtungen mit den Poemen „Wladimir Iljitsch Lenin“ und „Gut und schön“ heraus (einen ersten Ausschnitt daraus hatte Huppert 1935 veröffentlicht), 1941 der Band Ausgewählte Gedichte. Neben 29 Nachdichtungen von Huppert enthielt er 24 von Leschnitzer. Schon der „Linke Marsch“ zeugt von der neuen Qualität, die Huppert mit der deutschen Wiedergabe Majakowskis erreichte:

Entrollt euren Marsch, Burschen von Bord!
Dem Zank und Geflunker jetzt – Pause.
Still, ihr Redner:
Du
hast das Wort,
rede, Genosse Mauser…

Sprachliche Verdichtung, die jedem Wort Gewicht gibt; oratorische Syntax, bis zu Kommandoformeln gesteigert; der optimale Einsatz von Pause und Hervorhebung auf der Grundlage· des vierfüßigen Akzentverses; wertungsgeladene Gegenständlichkeit der Metaphern; die Explosivkraft des Reims; die Alliteration – alles dient dem originalgetreuen Ausdruck des historischen Umbruchs, des Wissens um Not und Gefahr, aber auch der Entschlossenheit, das Glück zu zwingen…
Hugo Huppert waren, dank seinen Russischkenntnissen, Majakowskis Verse und die Materialien über den Dichter im Original zugänglich. Gewiß kamen ihm auch die Ergebnisse der sowjetischen Majakowski-Forschung zugute, die sich Mitte der 30er Jahre intensivierte. Deutsch wurde 1937 eine größere Arbeit von J. Ussijewitsch in der Internationalen Literatur gedruckt, 1937/38 eine Chronik „Zwanzig Jahre Sowjetliteratur“, die Majakowski in den Strom der gesamten politisch-literarischen Entwicklung der Sowjetunion einordnete. Aber der entscheidende Erfolg Hupperts war bereits vorher errungen worden, auch noch vor Stalins bekanntem Ausspruch über den „besten, talentiertesten Dichter unserer sowjetischen Epoche“ (Prawda vom 5.12.1935), der eifernden Majakowski-Gegnern den Boden entzog und eine „Majakowski-Renaissance“ auslöste (Leschnitzer, Das Wort, 1/1938).
Hugo Huppert hat seine Aufgabe als Majakowski-Nachdichter theoretisch durchdacht. Dabei konnte er sich auf Erfahrungen einer ganzen Schule von deutschen Dichtern und Nachdichtern in der Sowjetunion stützen: Weinert, Zinner, Kurella, Schick. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang die Arbeit Erich Weinerts. Er schrieb – wie Majakowski – Tribünenlyrik, was zwangsläufig einige Elemente der Verwandtschaft bedingte. Er stand als Pottier-Nachdichter in mancher Hinsicht vor einer ähnlichen Aufgabe wie Huppert bei Majakowski. Weinert wurde 1940 als Verlagsgutachter für die Majakowski-Nachdichtungen von Huppert und Leschnitzer eingesetzt; ja, er übertrug sogar selbst Verse von Majakowski. – Nach Abschluß seiner Pottier-Nachdichtungen legte er seine Arbeitsprinzipien 1937 in der „Internationalen Literatur“ dar. Die zentrale These des Aufsatzes lautet:

Es durfte nicht von der Anatomie des Gedichts, es mußte von seinem Herzen aus an die Sache herangegangen werden. („Eugène Pottier in deutscher Sprache“)

Ganz in diesem Sinne orientierte sich Huppert bei der Suche nach Vorbildern für die Nachdichtung von Majakowskis Versen auf jene deutschen Dichter, die ihrerseits revolutionären Veränderungen künstlerischen Ausdruck verliehen hatten: auf den jungen Goethe, Heine, Büchner; auf Oscar Kanehl, der von romantischen Hymnen zu konkreter sozial-politischer Lyrik übergegangen war; auf Erich Weinert; auf Bertolt Brecht, dessen durch die Praxis erhärtete Thesen über den „gestischen“ Rhythmus Huppert „auf die Modulationen, die Kraft und Anmut der lebenden deutschen Volkssprache verwiesen“. Bei alledem war sich Huppert bewußt, daß „eine adäquate Nachdichtung Majakowskis die deutschen Dichter zum Neuerertum… herausfordern muß“ (Huppert, „Die deutsche Nachschöpfung Majakowskis“, in Internazionalnaja literatura, 3–4/1940, russ.); Neuerertum bewies er selbst als Nachdichter. All dies war wesentliche Voraussetzung dafür, daß Majakowski auch für den deutschen Leser „reif“ werden konnte.
Dem Beispiel Hupperts als Majakowski-Nachdichter folgte ab 1938 Franz Leschnitzer. Er hatte erstmalig 1924, nach einem Vortragsabend Majakowskis in Berlin, von dem Dichter gehört, sein Werk jedoch erst nach 1933 in der Sowjetunion besser kennengelernt. Zum vertrautesten, liebsten Dichter wurde ihm „Wladimir Majakowski in seinen Satiren und halbsatirischen Poemen“. Er forderte und erstrebte eine solche Nachdichtung, die „dem Original adäquat ist nicht nur in der Wiedergabe der Gedanken und Bilder, sondern sogar in der Anordnung der Worte“ (Leschnitzer, „Bemerkungen eines Übersetzers“, in Internazionalnaja literatura, 3–4/1940, russ):

Fragwürdige Ehre,
aaaaaaaaaaaaaa adaß aus derlei Rose
sich erhöbe mein Standbildnis
auf Squares,
aaaaaaaa aawo ausgespuckt die Tuberkulose,
wo Hooligan, Hure
und Syphilis.

Dieses mehr philologische Prinzip bedeutete freilich eine starke Einengung, doch kam es Leschnitzer dort zugute, wo es vor allem darum ging, das treffsicherste Wort am wirkungsvollsten einzusetzen. Leschnitzer schuf u.a. die erste deutsche Nachdichtung der Einführung in ein Poem „Mit voller Stimme“ (daraus das Zitat) sowie der „Verse vom Sowjetpaß“.
Die Nachdichtungen von Huppert und Leschnitzer nannte der russische Rezensent M. Senkewitsch „die erste wahrhaft poetische Nachschöpfung Majakowskis in einer Fremdsprache“ – ein Beispiel auch für kommende Übertragungen in andere Sprachen (Internazionalnaja literatura, 6/1941, russ.). Diese große Leistung, zu der Huppert die Grundlage gelegt hatte, sollte jedoch erst Jahre später zur vollen Wirkung gelangen können. Als sie eben vollbracht war, begann – vorbereitet nicht zuletzt durch die Unterdrückung humanistischer Literatur in Deutschland – die faschistische Aggression gegen die Sowjetunion. Majakowskis Verse gehörten zum geistigen Rüstzeug derer, die den schweren Kampf für die Freiheit ihres Landes aufnahmen. Die Tradition der ROSTA-Fenster lebte wieder auf. Ein Flugzeug und ein Unterseeboot der sowjetischen Armee trugen den Namen des Dichters. Der Panzer „Wladimir Majakowski“, von der Spende des Schauspielers W. Jachontow gebaut, rollte in den Schlachten des Krieges bis nach Deutschland.
Bemerkenswert ist aber auch dies: Viele Deutsche, die in sowjetische Gefangenschaft gerieten, begegneten dort Majakowski in Hupperts und Leschnitzers Nachdichtungen. So berichtet der Schauspieler Friedhelm Wolff, der Majakowskis Verse nach 1945 oft in der Heimat sprechen sollte, daß er den Dichter durch die Rezitation eines antifaschistischen Kameraden im Gefangenenlager kennenlernte. Dort gab es die beiden Moskauer deutschsprachigen Majakowski-Ausgaben. Nachdrucke erschienen auch in den Nachrichten für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion.

3
Die Befreiung Deutschlands vom Faschismus öffnete der verbannten Kultur und damit Majakowski wieder den Weg in dieses Land. Stephan Hermlin, 1927/28 erstmals mit dem Werk des Dichters bekannt geworden, stellte ihn in einer Sendereihe vor, die Radio Frankfurt/M. im Dezember 1945 eröffnete. Schon 1946 gab der Verlag der sowjetischen Militäradministration (SWA, Berlin) den Band W. Majakowski Gedichte heraus. Er enthielt alle Nachdichtungen Hupperts aus den beiden Moskauer Ausgaben. In der gedruckten Fassung seines Rundfunkaufsatzes, 1947 in Wiesbaden, nannte Hermlin dieses Buch „ein literarisches Ereignis für Deutschland“. Zum Abschluß seines instruktiven Majakowski-Essays schrieb er:

Die Begegnung mit Majakowski sollte diesmal von Dauer sein. Sie ist nicht weniger erregend als die mit Whitman oder Rimbaud. Ähnlich wie der Amerikaner und der Franzose sollte auch der Russe die dichtenden Zeitgenossen in Deutschland davor bewahren können, gänzlich im zähen Fluß rilkescher Lyrismen und klassizistischer Sonette unterzugehen.

