Wladimir Majakowski: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wladimir Majakowski: Liebesgedichte

Majakowski-Liebesgedichte

WIRBELSÄULENFLÖTE
Prolog

Ein Prost allen,
die mir je gefielen oder gefallen
− verewigt im Seelenschrein Bild an Bild −,
heb ich als edelste von allen Schalen
hier diesen Schädel mit Versen gefüllt.

Immer öfter überleg ich: −
setzt man nicht am besten
den Schlußpunkt mit einer Kugel ins Herz?
Heut geb ich auf jeden Fall
diesen letzten
Abend eines Abschiedskonzerts.

Gedächtnis!
nun schar mir im Saal meines Hirnes
die randlose Reihe meiner Geküßten.
Gieß lachenden Blick unter heitere Stirnen.
Drapier die Erinnerung mit Brautnachtgelüsten.
Laß Leiber vollaufen mit Wohlgefühlen.
Nachklinge die Nacht im Wonnegeheule.
Denn heute will ich mal Flöte spielen
auf meienr eigenen Wirbelsäule

(…)

 

 

 

Nachwort

I
Vom Glück der gefundenen oder vom Unglück der verlorenen Liebe zu erzählen gehört zu den Urmotiven der Lyrik, denn nirgends ist der Mensch privater, intimer und auch verletzlicher als in jener unmittelbaren Beziehung zu einem anderen, und nirgends überschreitet er sich so rückhaltlos und total wie in der Liebe. Aber Liebesgedichte geben in ihrer Art und Weise des Auftritts, ihrer Selbstverständlichkeit oder Verschämtheit, ihrer klaren oder verstellten Sprache immer auch Auskunft über die Umstände ihrer Entstehung. Im Falle Majakowskis nun muß auf diese doppelte Bedeutung gewiß nicht hingewiesen werden, denn es gibt kaum ein lyrisches Werk, in denen die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft, von privater Empfindung und allgemeiner Angelegenheit, von persönlicher und historischer Geschichte dermaßen kenntlich und poetisch durchdrungen sind. Gewiß gibt es das konkrete Liebesgedicht, in dem ein anderer Mensch mit Versen umarmt und festgehalten wird, aber das ist eher singulär. Hier ist das Genre prinzipiell größer und weiter zu fassen und auszudehnen auch auf die Liebe zu einer Idee. Und wenn es etwa heißt:

Es lebe die Revolution,
die baldige, lichte!
Der einzig,
wahrhaftig
erhabene Krieg
von allen Kriegen
der Weltgeschichte

dann ist in diesen affektiv hochstürmenden Versen ein Potential an Leidenschaft enthalten, das bezogen auf einen anderen Menschen kaum größer sein könnte. Oft überschneiden sich die Motive der Liebe innerhalb eines Gedichtes, nehmen hier die Gestalt einer Frau an und dort die einer Sache. Das ästhetisch Problematische an Liebeslyrik ist ja der Versuch, einen einzelnen in der ganzen Tiefe eines Gefühls anzusprechen und es doch so zu tun, daß der Leser, jener Dritte und Fremde im Bunde, nicht zum Voyeur wird. Wie indiskret und hermetisch, von Kitsch und sprachlichem Plunder heimgesucht mag sich da vieles gebärden, was als Liebeslyrik firmiert. Daß sich bei Majakowski selbst in frühester Jugend, die fraglos ein Recht darauf hat, literarisch danebenzugreifen, wenn es um die Bannung starker Empfindungen geht, keine einzige peinliche Zeile finden läßt, beweist die Außerordentlichkeit dieser lyrischen Stimme und die schnelle Reife eines Bewußtseins für Zeit und Geschichte. Wenn er in dem Poem „Wolke in Hosen“, das wir allein seines Umfanges wegen hier nicht mit aufnehmen konnten, eine Frau namens Maria anruft, die gleichsam eine Imagination aller Frauen in einer darstellt, dann sehen wir, wie poetisch abstrakt der Autor von Anfang an das Reale behandelt. Aber wie im Dispositiv dazu gewährt auch niemand einen tieferen Einblick, wie Poesie von ideologischer Inanspruchnahme beschädigt werden kann. Denn auch das muß gesagt sein: die Hymnen der Zukunftsverheißung und einer ins Politische gewendeten Religiosität, wie er sie in den 20er Jahren unter dem Eindruck von Revolution und Gründung der Sowjetunion schrieb, bewegen eine Menge agitatorischen Ballast und sind allenfalls noch ihrer besonderen lyrischen Techniken halber, wie der freien Behandlung des Verses und der Verwendung von Assonanzen, oder ideologiegeschichtlich interessant. Und wenn es gar heißt: „Das Kleine miß stets / am gewaltigen Ziel.“, dann kann es einem heute eigentlich nur noch unheimlich werden. Auch das eine Schnittstelle wie die des Liebesgedichtes, das Innen- und Außenwelt in ihrer Gegensätzlichkeit miteinander verbindet: die Art und Weise der Reaktion auf ein historisch so großes Ereignis, wie die Oktoberrevolution von 1917 eines war. Eine ganze Generation von Dichtern und Künstlern ist von diesem Geschichtsverlauf auf mehr oder weniger tragische Weise mitgerissen worden; ob Sergej Jessenin im Suizid, über den Majakowski etwas belehrend schreibt:

Es gibt noch wenig Lust auf unserm Stern.
Man muß die Freude aus der Zukunft reißen.
In diesem Leben stirbt man leicht und gern.
Bedeutend schwerer ist: das Leben meistern.

um ihm dann nur fünf Jahre später auf ähnliche Art und Weise zu folgen, oder Marina Zwetajewa im Exil, ob Anna Achmatowa in Armut und Isolation oder Ossip Mandelstam in der Verbannung – gescheitert oder doch um die Kraft ihrer Jahre gebracht sind sie alle. Auch Majakowski, der zunächst ein Kind der Revolution war, ehe er eines ihrer zahllosen Opfer werden sollte.

II
Als drittes Kind und einziger Sohn eines Försters wird Wladimir Wladimirowitsch Majakowski am 19. Juli 1893 im georgischen Bagdady geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters durch eine Blutvergiftung und einem Umzug der Familie nach Moskau kommt er mit 14 Jahren ans Gymnasium, wird dort aber, da die Mutter das Schulgeld nicht mehr aufbringen kann, nach nur zwei Jahren wieder entlassen. Er liest marxistische Literatur, sympathisiert mit der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beteiligt sich an politischen Kundgebungen und wird wegen staatsfeindlicher Propaganda mehrmals verhaftet. Und er schreibt seine ersten Gedichte, die allerdings von den Aufsehern einer damals berüchtigten Haftanstalt konfisziert werden. 1912 erscheinen dann „Nacht“ und „Morgen“ in einem futuristischen Almanach. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit Malerei und beginnt ein Studium an der Moskauer Kunstfachschule. Dort lernt er David Burljuk und Welimir Chlebnikow kennen, deren futuristischer Gruppe Gileja er sich anschließt.
Es folgen futuristische Manifeste und der Ausschluß aus der Kunstakademie zusammen mit David Burljuk sowie weitere Repressalien wegen revolutionärer Aufsässigkeit. Die Poeme „Wolke in Hosen“ und „Die Wirbelsäulenflöte“ entstehen, und der Lyriker zeigt sich hier, was Stilsicherheit und poetische Bildlichkeit betrifft, schon ganz auf der Höhe seiner Begabung. Auch thematisch ist bereits alles präsent: die Liebe, die Kritik an jeder Form von Bürgerlichkeit, die Religion – der ein Glaube an die Revolution folgen wird – und die Kunst. Das Neue und Ungewohnte an diesem lyrischen Sprechen ist sein Gestus der rhetorischen Unmittelbarkeit, der Sache und Satz fast als identisch behandelt und zum erzählerischen Langgedicht drängt. Hochmodern auch die Flüchtigkeit des reflektierenden Subjekts und die Verklammerung einander ausschließender Motive. In Abgrenzung zum Symbolismus eines Alexander Blok oder Imaginismus eines Sergej Jessenin entsteht so eine Lyrik, die sich für eine Darstellung des Alltäglichen ebenso eignet wie für den mündlichen Vortrag. Damit ist eine der Struktur nach offene lyrische Form geschaffen, die auch besonders geeignet für Agitation und politische Inhalte ist. In einer anderen, das Wort eher symbolisch konditionierenden Poetik wäre eine solche Instrumentalisierung der Lyrik kaum möglich gewesen. Hier wachsen ein poetisches Selbstverständnis, das zu einer Modernisierung des Metrums und einer eher unmetaphorischen, konkret bleibenden Bildlichkeit führt, und ideologischer Auftrag zusammen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet sich Majakowski an die Front, wird aber zurückgewiesen und arbeitet vorübergehend in einer Petrograder Fahrschule. 1915 macht er die Bekanntschaft mit Maxim Gorki, der zu seinem literarischen Ziehvater wird und einen sicher großen Einfluß auf seine politische Haltung ausübt. Im selben Jahr lernt er die mit dem Literaturwissenschaftler Ossip Brik verheiratete Lilja Brik kennen und verliebt sich in sie. Eine öffentlich beachtete Mènage á trois beginnt, zunächst noch in Petersburg, wo er sich im Palais Royal unweit der Briks ein Zimmer mietet, und ab 1920 in einer kleinen Wohnung in Moskau, die sie sich zu dritt teilen. Ossip Brik wird Majakowskis Verleger, der auch erstmalig das Poem „Wolke in Hosen“ herausbringt, und Lilja Brik seine Geliebte und lyrische Muse, eine Art Beatrice der russischen Literatur. Nun ist viel darüber geschrieben und spekuliert worden, welchen Einfluß diese Beziehung zu den Briks auf sein Werk hat, denn gewiß sind vor allem die frühen Poeme und Gedichte wie „Lilitschka!“ undenkbar ohne die reale Person Lilja Brik. Viel entscheidender jedoch sind die folgenden historischen Ereignisse, die alles vordergründig Persönliche zunehmend verdrängen. Und er begrüßt sie, die Revolution von 1917 und den Sieg der Bolschewiki mit dem ganzen Erlöserpathos, wie es wohl auch in der Zeit lag. Verse wie:

stark und rein
wie noch nie
faßt mein Geist
das große
Gefühl,
das da Klasse heißt!

meinen es vollkommen ernst und sind keine Huldigung wider besseres Wissen. Majakowski schreibt in einer gesellschaftlichen Keimzelle, die noch ganz in ihrer Utopie verkapselt ist und über keine Erfahrungen mit sich selbst verfügt. Nicht unwesentlich für diese ideologische Empfänglichkeit ist auch die futuristische Idee der perfekten Maschine, die den Gedanken des „neuen Menschen“ impliziert und in Verbindung mit den gesellschaftlichen Veränderungen als greifbar nah erscheinen läßt. Schon in dem Poem „Wolke in Hosen“ von 1915 heißt es:

Ich, Verherrlicher der Maschine,
der Techniken von Manchester und Boston,
bin vielleicht im evangelischen Alltags-Sinne
der dreizehnte Apostel.

