Wladislaw Chodassjewitsch: Europäische Nacht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wladislaw Chodassjewitsch: Europäische Nacht

Chodassjewitsch-Europäische Nacht

Ganz umsonst ist das Frühlingsgeraune
für meinen finster verschlossenen Vers.
Mir macht das eiserne Knirschen Laune
der Kakophonie im Univers.

Im Gähnen aufgerißner Vokale,
da geht mein Atem leicht und frei.
In Konsonantendrängelei
hör ich den Eisgang mit einem Male.

Ich liebe, wenn der Wolken Blei
die Pfeile, die gebrochenen, sendet,
Musik ist für mich der gellende Schrei,
wenn Holz durch elektrische Sägen verendet.

Und lieber hab ich in diesem Leben
als alle Schönheit, harmonischen Klang:
das Zittern, meiner Haut Erbeben,
den kalten Schweiß, wenn’s mir sehr bang,

den Traum, wo ich, nichts Ganzes mehr,
zerplatze, auseinanderfliege,
als wär ich Schmutz im Straßenverkehr,
bis ich auf fremden Sternen liege.

 

 

 

Nachbemerkung des Übersetzers

In der Lyrik sind Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt nicht voneinander zu trennen – Poesie ist nicht versifizierte Prosa. Das Ziel des Übersetzers ist also immer die dichterische Übertragung, vorausgesetzt, die Sprache, in der er übersetzend dichtet, dichtend übersetzt, bietet ihm die Möglichkeit einer annähernd adäquaten Wiedergabe. Diese Bedingung ist bei der Übertragung russischer Lyrik ins Deutsche voll und ganz gegeben, beide Sprachen, beide Verssysteme, ob traditionell oder modern, weisen genügend viele Ähnlichkeiten auf.
Welche Arten der Übersetzung kommen infrage? Prinzipiell sollte man die Übersetzung in klarer und genauer Prosa nicht verachten, z.B. wenn sich das Original der Nachdichtung, aus welchen Gründen auch immer, verschließt, oder wenn es sich um eine zweisprachige Ausgabe für den Lernenden handelt. Daß sie einer unvollkommenen Nachdichtung vorzuziehen ist, versteht sich von selbst. An Möglichkeiten einer dichterischen Übertragung gibt es zwei – zwei: es besteht Anlaß, das zu betonen. Da ist einmal die Übersetzung traditioneller Art, mit festem Metrum und Reimschema, und dann gibt es die Übersetzung in freien Versen. Beide haben ihre eigenen Gesetze, beide sind von der Übersetzung in Prosa weit entfernt (wenngleich diese stellenweise die Qualität des freien Verses erreichen kann; stellenweise, nicht im Gesamtcharakter) und beide unterliegen in ihrer Ein- und Wertschätzung den Veränderungen, von denen jedes Kunstprodukt betroffen ist. Die Übersetzung in freien Versen, die allgemein unserer heutigen Auffassung von Lyrik, von ihrer Gestalt, ihrer Sprechweise, ihrem Ton, am meisten entspricht, findet bei der Übertragung russischer Lyrik bei uns noch so gut wie keine Anwendung. Das rührt wohl von einer Geringschätzung der Form des freien Verses her, und das bedeutet: von einer Unterschätzung bzw. Verkennung seiner Qualitäten. Die Entdeckung des freien Verses als oftmals einzige angemessene Art und Weise der Übertragung russischer Lyrik des 20. Jahrhunderts ins Deutsche steht noch bevor.
Es ist überraschend zu erleben, daß es Gedichte gibt, die sich für die eine Übersetzungs-Art, andere, die sich für die andere Art eignen. Und nicht selten ist es angezeigt, den Leser gleichzeitig auf ganz unterschiedlichen Wegen an das Original heranzuführen. Ist dieses in festen Formen geschrieben, wie es in der russischen Lyrik gewöhnlich der Fall ist, so wäre es wünschenswert, der Übersetzer würde es, zumindest für sich, in den beiden genannten Arten dichterisch übertragen, um auswählen zu können. Man muß von Fall zu Fall prüfen, ob nicht vom zuerst eingeschlagenen Weg abgewichen werden muß, will man seinen Autor nicht verraten.