Hermlin gehörte selbst zu jenen, die darangingen, im deutschen Jetzt „der Zukunft Konturen“ dichterisch zu erfassen („Mansfelder Oratorium“, 1950).
Schnell eroberte sich Majakowski, zusammen mit Gorki, Gladkow, Fadejew, den neuen Leser und Künstler in jenem Teil Deutschlands, wo deutsche Dichter selbst berufen waren, „die gewaltigste gesellschaftliche Veränderung, die es jemals in Deutschland gab, in der Literatur darzustellen“ (A. Seghers auf dem 4. Deutschen Schriftstellerkongreß, 1956 – frei zitiert). Seit 1946 erschienen Gedichtabdrucke und Aufsätze sonder Zahl, Majakowskis Verse wurden in erste „Hilfsbücher für den Literaturunterricht“ aufgenommen (Die Sowjetliteratur, Berlin 1951), erreichten ein großes Publikum durch Rezitationen – wie viele hörten allein Robert Trösch! Majakowski-Ausgaben fanden in alle Bibliotheken Eingang (1954/55 allein in zwei Magdeburger Bibliotheken 169mal ausgeliehen), Majakowskis Verse standen neben Leitartikeln, wurden zu Schlagzeilen. Und nicht sehr lange sollte es dauern, bis auch speziellere Arbeiten über Majakowski geschrieben wurden (z.B. N. Thun, „Majakowski und Deutschland“, NDL, 7/1953), bis sich auch Komponisten und Graphiker von Majakowski inspirieren ließen (Eisler, Spieß; Klemke, Schwimmer).
Zum geistigen Besitz unzähliger Bürger der DDR wurde Majakowski vor allem in den Nachdichtungen Hupperts. Hermlin hob bereits 1947 hervor, daß er den Eigenheiten, „der jäh zupackenden, von phantastischen Bildern erfüllten, stabreimhämmernden Sprache“ des großen Dichters in hohem Maße gerecht wird. Nach Trösch geben Hupperts Übertragungen „Majakowski getreu bis auf Stabreime und Alliterationen wieder. Dabei bleibt er frei, locker, ist nie gewaltsam. Man darf wohl sagen: Kongeniale Nachdichtung“ (Brief vom 29.3.1955). Sehr hoch bewertete Bertolt Brecht die „außerordentliche Übersetzung der Majakowskischen Dichtung“ von Hugo Huppert (NDL, 8/1955)…

Insgesamt publizierten allein von 1946 bis 1955 vierzehn Nachdichter – alte und neue – deutsche Majakowski-Übertragungen. Zu den neuen gehörte auch Johannes von Guenther. Um die Nachdichtung klassischer russischer Lyrik verdient geworden, kam er bei Majakowski, der ihm fremd war, nicht über die „Anatomie“ hinaus („Aus vollem Halse“, Berlin 1950). Anders Alfred Edgar Thoss, dessen gelungene Arbeiten 1949 und 1950 bei Volk und Welt in Berlin verlegt wurden:

Ihr geigt eure Liebe wie zärtliche Sylphen.
Liebestrommler
sind von grobem Gemüt.
Ihr kennt meinen Trick nicht, sich umzustülpen,
daß man von einem nur Lippen sieht!

Dieses Umschlagen von Hohn und Empörung in Zärtlichkeit und Verzweiflung; die ungekünstelten, gleichsam von einem immanenten Gefühlsstrom getragenen Bilder; der Akzentvers, der die herbe Prägnanz der Sprache unterstreicht; der Einsatz von Alliteration und komplexem Assonanzenreim (zärtliche Sylphen – sich umstülpen) – alles zusammen läßt den deutschen Leser, trotz mancher Freiheiten, das Original der „Wolke in Hosen“ nacherleben. Thoss übertrug zunächst Majakowskis vorrevolutionäre Poeme sowie „150 000 000“ und „Darüber“ (in der vorliegenden Ausgabe „Das bewußte Thema“).
Die deutsche Wiederbegegnung mit Majakowski fand in ganz Deutschland statt. Noch bevor Hermlin ins Gebiet der künftigen DDR übersiedelte, hatte er sein Majakowski-Porträt im Westen publiziert. 1948 veröffentlichte die Münchener Zeitschrift Neues Leben einen instruktiven Aufsatz von H. Lestiboudois über den Dichter, dessen „erste neue, ungewohnt rhythmisierten Gesänge schon wie Hammerschläge in die Literatur Europas gefallen sind“. Doch im selben Jahr brachte der amerikanisch lizenzierte Tagesspiegel ein Pasquill von E. Montijo, das mit seinen unzitierbaren Verbalinjurien gegen Majakowski sogar die einstige faschistische Bücherkunde in den Schatten stellte (16.4.1948). Dann stieß der SWA-Verlag auf Widerstände beim Verkauf seiner Majakowski-Ausgabe über den westdeutschen Buchhandel (Auskunft des Chefredakteurs der Täglichen Rundschau, April 1955): Der amerikanische Militärgouverneur, General Clay, war ein Sohn des „Zigarrenkönigs“ in Majakowskis Gedicht „Black and white“ (vgl. Tur, „Clay ist unzufrieden mit Majakowski“, Tägliche Rundschau vom 25.2.1949)… Fünf Jahre sollten erneut vergehen, ehe in einer westdeutschen Zeitung treffend zu lesen war:

Wir erinnern an: Wladimir Majakowskij. (Parlamentarische Rundschau, Köln 1953)

Gastrecht erhielt der Dichter in Westdeutschland dennoch erst ab 1959: Bei Langenwiesche-Brandt kam der Band Majakowskij Gedichte heraus, übertragen von Karl Dedecius; bei Suhrkamp, in Spectaculum 2, Majakowskis Wanze, nachgedichtet von Huppert. 1960 legte dann Suhrkamp den Band Mysterium buffo und andere Stücke in Hupperts Nachdichtung vor, der auch das Schwitzbad enthielt; im selben Jahr editierte Langen-Müller die Anthologie Russisches Theater des XX. Jahrhunderts mit Majakowskis Schwitzbad, übertragen von Ingrid Tinzmann.
Auch westdeutsche Arbeiten über Majakowski nahmen nun an Zahl zu. Den in der DDR publizierten Monographien (Zimmering, 1955; Triolet 1957; Schaumann/Schulzki, 1962) folgten Monographien in Westberlin und der Bundesrepublik (Uhlig, 1962; Huppert, 1965). Die bei Rowohlt verlegte Arbeit Hugo Hupperts vermittelt nicht nur ein lebendiges Bild des genialen Poeten, der zugleich Repräsentant der russischen Revolution war. Sie setzt auch sein Wirken zur Zeit und zur zeitgenössischen Literatur in Beziehung, insbesondere zur Tradition und Gegenwart der deutschen revolutionären Poesie.
Zwar fehlt es in vielen Publikationen nicht an Versuchen, Majakowski einen „ganz anderen Kommunismus“ zu unterstellen, als den der Partei und die Zerstörung seiner Träume durch die „Realität der Sowjetgesellschaft“ zu apostrophieren (J. Rühle in Der Monat, Westberlin 1960). Aber sogar durch das Unverständnis für die Gesellschaft, in der Majakowskis Werk verwurzelt ist, bricht sich Bewunderung Bahn. Uhlig bezeichnet den Dichter als „Prototyp des schöpferischen Avantgardisten. Als solcher ist er ein Autor von internationaler Urbanität, ein Formschöpfer, ein Sprachmeister, ohne den die moderne Weltliteratur heute nicht mehr zu denken wäre“ (Wladimir Majakowski, Westberlin 1962). Kesting schreibt, es sei „verblüffend, daß Majakowski in den ganz sicher von Meyerhold inspirierten Regieanweisungen eine moderne, ,übertragene‘ Spielweise vorwegnahm, wie sie in Frankreich… viel später entwickelt wurde“ (Panorama des zeitgenössischen Theaters, München 1962).
Den Dramatiker Majakowski stellte erstmalig in Deutschland 1959 die Berliner Volksbühne vor. Schon 1954 hatte Harald Hauser in einem Artikel über die Moskauer Wiederaufführung des Schwitzbades gefragt, ob sich nicht „dichterisch-qualifizierte Übersetzer, Bühnenverlage, Theaterdramaturgien“ für dieses Unternehmen fänden („Ein empfehlenswertes Bad“, Neues Deutschland vom 4.2.1954). Neujahr 1955 hatte Neues Deutschland einen Ausschnitt aus dem Stück veröffentlicht. Noch bevor der Henschelverlag 1957 Das Bad und Die Wanze, übertragen von A.E. Thoss, in seinen Bühnenvertrieb aufnahm, hatte das Berliner Kabarett Die Distel im Frühjahr 1956 eine Bad-Adaption gebracht. Mochte der Regiestil auch „unentschlossen zwischen Theater und Kabarett“ geschwankt haben – das Resümee lautete:

Die Distel ist den Bühnen zuvorgekommen (Sonntag / Weltbühne).

„Außergewöhnlich“ nannte W. Pollatschek die Schwitzbad-Aufführung der Volksbühne (Berliner Zeitung vom 8.2.1959). Die scharfe Satire, die entschiedene Kampfansage an den Bürokratismus, mit der Majakowski 1929, zu Beginn des ersten Fünfjahrplans, einer Forderung der XVI. Parteikonferenz entsprochen hatte, – der Moskauer Gastregisseur N. Petrow richtete sie in seiner DDR-Inszenierung gegen das, „was noch die weitere Vorwärtsbewegung unseres Lebens hemmt“ (Sonntag-Interview, 6/1959). Aus der Erfahrung von 200 Moskauer Aufführungen schöpfend, meisterte er auf einer deutschen Bühne die Eigenart von Majakowskis Dramatik, die in Moskau auch Bertolt Brecht bestach (G. Stahnke, Junge Welt vom 5.2.1959). Schwach war leider die Darstellung der Phosphoreszierenden Frau – immerhin wichtigste positive Gestalt. Rezensenten hoben die Bühnenbilder von R. Weyl und Hanns Eislers Vertonung des „Marsches der Zeit“, gesungen von Ernst Busch, hervor:

Dies könnte… ein Lied der sozialistischen Jugend werden.

Mit Recht schrieb W. Pollatschek über das Schwitzbad:

Um dieses Stück zu begreifen, muß man auf dem sozialistischen Wege sein.