Revolutionäre Idee und Verherrlichung der Technik, deren Grund in der Absage an einen Gott liegt und diesen zu ersetzen hat, gehen ineinander und lassen ein konstruiertes und idealisiertes Menschenbild entstehen: nietzscheanisch-transzendental auf der einen, heroisch-androgyn auf der anderen Seite der Geschichte. „Schafft eine neue Kunst, / geeignet, / die Republik aus dem Unrat zu heben!“, schreibt er 1921, dem Jahr der ersten großen Hungersnot in Folge katastrophaler wirtschaftlicher Zustände. Doch so sehr er sich auch müht, ein Arbeiter unter Arbeitern zu werden und eine Poetologie verteidigt, die das Schreiben von Gedichten gleichstellt mit der Produktion einer Ware: Er bleibt doch ein Mann des Wortes und damit ein Intellektueller, der sich zu Volksnähe und Einfachheit immer wieder ermahnen lassen muß. Sein Konzept der Proletarisierung von Poesie geht nicht auf: die Sprache verflacht, um verständlicher für die Masse zu werden, bleibt aber noch immer zu sehr Literatur und damit suspekt. Ein unlösbarer Widerspruch und das beginnende Ende der Illusion. Ab 1922 reist er, nach Lettland, Frankreich, Deutschland und in die USA, wo er, ein glühender Verfechter seiner kommunistischen Überzeugungen noch immer und kurzzeitig sogar sowjetischer Vorzeigedichter, Elli Jones kennenlernt. Mit ihr bekommt er eine Tochter, die er allerdings erst 1929 in Südfrankreich das erste Mal trifft. Seine letzte Liebe wird dann Tatjana Jakowlewa heißen, die in einem 1928 verfaßten „Brief an Tatjana Jakowlewa“ auch lyrisch verewigt ist. So sehr nun auch das Ausland ihn feiert, im eigenen Land gerät er zunehmend unter Druck, wird beargwöhnt und bespitzelt und schließlich von der Geheimpolizei systematisch in den Tod getrieben. Seine Komödien „Die Wanze“ und „Das Schwitzbad“, in denen er die Verhältnisse des jungen sozialistischen Staates satirisch aufs Korn nimmt, werden durch Manipulationen der GPU, die Störtrupps in die Vorstellungen schickt, zu Mißerfolgen. Gesundheitlich geht es ihm schlecht, die Freunde und Weggefährten wie Boris Pasternak haben sich lange schon von ihm abgewandt, kurz: von dem Sänger der Revolution ist kaum mehr geblieben als ein Schatten seiner selbst. Und wie er es in einem frühen Gedicht prophezeite, geschieht es: am 14. April 1930 schießt er sich mit einer Pistole ins Herz. In seinem Abschiedsbrief heißt es: „Wie man so sagt, der Fall ist erledigt; das Boot meiner Liebe am Alltag zerschlug.“

III
Jeder stirbt zweimal, einmal physisch und einmal symbolisch. Majakowskis symbolischer Tod lag in Stalins fünf Jahre später geäußertem Bekenntnis: „Majakowski war und bleibt der beste, talentierteste Dichter der Sowjetepoche. Es ist ein Verbrechen, seinem Werk gleichgültig gegenüberzustehen.“ Damit war er für die Sowjetliteratur kanonisiert und für den Sozialistischen Realismus vereinnahmt. Etwas Schlimmeres und sein Bild rezeptionsgeschichtlich Vergröbernderes konnte ihm kaum passieren. Denn Majakowski, der mindestens ebenso zersplittert war wie die Zeit, in der er wirkte, war von nun an etwas holzschnittartig der Barde der Arbeiterklasse und Sprachrohr der Revolution. Daß sich hinter dieser extrovertierten Schablone ein überaus verletzlicher Mann verbarg, wissen am ehesten die, von denen in den Liebesgedichten mal direkt, mal indirekt die Rede ist: die Frauen, die er oft genug unglücklich liebte. Sicher war er in einer Phase seines Lebens ein Irrläufer. Aber wollen wir auch nicht verkennen, daß die historischen Umbrüche von einer Un­abweislichkeit waren, der sich keiner entziehen konnte. Entweder er wurde im Strudel der Ereignisse mitgerissen und ging darin unter, oder er übernahm eine Rolle (− und ging in dieser dann ebenfalls unter). Für ein lyrisches Temperament, wie Majakowski eines war, gab es da im Grunde keine Alternative. Nun ist Kunst immer auch eine kollektive Verabredung darüber, was Kunst ist oder werden kann, und damit ist sie an die Bedingungen ihrer Zeit gebunden. Im Falle Majakowskis waren die Bedingungen eher so, daß sie die Kunst, seine Kunst, schnell verbrauchen mußten. Mit einer Idee verschmolzen zu sein, die zur Ideologie geworden ist und eine politische Exekutive besitzt, ist natürlich in sich schon paradox – jedenfalls für einen Dichter, der nur aus der Freiheit seiner Sprache schöpfen kann. Am Ende war er es selbst, der aufs schärfste gerade deswegen mit sich ins Gericht ging, wenn er schrieb: „Auch mir / wächst die Agitpropkunst / zum Halse heraus“. (…) „Doch ich / bezwang mich, / trat / bebenden Hauchs / dem eigenen Lied / auf die Kehle.“ Kürzer und treffender könnte man kaum zusammenfassen, wie missionarischer Eifer mit Selbstverzicht gepaart zur existentiellen Tragödie werden. Was also bleibt, ist die Poesie hinter dem Bekenntnis, und da haben wir doch eine ganze Menge an Gedichten, denen der Verfasser nicht in pragmatischer Absicht „auf die Kehle“ getreten ist. Und es sind, dieser Band möge es bestätigen, vor allem die Liebesgedichte.

Kurt Drawert, Nachwort

 

„Die Liebe ist das Leben,

ist das Wesentliche. Aus ihr entfalten sich die Verse, die Taten und alles Übrige. Die Liebe ist das Herz des Ganzen.“ So sind nicht nur die Gedichte, die Wladimir Majakowski an und über Frauen schrieb, sondern auch seine Revolutionsgedichte als Liebesgedichte zu lesen. Mit seinen leidenschaftlichen politischen Werken gilt er als poetischer Wegbereiter der Sowjetunion, jedoch bleibt auch diese ideelle Liebe, wie die meisten seiner weltlichen, nicht ohne Enttäuschungen. Seine wohl schönsten Poeme sind Lilja Brik gewidmet, der Frau seines Verlegers Ossip Brik. Seit der ersten Begegnung 1915 bis zu seinem Tod verbindet ihn eine dramatische Liebe zu ihr.
Nach einem bewegten Leben begeht Wladimir Majakowski 1930 im Alter von nur 37 Jahren Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief schreibt er: „Lilja, liebe mich… Wie man so sagt, der Fall ist erledigt, das Boot meiner Liebe ist am Alltag zerschellt…“

Insel Verlag, Klappentext, 2008

 