Wie kann ein solcher Verrat aussehen? Daß man den Dichter in eine sprachliche Form transponiert, die ihn in der neuen Umgebung als veraltet erscheinen läßt, als pseudo-dichterisch oder ganz einfach als banal. Um dem vorbeugen zu können, muß der Übersetzer nicht nur den Autor und seine Sprache kennen, er muß auch in seiner eigenen Sprache zu Hause sein, und er muß vor allem die Sprache der Dichter seiner Zeit, seiner Gegenwart, gut kennen. Einen Dichter aus einem fremden Kulturkreis, ja aus dessen Vergangenheit, die der Gegenwart schon teilweise fremd geworden ist, in eine andere sprachliche und kulturelle Gegenwart zu übersetzen, bedeutet, ihn zu entdecken, ihn freizulegen wie einen Fund, ihn schließlich neu zu schaffen. Das aber kann nicht gelingen, wenn man dem Dichter des fremden Landes mit einer sprachlich rückwärts gewandten Übersetzung ein Klassiker-Grab bereitet. Zu berücksichtigen ist dabei die Tatsache, daß es für den russischen Dichter weithin heute noch selbstverständlich ist, in festen, klassischen Formen zu dichten, nicht aber für uns. Was dort bis in die Gegenwart eine natürliche Art des Schreibens ist, das erhielte bei uns, in Gestalt einer vorgeblich ,identischen‘ Nachdichtung, die die äußere Gestalt bis in die Abfolge der männlichen und weiblichen Reime hinein aufs genaueste nachahmte, leicht ein falsches Pathos, einen zu hohen Ton und damit auch den falschen Wortschatz, denn letzterer wird von ersterem mitbestimmt. Dadurch aber bekäme der uneingeweihte Leser über die fremde Dichtung eine Information, die dazu führen kann, das Original für antiquiert zu halten, denn die angeblich genaue Nachdichtung hat ihn vom Original um Jahrzehnte, wenn nicht Jahnhunderte entfernt. (Daß innerhalb von Übersetzungen in traditionellen Formen und innerhalb von Übersetzungen in freien Versen die größten Qualitätsunterschiede bestehen können und daß auch hier der Ton die Musik macht, braucht nicht betont zu werden. Es wird immer vom Geschick des Übersetzers und seinem Ohr für leise Töne, für einen unauffälligen Reim vor allem, abhängen, ob er es sich leisten kann, den Einbürgerungsversuch des fremden Gedichts in festen Formen durchzuführen. Daß die Übersetzung in freien Versen ein nicht geringeres Risiko enthält, nämlich das des Abgleitens in eine ungenügend geformte Sprechweise, weiß jeder, der in dieser Übersetzungsform arbeitet.)
Am Ende steht die Einsicht, daß die Entscheidung, den betreffenden Dichter in Prosa, in traditionellen Formen oder in freien Versen übersetzen zu wollen, noch viel zu grob ist: jedes Gedicht innerhalb des Werks eines Dichters hat einen Anspruch darauf, in der ihm am besten entsprechenden Art in seinem neuen sprachlichen Zuhause zu leben – zu leben, nicht als Museumsstück ausgestellt zu werden.

Die vorliegende Auswahl, die der Übersetzer aufgrund seiner Kenntnis des Autors, aber auch nach persönlichem Geschmack getroffen hat, möchte den deutschen Leser mit einem bedeutenden russischen Lyriker des 20. Jahrhunderts bekanntmachen. Chodassjewitsch wird in der Sowjetunion faktisch nicht gedruckt, im Westen jedoch werden z.Zt. umfangreiche Ausgaben seines Werks herausgebracht – dieser bei uns völlig unbekannte Dichter beginnt im Bewußtsein seiner Landsleute den Rang einzunehmen, der ihm schon längst gebührt.

Kay Borowsky, Nachwort

Nachwort

Leben? Schreiben?
Unsicher ist alles.