Gleiches gilt noch mehr für Die Wanze. Zumindest bewiesen das die Inszenierungen dieser Komödie an den Städtischen Bühnen in Essen (1962) und am Schillertheater in Westberlin (1964), vor allem bei der Interpretation des Zukunftsbildes. Majakowski erklärte selbst, daß es ihm in dem Stück nicht darum gehe, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten (Diskussion über Die Wanze vom 30.12.1928); er setzte die Phantastik wie ein Vergrößerungsglas ein, um dem Publikum die Erbärmlichkeit der Wanze Prissypkin noch deutlicher zu machen. Unterstellt wurde ihm das Gegenteil: zum einzigen Menschen wird der aufgetaute Spießbürger. Zur Essener Aufführung schrieb die Düsseldorfer Deutsche Volkszeitung, Majakowski sei dort „verfälscht,… der bornierten westdeutschen Ideologie hingeopfert worden, die eine Zukunft ohne Parasiten offenbar als ein fürchterliches Schreckbild betrachtet“ (A. Müller, „Eine makabre Wanze“, 25.5.1962). Da der polnische Gastregisseur Swinarski in Westberlin, bei grandiosem Regieaufwand, einer antikommunistischen Interpretation keinen Raum ließ, waren Die Welt und Der Tagesspiegel bemüht, die „Individual-Wanze“ wenigstens ihres Mitgefühls zu versichern.
Nun liegen die Buchausgaben mit Majakowskis Stücken in der farbkräftigen Wiedergabe Hugo Hupperts vor. Da Majakowski die Figuren schon durch ihre Namen charakterisiert, hat der Nachdichter auch dafür Entsprechungen gesucht: Trutzwackerl, Radlflitz… In seinem „Wort vom Erbe“ sagt Huppert selbst:

Freilich wirkt im Österreicher
das gewitternde Idyll,
bunter, sanglicher und weicher
als ich manchmal selber will.
(„Georgischer Wanderstab“, Berlin 1954)

Daß sich dies nächst solcher Namensgebung in der ungebundenen Rede um Nuancen stärker bemerkbar macht als in den Vers-Nachdichtungen, wer will es ihm verdenken?
Die deutsche Begegnung mit Majakowski fand sehr früh – verstärkt seit 1945 – auch in der deutschen Poesie statt. Man könnte viele Namen und Titel nennen: von Johannes R. Becher („Der große Plan“) bis Volker Braun („Provokation für mich“). Eins der ersten Werke nach 1945, das von Rezensenten als Zeugnis einer schöpferischen Auseinandersetzung mit der Majakowski-Tradition beurteilt wurde, war Kubas „Gedicht vom Menschen“ (1948, vgl. G. Cwojdrak, „Ost und West“, Berlin, 11/1948). Paul Wiens, der selbst gute Majakowski-Nachdichtungen gemacht hat, gestaltet in seinem „Denkmal für Dascha“ (1959) ein Chorlied unmittelbar als Majakowski-Adaption. Wesentlich sind allerdings in keinem Fall vordergründige Parallelen. Wo wären sie etwa bei Georg Maurer zu finden, um ein weiteres Beispiel zu nennen (vgl. seinen 1956 publizierten Zyklus „Selbstbildnis“)? Und doch ist die Begegnung mit Majakowski ohne Zweifel auch in seiner Entwicklung fruchtbar geworden. Jede Zeile in seinem 1955 entstandenen Essay „Majakowskis bildliche Argumentation“ (NDL, 11/1955) zeugt von der Intensität dieses Erlebnisses. Ihn besticht die „Körperlichkeit des Bildes“ bei Majakowski, aus dessen ganzer Haltung geboren; die Bildwahl „aus der Welt des modernen Menschen in der modernen Gesellschaft“; das „Ineinandergreifen des Vergleichenden mit dem Verglichenen bis in die letzte Verzahnung“… Was Majakowski einen Versuch nannte, „den Prozeß der dichterischen Produktion selbst aufzudecken“, – für Maurer, seit 1955 Lehrer am Institut für Literatur Johannes R. Becher, ist es zur zusätzlichen Berufung geworden. Das Beispiel Majakowskis nennt westlich der Elbe auch Hans Magnus Enzensberger in einem Essay, mit dem er auf die „unumgängliche“ Frage nach der „Entstehung eines Gedichts“ antwortet (Gedichte, Frankfurt/M., 1965).
Majakowskis Werk findet heute in der DDR eine weite und tiefe Resonanz. Wurzeln hat es auch in Westdeutschland geschlagen. Die vorliegende Ausgabe will einem Bedürfnis entsprechen, das daraus erwachsen ist. Sie legt erstmals eine geschlossene Auswahl sowohl des poetischen als auch des dramatischen und des Prosawerks von Majakowski vor, dazu Aufsätze, Reden und Briefe. Nachdichter der gesamten Auswahl ist Hugo Huppert, durch dessen bisherige Übertragungen – um es mit Maurers Worten zu sagen – die großen reifen Gedichte und Poeme Majakowskis bereits „zu einer Realität für unsere fortschrittliche deutsche Lyrik“ geworden sind.

Leonhard Kossuth, Januar 1966, Vorwort

Anmerkungen

Die Auswahl stützt sich auf die letzte sowjetische Gesamtausgabe von Majakowskis Werken: Владиимир Маяковcкий. Полное cобрание cочинений в tринадцаtи tомах. Моcква 1955–1961. Alle Nachdichtungen, auch die früher publizierten, wurden an Hand dieser Ausgabe überprüft. Der Band bringt also auch die Nachdrucke in der jeweils letztgültigen Fassung. Die Gedichte sind chronologisch nach ihrer Entstehungszeit angeordnet; Abweichungen von der Chronologie innerhalb der Gedichtzyklen (Paris, Amerika) entsprechen der Reihenfolge, die der Dichter selbst festgelegt hat. Von den Kindergedichten Majakowskis wurde nur eins ausgewählt; es steht außerhalb der chronologischen Ordnung am Schluß des Bandes. In den Anmerkungen zu den Gedichten finden sich an erster Stelle jeweils die Angaben über die Erstveröffentlichung des Originals. Die russischen Titel von allgemein bekannten Zeitungen und Zeitschriften wurden nicht übersetzt, sondern nur transkribiert. Die Erläuterungen zu den Gedichten stützen sich auf die Kommentare zu der o.g. dreizehnbändigen sowjetischen Ausgabe. Zusätzlich wurden insbesondere ausgewertet die Anmerkungen zu dem Band W. Majakowski, Ausgewählte Gedichte und Poeme, Berlin 1953, sowie W. Katanjan, Majakowski/Literaturchronik, Moskau 1956 (russ.).

Leonhard Kossuth, Vorwort

 

Der vorliegende Auswahlband

eröffnet die bisher größte deutsche Majakowski-Ausgabe. Sie wird insgesamt fünf Bände umfassen: Gedichte, Poeme, Stücke, Prosa, Publizistik. Von den 112 Gedichten wurden 38, mehr als ein Drittel, neu übertragen – Frühwerke, Satiren, Liebesverse, Auslandsgedichte. Außerdem enthält der Band Nachdichtungen von ROSTA- und Reklameversen, die auf Bildtafeln original gezeigt werden. Der Gesamtausgabe zugeordnet, informiert das Vorwort über die komplizierten Etappen von Majakowskis Leben und Werk. Ein selbständiger Teil darin gehört dem Thema „Majakowski in Deutschland“. Eigenen Charakter als deutsche Ausgabe verleiht dem Band ferner eine Bibliographie sämtlicher seit 1921 erschienenen deutschen Übertragungen der Gedichte Majakowskis. Nachdichter aller Werke in dieser Auswahl ist Hugo Huppert. Schon 1929 übertrug er den „Linken Marsch“ und fand erste Anerkennung bei Majakowski selbst, der ihm sagte:

Lassen Sie sich von keinem Menschen mehr einreden, daß meine Sache unübersetzbar seien, auch von mir nicht!

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1966

 

Majakowski, ein Klassiker der russischen Dichtung

Die verschiedensten Phasen von Verständnis und Abneigung, Ruhm und Verdammnis erfuhr das dichterische Schaffen von Wladimir Majakowski nicht nur zu dessen Lebzeiten, sondern vor allem in den ersten Jahren nach seinem Freitod. Nicht uninteressant ist das Schicksal seines dichterischen Werkes, denn messen kann man daran die Ungleichmäßigkeit des sowjetischen kulturellen Interesses an seiner Entwicklung. Einige Merkmale und Äußerungen verführen nämlich oft vor allem westeuropäische Betrachter des sowjetischen Kulturgeschehens zu Urteilen von der Totalität sowjetischer Kulturinteressen. Das sind freilich falsche Urteile. Denn auch wenn sich das sowjetische politische System grundsätzlich von den Systemen westeuropäischer demokratischer Länder vor allem dadurch unterscheidet, daß es die mannigfaltigen Interessen verschiedener gesellschaftlicher Komponenten nicht versinnbildlicht, so herrscht doch in kulturellen Dingen trotz ideologischer Eintracht durchaus keine solche Eingleisigkeit. Diese Tatsache wird, wie wir bereits andeuteten, äußerst klar gerade am Schicksal von Majakowskis dichterischem Werk.
Das Werk des Hauptes und des im Grunde ausdrucksstärksten und einzigen Vertreters des russischen Futurismus, W. Majakowski, hielt man für das literarische Äquivalent der politisch-gesellschaftlichen Ereignisse in Rußland nach dem Jahre 1917. Nur er unter den russischen Dichtern konnte sich mit Recht auf die Revolution berufen – und mußte nicht erst alles mögliche an seinem Bekenntnis berichtigen – und die Revolution wiederum konnte sich einzig auf ihn berufen und mußte nicht alles mögliche von ihren Grundsätzen abstreichen. Er hatte jeglichen Kanon der Dichtung verworfen, Denkweisen und Ausdrucksregeln, und zwar mit der gleichen Verve, mit der die russische Revolution in jenen Jahren alle bisherigen Festlegungen ablehnte.
Wie falsch wäre jedoch die Vermutung, daß trotz alledem er oder der Stil seines Schaffens der einzige offizielle Ausdruck des literarischen Zustands im neuen Rußland gewesen seien! Lenin, über den Majakowski eines seiner größten Poeme geschrieben hat, verkündete öffentlich, er verstünde es nicht, und es gab kaum eine ideologische Autorität im damaligen Rußland, die keine großen Vorbehalte gegenüber dem dichterischen Werk Majakowskis angemeldet hätte. Wenn nur von Majakowski die Rede sein soll, könnte man sagen, daß er im Vernichtungskampf gegen die alten dichterischen Formen und die Dichtersprache gewachsen ist und dennoch all jenen unbegreiflich blieb, für die er diesen Kampf führte. Wir hier hatten vermeint, daß seine dichterischen Bindungen und scharfsinnigen Polemiken nicht nur Ereignisse seines Vaterlands repräsentieren, sondern auch das Vertrauen seiner Führer und Schöpfer. Doch lagen die Dinge nicht so einfach. Er war ein hervorragender und interessanter, aber nicht der einzige anerkannte Dichter Rußlands jener Ära.
Die spätere Entwicklung in der UdSSR hat dem älteren Literaturschaffenden und dem ganzen russischen – und außerrussischen – Klassizismus breiten Raum geschaffen. Majakowski lebte zu diesen Zeiten nicht mehr. Das sowjetische literarische Leben hat erneut ein sichtbares Haupt, und zwar in dem ausdrucksstärksten Vertreter des Realismus, in Maxim Gorki. Die außersowjetische literarische Welt schließt aus dieser Belebung und Unterstützung der klassischen Tradition, dies bedeute gleichzeitig, daß die Gedanken und Werke der revolutionären Ära der russischen Literatur abgelehnt werden. Vor allem aus Gorkis hervorragender Position im sowjetischen Geistesleben wurden Folgerungen in dieser Hinsicht gezogen; schließlich hatte Majakowski gerade an Gorkis Werk nicht nur einmal seine Ablehnung des klassischen Realismus manifestiert: des Klassizismus und des Realismus.
Aber obgleich die gegenwärtige Kultursituation der UdSSR ständig und fortdauernd an die alten Traditionen anknüpft, gerät W. Majakowskis Werk nicht nur nicht in Vergessenheit, sondern ihm wird im Gegenteil ein Platz zugewiesen, den es nicht einmal innehatte, als uns Majakowski als der uneingeschränkte literarische Repräsentant der neuen russischen Verhältnisse erschien.
Kürzlich hat die Regierung Majakowskis Werk zum Staatseigentum erklärt und – wie wir in Moskauer Zeitungen lesen – in diesen Tagen ein staatliches Majakowski-Museum errichtet. Dort werden die Handschriften des Dichters gesammelt und sämtliches Material, das sich auf sein Leben und Schaffen bezieht.
Einzigartig ist das Schicksal dieses revolutionären Dichters, dieses Dichters der Revolution, wenn man so will. Die Ehrfurcht gegenüber den Klassikern, die er selbst nicht teilte, hat ihn nicht aus dem geistigen Geschehen verdrängt. Er wurde selbst ein Klassiker der Literatur seines Landes.