Brief an Majakowski

Lieber Wladimir Wladimirowitsch Majakowski, erinnern Sie sich? Hatten Sie kurz vor 10 Uhr am Morgen des 14. Aprils 1930 zu viel Wein getrunken und zu wenig geschlafen? Oder waren Sie traurig, dass Tatjana Jakowlewa in Paris nicht Sie heiratet? Derzeit waren Sie in die 20-jährige verheiratete Schauspielerin Weronika Witoldowna Polonskaja verliebt, und Sie flehten sie an, sie dürfe Sie nicht verlassen. Sie drohten ihr, sich zu erschießen, wenn sie fortginge. Weronika musste zur Probe, außerdem wartete vielleicht ihr Ehemann Michail Janschin auf sie. Sie ging fort. Im Treppenhaus hörte sie einen Pistolenschuss. Danach begann Ihre Zukunft, aus der ich Ihnen diesen Brief schreibe. Wladimir Majakowski ist tot. Zuerst kam die Geheimpolizei (damals hieß sie GPU, Staatliche Politische Verwaltung) mit einem Gerichtsmediziner, der Ihnen gleich den Schädel einschlug und das Gehirn wurde sofort ins Institut Mosga (Hirn-Institut), das es in Moskau nach wie vor gibt, abtransportiert, bevor ihre Freunde Sie sehen durften. Bald jährt sich Ihr 78. Todestag. Der 14. April jeden Jahres ist für mich ein trauriger Tag und an diesem Tag bleibe ich lieber allein, niemand darf mich stören. An diesem Tag denke ich besonders intensiv an Sie, an Ihr poetisches Werk. Nein, ich bin keine Frau, Wladimir Wladimirowitsch, keine Verehrerin, keine „phosphoreszierende Frau“, die in Ihrem letzten Drama „Das Schwitzbad“ die Sowjetmenschen zum „Ersten Zeit-Express zur Raumstation im Jahr 2030“ begleitet. Ich bin ein Lautdichter und stamme aus der ehemaligen Sowjetunion, ich lebe seit 30 Jahren in Deutschland und halte ab und zu Vorträge über Ihre „futuristische Zeit“. Und wir schreiben heute noch nicht 2030, sondern erst 2008. Wir leben nicht in einem „kommunistischen Zeitalter“. Sind Sie enttäuscht? Unser Sowjetreich zerfiel Ende 1991. Das hätten Sie ja wohl nie gedacht, oder? Ich auch nicht. Es ist beruhigend, dass es passiert ist, sonst hätten wir einen dritten Weltkrieg bekommen und das 21. Jahrhundert wäre uns erspart geblieben. Sie sind für mich ein Rätsel, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Ich liebe Sie als Dichter, aber ich verstehe Sie nicht als Mensch, als Persönlichkeit. Oder war mein Dichter Majakowski ein Januskopf? Ihre Worte sind in meinem Blut, da ist nichts zu machen. Sie sind ein Sprachrevolutionär, Sie haben die russische Syntax aus dem Gefängnis befreit. Andererseits waren Sie, als Adliger (ich denke an Ihre adelige Familie) mit Herz & Seele auf der Seite der so genannten bolschewistischen Revolution. Hat das Proletariat irgendwann Ihre Poesie geliebt? Ich habe da ganz schlimme Erfahrungen. Als achtzehnjähriger Arbeiter hatte ich Ihre Verse dem Proletariat vorgetragen, das mich zynisch, höhnisch auslachte. Was heißt das, „Proletariat“? Bei Friedrich Engels fand ich zufällig einmal diese Erklärung: „Proletariat ist diejenige Klasse der Gesellschaft, welche ihren Lebensunterhalt einzig und allein aus dem Verkauf ihrer Arbeit und nicht aus dem Profit irgendeines Kapitals zieht.“ Na ja, dann bin ich auch „Proletariat“. Nichts fand ich langweiliger als die Werke des Marxismus-Leninismus zu studieren. Aber es war Pflicht an der Universität, wir mussten sie pauken. Ich habe es trotzdem nicht gemacht. Ich erinnere mich nur an den ersten Satz aus dem Manifest der kommunistischen Partei: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Mit dem Gespenst hatte er Recht.
Der arme Karl Marx! Hätte er etwas von den Falsifikationen und Plagiaten erfahren, dann hätte er sich vielleicht ganz seiner Dichtung (er schrieb als junger Mann Gedichte) gewidmet.
Lieber Wladimir Wladimirowitsch, Sie haben mich vor 40 Jahren mit Ihrem „poetischen“ Kommunismus so beeindruckt, dass ich daran glauben wollte. Kurz danach musste ich als Rekrut in die Reihen der Sowjetarmee und ich wundere mich bis heute darüber, dass ich in den zwei Jahren überhaupt am Leben geblieben bin.
Zum letzten Mal waren Sie in Paris vom 12. März bis Ende März 1929. Und was haben Sie Ihrem Freund, dem Maler Juri Annenkow, der schon seit Jahren in der Emigration lebte, über Ihren seelischen Zustand erzählt? Sie waren betrunken, Sie haben wie ein Kind geweint, Sie baten ihn, Ihnen ein bisschen Geld zu geben. Sie sagten zu ihm, Sie seien kein Dichter mehr und kehrten deshalb in die Heimat zurück. Aber das ist nicht das Thema meines Briefes. Wissen Sie, ich bin in der Zukunft, aber verstehen kann ich nur die Vergangenheit. Bei uns, zu Anfang des 21. Jahrhunderts habe ich keine richtigen Zukunftsvisionen.
Wenn man kerngesund ist, kann man für ein paar Millionen Dollar einen Fahrschein ins Weltall kaufen. In der Schule, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, haben wir ein Lied mit dem Refrain „Auf dem Mars werden die Apfelbäume blühen“ gesungen. Aber niemand träumt heute davon, eine Datsche auf dem Mars zu erwerben. Vom Kommunismus redet auch kaum jemand. Die Imperialisten aller Welt haben sich vereinigt. Die USA, Russland und die EU, das ist die Union der europäischen Staaten. Die Chinesen sehen zwar rot aus, aber das ist nur die Fassade. Sie führen sich kapitalistischer als die Kapitalisten auf und behaupten, dass sie noch in der ersten Phase des Kommunismus stecken würden.
68 Jahre nach Ihrem Selbstmord, 1998 (Haben Sie sich selbst erschossen oder war es jemand von der GPU? Organisiert von Ihrem „besten Freund“, Kommissar der Staatssicherheitsdienstes Jakow Agranow?) erschien in Russland ein Buch von Walentin Skorjatin mit dem Titel Das Geheimnis des Todes von Wladimir Majakowski. Daher meine vorsichtige Frage: Nach Ihrem Tod begann die größte Tragödie des russischen Volkes. Wahrscheinlich begann diese Tragödie schon ein paar Jahre vor Ihrem Tod. Erinnern Sie sich an die ersten sowjetischen Konzentrationslager? Im Ort Solowki befand sich das erste „Muster-KZ“ des Jahres 1923. Sie haben davon bestimmt gewusst, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Einige Jahre nach Ihrem Tod verwandelte sich unser Land in einen gigantischen GULag. „GULag“ heißt „die staatliche Lagerverwaltung“. Die meisten Ihrer Freunde und Dichterkollegen wurden auf bestialische Weise umgebracht. Von Sergej Tretjakow, Isaak Babel, Wsewolod Meyerhold, Igor Terentjew, Daniil Charms bis Ossip Mandelstam und Benedikt Liwschiz. Bis 1953 – in diesem Jahr starb Josef Wissarionowitsch Stalin, der „beste Freund aller Sportler und aller Werktätigen der Welt, der beste Sprachwissenschaftler der Welt“ – herrschte im Lande die unerhörte Tyrannei und Inquisition, Ketzerverfolgung. Wie im Mittelalter.
Niemand durfte mehr ausreisen (nicht nur Sie nach dem März 1929), und statt der Diktatur des Proletariats gab es nur die stalinistische Diktatur der Zensur und des Terrors. Alle, die am Leben bleiben wollten, mussten die unzähligen Paraden und andere pompöse Feste mitmachen. 11 Jahre nach Ihrem Tod hat das Nazideutschland die Sowjetunion angegriffen. Zwei Jahre vorher, 1939, haben Stalin und Hitler einen Nichtangriffspakt besiegelt, Polen besetzt und unter sich aufgeteilt. Der Name „Hitler“ sagt Ihnen kaum etwas, aber dafür der Name des Faschisten Mussolini. Über 20 Millionen Sowjetbürger kamen ums Leben. Europa wurde zu einem Schlachtfeld und zu einem Konzentrationslager. Hitler und Stalin waren zwei Schnurrbartmänner. Ich weiß, Sie, Wladimir Wladimirowitsch, haben über die Männer mit dem Schnurrbart immer gespottet. War es nicht „Genosse Stalin“, ein Hauptbürokrat, Sie gaben ihm den Spitznamen Pobedonossikow (Siegesnäslein) in „Das Schwitzbad“? Klar war diese Figur Stalin. Sie haben sich rechtzeitig umgebracht, mein Lieblingsdichter. Stalin verstarb erst 1953. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter, eine litauische Frau aus dem GULag, weinte. Wie alle Sowjetbürger. Vielleicht vor Freude. Nach dem Tod von Stalin schien das Land tief ein- und auszuatmen. Es kamen die anderen Parteisekretäre im Kreml an die Macht, zuerst war es Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Sie können sich an ihn nicht erinnern, Stalin holte diesen dicken Mann aus der Ukraine im Jahre 1938 in sein Politbüro. Aus dem ehemaligen ZK der „Lenin-Partei“ gab es zu Stalins Zeiten niemanden mehr. Semjon Mironowitsch Kirow, der 1. Parteisekretär in Leningrad wurde 4 Jahre nach Ihrem Ableben ebenfalls umgebracht. Aber was heißt „Lenin-Partei“? Ich weiß, Lenin war Ihre Ikone, lieber Wladimir Wladimirowitsch. Das einzige Bildchen in Ihrem Arbeitszimmer. Für Lenin war Puschkin wichtiger als Sie, aber es war Ihnen egal. Lenin war Ihr Idol. Und als Lenin starb, gab es auch seine Partei nicht mehr. Das las ich in Ihren Gedichten. Ich vermute, Sie hatten schon etwas gegen den Stalin als Parteisekretär, denn Ihre Jubiläumsausstellung „20 Jahre Arbeit“ im Jahre 1929 wurde nicht gestattet, weil die ganze Sowjetunion und die „ganze progressive Welt“ den 50. Geburtstag des „Lieblingsgenossen“ Stalin feierte. Außer Ihnen. Sie wollten sich feiern lassen, es ging nicht mehr. Ihre Freunde haben Sie im Stich gelassen. Oder umgekehrt?
Vielleicht war es nicht die Liebe, sondern die Politik, an der Sie scheiterten? Wie konnten Sie vergessen, dass die Poesie mit der Politik nichts zu tun haben darf. Und die Liebe? Wer war diese lästerliche Frau, diese Lilja Brik? Eine aus der GPU? Sie kommandierte Sie herum, wie sie wollte. Sie, den „großen proletarischen Dichter“, Sie waren nur ein Hündchen für sie. Davon zeugen Ihre Signaturen und Zeichnungen in den Briefen an sie. Der große Dichter hockt wie ein kleines Köterchen vor ihr. Wau! Aus Paris brachten Sie ihr ein Auto der Marke Renault mit, aus dem KDW, dem Kaufhaus des Westens in Berlin Klamotten, Süßigkeiten, Parfüms. Na und, Sie haben Lilja geliebt. Lilja hat mit anderen Männern geschlafen. Sie haben sie die letzten 7 Jahre platonisch geliebt. So was gibt es auch in der Liebe. Leider hat Sie Lilja Brik zu früh versklavt.
Lilja Brik starb im Jahre 1978. Sie hat sich umgebracht. Bis in die tiefsten Lebensjahre hatte sie immer wieder Liebhaber. So eine „Nastassja Filippowna“. Sah sie in Ihnen einen neuen Fürsten Myschkin? Jetzt ist es ruhig geworden in der ganzen Welt, was die Weltrevolutionen betrifft. Nach dem 2. Weltkrieg kam es dann zum Kalten Krieg zwischen dem „Warschauer Pakt“ (so hieß ein Bündnis der Sowjetunion mit den osteuropäischen Ländern, die von der Roten Armee zuerst befreit und anschließend besetzt wurden) und der NATO, einem eigenen Bündnis der USA mit den westeuropäischen Ländern. Europa wurde in Ost und West eingeteilt. Den Untergang des russischen Kommunismus haben wir dem Generalsekretär Michail Gorbatschow zu verdanken. Er war auch ein naiver Kommunist, aber ein selten herzlicher Mann. Wladimir Wladimirowitsch, Sie sind der beste russische Liebeslyriker des 20. Jahrhunderts geblieben. Ihre Gedichte gehören zur Pflichtlektüre in den russischen Schulen. Ob es immer gut ist, das weiß ich nicht. Ihre Texte werden vertont und daraus wird purer Kitsch erzeugt. Ihnen wäre übel geworden, hätten Sie sich so was angehört. Im neuen russischen Borniertheit-Kapitalismus ist alles möglich, nur keine neue Revolution. Die Zeit vergeht. Die Menschen interessieren sich für alles Mögliche, aber immer weniger für die Poesie. Hören Sie zu, war es in Ihren heldenhaften Zeiten irgendwie anders? Davon bin ich nicht mehr überzeugt. Ihr Lenin war wirklich ein „deutscher Spion“. Schon zu Ihren Lebenszeiten munkelte man davon.
Jetzt muss ich aufhören, Ihnen zu schreiben.
Ich kann Ihnen nichts mehr erzählen. Wissen Sie, warum? Weil Sie außer Ihrer Dichtung und Ihrer Lilja Brik nichts mehr im Leben geliebt haben. Auf der Bühne waren Sie ein Herr, ein Wortmeister und ein überheblicher und eitler Kerl. Im Leben waren Sie ein erbärmlicher Lover und Kackstiefel, Schürzenjäger, Weintrinker und Kartenspieler. In Ihrem „Testament“ schrieben Sie: „An Alle. […] bitte kein Gerede. Der Verstorbene hasste das.“ Es wird nach wie vor über Sie getratscht, über Ihre Frauen. Ich hoffe, mein Brief hat mit dem Gerede nichts zu tun. Wir Menschen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts leben rasant schnell. Jeder und jede Nachricht ist im Nu da, auf dem Schreibtisch in einer kleinen elektronisch rechnenden Maschine. Aber ich will darüber meinem anderen Lieblingsdichter schreiben. Können Sie sich nicht an den jungen Dichter aus Leningrad erinnern, an Daniil Iwanowitsch Juwatschow? Er wollte mit Ihnen eine literarische Angelegenheit besprechen. Sie hatten keine Zeit für ihn. Er wechselte mit Ihnen ein paar Worte auf der Bühne (oder war es in Ihrer Garderobe?), und dann ging er, Daniil Charms.
Übrigens starb Charms 12 Jahre nach Ihrem Tod in einer psychiatrischen Klinik der GPU. In Deutschland sind seine Werke zurzeit sehr beliebt.