Wladislaw Chodassjewitsch

Wladislaw Felizianowitsch Chodassjewitsch? Den Namen nie gehört? Kein Wunder. In seiner Heimat – heute: Sowjetunion – ist er fast ganz in der Schublade „Dekadenz“ verschwunden; im Westen, wo er immerhin einige Jahre seines erbärmlichen Lebens zubrachte, galt er als Sonderling, als Einzelgänger – kurzum: auf ihn paßte (und paßt) kein lyrisches Kürzel. Von den Zeitgenossen ohnedies nicht immer wohlgelitten, ja sogar verachtet – was kann uns da heute noch ein Chodassjewitsch geben? Ist es Nostalgie, Suche nach dem „Absonderlichen“, ihn wieder zum Leben zu erwecken? Nein, es ist die überraschende Entdeckung eines Lyrikers, der vor weit mehr als einem halben Jahrhundert Gedichte schrieb, die so staubfrei sind, als wären sie gerade erst entstanden.
Chodassjewitsch begann in einer Zeit, als sich die russische Lyrik zu wahren Höhenflügen aufschwang, als sich Form und Inhalt bekämpften, Ideologien und poetische Gesetze ins Kraut schossen und ein nie geahntes Potential dichterischer Talente „fast“ aus dem Nichts auftauchte. Der Anfang unseres Jahrhunderts, mit seinem Symbolismus, Akmeismus, dem späteren Futurismus – all die mehr oder weniger langlebigen -ismen – Chodassjewitsch hat sie durchgestanden, überstanden, aber nicht angenommen.
Frei vom mystischen Geklingel der Symbolisten, näher schon den realitätsbezogenen Akmeisten, wandelte er auf dem Pfad des Puschkinschen Individualismus – und man legte es ihm als Hochmut aus. Er folgte seiner „inneren Stimme“ und kann nicht nur aus diesem Grund so unvermittelt zu uns sprechen.
Wladislaw Felizianowitsch Chodassjewitsch wurde am 16. (28.) Mai 1886 in Moskau geboren. Seine Familie stammte aus Litauen, war einigermaßen wohlhabend, aber nicht reich. Vater Chodassjewitsch fühlte sich früh zum Künstler berufen, vertauschte aber bald die Malerei mit einem gut gehenden Photostudio. Sohn Wladislaw – so kann man es seiner skizzenhaften Autobiographie entnehmen – schrieb bereits im jugendlichen Alter von sieben Jahren Gedichte, absolvierte ein Moskauer Gymnasium und notierte für das Jahr 1903:

Verse – auf immer.

Noch als Gymnasiast ermogelte er sich (in einem extra maßgeschneiderten Anzug) den Zutritt zum „Moskauer Literaten- und Künstlerzirkel“, eine Art „offener Club“ mit Bühne, Restaurant und Spielsalon. Dienstags fanden hier literarische Lesungen statt, von denen damals ganz Moskau sprach. Chodassjewitsch kam also schon sehr früh mit der russischen Lyrikeravantgarde in Berührung und seine Verehrung für Waleri Brjussow (1873–1924) stempelte ihn für lange Zeit zum treuen Gefolgsmann dieses „Führers“ der Symbolisten. In der Tat bestand zwischen beiden eine Freundschaft, in der sich allerdings Zuneigung und offene Feindseligkeit abwechselten. Von einem direkten literarischen Einfluß Brjussows auf Chodassjewitsch kann aber keine Rede sein.
Nach Beendigung des Gymnasiums, im Jahre 1904, begann der angehende Poet ein Studium an der Historisch-Philosophischen Fakultät der Moskauer Universität. Es wurde nur ein Zwischenspiel, denn wegen ausstehender Semestergebühren wurde Chodassjewitsch nach wenigen Semestern relegiert. Grund für den Geldmangel? Das Kartenspiel, eine Leidenschaft, von der er später sagte, sie sei wie die Poesie:

Denn zu beiden braucht man Phantasie und Meisterschaft.