Laco Novomeský, 1938, aus, Laco Novomeský: Erwägungen. Aufsätze zur Literatur, Verlag Volk und Welt, 1977

Erinnerungen

(…)

Majakowski machte mich mit seinem Freundeskreis bekannt. Es wurde die Herausgabe einer Zeitschrift erwogen. Er wollte Schklowski zur Mitarbeit gewinnen und ging zu ihm. Weil er ihn nicht antraf, hinterließ er eine Karte mit der Bitte, abends in die Shukowskaja 7, Wohnung 42, zu Briks zu kommen. Schklowski hatte beim Militär mit einem Freiwilligen namens Brik gedient und kam in der festen Annahme, ihn zu besuchen. Vor Überraschung und Verlegenheit stopfte er den ganzen Abend Kissen zwischen Sofalehne und -sitz, und zwar so sorgfältig, daß wir sie nachher mit einer gemeinsamen Hauruckakrion – wie der Großvater samt Familie die Rübe – wieder herausziehen mußten.
Gelegentlich kam auch Tschukowski. Er wohnte in Kuokkala und war bei aller Wertschätzung für Majakowski und die Wolke froh und erleichtert, daß der Unruhgeist von dort weggefahren war. Als wir einmal zusammensaßen und über die Zeitschrift sprachen, sagte er:

So ist es recht, zu Hause beim Tee entstehen die neuen literarischen Tendenzen.

Zu unseren Stammgästen gehörten auch David Burljuk, Wassili Kamenski und Chlebnikow.
Aus Moskau kam Pasternak mit Maria Sinjakowa. Er war enthusiastisch und schwärmerisch, nicht immer verständlich, rezitierte glänzend glänzende Verse und improvisierte wundervoll auf dem Flügel. Maria bewunderte ich für ihre Schönheit, die hellen Augen in ihrem sonnengebräunten, dunklen Gesicht wirkten fast weiß, auf ihrem Köpfchen thronte ein selbstgenähter farbenfroher Hut. Sie hatte fünf Schwestern, von denen jede auf ihre Weise schön war und in die sich Chlebnikow, Burljuk und Pasternak gleichermaßen verliebt hatten. Oxana wurde Assejews Frau.
Diesen Abend habe ich noch gut in Erinnerung. Der breite Konzertflügel in dem kleinen Zimmer. Der junge Pasternak, im Schatten des gebäumten Flügeldeckels wie ein Dämon.

In der Stadt, die kein Fuß je betreten hat, die
Hexen und Schneebräute nur betraten,
liegen Schneewehen, aufgewölbt, bleich und starr wie
Opfer mittnächtlicher Grauenstaten.

Im Fenster lag die weiße Nacht. 

Nicht geheuer das Städtchen und auch die Nacht…

Der graziöse Assejew wirkte wie eine Vignette auf dem schwarzglänzenden Hintergrund des Flügels.

Ljuzes Gastspiel vom Himmel hernieder
War uns wie eine seltsame Mär…

Chlebnikows blaue Augenseen traten über die Ufer, überstrahlten die weiße Nacht hinterm Fenster. Zu seinem Vortrag erhob er sich nicht, sondern blieb im Sessel sitzen und ließ die langen Arme baumeln. Er lächelte, wurde tiefernst und begann langsam, mit dunkler leiser Stimme. Seine Augen trübten sich, erloschen ganz. Sein Sprechen ging in ein Murmeln über, das immer hastiger wurde und mit einem abrupten: „Das ist alles!“ und einem Stoßseufzer endete.
Dann kam die Reihe an Majakowski. Chlebnikow lächelte. Alle blickten gespannt. Die Zimmerwände taten sich auf.

Ich malme die Meilen, mit Stiefeln sie klopfend.
Wohin mit der Hölle, der inneren Nacht?
1

Chlebnikows Azurblau, Pasternaks Gold, die konzentrierten Augen von Maria, Assejews entzückte…
Majakowski stand an den Türsturz gelehnt, wie vorzeiten beim Vortrag der Wolke. Dann redeten alle gleichzeitig los. Besonders gut erinnere ich mich, wie begeistert Pasternak reagierte und wie er sich dann an den Flügel setzte und etwas von sich vorspielte.
Das neue Jahr, 1916, wurde ausgelassen gefeiert. Den Tannenbaum hatten wir umgekehrt, „mit den Beinen nach oben“, in einen Winkel der Zimmerdecke gehängt und mit Spielkarten, dem berühmten gelben Hemd und einer papierenen Wolke in Hosen geschmückt. Alle waren kostümiert. Majakowski hatte einen roten Fetzen um den Hals und schwang einen in Kattun eingenähten hölzernen Schlagring. Brik war in Turban und Usbekenrock, Schklowski in einem Matrosenhemd und Elsa in einem Harlekinanzug. Wassja Kamenski hatte auf sein Jackett bunte Kattunflicken genäht, sich einen Vogel auf die Wange gemalt und die eine Schnurrbarthälfte blond, die andere schwarz gefärbt. Ich trug rote Strümpfe, ein Schottenröckchen und um die Brust statt des Mieders ein geblümtes russisches Tuch. Kurz, jeder folgte der Devise: je verrückter, desto besser. Wir becherten Sprit mit Kirschsaft. Den Sprit zauberten wir unter einem Dielenbrett hervor, damals im Krieg herrschte Alkoholverbot. An diesem Abend trug Kamenski Elsa seine Hand und sein Herz an – der erste Heiratsantrag in ihrem Leben. Sie lehnte erstaunt ab. Er widmete ihr ein Gedicht und fuhr vor Kummer woandershin heiraten, nach Moskau wohl oder Kamenka.
Wir hatten in dieser Wohnung einen riesigen Papierbogen (eine Tapetenbahn) an die Wand geheftet, auf den jeder schreiben oder zeichnen sollte, was ihm gerade einfiel. Majakowski schrieb über Kuschner:

Ein Flußpferd spurtet in den Fluß, vom guten Kuschner in Verdruß.

Burljuk zeichnete Wolkenkratzer und Frauen mit drei Brüsten, Kamenski klebte Paradiesvögel aus Buntpapier an, Schklowski schrieb Aphorismen wie:

Die Wut auf die Menschheit sammelt sich tri-tra-tropfenweise an.

Ich zeichnete Tiere mit Euter und schrieb darunter:

Was kümmert dich mein Euter?

Wir stellten die erste Nummer der Zeitschrift zusammen, die Majakowski kurzerhand Genommen getauft hatte. Schon lange wollte er irgendwen oder irgendwas so nennen. Aufgenommen wurden Majakowski, Chlebnikow, Brik, Burljuk, Pasternak, Assejew, Schklowski und Kuschner.
Vor seiner Bekanntschaft mit Majakowski hatte Brik weder Bücher herausgegeben noch irgendeine Beziehung zu den Futuristen gehabt. Aber die Wolke gefiel ihm so sehr, daß er sie als Einzelpublikation herausgab und für die Zeitschrift vorschlug. Wer in der Zeitschrift erscheinen sollte, bestimmte Majakowski. In der ersten und einzigen Nummer waren es seine Freunde und Gesinnungsgefährten, weshalb sie allgemein „Futuristentrommel“ hieß.
Von Brik kam in Genommen eine kleinere Rezension der „Wolke“ mit dem Titel „Brot!“:

Schneidet die Seiten vorsichtig auf, damit, wie kein Krümchen der Hungrige, ihr keinen Buchstaben aus diesem Buch voll Brot verliert!

Dies war Briks Debüt in der Presse. Filossofow kam, nachdem er die Rezension gelesen hatte, und erklärte:

Der einzige erfahrene Journalist ist bei euch Brik.

Der Umschlag wurde aus grobem Packpapier gemacht und der Titel Genommen in Versalien gesetzt. Beim Drucken schabten sich die hölzernen Buchstaben an den Holzsplittern des Papiers ab, so daß sie fast schon beim hundertsten Exemplar blasser, unterschiedlich gerieten. Da mußte die ganze Auflage in mühseliger Handarbeit mit einem Pinselchen nachgebessert werden.
Majakowski publizierte in Genommen das erste Kapitel der „Wirbelsäulenflöte“. An der „Flöte“ schrieb er langsam und gab jedes neue Kapitel sofort feierlich zum besten. Zunächst mir, dann Brik und mir und erst dann anderen. So hielt er es bis zuletzt mit fast allem, was er geschrieben hatte.
Wenn ein neues „Flöten“-Kapitel abgeschlossen war, lud er mich ein. Er veranstaltete einen regelrechten Empfang: Tee mit großartigem Imbiß, Blumen auf dem Tisch, er selbst mit schmucker Krawatte. Als ich das erstemal kam, belferte das Hündchen der Wirtin gegen mich los, ich erschrak, da lachte er.