Ich verbleibe, für die Ewigkeit. Ohne Pathos.

Valeri Scherstjanoi

Valeri Scherstjanoi, aus: Valeri Scherstjanoi & Hartmut Andryczuk: Briefe aus der Zukunft, Hybriden-Verlag, 2008

Wladimir

Das muß nicht sein, sagte er. Es ginge auch anders. Was? sagte ich. Er stand abseits vom Besucherstrom, quitt mit sich selbst. Der Futurismus der Stunde. Oder lieben Sie Vitrinen? Er fragte unverfroren nach meinem Geschick. Es gibt schon das eine und andere aufzuarbeiten, sagte ich mit Blick auf die Gesamtausstellung. Nichts gegen Privatdrucke, in russischen Broschüren bewege ich mich besonders gern. Trotzdem. Er war ganz zufrieden. Krutschonych 1914, Malewitsch 1916, der brüllende Parnaß, und wie sie alle heißen, unbeschädigt unter Glas. Sie lieben? Ach so, sagte ich, historisch ja.
Wir standen am Kanal. Das Wasser hatte zwei Farben und eine Strömung, die keine Schlüsse zuließ. Unzielstrebig, ergänzte ich. Ich liebe, was ich nicht weiß. Er vergrub seine Hände in den Jackentaschen. Das Übliche, sagte er. Frau bekennt keine Farbe. Sie blicken verstört.
Ich? Er suchte nach meinem Spiegelbild. Die futuristischen Lückenbüßer bringen Sie in eine retrograde Abhängigkeit, mieten Sie einen Palast.
Palast, sagte ich. Urteilen Sie selbst.
Er strich mir über die ausgebeulten Jeans. Ein Strohhut, und Sie wären die schönste Wolke in Hosen.
Bitte, sagte ich. Bitte treiben Sie mich nicht in die Enge Ihrer Vorstellungen. Gäbe es einen Anti-Kanal, dann.
Er protestierte gegen die Schwundform. Er nannte die Farben des Kanals: grau, grün. Da können Sie nichts dagegen haben. Auch die Menge steht Ihnen frei.
Während ich seine Hand aus der Jackentasche zog, gingen mir etliche Palastreformen durch den Kopf. Nichts anderes verband ich mit Palästen.
Na und? fragte er.
Wie wärs mit einem Kaffee, sagte ich.
Die Bar hatte fünf Spiegel und ein leuchtendes Sortiment von Flaschen. Wir lehnten an der Theke. Die futuristische Bewegungshysterie, sagte er, der Geschwindigkeitswahn.
Sehen Sie diese Cinzano-Reklame an.
Schrift sagte ich. Zum Stillstand gebracht.
Er musterte mich mit einem schrägen Blick, der einem Vogel, einem Insekt, einer Hure gelten konnte.
Blaurot sagte ich. Unverfänglich.
Er schlürfte den Milchschaum vom Kaffee. Genau das, die Stille zwischen den Lettern.
Mit einem Mal ahnte ich, wohin es ihn trieb. Meister, sagte ich zaghaft, der Zwischenräume.
Bleiben wir bei Cinzano. Sie bestellen ihn mit Eis, ich ohne.
Er legte seine Hand auf meine Schulter. Im übrigen haben Sie recht.
Vielleicht besser einen Grappa, sagte ich.
Sie?
Anzüglich sei er nie, gegen futuristische Anfechtungen gefeit im Unterschied zu. Ich weiß schon, sagte ich. Ich kenne Ihre Sorte.
Am liebsten hätte ich ihn zum Teufel geschickt. Falls Sie mir die Zukunft verbieten, paktiere ich mit ihr!
Er bekam einen Häftlingsblick und zitierte Majakowskij, anno 30.
Was solls, sagte ich.
Die Zukunft hat ihn das Leben gekostet.
Sie meinen die Liebe.
Ich zerrte ihn aus der Bar. Wir liefen durch Gassen und über Brücken, ich gönnte ihm keinen Stillstand. Zum Ghetto, rief er, oder ich beschließe diese sentimentale Reise in einem Kanal. So bekennt man Farbe, spottete ich. Ich war ihm weit voraus. Als stünde mein Leben auf dem Spiel, eilte ich in die angegebene Richtung, ins Abseits der Besucherströme.
Auf einem Platz hielten wir keuchend inne. Baumlos, sagte er, unfuturistisch einsam. Nichts störte mich an der Szenerie als sein dandyhafter Sakko. Wir setzten uns auf eine Bank. Ich trommelte eine Melodie aufs Holz, er war in Gedanken weiß Gott wo. Ich trommelte weiter. Stimmt, sagte er. Schleife Schreie zu Zeilen bis in den Morgen wie ein halbirrer Juwelier. Was stimmt? fiel ich ihm ins Wort. Der Rhythmus, sagte er. Auch dieses Platzes, der ursprünglich kein Platz gewesen ist. Sondern? Synagoge plus Vorplatz, wenn Ihnen das genügt. Er hatte historische Auskünfte parat, doch darum ging es nicht. Ich suchte ihn jenseits des Zitats. Da wo er mich haben wollte.
Mit einer Runde kommen wir nicht weit.
Wie weit wollen Sie denn kommen?
Es gab drei schüttere Neuanpflanzungen auf dem Platz, den man ruhig baumlos nennen konnte: Bis zu jener Gerte und zurück.
Weil das Elend der Gegend so anrührend ist?
Ich ging zwei Schritte hinter ihm, das Karomuster seines Sakkos fing zu flimmern an, ich hob den Kopf und sah über mir einen Arm, der ein schwarzes Staubtuch ausschüttelte. Wie ein Neuanfang, skandierte ich, mit arabischen Ordnungszahlen. Wir liefen nicht um die Wette. Erstens, dachte ich, läßt die Öde dieses Platzes nur Hoffnung zu. Zweitens versteh ich mich aufs Warten. Drittens braucht jedermann einen Menschen mit klarem Kopf. Wir gingen nun auf gleicher Höhe. Überlegen Sie mal, sagte er, wer 1930 sein Gesicht verloren hat, Majakowskij oder das Heer der schreibenden Bürokraten. My goodness, sagte ich. Teures Miezilein, klingt das nicht hübsch?
Ich ergriff seinen Arm, vertrauensvoller konnte man nicht sein. Die Bürokraten, sagte ich. Etwas verbindet sie mit der Menge.
Auf dem Ghettoplatz schilderte er, wie Majakowskij mit großen Schritten (Schnitten) aus der Unliebe floh, während das „allmenschliche Dickicht zu handeln begann“. Das Hündchen in ihm sei Liljas Kreatur gewesen. Ein melancholischer Kläff. Auch das Hündchen habe sich davongemacht.
Heißen Sie Wladimir?
Wie kommen Sie drauf?
Aus Sympathie.
Das Wort fiel zufällig, mitten auf dem Platz. Über den Sand huschte der winzige Schatten eines Vogels, das Risiko des Todes, überlegte ich, fand er in jeder Frau. Es gab für ihn nicht „Verlust plus noch etwas“, sondern aus. Ex, sagte ich laut.
Natürlich drehten wir noch weitere Runden, ohne Majakowskij. Aus einem Haus kam ein Kind gerannt mit einer weißen Satinschleife im Haar, auf einem Bein hüpfte es vor uns her, eine einzige Lockerungsübung.
Klar, sagte er, Sie sehen das völlig richtig.
Mit dem Kind hätte ich gern Freundschaft geschlossen. Durch meinen Kopf schoß der Gedanke: diese kleine Anita sitzt vor einem gesprungenen Spiegel und beweint den Verlust ihres Vögelchens. Verstört blickt sie auf das zerrissene Kleid, der Spiegel hat es kaputtgemacht, auch das noch. Ein vornehmeres Haus mit ghettomäßiger Stiege.
Er heiße nicht Wladimir. Ob ich denn Anna hieße.
Wie kommen Sie drauf?
Aus Verzweiflung.
Fast hätte ich gesagt, sprechen wir vom Wetter. Seine Hand war in meiner Hand, nicht darum ging es. Er heischte. Der Zirkelschluß ist der, daß das fremde Malheur fürs eigene stehen soll. Also Anna hilf. Anna war begierig, nicht Anna zu sein.
Abgemacht? sagte ich.
Präsentieren Sie mal.
Ich ist jedesmal eine andre, Sie werden mannigfach beglückt, und das Ganze endet nicht programmatisch im Sumpf, zum ersten.
Zum zweiten? fragte er kleinlaut.
Setzt jeder die Grenzen selbst, sportlich, dieses Kind kommt auf fünfzig Sprünge im Sonntagskleid.
Ob das Hauptsachen seien. Ich verneinte. Momentbilder, wie sie uns anstehen. Das Momentane fortzu.
Ich bin für einen Kaffee, sagte er.
Eine letzte Runde noch.
Wir landeten in einer Stehbar. Ich war nicht bei der Sache, das heißt meine Gedanken bewegten sich zwischen Satin und Sakko, während er Majakowskijs Sehnsucht beschrieb: Mein teures, geliebtes und liebes Lilikind, kein einziger Brief von Dir, Du bist jetzt kein Kätzchen mehr, sondern ein krummer Kauz. Etc. Am 21. steche ich in See. Ganz dein mexikanischer Kläff.
Rührend, sagte ich. Und was hat das mit mir zu tun?
Pssst, machte er. In den Weltraum stechen!
Irre.
Ich sah durchs Fensterkaro auf ein gelbes Ghettohaus. In Wirklichkeit hörte ich auf meinen Herzschlag.
Wann bin ich dran?
Bald, teures teures Fuchskindchen.
Als wär ich in einem russischen Buch gefangen. Als könnte man Liebe mit Katzenkosenamen und ähnlichem herbeizitieren.
Der Kanal war schwarz. Die Siebenuhrdämmerung fiel als Nacht in die Gassen. Wladimir ließ nicht von mir ab. Warum sollte er.
Sie begreifen natürlich, daß man als gebildeter Mann nicht ohne Sie leben kann. Majakowskij?
Originalton, sagte er.
So haben Sie mich um den Futurismus gebracht, den Zweck meiner Reise.
Bedaure, sagte er, aber mir ist Ernst.
Ich weiß nicht, wie lange wir durch die Stadt liefen. Es war himmlisch, mit einem Hagel ordinärer Anfechtungen. Ich bin ein Krokodil. Wenn die Liebe fett wird, wird sie zur Gleichgewichtsstörung. Beängstigend, wenn zwei Liebende entscheiden müßten, ob sich die Apokalyptischen Reiter auf den Weg machen sollen oder nicht. Keine Enteignung. Die Liebe erstickt nicht in persönlichen Ambitionen, sie ist das Medium des Erstickens selbst. Ich bestimme über mein nacktes Leben. Antiliebe – der Standpunkt des Opfers (?). Als Liebesdissident bin ich ein selbstzerstörerischer Halbnarr, der andere ins Unglück stürzt. Ein paar Katzensprünge werden noch nötig sein. Keinen Bilderroman liefern, nein. Selbstverwaltung. Es gibt einen Smog der Sympathie, der jeden Klarblick (weitestgehende Skepsis) trübt. Weder draußen noch drinnen, weder hier noch dort: Niemandsland. Fehlende Solidarität macht mich zum fahrenden Ritter. Wo beginnt mein Notstand, wenn nicht hier. Ich könnte mir auch ein Weltbündnis vorstellen der beharrlichen Narren. Die Liebe zerstrahlt den gesunden Menschenverstand. Gib auf. Das Tier im Menschen nutzt jede Gelegenheit. Leb mit einem Wellensittich. Zumindest so tun, als wäre der Status quo die friedlichste aller Möglichkeiten. Würde lieber das Subjekt des eigenen Schicksals sein. Eine entschlossene Junggesellin (dreist?), was hat das mit Giftnudel zu tun. Die Liebe muß auf ihren Platz verwiesen werden. Zwei Menschen – lächerlich.
Wir saßen am Kanal und ließen die Füße ins Wasser hängen.
Ich – Kommunist und Bär, murmelte Wladimir, heute bereits durch Fehlleistungen und Übereifer desavouiert.
Macht nichts.
… Suchte die schmächtige, feingliedrige, rothaarige, großäugige Frau, um Pläne zu schmieden und zu polemisieren.
Bitte, sagte ich. Bei mir gibts Bouletten und intensive Interieurs.
Außer uns vor Leidenschaft beschlossen wir, niemals auseinanderzugehen.