Wegen ständiger Schulden scheiterten weitere Studienversuche, auch als Jurist.
Schon während der mißglückten akademischen Laufbahn veröffentlichte Chodassjewitsch in verschiedenen führenden russischen Zeitungen und Zeitschriften Literaturkritiken, bediente sich aber – besonders bei seinen Verrissen – eines Pseudonyms. Bereits seit April 1905 war er mit der exzentrischen Marina Ryndina verheiratet. Die Ehe wurde allerdings schon 1907 wieder aufgelöst. Trotz großer persönlicher Enttäuschungen schrieb Chodassjewitsch zahlreiche Gedichte, die er 1908 in dem Gedichtband Jugend zusammenfaßte.
Diese „jugendlichen“ Verse wurden in die Gesammelten Gedichte von 1927 nicht mehr aufgenommen. Der spätere Perfektionist erlaubte sich keinen Rückblick. Das Echo auf „Jugend“ war auch nicht gerade ermutigend. Die wenigen Kritiken stimmten allerdings darin überein, daß der gerade einundzwanzigjährige Autor eine gewisse „hinfällige“, um nicht zu sagen „altersschwache“ Intonation zeige.
Für die Jahre nach der Trennung von Marina galten die Vokabeln: Kartenspiel, Trinken und Poesie. Eine kurze Reise nach Italien (1911), dann der Tod beider Eltern innerhalb weniger Monate – Chodassjewitsch versank in Depressionen, erkrankte, und nur die Fürsorge seines engen Freundes Samuil Wiktorowitsch Kissin, genannt: Muni, hinderte ihn am Selbstmord.
In der 1922 auf ein Stückchen Pappe hingekritzelten „Autobiographie“ liest man für diese Zeit: Geldnot, Hunger und „Njura“.
Njura, Anna Iwanowna Grenzion, mit dem jüngeren Bruder des Dichters Brjussow verheiratet, wurde zum neuen Lebensinhalt unseres Poeten. An eine Heirat war nach dem russischen Scheidungsgesetz noch nicht zu denken, also lebte man im „graziösen Leichtsinn der Epoche“. 1914 erschien ein zweiter Gedichtband: Das glückliche Haus, das Chodassjewitsch – vermutlich aus Dankbarkeit – „seiner Frau Anna“ widmete. Das glückliche Haus erinnert an Alexander Puschkins Gedicht „Hausgeist“, und wie das Genie der russischen Poesie begnügt sich unser Dichter mit den kleinen Dingen des Lebens, mit Mäusen und Laren. Diese Nähe zu Puschkin wurde von den Zeitgenossen wohl bemerkt, doch nur wenige sahen darin etwas Eigenständiges. Der weitgehende Verzicht auf „äußeren Schmuck“, auf phantasievolle Reime, ja eine geradezu geizige Form des Ausdrucks – bereits hier deutete sich der künftige Individualist an. Und um ihn herum quirlte es nur so von exotischen Bildern, Wortspielereien, aufgeblasenen Metaphern, mythologischen Hinweisen. Inzwischen war der 1. Weltkrieg ausgebrochen, Freund und Lieblingskritiker Muni hatte 1916 Selbstmord begangen. Chodassjewitsch selbst hielt sich durch Übersetzungen und Kritiken mehr schlecht als recht über Wasser und versuchte sich ab und zu als „Vortragender“ in Moskauer Künstlerkreisen. Über einen Unfall, bei dem er sich eine Verrenkung der Wirbelsäule zuzog, schrieb er:

Man vernähte mich in ein Gips-Korsett, plagte mich, hängte mich auf und schickte mich auf die Krim. Drei Monate verbrachte ich in Koktebel, erholte mich gut, man nahm mir das Korsett ab. Den folgenden Winter lebte ich in Moskau, schrieb. Im Sommer 1917 war ich erneut in Koktebel. Den Winter wieder in Moskau.