Eine so große Frau und hat Angst vor so einem Murkel von Hund!

Von Majakowski habe ich Interesse und Liebe für Tiere gelernt. Er sagte, er liebe Tiere, weil sie keine Menschen und doch lebendig sind.
In unserem Zusammenleben waren Tiere ein ständiger Gesprächsgegenstand. Wenn ich nach Hause kam, fragte Majakowski mich oft, ob ich keine „interessanten Hunde oder Katzen“ gesehen hätte. In seinen Briefen erzählte er mir viel von Tieren, und in den Zeichnungen, die er massenhaft aus dem Handgelenk schüttelte, stellte er sich als Hündchen und mich als Katze dar, entweder in Form einer Illustration zu dem Geschilderten oder als eine Art Unterschrift-Kürzel.
Nach der „Flöte“ entstand das Gedicht „Don Juan“.
Ich wußte nicht, daß er daran arbeitete. Urplötzlich, bei einem Stadtbummel, sagte er es auf. Mir mißfiel, daß es wieder von einer unglücklichen Liebe handelte – war das nicht zuviel des Guten?
Er zog das Manuskript aus der Tasche, zerriß es und warf die Schnipsel in den Wind, daß sie durch die Straße flogen. Ich habe den Verdacht, daß das Gedicht aus zusammengeflickten Abfällen der „Flöte“ bestand, jedenfalls hörte es sich sehr ähnlich an. (In späteren Gedichten bin ich dann verschiedenen Zeilen und Strophen aus dem weggeworfenen „Don Juan“ wiederbegegnet. Gelungene Einfälle pflegte er nicht zu vergessen.)
Wir wurden unzertrennlich, fuhren zusammen auf die Inseln, bummelten durch die Straßen. Majakowski mit Zylinder, ich mit einem großen schwarzen Federhut, so flanierten wir auf dem abendlichen Newski. Noch war es hell, doch hell würde es ja die ganze Nacht bleiben. Die Laternen brannten, aber leuchteten nicht, als wären sie gar nicht an. Wir betraten ein Geschäft, und Majakowski bat die Verkäuferin mit geheimnisvollem Augenaufschlag:

Mademuasell, wir hätten gern einen gaaanz tollen Stift – der vorne rot und hinten blau schreibt.

Nachts war die Uferstraße unser liebster Spazierweg. Die Dampferschlote schienen statt Qualm ganze Funkengarben auszustoßen. Majakowski sagte:

In Ihrer Gegenwart wagen sie nicht zu qualmen.

Majakowski beabsichtigte, einen Vortrag über den Futurismus zu halten. Für diese Veranstaltung wählten wir die größte Wohnung, die sich unter unseren Freunden finden ließ – die der Malerin Ljubawina. Wir luden ältere ein: Gorki, Kulbin, Matjuschin und andere. Majakowski bereitete sich tagelang vor. Auf und ab gehend, „sich Schwielen an die Füße laufend“, tüftelte er an dem Vortrag wie an Versen. Die Gäste kamen, nahmen Platz. Majakowski wartete nebenan wie hinter Kulissen. Als alle still geworden waren, trat er ein, stellte sich in Positur und sagte übermäßig laut: „Gnädige Herren und gnädige Herrinnen!“ Es wurde gekichert. Er gab einige donnernde Sätze von sich, verstummte plötzlich und verließ den Raum. Im Eifer des Gefechts hatte er nicht bedacht, daß hier keiner da war, den er für irgendwas hätte anbrüllen müssen. Wir trösteten ihn, gaben ihm Tee.
Wir begannen uns ziemlich regelmäßig zu treffen. Meistens bei uns, manchmal bei Kulbin oder Ljubawina. Zu Kulbin kamen stets viele. In seinem geräumigen Zimmer hing ein Plakat:

Mich dürstet nach Einsamkeit.

So hatte ich jedesmal, wenn ich dort war, ein schlechtes Gewissen. Einen der ersten Vorträge bei Kulbin hielt Schklowski. Er sagte unter anderem, in der zeitgenössischen Poesie herrschten viele Provinzialismen. Chlebnikow hielt ihm entgegen, die Römer hätten ihre eroberten Gebiete Provinzen genannt, demzufolge sei Petersburg im Verhältnis zu Kiew eine Provinz, nicht umgekehrt. Chlebnikow hatte ein fundiertes Wissen.
Chlebnikow war ständig in Geldnot, trug immer dasselbe Hemd und dieselbe Hose, eine mit Samtbesatz, schon reichlich abgetragen. Wo er gewohnt hat, weiß ich nicht. Mitten im Winter kam er einmal im Sommermantel, schlotternd vor Kälte, ganz blau im Gesicht. Wir nahmen eine Droschke und fuhren mit ihm zu Mandel (einem Konfektionsgeschäft), um ihm einen warmen Mantel zu kaufen. Er probierte alle an und wählte einen altmodischen, wattierten, mit Skunksrevers. Ich gab ihm noch drei Rubel für eine Mütze und ging meiner Wege. Natürlich kaufte er keine Mütze, sondern bunte Papierservietten, die ihn aus dem Schaufenster eines japanischen Ladens angelacht hatten, und brachte sie mir als Geschenk.
Chlebnikow schrieb ununterbrochen, doch das Geschriebene, so wird erzählt, stopfte er in einen Kissenbezug oder verbummelte es. Wenn er wegfuhr, ließ er sein Kissen voller Verse zurück, wo es sich gerade ergab. Burljuk lief ihm ständig nach und las alles, was er umherstreute, auf, dennoch sind viele seiner Manuskripte verlorengegangen. Die Korrektur las stets jemand anderes für ihn, denn wenn er sie in die Hand bekam, konnte man sicher sein, daß er alles noch mal umschrieb. Eigenes trug er nur ungern vor, es langweilte ihn. Er begann und brach plötzlich ab:

Na, und so weiter.

Zwar tat er nicht das geringste dafür, gedruckt zu werden, wenn es aber geschah, freute er sich sehr. Er war wortkarg, doch was er sagte, hatte Gewicht. Wenn Majakowski Verse vortrug, war er ganz Ohr, hörte aufmerksam wie kein anderer zu. Oft versank er in tiefes Nachdenken, da standen seine blauen Augen still und ging sein Mund auf, daß die Zunge zu sehen war. Er konnte herrlich lachen – prustend, mit leuchtenden Augen, die zu sagen schienen: Na, noch was, noch so was Komisches! Nie habe ich ein leeres Wort von ihm gehört, nie ihn lügen oder sich winden sehen. Ich war – und bin es noch heute – von seiner Genialität überzeugt.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Majakowski und Chlebnikow, die in Majakowskis erste Schaffens-, nämlich die „Lyzeumsperiode“ fällt, ist überhaupt ein sehr interessantes Kapitel, freilich darf man dabei nicht vergessen, daß Majakowski Chlebnikows Einfluß auf sich ritterlich übertreibt.
Majakowski hat meines Erachtens das Stadium der Lehrjahre übersprungen. Das kommt wahrscheinlich daher, daß er, bevor er selber Kunst machte, viel über Kunst nachgedacht hatte. Er trat sofort als Meister hervor. Eine große Akzise daran hat David Burljuk. Vor der Bekanntschaft mit ihm war Majakowski künstlerisch wenig gebildet. Burljuk erklärte ihm die verschiedenen Strömungen in der Malerei und Literatur. Er las ihm Rimbaud und Rilke im Original, Wort für Wort übersetzend, vor. Doch selbst Majakowskis ersten Gedichten ist keinerlei Einfluß anzumerken, weder von diesen Dichtern noch von Burljuk oder Chlebnikow. Wenn es einen Einfluß gab, so am ehesten von Alexander Block, der zu dieser Zeit, aller Gegenpropaganda Burljuks zum Trotz, Majakowskis Abgott war. Dafür übte Majakowski von seinen ersten poetischen Schritten an Einfluß auf andere Dichter aus. Im Nu war er das stärkste Zugpferd der Futuristen.
Burljuk sagte einmal zu Majakowski, er werde ihn erst dann als Maestro anerkennen, wenn von ihm ein so dicker Gedichtband erschienen ist, daß sein langer Name quer auf den Einbandrücken paßt. Als der Band Einfach wie Gemuhe herauskam, ließ ich ihn in braunes Leder binden und quer auf seinen Rücken, freilich in sehr kleinen, immerhin aber lesbaren Goldlettern „Majakowski“ prägen.
Wir liebten damals nichts so sehr wie Gedichte. Wir lasen sie wie Süchtige, erörterten, von wem, wann und wie sie gemacht worden waren. Majakowskis kannten wir alle auswendig. Und wie waren Puschkins gemacht? Warum empfand man sie als genial? Welches Geheimnis steckte dahinter? Brik begann Puschkin, Lermontow und Jasykow „auseinanderzunehmen“, ganze Papierstöße kritzelte er mit Zeichen voll, an denen sich die „Klangwiederholungen“ ablesen ließen.
Nach den „Klangwiederholungen“ beschäftigte er sich mit „rhythmiko-syntaktischen Figuren“. Er unterhielt sich viel mit Jakobson, Schklowski, Jakubinski und Poliwanow, den sogenannten „Opojasowzen“ – Mitgliedern der Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache. Jakubinski lehrte russische Literatur in einem Kadettenkorps, Poliwanow war Professor an der Petersburger Universität.
Die Wohnung wurde uns zu eng. Als in unserem Haus eine größere frei wurde, zogen wir um, fast ohne Möbel.
Hier kamen unsere Philologen häufig zusammen, sprachen zu einzelnen Themen, schrieben Artikel oder lasen welche vor, um sie zu erörtern. Brik gab den ersten „Sammelband zur Theorie der poetischen Sprache“ heraus. Interessanterweise findet sich in den beiden erschienenen Opojas-Bänden kein einziges Zitat von Majakowski, kein einziger Hinweis auf seine Verse, nur daß einmal beiläufig sein Name fällt. Trotz ihrer Freude an seinen Gedichten – bei ihren philologischen Untersuchungen ließen die Opojasowzen Majakowski noch ganz außer acht.
Majakowski konnte ihren Disputen stundenlang zuhören. Fortwährend wollte er von Brik wissen: „Na, was gefunden? Noch was gefunden?“ und ließ sich jedes neue Beispiel erklären. Morgens stand er eher als alle anderen auf und äugte ungeduldig zu Briks Tür. Wenn er feststellte, daß Brik nicht mehr schlief, sondern im Bett las oder eine Partie aus der Schachzeitschrift nachspielte, rief er, er solle auf der Stelle frühstücken kommen. Der Samowar siedete, Majakowski machte eine Portion belegter Brote, und sie lasen und besprachen die Zeitungen des Tages. Als Brik über die Literatur der vierziger Jahre des XIX. Jahrhunderts arbeitete, bat ihn Majakowski, „Bericht zu erstatten“ über alle „neuesten Neuigkeiten aus den vierziger Jahren“ oder über irgendwas anderes, was zu diesem Thema gehörte.
Die Frühstückszeit liebte Majakowski am meisten: Keiner kam und störte, der Kopf war frisch; vom Nachtschlaf erholt. Morgens hatte er immer gute Laune. So begann bei uns viele Jahre lang jeder Tag.
Brik sprach mit Majakowski über alles, was er gelesen hatte. Majakowski kam kaum zum Lesen, hatte aber für alles Interesse, und Brik konnte eindrucksvoll erzählen. Oft geschah es, daß Majakowski mitten im Gespräch aufstand, sich über Brik beugte und ihm mit den Worten: „Komm, laß dir die Glatze küssen“ einen Kuß auf den Kopf gab.
Majakowski war ein ungemein zärtlicher Mensch. Grobheit und Zynismus verabscheute er. Zeit unseres Zusammenlebens hat er kein einziges Mal die Stimme erhoben, weder gegen mich noch gegen Brik oder die Haushälterin. Etwas anderes war die Schärfe seiner Polemiken. Das steht auf einem ganz anderen Blatt.