Ilma Rakusa, Schreibheft, Heft 28, November 1986

Erinnerungen

(…)

In einem Brief an mich erwähnt Majakowski das Gläserne Auge. Dies ist ein Studiofilm, den ich zusammen mit dem Regisseur W.L. Shemtschushny gemacht habe – eine Parodie auf den damals die Leinwände überschwemmenden kommerziellen Spielfilm und zugleich Agitation für den dokumentarischen Nachrichtenfilm. Sein Thema gefiel Majakowski sehr, entsprach ganz seinen eigenen Vorstellungen. Anschließend schrieb ich ein Drehbuch mit dem parodistischen Titel „Liebe und Pflicht oder Carmen“. Sein erster Teil war bereits der ganze Filminhalt. Die anderen Teile sollten vermittels Schnitt und Montage (damals gab es den Tonfilm noch nicht) zueinander jeweils in Widerspruch geraten, wobei kein einziger zusätzlicher Filmmeter gebraucht worden wäre. 

1. Teil (das Hauptstück): In einem ausländischen Filmstudio wird ein neuer Leinwandrenner mit dem Titel „Liebe und Pflicht“ abgedreht.

2. Teil: Das Verleihbüro beschließt, den Film für die Jugend „ein wenig“ umzuschneiden.

3. Teil: Der Film wird für die Sowjetunion umgeschnitten.

4. Teil: Für Amerika wird ein Lustspiel daraus gemacht.

5. Teil: Der Filmstreifen erträgt dies nicht länger, er revoltiert, und die Filmrollen rollen ins Studio zurück, um sich löschen zu lassen.

So in dieser Art etwa. Das heißt, abermals eine Parodie auf das triviale, prinzipienlose, gleichgültige, antikünstlerische Filmwesen.
Ich bin hier deshalb so ausführlich geworden, weil Majakowski dieses Vorhaben sehr begrüßte. Er lobte mein Drehbuch über den grünen Klee und äußerte Interesse, die Hauptrolle zu spielen. Im ersten Teil ist es ein Staatsanwalt, der sich als Apache verkleidet, um Schmuggler auf frischer Tat zu fassen. Im zweiten ein Mann, der ein Doppelleben führt. Im dritten ein alter Revolutionär, der sich zu konspirativen Zwecken als Apache verkleidet.
Im vierten (dem für Amerika gedachten Lustspiel) ein Staatsanwalt, der die Kleider mit einem Apachen tauscht, um seinen amourösen Abenteuern nachzugehen.
Majakowskis Beifall gab uns Auftrieb, und wir beschlossen, den Film gemeinsam zu drehen – Majakowski, Brik, die Kirsanows, Assejew, Krutschonnych und ich. Die Ausstattung sollte einer unserer Malerfreunde übernehmen (wer, weiß ich nicht mehr), und bei der Inszenierung erhofften wir uns Terentjews und Kulischows Unterstützung. Wir hatten vor, auf Honorar oder Gage zu verzichten, aber die Verwaltung von Sowjetfilm zu bitten, uns für einen Monat ein Studio zu Verfügung zu stellen. Falls unser Arbeitsergebnis allgemeines Interesse fände und in die Kinos gelangte, wollten wir uns auszahlen lassen. Majakowski und ich putzten alle nur denkbaren Klinken – umsonst. Der Vorschlag war zu ungewöhnlich, paßte in keine Rubrik. Das Studio wurde uns verweigert. Wie bedaure ich das! Wie schön wäre es, Majakowski und seine Freunde heute auf einem Filmstreifen sehen zu können, alle jung, alle zusammen!
Am 20. Juli 1927, als ich im Kaukasus war und gerade nach Moskau zurückreisen wollte, erhielt ich ein Telegramm von Majakowski:

Montag 25. Lesung Charkow warte Bahnhof Charkow Montagnacht 12.30.

Wir hatten uns fast einen Monat nicht gesehen, und als wir uns auf dem Charkower Bahnhof trafen und er zu mir sagte: „Was willst du in Moskau! Bleib einen Tag ich lese dir auch neue Verse vor“ – griff ich durchs Abteilfenster nach meinem Koffer und blieb. Wie er sich freute! Er liebte spontane Gefühlsäußerungen.
Wenig später saßen wir an unserem Tischchen im Hotel – noch heute habe ich die Wasserkaraffe und das Trinkglas vor Augen –, und er las mir die neuesten Kapitel seines Poems „Gut und schön!“ vor.
Majakowski war sich seines Wertes als Dichter bewußt, trotzdem blieb immer ein Rest Unsicherheit in ihm. Auf Zuspruch, Lob und Anerkennung war er sehr angewiesen, und wenn er Eigenes vorlas, spähte er immer wieder erwartungsvoll zu seinem Zuhörer.
Wenn ich dann sagte, es gebe nichts Besseres in der Poesie, er sei genial, unsterblich, einen Dichter wie ihn habe die Welt noch nicht gesehen, war er selig.
Bei den Zeilen:

Wenn ich
aaaaaaaadennoch
aaaaaaaaaaaaaaaetwas schrieb,
Worte
aaaaasprach,
aaaaaaa aaadie taugen,
wars
aaaaeinem Himmelspaar
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaazulieb,
wars
a aadank
aaa aaaazwei lieben Augen
.1

hatte ich plötzlich die banale Vorstellung von himmelblauen Augen, und mich durchzuckte die Frage: wessen?
Und wie beruhigte mich dann:

Augen,
aaaaaarund und braun…

Eine lächerliche Vorstellung. Denn ein Augen-„Himmelspaar“ konnte bei Majakowski sonstwie sein, nur nicht himmelblau.
Mehrmals habe ich erlebt, daß beim Vortrag des Poems „Darüber“ der Vortragende statt: 

Dieses Thema…
aaaaaaaaaaa awiedergesungen

nicht nur ein Mal,
aaaaaaaaaaaaa anicht nur fünf…

sagte:

Dieses Thema…
aaaaaaaaaaaaawiedergesungen 

nicht nur ein Mal,
aaaaaaaaaaaaa anicht nur zwei…

Die Macht der Sprachgewohnheit! So etwa ist es auch mir ergangen, als ich meinte, jenes „Himmelspaar“ der Augen müßte unbedingt himmelblau sein.
Im Sommer 1929 setzte ich mich an meine Lebenserinnerungen, ich begann mit der frühen Kindheit. Schließlich brachte ich auch schon ein wenig über unsere gemeinsame Zeit zu Papier. Ich bot es Majakowski zum Lesen an, doch er sagte, er wolle selber Erinnerungen schreiben und fürchte, durch meine aus dem Konzept zu geraten. Wir sollten es uns lieber später einmal gegenseitig vorlesen.
Damals bedauerte ich, daß ich nicht Tagebuch geführt hatte, und legte eins an. Aber die Notizen darin sind so knapp gehalten, daß ich heute kaum noch weiß, was alles dahintersteht.
Zum Beispiel die über die ersten Schwitzbad-Lesungen. Reinster Telegrammstil! Ich entnehme ihnen nur, daß Majakowski mir am 5. September 1929 einige Passagen aus Schwitzbad vorlas, am 10. das Stück zur Abschrift gab und es mir am 15. ganz vorlas. Als Brik kam, las er es noch mal vor. Unter dem 22. September steht:

Wolodja trug Schwitzbad zu Hause vor, es waren an die 30 Leute da.