Der persönlichen „Katastrophe“ folgte die politische. Die Revolution brach aus und mit ihr Hunger, Not und Arbeitslosigkeit.
Wie sollte ein Lyriker, ausgerechnet ein Lyriker, in diesen Zeiten zu Geld kommen? Ironie des Schicksals: Chodassjewitsch hatte ja wenige Semester Jura studiert, und so sah er sich im Januar 1918 plötzlich als Sekretär des Schiedsgerichts wieder, das die Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitern und Unternehmern klären sollte. Der Dichter, der schon Ende 1917 daran dachte, daß „eine literarische Arbeit unter den Bolschewiki unmöglich“ sei, wurde nun auf aberwitzige Weise in die „Politik“ verpflichtet. Er sollte sich mit der Kodifizierung der „Gesetze über Arbeit“ im ersten Staat der Werktätigen befassen. „Mir fiel es schwer, nicht zu lachen“ – erklärte er später.
Er nahm seinen „Abschied“.
„Um nicht zu den arbeitsscheuen Elementen zu zählen“, arbeitete der Dichter für die Theaterabteilung des Kommissariats für Volksbildung in Moskau. Chodassjewitsch befand sich in keiner schlechten Gesellschaft – Boris Pasternak, Waleri Brjussow, Wjatscheslaw Iwanow u.a. waren seine Gefährten.
„Aber das Schlimmste von allem war das Bewußtsein einer ewigen Lüge, weil wir allein durch unsere Anwesenheit und durch die Gespräche über Kunst mit Kamenjew schon logen und heuchelten.“ Um wenigstens dem ungesunden politischen Klima einigermaßen zu entgehen, organisierte der Dichter zusammen mit Freunden einen Buchladen für Schriftsteller und ließ sich für Maxim Gorkis ehrgeiziges Projekt „Weltliteratur“ verpflichten. Diese Tätigkeit hielt er bis 1920 durch, „als die Einsicht kam: Man konnte nicht aus den Übersetzern Manuskripte herauspressen, weil der Einsatz vom Staatsverlag humoristisch langsam stieg, aber die Teuerung des Lebens tragisch schnell wuchs“.
Kurz war auch das Gastspiel im Moskauer Proletkult, einer „proletarischen Kulturorganisation“, wo Chodassjewitsch Vorlesungen über Puschkin hielt, das niedrige Niveau der Zuhörer ihn aber fast mehr zermürbte als die Lebensumstände.

Der Winter 1919/1920 war schrecklich. Im Kellergeschoß eines ungeheizten Hauses, erwärmt mit Hilfe eines zerbrochenen Fensters. Drei in einem kleinen Zimmer, bei fünf Grad Wärme – ein Luxus in jener Zeit.

Trotz alledem: Es entstand ein dritter Gedichtband – Der Weg des Korns. Er erschien 1920 in Moskau, in zweiter Auflage 1921 in Petrograd.
Dieses kleine Büchlein mit dem antimodernistischen Titel ist einer der Höhepunkte im Schaffen des Poeten. Auch wenn die Gedichte zwischen 1910 und 1919 entstanden, so dürfen sie doch durch diese Jahreszahlen nicht eingegrenzt werden.
Was sich bereits in früheren Versen ankündigte – Rückzug auf einfache semantische Strukturen, karge Verwendung der Metapher – in Weg des Korns wird das Gedicht fast auf die „Klarheit einer Formel“ gebracht (Sofija Parnok), nähert sich dem „Aphorismus“ (Marietta Schaginjan).
Chodassjewitsch – und das gilt für sein ganzes literarisches Schaffen – reagiert äußerst selten auf reale Ereignisse. Wichtiger sind ihm Beobachtungen, die er zu Momentaufnahmen verdichtet oder in optischen Brechungen wiedergibt. Das Auge des Photographen? Vielleicht! Jedenfalls:

Zufrieden bin ich mit dem Kleinen, das mir des Schicksals Geiz entdeckt. (1921)