Im Frühjahr 1918 hielt sich Majakowski zu Dreharbeiten an dem Film Nicht für Geld geboren in Moskau auf, von dort schrieb er mir:

Im Sommer möchte ich einen Film mit uns beiden machen. Würde ein Drehbuch für Dich schreiben.

Dieses Drehbuch hieß dann Die vom Filmstreifen Gefesselte. Er nahm es sehr ernst, schrieb es mit Hingabe wie seine besten Verse.
Jammerschade, daß es verlorenging. Leider ist auch der Film verlorengegangen, nach dem man es hätte rekonstruieren können. Ärgerlicherweise habe ich den Namen des Landes vergessen, auf dessen Suche sich der Maler, der Held des Films, begibt. Ich weiß nur noch, daß er auf der Straße ein Filmplakat sieht, von dem sie, das Kino-Herz, verschwunden ist, weil der Kinomann – eine wie einem Hoffmannschen Märchen entstiegene Gestalt – sie aus der realen Welt in den Filmstreifen zurückgelockt hat. In einer Ecke des Plakats entziffert der Maler ein Wort in winziger Schrift, es ist der Name jenes Landes, wo die Verschwundene lebt. „Lieblandien“ oder so ähnlich. Irgendein Wunderland. Wie haben wir es geliebt! Aber ich kann mich nicht mehr entsinnen, so wie man sich manchmal nicht mehr an einen glücklichen Traum erinnert.
Im Anschluß an die Dreharbeiten fuhren wir nach Lewaschowo bei Petrograd, wo wir drei Zimmer mit Pension mieteten.
Hier schrieb Majakowski sein Mysterium buffo.
Er ging viel spazieren, malte Landschaften, fragte mich ständig, ob er im Malen nicht Fortschritte gemacht habe.
Seine Landschaftsbilder waren klein und immer im selben Format, nicht größer als sein Farbkästchen. Smaragdgrüne Wiesen, von blauen Tannen gesäumt. Später lagen sie zusammengerollt in unserer Petrograder Wohnung; als wir nach Moskau zogen, blieben sie dort und kamen samt den Büchern und Möbeln abhanden.
An den Abenden spielten wir Karten, meistens „König“, wobei wir eine Punkttabelle führten.
Wer um eine bestimmte Anzahl von Punkten zurücklag, mußte entweder die Reinemachefrau heraufholen oder Rasierklingen putzen oder „den Käfer fangen“ (d.h. irgendeinen hübschen Käfer finden und nach Hause bringen) oder bei Regen vom Bahnhof die Zeitungen holen.
Weil wir mit Anschreiben spielten, traf manchen das Los, mehrere Tage hintereinander Rasierklingen zu putzen, einen Käfer zu fangen oder bei beliebigem Wetter Zeitungen zu holen.
Unser Speiseplan bestand jeden Tag aus Salzfisch und Dörrerbsen. Brot und Zucker brachte das Hausmädchen Polja aus der Stadt mit. Das Brot, wohlschmeckendes süßes Roggenbrot, buk sie selbst, wobei sie die Blechdosen des Borman-Gebäcks „George“ gleich als Backform benutzte.
Bei den Mahlzeiten in der Pension saß Majakowski am einen Ende des langen Tisches und am anderen, ihm gegenüber – eine üppige Blondine. Als sie abreiste, wurde ihr Platz einer dürren alten Jungfer zugewiesen. Majakowski griff zum Löffel, hob die Augen und murmelte erschrocken:

Wo der Tisch voll Speisen war, steht jetzt der Sarg.

Wir gingen Pilze suchen. Es gab viele, aber nur Täublinge, freilich schön gewachsene, feste, farbige. Wir gaben sie zum Braten in die Küche.
In gewissen Abständen trug uns Majakowski die neuesten Passagen seines Stückes Mysterium buffo vor. Er sprach sie heiter, beschwingt. Wir freuten uns auf jede neue, gingen innerlich mit jeder Zeile mit, und als gegen Sommerende das Stück vollendet war, stellte sich heraus, daß wir es auswendig wußten.
Bekanntlich konnte sich Majakowski selbst in Gesellschaft mit seinen Texten weiterbeschäftigen – auf der Straße, im Restaurant, beim Kartenspiel, überall. Aber er liebte die Stille und Einsamkeit, genoß sie sowohl in Lewaschowo als auch später in Puschkino, wo er stundenlang durch den Wald streifte. Auf dem Lande fiel ihm die Arbeit leichter, ermüdete er nicht so schnell wie in dem berühmten „Lärm der Stadt“.
Im Herbst hieß es in die Stadt zurückkehren. Da wir völlig blank waren und die Pension nicht bezahlen konnten, verkauften wir dem Maler Brodski ein Porträt von mir, das 1916 von Boris Grigorjew gemalt worden war – ein riesiges, überlebensgroßes: ich, im Gras liegend, und hinter mir so etwas wie ein Feuerschein. Majakowski nannte es „Lilja bei Flut“.2 In Petrograd mietete Majakowski eine kleine Wohnung auf unserer Etage. Die Badewanne stand aus Platzmangel im Flur: Ins Schlafzimmer kamen eine Couch und ein großer, in rosa Plüsch gerahmter Spiegel, den er von Bekannten geliehen hatte.
Meyerhold und Majakowski nahmen die Inszenierung des Mysteriums in Angriff. Die Rolle „Einfach ein Mensch“ spielte Majakowski selbst, und als bei der Uraufführung mehrere Darsteller wegen Krankheit ausfielen, übernahm er auch ihre Rollen. Ich wurde zur Regieassistenz hinzugezogen und studierte mit den Darstellern das chorische Versesprechen ein.
Wie die Mysterium-Inszenierung entstand, ist schon vielfach geschildert worden, daher will ich nicht weiter darauf eingehen.
Majakowski bereitete es bei den Proben Vergnügen, daß die Schauspieler, noch dazu so viele, Texte aus seiner Feder sprachen, und ihm schien, alle spielten großartig.
Er war unendlich dankbar, daß man sich so intensiv mit ihm abgab.
Allgemein glaubt man, Majakowski sei über die Maßen selbstbewußt gewesen. Bei seinen öffentlichen Auftritten war er so gelassen und bestimmt, weil er genau wußte, was er zu tun hatte, nicht jedoch, weil er sich für unfehlbar hielt.
Meyerhold und Majakowski waren bei den Inszenierungsarbeiten regelrecht ineinander verliebt. Majakowski akzeptierte erfreut jede Anordnung von Meyerhold und umgekehrt – Meyerhold jeden Vorschlag von Majakowski. Wahrscheinlich standen sie sich im Weg. Vorgreifend will ich eine Stelle aus Majakowskis letztem Brief an mich zitieren:

Vor drei Tagen war die Uraufführung von Schwitzbad. Bis auf Einzelheiten hat sie mir gefallen, die erste nach meiner Vorstellung inszenierte Sache von mir.

Ich sah diese Aufführung erst nach Majakowskis Tod. Sie gefiel mir gar nicht. Der Text kam nicht über die Rampe. Gut fand ich allenfalls Einzelheiten. Sie war für meine Begriffe schlechter geraten als die von Mysterium oder von Wanze. Meyerholds Geist hatte Majakowski anscheinend blind gemacht. Und umgekehrt – Majakowskis Geist hinderte Meyerhold, sich richtig zu entfalten. Blindlings vertrauten sie einander. Sie zogen an einem Strang – dem der Kunst. Meyerhold machte neues Theater, Majakowski neue Poesie.

In den Hungertagen des Jahres 1919 schrieb ich die „Wirbelsäulenflöte“ mit der Hand ab, und Majakowski entwarf einen Umschlag. Darauf schrieben wir ungefähr dies:

W. Majakowski. „Wirbelsäulenflöte“. Ein Poem. L. Ju. Brik gewidmet. Abgeschrieben von L. Brik. Umschlag von W. Majakowski.