Am 23. trug er es der Meyerhold-Truppe vor. Ein rauschender Erfolg. Sie „sagten, Majakowski sei ein Molière, Shakespeare, Puschkin, Gogol“. Am Abend des 26., zu Hause, „haben wir Schwitzbad lange erörtert“. Doch was im einzelnen? Das einzige Konkrete:

Er will das Bühnenbild selbst machen.

Am 27.: Wieder eine „Schwitzbad-Lesung zu Hause, wieder vor 30 Leuten. Von dem anschließenden Gespräch ist nur festgehalten:

Markow sagte, Majakowski brauche für die Aufführung seiner Stücke ein eigenes Theater.

Nora Polonskaja, die der Lesung beigewohnt hatte, erzählte mir, Janschin sei so begeistert von Schwitzbad gewesen, daß er im ganzen Künstlertheater herumtelefonierte und die Inszenierung verlangte. Ob das auch geschehen wäre, sei dahingestellt, es schloß sich freilich schon insofern aus, als Majakowski das Stück Meyerhold gegeben hatte. Im Zusammenhang damit stehen offenbar zwei weitere Notizen von mir: „29. September: Das Künst.-theater will Wolodja mit einem Stück beauftragen.“ – „2. Oktober: Abends kamen welche vom Künst.-theater, um über das Stück zu reden.“
Auch die folgenden Notizen geben zu erkennen, daß es Schwierigkeiten mit Schwitzbad gab. Am 24. Dezember: „Genehmigung der Schwitzbad-Inszenierung verzögert sich“; am 20. Dezember:

Trug Schwitzbad dem Repertoirekomitee vor, hat sich mit knapper Not losgebissen.

Auch in Leningrad kam Schwitzbad auf den Spielplan. Am 2. Februar habe ich notiert:

In Leningrad soll Schwitzbad abgesetzt werden, wird erzählt. Wolodja ist in Aufregung, kann aber von der Ausstellung nicht weg. Erbot mich, hinzufahren.

Am 3. Februar:

Niemand will das Stück absetzen, nur daß es kein Publikum hat und daß die Zeitungen wettern. Welossipedkin sagt in dem Satz: „Und mit meinem Anliegen verschafft mir auch mein Parteibuch hier Einlaß“ statt ,Parteibuch‘ – ,Fahrschein‘. So wurde es ,gewünscht‘… Die Aufführung ist mit Talent gemacht, aber unfertig (mußte in einem Monat auf die Beine gestellt werden).

Majakowski ärgerte sich maßlos, wenn mit seinen Versen nach Belieben umgesprungen wurde, so was war für ihn unverzeihlich. Unter dem 28. November 1929 heißt es bei mir: „Wolodja ist aus Leningrad zurück, sagt, er sei aus Wanze, rausgegangen, aus Wut über die vielen Eigenmächtigkeiten“, und unter dem 22. Dezember:

Wolodja hat mit dem ,Gottlosen‘ telefoniert, ihn beschimpft wegen der entstellten Verse.

Die Zeitschrift Der Gottlose hatte Gedichte von ihm mit irgendwelchen Änderungen gebracht und ihm wohlweislich die Korrekturfahnen vorenthalten. Als er sein Belegexemplar erhielt, geriet er außer sich. Ich erinnere mich, wie er ins Telefon brüllte. Die Redaktion erklärte, nun sei leider nichts mehr zu machen, die Nummer sei ausgedruckt. Majakowski verlangte eine offizielle Entschuldigung. Tatsächlich entschuldigte man sich, aber ich weiß nicht mehr, in welcher Form – ob in brieflicher oder feierlich mündlicher. Er meinte, so würde man sich hinter die Ohren schreiben, daß man ihn nicht ungestraft verfälschen könne.
Ende 1929 rührte Majakowski seine Ausstellung 20 Jahre Arbeit ein. Auf einer Lef-Sitzung wurde eine Kommission gebildet, die ihre Abwicklung übernehmen sollte. Meine Aufzeichnungen hierzu sind leider wiederum sehr dürftig.

6. Dezember:

Wolodja stellt das Material für seine Ausstellung zusammen und staunt, was er alles gemacht hat.

Am 9.:

Wolodja und Natascha Brjuchanenko stellen die Plakattexte zu einem Buch zusammen.

Am 11:

Ich war für Wolodja in Leningrad, erkundigte mich im Puschkinhaus und bei Shewershejew nach Material für die Ausstellung.

Am 29. Dezember:

Wolodja ist von früh bis spät in Aktion. Klebt bis in die Nacht zusammen mit Sina Sweschnikowa die Ausstellungsalben.

Einen Monat darauf, am 29. Januar 1930:

Die Eintrittskarten für die Ausstellung sind so geschmacklos, daß einem die Lust vergeht, mit ihnen hinzugehen. Wolodja ist deprimiert, wollte, daß alles im Zusammenhang mit der Ausstellung mustergültig repräsentativ würde.

Am 30.:

Die Jungs haben sich einfallen lassen, auf die Zeitungsvitrine zu kleben: „Majakowski ist den Massen nicht verständlich“. (Die „Jungs“ sind junge Lef-Mitglieder: Latinski, Alelekow u.a., die Majakowski bei der Herrichtung der Ausstellung halfen.)

Am 31.:

Die Kommission hat kein einziges Mal beraten, so ist nun die Ausstellung, die Wolodja so gern unübertrefflich arrangiert hätte – seht ihr, so muß mans machen! –, lediglich durch ihr Material interessant.

Am 1. Februar fand endlich die Eröffnung statt. Ich habe dazu notiert:

Fuhren 6 Uhr abends zur Ausstellungseröffnung. Riesenandrang – alles Jugendliche. Die Ausstellung hat zwar Mängel, ist aber trotzdem sehr interessant. Wolodja ist überarbeitet. Wirkte beim Sprechen müde. Jemand gab eine Einführung, dann rezitierte Wolodja den Vorspann des neuen Poems. Alles war beeindruckt, obwohl er ablas und wie mit Überwindung sprach.

Wie ich mich erinnere, war Majakowski an diesem Tag nicht nur erschöpft, sondern auch düster. Er ärgerte sich über alle, wollte mit keinem reden, überwarf sich mit Assejew und Kirsanow. Als sie anriefen, ging er nicht ans Telefon, Über Kassil sagte er:

Der müßte eigentlich Papirossy vom Laden an der Ecke für mich holen, hat aber für die Ausstellung nicht einen Nagel angerührt.

Diese Düsternis ist auf einem Foto verewigt: er vor dem Hintergrund eines ROSTA-Plakates. Unbegreiflich, warum gerade dieses eine so weite Verbreitung fand!
Brik hat kein Tagebuch geführt, doch als er zehn Jahre nach Majakowskis Freitod seine Erinnerungen an Majakowski schrieb, begann er mit dieser Zeit und schilderte, in welcher Gemütsverfassung sich Majakowski befand, als er seine Ausstellung vorbereitete:

Ende 1929 erwähnte Wolodja zum erstenmal, daß er eine Ausstellung machen wolle, eine eigene, das heißt mit allen seinen Büchern, Plakaten und Materialien, um gewissermaßen Rechenschaft über 20 Jahre Arbeit abzulegen. Er sprach davon ruhig, geschäftsmäßig, wie vom Ablauf einer seiner nächsten Auftritte. Vorher hatte er schon Ähnliches veranstaltet, zum Beispiel das ,Zwöwlam‘ und alle möglichen ,Rechenschaftsabende‘. Wie konnten wir ahnen, daß er dieser Rückschau eine besondere Bedeutung beimaß.
Wolodja wollte anerkannt sein. Wollte, daß wir Ref-Leute ihm die Organisation seiner Ausstellung abnähmen und daß zu der Ausstellung Vertreter von Partei und Regierung kämen und erklärten, er, Majakowski, sei ein guter Dichter. Er war des Kämpfens, Polemisierens, sich Raufens müde. Er wünschte sich ein wenig Ruhe und ein kleines bißchen Arbeitskomfort.
Wolodja sah, wieviel besser als er die diversen schriftstellernden ,Raffer und Spitzbuben‘ lebten, ruhiger, üppiger. Nicht, daß er sie beneidete, nein, aber er meinte eher ein Recht auf einige Lebensannehmlichkeiten und vor allem auf Anerkennung zu haben.
Und um dieser Anerkennung willen hat er die Ausstellung gemacht.
Wir haben das nicht durchschaut, wir begriffen nicht, warum er so zornig auf uns, so gereizt war und uns wenn nicht direkt, so doch in Anspielungen vorwarf, wir täten für seine Ausstellung nichts. Er wurde mürrisch, übellaunig, grob und hatte sich zu guter Letzt mit sämtlichen Ref-Leuten zerstritten. Zu mir sagte er:
„Wäre Ref das einzige, was uns verbindet – wir hätten uns längst verkracht. Aber es verbindet uns ja zum Glück noch anderes.“
Ich sah, daß es Wolodja seelisch und nervlich furchtbar schlecht ging, aber den eigentlichen Grund dafür ahnte ich nicht. Sein Wunsch nach offizieller Anerkennung paßte nicht in mein Bild von ihm, das eines unermüdlich kampflustigen, draufgängerischen Polemikers…