Auch wenn der Dichter im programmatischen Gedicht „Der Weg des Korns“ auf eine Wiedergeburt seines Landes hofft, davon träumt, daß die „poetische Vergangenheit zur Zukunft wird“, ergreift die kontemplative Versenkung des Intellektuellen in seinen Mikrokosmos noch heute. Das war keine Flucht, sondern das scharfe Auge eines Poeten, für den der Makrokosmos bereits zersplittert war.
Nach schwerer Krankheit, einem Sanatoriumsaufenthalt, erhielt Chodassjewitsch – obwohl längst nicht gesund – den Einberufungsbefehl. Man erinnere sich: Im Jahre 1920 tobte im Lande noch der Bürgerkrieg. Einer Empfehlung Maxim Gorkis war es zu verdanken, daß der Poet freigestellt wurde. Ebenfalls auf den Rat Gorkis verließ er zusammen mit Anna Grenzion Moskau und übersiedelte nach Petrograd, wo Literaten noch einige „Freiheit“ genossen. Obwohl Chodassjewitsch bald in den Kreis um Anna Achmatova, Nikolai Gumiljow, Alexander Blok, Andrei Bjely einbezogen wurde, so blieb er doch stets nur ein „Besucher“. Überdies liebte er Petrograd (Petersburg) nicht besonders, und schon gar nicht das „Geschwätz“ seiner Kollegen.
Unter diesem Eindruck entstand in nur kurzer Zeit ein vierter Gedichtband: Die schwere Lyra. Er erschien 1922 in einer sehr schlampigen Ausgabe, auf die Chodassjewitsch, der damals schon im Ausland weilte, keinen Einfluß hatte.
Der Dichter, für den inzwischen der natürliche Gang der Dinge wichtiger war als „Verfolgung“ und „Lobgegeige“, beugte sich aus seinem Petersburger Fenster und beobachtete Pferde, kleine Jungen mit Drachen, Straßenbahnen, Automobile, nahm die Lichterspiele der großen Stadt in sich auf. Auch später – in Paris – wird er sich aus dem Fenster beugen und seine Beobachtungen in fast „archaische“ Verse gießen. Diese Einfachheit hat nichts Gewolltes, nichts Künstliches – es sind Vexierbilder, die von innen strahlen, einer magischen Formel gleich.
Andrei Bjely sprach von der „virtuosen Knauserigkeit der Worte“, von Versen, aus denen „die ganze Nässe herausgedrückt“ ist. Viele Gedichte dieses Bandes lesen sich wie Protokolle, andere wie Notizen eines Psychoanalytikers, dann wieder Drehbuchanweisungen und ein „Weg aus Blumen“.
Diese Vielfalt in vollendeter Einfachheit rief auch herbe Kritik hervor. Waleri Brjusow etwa, der im Sinken begriffene Stern der Symbolisten, reagierte ebenso häßlich, wie Juri Tynjanow, der sich gerade mit einer Theorie des Formalismus auseinandersetzte. Beiden war ein Autor, der von „klaren Oden“ träumte, von der „rauhen Freiheit der Sprache“, der sich immer mehr einem Horaz näherte, suspekt. Ende 1921 findet man in Chodassjewitschs Tagebuchnotizen die lakonische Eintragung: Katastrophe. So bezeichnete er seine neue Leidenschaft für eine Frau, für die junge, geistreiche und sehr selbständige Studentin Nina Nikolajewna Berberowa. Ihr sind wertvolle Erinnerungen an den Menschen und Poeten Wladislaw Chodassjewitsch zu verdanken.
Mit Nina reiste der Dichter im Juni 1922 nach Berlin, ohne Abschied von seiner bisherigen Lebensgefährtin Anna Grenzion genommen zu haben.
Berlin – „Die Stiefmutter der russischen Städte“ – war Anfang der zwanziger Jahre wichtiger Sammelpunkt für russische Intellektuelle, die hier die weitere Entwicklung der Verhältnisse im Heimatland abwarten wollten. Auch Chodassjewitsch hegte noch die Hoffnung, zurückkehren zu können; er fühlte sich nicht als Emigrant, eher als Reisender. An die Heimat dachte er als an ein „Rußland, aufreibend, tödlich, ekelhaft, aber wunderbar auch heute wie in allen Zeiten“. Berlin, das er nach den Worten Ilja Ehrenburgs „mit den Augen eines Russen sah“, ist für Chodassjewitsch eng mit dem Namen Maxim Gorkis verbunden. Nicht nur häufige Begegnungen, sondern auch die Zusammenarbeit an der von Wiktor Schklowski gegründeten Zeitschrift Beseda (= Gespräch) ließ zwischen beiden Autoren ein freundschaftliches Verhältnis entstehen. Beseda – ein Organ für Schriftsteller, die auf beiden Seiten „der Grenze“ lebten – erschien nur bis 1925. Finanzielle Schwierigkeiten, aber auch der Bruch zwischen den beiden Redakteuren Gorki und Chodassjewitsch, bedeuteten das Ende dieses Unternehmens.
Nach einem Italienaufenthalt reiste der Poet mit Nina Berberowa im April 1925 nach Paris. Von nun an Emigrant – er hatte von einer Deportationsliste erfahren, auf der sein Name stand – erwartete ihn eine trübe Zukunft. Trotzdem teilte er die Meinung vieler seiner Zeitgenossen nicht, daß „Entwurzelung“ auch Zusammenbruch literarischer Inspiration bedeute.