Dieses selbstgebastelte Bändchen brachte Majakowski zu einem Kommissionsgeschäft, es wurde im Nu verkauft und brachte uns zwei Mittagessen ein.
Für den Sommer mieteten wir ein kleines Landhaus in Puschkino bei Moskau. Die Adresse (wie Majakowski sie auch in einer Gedichtüberschrift anführt): „Puschkino, Akulowberg, Rumjanzewsches Landhaus, 27 Werst auf der Jaroslawler Bahn“. Ein einsames Häuschen wie auf Stelzen, so gut wie ohne Garten, dafür mit einer Terrasse, die auf eine weite Wiese blickte. Rechter Hand ein pilzreicher Wald. Wir litten Hunger, ernährten uns fast nur von Pilzen. Als Vorspeise gab es marinierte Pilze, Pilzsuppe oder manchmal eine Pastete aus Roggenmehl, mit Pilzen gefüllt, als Hauptgericht gekochte Pilze; zum Braten hatten wir kein Fett.
Allabendlich setzten wir uns vors Haus auf die Bank und beobachteten den Sonnenuntergang.
Ein Jahr darauf entstand in Puschkino das Gedicht „Sonne“.
Morgens fuhr Majakowski nach Moskau rein, zu seiner Arbeit bei der ROSTA. In der Bahn stand er mit seinem Notizheft oder einem Zettel am Fenster und murmelte vor sich hin, bemüht, sein selbstgestelltes Tagespensum zu erfüllen – soundsoviel Verszeilen für die ROSTA-Plakate.
1919 hatte Majakowski auf dem Moskauer Kusnezki Most ein Satirefenster der ROSTA gesehen und daraufhin den ROSTA-Chef Kershenzew aufgesucht.
Bei der ROSTA arbeitete der Maler Tscheremnych. Er war der Erfinder dieser „Fenster“. Kershenzew schickte Majakowski zu ihm. Sie kamen überein, und statt nur eines Feuilletons oder Gedichtes mit Illustrationen, wie zuvor, erschienen fortan auf jedem Plakat mehrere Zeichnungen mit entsprechendem Text.
Die Plakatproduktion wuchs und gedieh. Tscheremnych wurde zu ihrem Leiter ernannt. Binnen zweieinhalb Jahren hatten sich in vielen anderen Städten Filialen gebildet. Man zog alle nur halbwegs prosowjetischen Maler und Graphiker zur Mitwirkung heran. Ausländer wurden auf dieses Unternehmen neugierig. Einmal kamen Japaner, sie ließen den Dolmetscher fragen, wer hier Majakowski sei, und blickten ihn ehrfürchtig von unten herauf an.
Eines Tages stellte uns Kershenzew einen Mann folgendermaßen vor:

Hier, ein Amerikaner, er interessiert sich für euch.

Majakowski war nicht da, ich kolorierte gerade ein Plakat, das er mir anvertraut hatte, und Tscheremnych und Maljutin, ebenfalls bei der Arbeit, wechselten laut und vernehmlich Bemerkungen etwa dieser Art:

Die kommen und gaffen, halten uns bloß von der Arbeit ab. Ein Greuel, diese Amis! Haben von Kunst keinen Dunst, aber – interessieren sich! He, du Ami, guck mal – das ist Lloyd George!

Er nickte.
„Und das da – Clémenceau. Kapito?“
Er nickte wieder.
Tscheremnych rannte zu Kershenzew. „Schaffen Sie uns diesen Taubstummen vom Hals, mit dem ist kein Reden!“
„Wieso? Er kann perfekt russisch. Es ist John Reed.“
Tscheremnych flüsterte es Maljutin ins Ohr. Der sagte mit Zuckerstimme:
„Mir scheint, ihr Amerikaner interessiert euch gar nicht für Kunst.“
John Reed antwortete in reinstem Russisch, er persönlich interessiere sich sehr für Kunst, besonders für die sowjetische…
Wir arbeiteten pausenlos, bis zur Erschöpfung. Tscheremnych wohnte in der Nähe. Majakowski und ich blieben bis in die Nacht im Studio, ans Telefon ging er.
Eines Abends klingelte das Telefon.
„Ist jemand da?“
„Nein.“
„Kein Leiter?“
„Nein.“
„Auch kein stellvertretender Leiter?“
„Nein, keiner.“
„Es ist also keiner da? Kein einziger?“
„Kein einziger.“
„Hervorragend.“
„Wer spricht denn da?“
„Lenin.“
Damit wurde aufgehängt. Majakowski konnte sich lange nicht wieder fassen.
Dieses Gespräch weiß ich wahrscheinlich deshalb noch Wort für Wort, weil Majakowski es später viele Male zum besten gegeben hat.
Wir waren bei der Arbeit immer sehr vergnügt. Kershenzew liebte uns und freute sich über jedes gelungene „Fenster“.
Zum Zeichnen bekamen wir ganze Rollen ausgesonderten Zeitungspapiers. Wir beschnitten und überklebten die rissigen Ränder. Praktisch! Wenn etwas mißraten war, brauchte man nicht mühselig zu radieren oder zu retuschieren, sondern konnte es einfach überkleben.
Unsere Arbeitsteilung war so: Majakowski machte die Zeichnungen mit Kohle, ich kolorierte, dann gab er ihnen den letzten Schliff. Unser Studio, ein großes Zimmer, war bitterkalt. Wir heizten das Kanonenöfchen, die Burshuika, mit alten Zeitungen und stellten die Farben und den Leim auf ihm warm, die sonst sofort hart geworden wären. Majakowski machte täglich Dutzende Verse zu den verschiedensten Themen. Wir gönnten uns kaum Schlaf. Eines Nachts legte er sich sogar ein Holzscheit unter den Kopf, um nicht zu lange zu schlafen. Tscheremnych zeichnete an die hundert Plakate pro Tag, meistens Häuser. Manchmal schlief er vor Übermüdung mitten beim Zeichnen ein und behauptete anderntags, das Plakat habe sich nach dem Gesetz der Trägheit von selbst vollendet. Manchmal veranstalteten er und Majakowski ein „Wettrennen“. Sie bereiteten je zwölf Bögen vor, ich gab das Startzeichen, sie stürzten mit dem Kohlestift auf ihre Staffelei los und zeichneten um die Wette wobei sie sich nach der durchs Fenster sichtbaren Uhr des Sucharew-Turms richteten.
Die Anzahl der Zeichnungen auf einem ROSTA-Plakat war unterschiedlich, von zwei bis sechzehn.
Für die künstlerische Abteilung gab es einen Sonderfonds. Der Druck von seiten der Maler war so stark daß der Hauptbuchhalter einen Jungen vor seiner Tür postierte, der ihn vor den Malern warnen sollte. Wenn der Junge Majakowski, Tscheremnych und Maljutin anrücken sah, rief er aus Leibeskräften: „Die Maler kommen!“, und der Buchhalter entwischte schnell durch eine Hintertür.
Jede Honoraränderung lief über den Verband. Dorthin brachten Majakowski und Tscheremnych ihre Plakatmuster, und zwar möglichst solche, die nach viel Arbeit aussahen. Etwa eine Fabrik mit unzähligen Fenstern. Um die Wahrheit zu sagen, gerade so etwas war am allereinfachsten, es entstand blitzschnell, mit Hilfe von über Kreuz gelegten Linealen. Aber es machte Eindruck. Die Maler fragten: „Also, was meinen Sie, wie lange braucht man für ein solches Plakat?“
„Drei Tage.“
„Wo denken Sie hin! Allein schon die Fenster, machen Sie das mal – jedes einzelne zeichen!“
Eines Tages kam eine Revision. Sie erklärte, Tscheremnych sei Futurist und müsse umgehend entlassen werden. Majakowski blieb von diesem Verdacht verschont! Er setzte sich heftig für Tscheremnych ein und setzte sich durch.
Immer mehr Maler stießen zu uns, obwohl die Auswahl streng war und nicht nur künstlerischen Kriterien folgte. Einer legte zum Beispiel eine durchaus passable Zeichnung vor – einen Rotarmisten, aber leider mit einem vierzackigen Mützenstern. Majakowski ereiferte sich darüber, machte sich lustig, und der Maler wurde mit Schimpf und Schande davongejagt.
Vervielfältigt wurden die Fenster mit der Schablonenmethode, von Hand. Die ersten Schablonen gingen zu den entferntesten Punkten des Landes, die nächsten zu näher gelegenen. Das Original hing am Tag nach dem Ereignis, worauf es sich bezog, in Moskau aus. Binnen zweier Wochen waren die jeweiligen „Fenster“ in der ganzen Union verbreitet. Eine dazumal selbst für Lithographien unerhörte Geschwindigkeit.
Bald kamen die Aufträge nicht mehr von der ROSTA, sondern von anderen Behörden: von der Politverwaltung, vom Transportwesen, von der Abteilung Kommunalwirtschaft („Schone die Straßenbahn“), vom Volkskommissariat für Gesundheitswesen („Geh zur Pockenimpfung“, „Trinke kein unabgekochtes Wasser“), vom Bergbau.
Als die Bergleute die ersten Plakate von „Macht Vorschläge“ sahen, bemängelten sie, daß die Arbeiter „so rot “ seien, „wie blutbesudelt“. Majakowski fragte: „Welche Farbe wäre euch denn lieber?“ – „Na schwarz zum Beispiel“, war die Antwort. „Da würdet ihr sagen – wie rußbesudelt.“
Sie akzeptierten die roten.
Pädagogen bestellten ein „Alphabet-Plakat“. Tscheremnych machte zwei Entwürfe, aber sie mißbilligten, daß es ein „politisches Alphabet“ geworden war, und zogen den Auftrag zurück.
Der Niedergang unseres Unternehmens begann, als wir der Hauptverwaltung für Politbildung beim Volkskommissariat für Volksbildung unterstellt wurden und es mit Litho-, Zinko- und Typographie zu tun bekamen. Man stellte uns eine Liquidationsfrist, erst von zwei, dann von vier Wochen, dann mußten wir ganz schließen.

In diesem ROSTA-Sommer in Puschkino hat Majakowski auch manches lyrische Gedicht gemacht, meistens,  während er abends am Waldrand oder auf den Wegen der Ortschaft spazierte.
Nicht weit von unserem Häuschen lag eine schöne große Datsche, in ihr wohnten zwei Schwestern, ihre Besitzerinnen. Beide hübsch. Und in ihrer Nachbarschaft, wohl in derselben Straße, wohnte ein bildschönes rothaariges Mädchen. Auf die jüngere der beiden Schwestern und das rothaarige Mädchen sind die beiden Gedichte „Beziehung zum Fräulein“ und „In Heines Manier“ gemünzt. Eigentlich wollte Majakowski einen ganzen Zyklus zu diesem Thema schreiben, aber wir mußten in die Stadt zurück.
In Puschkino ist auch das Gedicht „Skizze eines Lachens“ entstanden. Täglich passierte ein Postzug den Ort, zu ihm kamen „Weiber mit Milch“ und „Bauern mit Lammfleisch“ gepilgert. Majakowski trällerte fortwährend dieses Gedicht – schwülstig, mit reichem Mienenspiel, zu einer bestimmten Melodie, die ich noch heute im Ohr habe.