Damit enden Briks Aufzeichnungen über den noch lebenden Majakowski.
Als Majakowski sich erschoß, befanden sich weder ich noch Ossip Brik in Moskau. Wir waren zusammen nach London gefahren, meine Mutter zu besuchen, die dort in der Handelsvertretung arbeitete. Wir hatten bereits die Heimreise angetreten, unterbrachen sie aber am 14. April für einen Tag in Holland; dort kauften wir eine Reihe Mitbringsel für Majakowski – Zigarren, Krawatten, einen Spazierstock…
Hier nun der zweite Teil der Erinnerungen von Ossip Brik (und das ist alles, was er zu diesem Thema aufgeschrieben hat): 

Am Morgen des 15. April erreichten wir Berlin und begaben uns wie immer ins Kurfürstenhotel in der Kurfürstenstraße. Von der Hotelchefin und ihrem Hündchen Schneid wurden wir fröhlich begrüßt. Der Portier gab uns Briefe und ein Telegramm aus Moskau. „Von Wolodja“, meinte ich nur und steckte alles ungeöffnet in die Tasche.
Wir fuhren hinauf, machten es uns bequem, und erst da entsiegelte ich das Telegramm.
„heute morgen hat sich wolodja umgebracht lewa finia“
Unsere Vertretung wußte es bereits. Sie besorgte uns die nötigen Visa, und noch am selben Abend fuhren wir weiter.
An der Grenze erwartete uns Wassja Katanjan. Von ihm erfuhren wir, wie sich alles zugetragen hatte.
Am Morgen des 17. langten wir in Moskau an. Der Sarg war im Haus des Schriftstellerverbandes aufgestellt worden. Wahre Menschenmassen kamen, um von Majakowski Abschied zu nehmen. Alle waren tief betroffen. Daß Majakowski sich das Leben nehmen würde, hatte niemand auch nur im entferntesten gedacht. Da der 14. April nach dem alten Kalender der 1. April ist, hielt manch einer die Nachricht von Majakowskis Selbstmord für einen Aprilscherz und lachte.
Ich hatte ein Gespräch mit jemandem von der Rapp. Als ich ihn fragte, ob es der Rapp denn nicht möglich gewesen wäre, Majakowski ein vernünftiges, ihm gemäßes Betätigungsfeld zu geben, antwortete er hastig: ,,Aber ja! Ich habe mit ihm vereinbart, daß wir die Massen von Lesergedichten, die täglich bei der Redaktion des
Oktjabr eingehen, an ihn weiterleiten.“ Jedes weitere Gespräch hatte sich damit erübrigt.
Ein anderer von der Rapp drückte sich so aus: ,,Ich verstehe nicht, warum so viel Wind gemacht wird um den Selbstmord irgendeines Intellektuellen.“
Widerlich, diese Selbstzufriedenheit der Mittelmäßigen! Sozusagen: Wir sind anders, wir erschießen uns nicht!
Ein Mensch wird sich aus zwei Gründen nicht das Leben nehmen: entweder weil er stärker ist als die ihn quälenden Widersprüche oder weil er keinerlei Widersprüche fühlt. Der zweite Grund war diesem talentlosen Rapp-Gesindel offenbar verschlossen.
Warum hat sich Majakowski das Leben genommen?
Eine komplizierte Frage, und die Antwort wird zwangsläufig kompliziert sein.

Brik hat uns die Antwort auf diese Frage nicht gegeben. Den ersten Teil seiner Aufzeichnungen und den letzten, eben angeführten, kann man nur als einen Anfang dieser komplizierten Antwort betrachten.
Warum hat Majakowski Selbstmord begangen?
In Majakowski war eine unbändige Liebe zum Leben, zu allen seinen Erscheinungen – zur Revolution, zur Kunst, zur Arbeit, zu mir, zu den Frauen, zum Glücksspiel, zur Luft, die er atmete. Seine unwahrscheinliche Energie räumte alle Hindernisse beiseite… Doch er wußte, eines würde er nicht „beiseite räumen“ – das Alter, und er sah ihm von Jugend an mit krankhafter Angst entgegen.
Sein ewiges Reden von Selbstmord! Das war schon Terror. Eines frühen Morgens 1916 riß mich das Telefon aus dem Schlaf. Majakowskis dumpfe leise Stimme:

Ich erschieße mich. Leb wohl, Lilchen.

Ich schrie auf, rief: „Warte auf mich, ich komme zu dir!“, warf mir den Mantel über den Morgenrock, rannte die Treppe hinunter, beschwor den Droschkenkutscher, schneller zu fahren, hämmerte mit den Fäusten auf seinen Rücken. Majakowski öffnete mir. Auf dem Tisch im Zimmer lag ein Revolver. Er sagte:

Ich hab abgedrückt – Ladehemmung. Noch mal hab ichs nicht versucht, wollte auf dich warten.

Ich war in einer unbeschreiblichen Panik, konnte mich nicht fassen. Wir gingen zusammen zu mir in die Shukowskaja, dort mußte ich Husarenpréférence mit ihm spielen. Wir spielten wie besessen. Er drehte immer mehr auf, brachte mich zur Verzweiflung mit dem Vers:

Ein Unsichtbarer am Dickicht entlang
Raschelt wie totes Laub, schreit:
„Was tat dein Liebster, wie bist du so bang?
Tat er dir etwas zuleid?“

Und vielen anderen, ausnahmslos fremden… Es nahm kein Ende.
1956, bei seinem Besuch in Moskau, erinnerte mich Roman Jakobson an ein Gespräch, das wir 1920 geführt hatten. Wir gingen damals auf dem Ochotny rjad, und er sagte:

Ich kann mir Wolodja alt, mit Runzeln nicht vorstellen.

Darauf ich:

Um nichts in der Welt will er alt werden, er wird sich erschießen. Er hat es schon mal versucht – eine Ladehemmung. Aber das kommt schließlich nicht jedesmal vor!

Bevor er sich erschoß, hatte er alle Patronen bis auf eine herausgenommen. Ich bin überzeugt, daß er sein Schicksal versuchen wollte, daß er dachte – wenn es nicht sein Schicksal ist, gibt es wieder eine Ladehemmung und er lebt weiter.
Wie oft habe ich Majakowski sagen hören:

Mit fünfunddreißig wird Schluß gemacht, erschieße ich mich – das Alter! Bis dreißig halte ich noch durch. Länger nicht.

Und wie oft habe ich ihm flehentlich versichert, er habe vor dem Alter nichts zu befürchten, er sei schließlich keine Ballerina. Lew Tolstoi und Goethe waren weder „jung“ noch „alt“, sondern waren Lew Tolstoi und Goethe. Und er bleibt in jedem Lebensstadium Wladimir Majakowski. Als ob ich ihn nicht mehr lieben würde, bloß weil er Runzeln hat! Seine Säcke unter den Augen und runzligen Wangen werde ich anbeten. Aber er wiederholte störrisch, er wolle sein und mein Alter nicht erleben. Nichts fruchtete. Auch nicht meine Erklärung, daß die sogenannte „Vernunft“, die er so fürchtete, zwar in der Tat etwas Abstoßendes, aber nicht unbedingt eine Eigenschaft des Alters sei. Tolstoi hat ihr auch widerstanden. Er verließ in hohem Alter sein Heim. Riß aus wie ein Jüngling.
Einmal, als wir beide, er wie ich, schon über Dreißig waren, fragte ich ihn bei einem dieser immer wiederkehrenden Gespräche:

Was mache ich nun? Bin ja schon über Dreißig.

Da sagte er: „Du bist keine Frau, du bist eine Ausnahme.“ – „Und du, bist du keine Ausnahme?!“ Er schwieg.
Der Gedanke an Selbstmord war bei ihm ein chronisches Leiden, und wie jedes chronische Leiden konnte er unter ungünstigen Bedingungen akuten Charakter annehmen. Sein Reden von Selbstmord hat mich freilich nicht immer auf gleiche Weise erschreckt. Sonst wäre das Leben nicht zu ertragen gewesen. Wenn ein zum Kartenspiel Geladener auf sich warten ließ, hieß es gleich:

Mich braucht keiner.

Wenn eine junge Bekannte nicht angerufen hatte, wie versprochen:

Keiner liebt mich.

Und da es so ist, hat das Leben keinen Sinn mehr. Das waren echt hysterische Anwandlungen. Manchmal redete ich ihm gut zu, um ihn zu beschwichtigen, manchmal schimpfte ich ihn aus, bat ihn, mich nicht zu drangsalieren und zu ängstigen.
Aber es gab auch Situationen in denen ich eine Heidenangst um ihn hatte und ihn nahe an einer Katastrophe sah. Einmal kam er vom Staatsverlag, wo er lange auf Jemanden warten, bei der Kasse anstehen und irgendwas, was keines Nachweises bedurfte, nachweisen mußte. Er warf sich längelang auf die Couch und heulte in die Kissen:

Ich – kann – nicht – mehr…

Ich weinte vor Mitleid und Angst, da schüttelte er seinen Kummer ab und kam mich trösten.
Hier noch eine von diesen Situationen, in meinem Tagebuch festgehalten: 11. Oktober 29, abends. Wir hatten Besuch und saßen friedlich im Eßzimmer. Er wartete auf den Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen sollte, zum Zug nach Leningrad, wo ihm jede Menge Lesungen bevorstanden. Der Koffer war gepackt.
Da wurde uns ein Brief von Elsa heraufgebracht. Ich öffnete ihn und las ihn wie üblich vor. Nach einer Reihe verschiedener Neuigkeiten teilte Elsa mit, Tatjana Jakowlewa, für die Majakowski (er hatte sie in Paris kennengelernt) noch immer innige Gefühle hegte, wolle einen Baron oder Vicomte heiraten und sich kirchlich, in weißem Kleid mit Schleier trauen lassen, habe aber entsetzliche Angst, daß Majakowski davon erfährt und ihr einen Skandal macht, das könne ihr schaden, sogar ihre Ehe zerstören. Zum Schluß bat Elsa, es Majakowski zu verschweigen. Dummerweise hatte ich es nun aber schon vorgelesen. Majakowski wurde finster. Er stand auf und sagte: „Na, da will ich mal gehen.“ – „Jetzt schon, wieso? Der Wagen ist noch nicht da.“ Aber er griff nach dem Koffer, küßte mich und ging. Als der Fahrer zurückkam, erzählte er, Majakowski habe ihn auf der Woronzowskaja abgefangen, den Koffer in den Wagen gefeuert und ihn wüst beschimpft, was noch nie vorgekommen war. Dann schwieg er die ganze Fahrt. Als er am Bahnhof ausstieg, sagte er aber:

Entschuldigen Sie, Genosse Gamasin, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, ich habe Herzbeschwerden.