Alles kann aus unserer Erinnerung entfernt oder ausgebrannt werden, aber den „Ehernen Reiter“, die ukrainischen Nächte, Tanja Larina werden wir nicht vergessen. (1928)

In Paris arbeitete Chodassjewitsch bei verschiedenen Emigrantenzeitschriften als Literaturkritiker, vor allem aber für die bedeutenden Organe Wiedergeburt und Zeitgenössische Annalen. Um ihn, den Kritiker Chodassjewitsch, gruppierte sich all das „was unter den Bedingungen der Emigranten lebensfähig genug war“. (Berberowa) In literarischen Kreisen wurde der Poet zunächst sehr geschätzt, konnte davon aber kaum leben. Die französischen Zeitungen und Zeitschriften blieben ihm versperrt und als Staatenloser durfte er keine ständige Arbeit annehmen.
Und doch entstanden Gedichte, die Chodassjewitsch unter dem Titel Europäische Nacht – zusammen mit Weg des Korns und Schwere Lyra – 1927 veröffentlichte. Auch wenn der lyrische Strom danach versiegte, so stimmt es keineswegs, daß die Emigration den Dichter zu töten begann. Wenn man die Gedichte aus Europäische Nacht liest, dann fühlt man sich an die Worte Andrei Bjelys erinnert, der in den Gedichten seines Landsmannes keinen Tropfen „Feuchtigkeit“ fand.
Und wirklich: Aus dieser letzten Sammlung ist alles Gefühlsmäßige, alles Intime verbannt. Es gibt keine Illusionen und schon gar kein Lamentieren über das schwere Los. Blasse Farben, Reim und Klang asketisch und dennoch plastische, scharf gezeichnete Bilder. Eben:

Das Glück beim Kopfsprung, kurz sieht die Welt mal anders aus.

Über diesen Gedichten ist nicht die europäische Nacht – weder Petrograd, noch Berlin, auch nicht Paris – hereingebrochen, mag es auch ans Sterben gehen oder die „Blumen des Bösen“ ab und an ihre Köpfe hervorstecken.
Anfang der dreißiger Jahre konnte Chodassjewitsch seine Enttäuschung über die Lebensumstände nicht mehr verbergen. Er, der auf den Pfaden der polnischen Emigranten (des 19. Jahrhunderts) in das „gelobte Land“ gekommen war, ein Land, in dem auch die Emigration ihre besten Werke hervorbringen konnte – er, Wladislaw Chodassjewitsch, begann zu leiden.
Krankheiten, Geldmangel, Erinnerungen an das „schreckliche, wunderbare Rußland“, dazu die Trennung von Nina Berberowa 1932, Anfeindungen aus Literatenkreisen – das reichte, um vor uns jenes Bild entstehen zu lassen, wie es Wladimir Nabokow in seinen „Erinnerungen“ beschrieb:

Ich fand großen Gefallen an diesem bitteren Mann, der aus Ironie und metallischem Genie gemacht war und dessen Lyrik ein komplexes Wunder darstellte. Körperlich wirkte er kränklich, hatte verächtliche Nasenlöcher und dichte Augenbrauen, und wenn ich ihn in meinem Geist heraufbeschwöre, erhebt er sich nie von dem harten Stuhl, auf dem er mit übereinandergeschlagenen dünnen Beinen und vor Bosheit und Witz funkelnden Augen sitzt… Aber es schadete seinem Ruhm, daß er aus seinen Abneigungen nicht das geringste Hehl machte und sich damit einige furchtbare Feinde in den mächtigen kritischen Klüngeln schuf.

1933 heiratete Chodassjewitsch Olga Borissowna Margolina, blieb aber mit Berberowa freundschaftlich verbunden. Der Poet war weitgehend verstummt – „Der Schatten zur Hölle!“ – der Literaturkritiker bäumte sich noch auf. 1931 war eine umfangreiche Monographie über Gawriil Derschawin (1743–1816), Rußlands letzten großen Odendichter, erschienen, eine Arbeit, die sogar in heutigen sowjetischen Enzyklopädien erwähnt wird. 1937 schloß sich eine Artikelsammlung über „Alexander Puschkin“ an. Sehr wichtig und für das „silberne Zeitalter“ der russischen Poesie von unschätzbarem Wert wurden schließlich die Erinnerungen Nekropol (1939). Auch wenn sie in der Sowjetunion bislang nicht erscheinen durften, so mag man die Bedeutung daran erkennen, daß aus ihnen hemmungslos (ohne Quellenangabe) zitiert wird.
Das Bild des Wladislaw Chodassjewitsch wäre unvollständig, wollte man nicht an zahlreiche Übersetzungen (aus dem Polnischen, Französischen, Hebräischen) erinnern, an verschiedene Anthologien, die er als Herausgeber betreute.
In den letzten Jahren seines Lebens wurde Chodassjewitsch von Depressionen und Schlaflosigkeit begleitet; aus seinen Briefen spricht eine große Müdigkeit und auch das Eingeständnis:

Die Literatur hat mich in kleine Stücke zerschlagen.

Wladislaw Chodassjewitsch starb am 14. Juni 1939 – nach einer Operation, die „zehn Jahre zu spät kam“. Auf dem Friedhof von Billancourt wurde er beigesetzt. Das Epitaph hatte er selbst bestimmt:

In mir das Ende, in mir der Anfang.

In der Sowjetunion blieb das Ende unbemerkt.
Dem deutschen Leser sollte diese Gedichtauswahl ein Anfang sein.

Gudrun Ziegler, Nachwort

 

Wladislaw Chodassjewitsch

Aus dem Abstand heraus, den wir heute haben, wird deutlich, daß dieser skeptische, kühle, ironische Kopf auf eine überraschende Weise zeitunabhängig gewesen ist. Weniger dagegen überrascht, daß dieser ,negative‘ Dichter, der von der „Europäischen Nacht“ spricht, von seinen Landsleuten kaum noch beachtet wird. In der Sowjetunion wird er so gut wie nicht gedruckt, und auch die Emigration wollte mit seiner Dichtung lange Zeit nicht viel zu schaffen haben. In neuester Zeit jedoch wird das schmale, aber bedeutende lyrische Werk Chodassjewitschs, „eines der sparsamten und sich selbst gegenüber strengsten Dichter in der russischen Literatur“, wie er charakterisiert wurde, neu entdeckt: große, in Paris und New York erschienene Ausgaben geben ihm den Platz, der ihm gebührt. Ob dieser unabhängige Geist, dieser lakonische Spötter – Gottfried Benns Gesetz von der „formfordernden Gewalt des Nichts“ auf russisch? –, der so wenig Tröstliches zu bieten hat, sich diesmal durchsetzt? Ob der Leser ihn aufnimmt.

Gunter Narr Verlag, Klappentext, 1985

 

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