Wäre es unter den Zug geraten,
welch Pfiff noch hätte genutzt hinterher.
Doch kam ein Bauer mit Lammfleisch daher,
pfiff, und das Weiblein war gut beraten.

Die vorletzte Strophe schmetterte er wie ein „Gloria und Hosianna“.

Zwar aus dem Dickicht des Volkes, doch
ein Retterengel, am hellen Tag wandelnder.
Du, Mittelbauer, mit Lammkeulen handelnder,
sei uns gepriesen und lebe hoch!

In Puschkino haben wir mehrere Sommer verbracht. 1919 hatten wir dort ein kleines Erlebnis, das ich vorgreifend erzählen möchte, weil es in unserem Zusammenleben eine gewisse Bedeutung erlangen sollte.
Wir spazierten an den Grundstückzäunen entlang, labten uns am Duft des blühenden Flieders. Majakowski marschierte mitten auf der Straße und murmelte vor sich hin, er schmiedete Verse, schlug dazu den Takt mit der Hand.
Plötzlich – ein Piepsen zu unseren Füßen. Wir machten erschrocken halt, sahen, daß wir beinahe über ein winziges Lebewesen gestolpert wären. Verwundert beugten wir uns hinab – das schmutzige Fellknäuel stupste mit der Schnauze an unsere Füße und winselte und winselte…
Majakowski, der gedankenverloren weitergegangen war, kam mit zwei Sprüngen zurück, reckte den Kopf über den Zaun und rief den Kindern im Garten zu: „Gehört der Hund euch?“
„Nö!“
„Wem dann?“
„Keinem!“
Mit spitzen Fingern hob er das schmutzige kleine Hundevieh auf und setzte es sich auf die Hand. Wie auf Kommando machten wir kehrt und zogen nach Hause.
Der Hund, ein ganz junger Welpe, war so verdreckt, daß Majakowski ihn mit ausgestreckten Armen trug, damit keine Flöhe übersprangen.
Er hörte zu winseln auf und machte es sich in Majakowskis großen Händen wie in einem Sessel bequem. Majakowski versuchte seine Rasse zu bestimmen und kam zu dem Schluß: „Eindeutig eine dreckige!“
Zu Hause stellten wir den Samowar auf. Nach einer Weile tauchte Majakowski den Finger ins Wasser und sagte: „Gerade richtig!“
Vorm Haus setzten wir unseren Welpen in eine Waschschüssel und badeten ihn. Dreimal mußten wir das Wasser wechseln. Still und brav ließ er diese Prozedur über sich ergehen. Wir trockneten ihn gründlich ab, und Brik nahm ihn mit auf die Bank in die Sonne, damit er trocknete, ohne sich zu erkälten.
Ich stellte ihm ein Näpfchen mit warmer Milch und Brotbröseln ins Gras, tunkte ihn mit der Schnauze hinein, und sofort begann er zu schlabbern, hatte im Nu alles weggeputzt. Ich füllte nach, wieder lehrte er den Napf bis auf den letzten Tropfen. Erst beim drittenmal ließ er ein Restchen übrig.
Wir hatten damals selbst kaum zu essen. Milch war eine Kostbarkeit, das Brot reichte weder hin noch her. Das Hündchen, so stellten wir fest, hatte sich unser ganzes Abendbrot einverleibt. Es war zum Platzen satt. Sein Bäuchlein, kugelrund geworden, schwankte wie eine schwere Fracht, es verlor das Gleichgewicht und plumpste auf die Seite.
Wieder machten wir uns über seine Rasse Gedanken und fanden:

Jetzt ist es eindeutig eine blitzsaubere und satte!

Majakowski taufte unseren Findelhund „Wau“.
An diesem Tag war das Schwimmengehen ausgefallen, aber alle kommenden Tage bis Sommerende sollten wir nun zu viert schwimmen gehen.
Das Flüßchen Urscha, anmutig windungsreich, mit lebhafter Strömung. Die Ufer schattig, das Wasser sonnig. Majakowski schwamm prustend, und Wau kläffte entrüstet hinter ihm her. Er wollte ihm nach, tappte mit den Pfoten ins Wasser, schrak zurück, kläffte aber unermüdlich weiter.
Majakowski winkte, pfiff, rief ihn in allen möglichen Variationen: „Wau!“ – „Wauchen!“ – „Wauwauuu!“ – „Wauwauuiii!“ – „Wauilein!“
Wau konnte sich nicht überwinden. Er sprang los, aber sowie seine Pfoten das Wasser berührten, nahm er in panischem Schrecken Reißaus, flüchtete zu mir und beklagte sich lauthals über sein schlimmes Erlebnis.
„Nicht doch, Wau, he, Wauchen!“ rief Majakowski aus dem Wasser.

Du siehst doch, daß keiner Mitleid hat! Also komm, sei ein Mann! Laß uns wie zwei Männer schwimmen!

Majakowskis rhetorisches Talent war so stark, daß Wau sich plötzlich einen Ruck gab, sich in die Fluten warf und zu ihm hinpaddelte.
Majakowskis „wauische“ Freude war unbeschreiblich.

Leute, seht! Seht alle her! Ein besserer Schwimmer als ich! Daneben bin ich der reinste Wauwau!

Es kam die Pilzzeit, es war ein pilzreiches Jahr. Wir freuten uns darüber – eine kleine Abwechslung und eine willkommene Ergänzung unserer kargen Küche.
Jeden Tag gingen wir in die Pilze, natürlich zu viert. Majakowski legte bei diesen Pilzjagden einen fanatischen Ehrgeiz an den Tag. Dabei kam es ihm nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. Einmal fand er einen Steinpilz von anderthalb Pfund.
Im Chausseegraben wuchsen Champignons. Hier konnten wir unserer täglichen Portion sicher sein, denn die Einwohner und die meisten Sommerfrischler hielten sie für giftig.
Am meisten fielen Täublinge an. Die schmeckten zwar nicht sonderlich gut, waren aber schön anzusehen – farbig und stattlich gewachsen. Es machte uns Spaß, sie zu sammeln.
Später gab es Unmengen Hallimasch. Polja kochte sie, rieb sie klein und dickte das Ganze mit Mehl an. Noch heute spüre ich den würzigen Geschmack dieses Hallimaschbreis auf der Zunge, wenn ich in einem herbstlichen Wald oder durch herbstfeuchtes Laub gehe.
Den Hallimasch legten wir in solchen Mengen ein, daß wir den ganzen Winter davon zehren konnten. Auch Wau schmauste mit vollen Backen, nicht anders als wir.
Einmal gingen wir an dem Grundstück vorbei, wo wir Wau aufgelesen hatten, und die Kinder dort klärten uns über seinen Stammbaum auf. Die Mutter – ein reinrassiger Setter, der Vater unbekannt.
Wau schlug sichtlich nach seiner Mutter. Er hatte ein seidenweiches Fell mit rötlichem Glanz (worüber sich Majakowski nicht genug freuen konnte), drollig lockige lange Ohren und einen dementsprechend zünftigen Schwanz. Nur die Schnauze war dunkel, und seine Körpermaße übertrafen die Setternorm um das Anderthalbfache.
„Desto besser“, meinte Majakowski. „Wir beide sind eben große Menschenexemplare.“
Sie waren sich ungemein ähnlich. Beide mit großen Pfoten und großem Kopf. Beide wetzten, wenn sie aufgeregt waren, mit aufgestelltem Schwanz umher. Beide winselten kläglich, wenn sie etwas haben wollten, und gaben nicht eher nach, bis sie es hatten. Beide konnten sie gegen den erstbesten, der ihnen in die Quere kam, loskläffen, einfach so, der schönen Worte wegen.
Bald nannten wir Majakowski ebenfalls Wau. Nun hatten wir zwei „Waus“ – den „Großen Wau“ und den „Kleinen Wau“. Seitdem unterschrieb Majakowski alle seine Briefe und sogar Telegramme an uns mit „Wau“ oder „Wauchen“.
Später gewöhnte er sich in seinen Briefen an, statt zu unterschreiben, sich als „Wau“ zu zeichnen, manchmal nur mit ein paar Strichen.

(…)

Moskau 1956–1977

Lilja Brik, aus Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen Majakowski und Briefe. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner und herausgegeben von Wassili Katanjan, Verlag Volk & Welt, 1991

 

 

 

 

ANTI-MAJAKOWSKI

Hört her!
Wenn ich meine Bücher
Auf eigene Kosten für das letzte Geld publiziere
Sie selbst durch die ganze Welt herumbuckle
Und an alle kostenlos verteile
Heißt das, dass es irgendjemand etwas nutzt?

Wenn man mir nicht glaubt und unterstellt,
Daran verdienen zu wollen
Wenn ich beim Zoll verhaftet
Und in die Abschiebehaft gesteckt werde
Auf aneinander gerückten Stühlen schlafe
Mit Licht ständig an und einer Kloschüssel am Kopf
Heißt das, dass da etwas dran ist?

Ich habe wohl nicht umsonst gelebt
Wenn in hundert Jahren nach meinem Tod
Ein Einheimischer aus Neuguinea, drauf und dran,
Einen Feind zu töten und zu verspeisen,
Mein Buch aufschlägt und sich doch lieber
Für Sex mit dem Gefangenen entscheidet
Und ihn am Ende entfesselt und sogar freilässt.

Alex Galper
Aus dem Russischen von Natalia Maximova

 

MAJAKOWSKI

Da hat er sich
aus Versehn über den Rand
seiner Reime gebeugt.

Der Samowar sang
um das Mass der Verse
voll zu machen
zweidrei Zeilen weiter.

Doch im Tee schwamm
plötzlich ein ganz anderes Gesicht.

Felix Philipp Ingold

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer +
Internet Archive + Kalliope

 

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zum Autor + Erinnerungen + Tribute +
IMDb + Pennsound + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

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