Mich hatte das furchtbar beunruhigt, und am nächsten Morgen rief ich ihn in seinem Leningrader Hotel an. Ich sagte, ich wisse weder ein noch aus, machte mir Sorgen. Er antwortete mit einer Floskel aus einem alten Kalauer: „Dieses Pferd ist krepiert“ und beruhigte mich – es sei alles wieder im Lot.
„Soll ich nicht trotzdem hinkommen, was meinst du?“ Er stimmte erfreut zu.
Noch am Abend desselben Tages fuhr ich ihm nach. Er war darüber unsäglich froh, ließ mich keinen Schritt von seiner Seite. Ich begleitete ihn zu allen Veranstaltungen, die teils in großen Sälen, teils in Studentenheimen oder Privatwohnungen stattfanden und stark besucht waren. Manchmal hatte er drei an einem Tag, doch bei kaum einer vergaß er, etwas über jenen Baron oder Vicomte einzustreuen: „Wir arbeiten, wir sind keine französischen Vicomtes“, „Das ist eben was anderes als ein französischer Vicomte“ oder „Wenn ich ein Baron wäre…“
Sein Schmerz hatte sich gelegt, aber seine verletzte Eigenliebe nagte weiter – er schämte sich vor sich und mir, daß er sich so geirrt hatte. Oft hatte er zu mir gesagt:

Sie ist ganz sie selbst, ihr eigener Kopf, um keinen Preis wird sie dortbleiben.

Aus einer Publikation von Roman Jakobson geht hervor, daß Majakowski den Briefwechsel mit ihr abbrach, als er erfuhr, daß sie nicht zurückkommen wolle. Freilich war er da schon in Nora Polonskaja verliebt.
Bei dem Leningrad-Aufenthalt damals sah ich ihm stundenlang zu, wie er mit Boris Berner Billard spielte. Er war düster und übermütig zugleich. Doch konnte ich ihm nicht auf Schritt und Tritt an den Fersen hängen. Das hätte er auch gar nicht geduldet. Hätte er nur einen Moment den Eindruck gehabt, ich paßte auf ihn auf, so wäre ich ihm wohl gleichgültig geworden. Zum Glück liegt mir die Rolle des Kindermädchens nicht.
Als er sich erschoß, war ich nicht in Moskau. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätte sich sein Tod vielleicht noch mal abwenden lassen. Aber wer weiß!
Nach seinem Tod, jedenfalls solange wir in der Gendrikow-Gasse wohnten, glaubte ich ihn ständig zu hören oder zu sehen: wie er die Tür aufschließt, den Spazierstock mit leisem Rums an die Garderobe hängt oder wie er ins Zimmer tritt, lässig das Jackett ablegt, sich beugt und Bulka krault, ohne Handtuch ins Bad abzieht und zurückkommt, die nassen großen Hände vorgestreckt; oder wie er mit mir beim Frühstück sitzt, schräg zum Tisch, die Beine übergeschlagen, seinen Tee schlürft und Zeitung liest.
Bis auf den heutigen Tag sehe ich ihn bisweilen auf einer Straße von Moskau oder Leningrad, oft spreche ich vertraute Menschen mit „Wolodja“ an.
Selbst sein Abschiedsbrief hätte nicht unbedingt den Tod nach sich ziehen müssen. Der Brief wurde am 12. geschrieben, doch erschossen hat er sich am 14. Wären die äußeren Umstände etwas freundlicher gewesen, so hätte sich der Selbstmord vielleicht aufschieben lassen. Aber zu diesem Zeitpunkt schien alles aus den Fugen zu sein: Die Probe auf seine Unwiderstehlichkeit hatte scheinbar ein Fiasko erlitten; der Mißerfolg von Schwitzbad; die Sturheit und Mißgunst der Rapp-Leute; daß zu der Ausstellung nicht die erwarteten Leute gekommen waren und, schließlich, daß er am 14. nicht ausgeschlafen hatte. Und in allem hatte er Unrecht. Sowohl gegenüber Nora Polonskaja, von der er, um zu sehen, wie unwiderstehlich er nach wie vor sei, unbedingt wollte, daß sie sich von ihrem Mann trennte, als auch gegenüber seinem Stück Schwitzbad. Gewiß, die Presse zog täglich über die Aufführung her, aber wußte er nicht, wie glänzend das Stück an sich war? Hatten ihm nicht Freunde, denen er mehr vertraute als sich selbst, glaubwürdig versichert, daß er mit dem Stück Jahrzehnte vorausblickte, daß nur die wenigsten schon verstünden, welche Gefahr von der sich manifestierenden Bürokratie ausging, daß nur diese Inszenierung schlecht sei, die nächste dafür um so besser sein würde? Auch Tschechows Möwe war erst einmal durchgefallen! Und die Leute von der Rapp! Als hätte er ihren Platz nicht gekannt! Was war von denen anderes zu erwarten? Mußte er an solchen verzweifeln?
Und was die Ausstellung betrifft – man erinnere sich an das stürmische Interesse der Jugend! Hat er sich wirklich ein „Jubiläum“ gewünscht?
Aber er war eben ein Dichter. Er wollte alles übersteigern und übertreiben. Sonst wäre er nicht der gewesen, der er war.
In seinem Abschiedsbrief ist er noch mal ganz er, ganz Majakowski.
Er fürchtet, sein Tod könnte jemandem zur Last gelegt werden. Fürchtet Klatsch und Gerede. Nichts haßte er mehr als das. In unserem Zusammenleben gab es für so etwas keinen Platz.
Er bittet seine Freunde und Angehörigen für den Schmerz, den er ihnen zugefügt hat, um Verzeihung. Hätte er das doch als Lebender getan.
„Lilja – liebe mich.“ Das bedeutet: Verzeih mir, vergiß mich nicht, verteidige mich, laß mich auch nach meinem Tod nicht allein; auch nach meinem Tod möchte ich an erster Stelle in deinem Bewußtsein stehen.
An die Regierung wendet er sich mit der Anrede: „Genossin Regierung“, d.h. in Freundschaft, mit Vertrauen. Selbst als er Hand an sich legte, blieb er Bolschewik.
Wie einen guten Freund bittet er die Regierung, sich um die Menschen zu kümmern, die ihm zu seinen Lebzeiten am Herzen gelegen haben.
Brik und mir trägt er auf, sich seines Nachlasses anzunehmen.

Die angefangenen Verse überlaßt den Briks, sie finden sich da zurecht.

Das bedeutet: Briks kennen mich und meine Dichtungen so gut, daß sie sogar wissen, was ich schreiben wollte.
Die Rapp-Leute sieht er über alle Differenzen hinweg als seine Genossen im revolutionären Kampf an; er will nicht, daß sie ihn für feige halten, und bedauert, sich in künstlerischen Fragen mit ihnen nicht „zu Ende beschimpft“ zu haben – eigentlich nicht seine Art!
Schulden hat er stets beglichen, auch nach seinem Tod will er niemandem etwas schuldig sein.

In meinem Tisch sind 2.000 Rubel, überweist sie an die Steuer.

Und er konnte nicht sterben, ohne noch einen Vers, einen Scherz zu hinterlassen – zwei wesentliche Begleiter seines ganzen Lebens.
Bemerkenswert ist auch, daß er Nora Polonskaja zu seinen Angehörigen zählt. Mit seiner Bitte an die „Genossin Regierung“, ihr ein erträgliches Leben zu sichern, hoffte er, ihr zu Selbständigkeit zu verhelfen.
Auch möchte er nicht, daß sich andere an ihm ein Beispiel nehmen:

Das ist kein Weg, nicht zu empfehlen.

Das heißt, es löst nichts, ändert nichts, ist Flucht, doch er sieht keine andere Möglichkeit; er hat keine Kraft mehr, das Empfinden des hereinbrechenden Alters und der, wie ihm schien, mit dem Alter hyperbolisch wachsenden Minderwertigkeit zu überwinden.
„Viel Glück den Bleibenden“, wünscht er uns allen.
Und wünscht es uns aufrichtig. Bis zum letzten Augenblick ist er sich treu geblieben.
Seit Wolodjas Tod sind viele Jahre vergangen. „Lilja – liebe mich.“ Ich liebe ihn. Jeden Tag spricht er in seinen Gedichten mit mir.

Moskau 1956–1977

Lilja Brik, aus Lilja Brik: Schreib Verse für mich. Erinnerungen Majakowski und Briefe. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner und herausgegeben von Wassili Katanjan, Verlag Volk & Welt, 1991

 
 

 
 

HINTERLASSENE NOTIZ
Majakowski gewidmet

AM HIMMEL ZITTERT MARSEILLAISENROT
DER VERENDENDEN SONNE SCHEIN. Ja, sage ich,
Ja, da siehst du, was du angerichtet hast
Mit deinen Treppen und Gesängen: Dann das:
Brichst einfach auf von der Tafel und aus den wirren
Tänzen der Zeit (SELBST PETRUS VERSPÜRT NACH DEM
FEURIGEN TRANK LUST ZUM TANZ IN DEN ALTEN BEINEN.
Und du?).
Wo kämen wir denn hin, wenn sich jeder
Wegen einer Liebe und anderer Streite… Ich schrei
Dir ins blutende Ohr: Wir sind noch nicht fertig
Miteinander. Das geht nicht so: Knall und F
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaal
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaal
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa.

Uwe Lummitsch

 

 

Christine Gölz: Wladimir Majakowski

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Fritz Mierau: Majakowski lesen
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1978

Fakten und Vermutungen zum Autor + Erinnerungen + Tribute +
IMDb + Pennsound + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 1/2.

 

Wladimir Majakowski – Dokumentarfilm Teil 2/2.

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + DAS&D + KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Drawert“.

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