Wolfgang Heidenreich: Geröll

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfgang Heidenreich: Geröll

Heidenreich-Geröll

LUKREZ

Voller Begier mein nachtverkrustetes Gesicht
Zu heben in das nebeltrübe Graulicht
Eines neuen Tags entwand ich mich der Pracht
Und Schwermut Deines gegen Götterfurcht und
Todesangst gebauten Großen Fahrzeugs Titus

Lucretius die unter all der Fracht und Fruchtbarkeit
Des unteilbaren Kleinsten und in der Unteilbarkeit
Unsterblichen zerberstenden Hexameter gewann
Ich lieb als ich mein Menschenschicksal eines Glied
Um Glied absterbenden Verfalls beschrieben fand

Carus bei Dir auch sprachst Du von der Sämerei
Der wolkig wässrig aufgebauten und wiederum in
Vielerlei Gestalteinfällen aufgetrennten Körperchen
Der wirbelnden Atome als habest Du auch vom
Antlitz meines schlichten Hexentales abgelesen

Dein überrömisch Weltgedicht auch füllte mich nicht
Bitterkeit nicht Trauer vor der wogenden Natur als
Du lehrtest dass Geist und Seele sterblich auszögen
Wie ein Rauch grausam zerstückelt strömten sie hinweg
Drum reiche nicht an uns heran gehe nichts an uns

Unser Tod da fuhr ich auf im freien Augenflug über
Mein Tal den schönen Buchen in die Nebelzöpfe
Fassend erwog im Anblick heimatlicher Bilder der
Natur die Sinnenfestigkeit und Bilderfülle Deines Buchs
So flogen meine Leseraugen schnell der Tag war hell

 

 

 

Nachwort

Wer ein langes Leserleben in der Gesellschaft von Gedichten und im Gespräch mit ihnen verbracht hat, ist in eine Schule der Selbstbescheidung gegangen. Auch die Erfahrung, dass zu allen Zeiten und vielerorts mit Wasser gekocht wurde, sollte nicht zu nachlassender lyrischer Contenance verführen. Hat ein solcher Leser zudem noch das noble berufliche Glück, als Medienmensch und Kulturarbeiter Gedichten und ihren Urhebern auf die Finger und auf den Mund zu schauen, ihnen zuzuhören und dies Zuhören öffentlich machen zu dürfen, dann empfiehlt es sich noch deutlicher, sich selbst aus dem lyrischem Groß- und Einzelhandel mit eigenen Produkten heraus zu halten. Es gibt ja wirklich schon genug unfrische, nicht authentische Kapellmeistermusik in der Welt.
Nichts von dieser Enthaltsamkeit war falsch geworden, als sich 2004 die poetischen Grundwasserverhältnisse in meinem Wörterleben änderten. Frei und fern von literarischer Ambition fand ich mich im Leben, Lesen, Schreiben eines Siebzigjährigen in einer alt- und neugierigen, unbefangenen Lust der sprachlichen Weltwahrnehmung wieder. Zwölf kleine Sechszeiler, in Kopf und Mund lange schon ausgerollte Texte, gerieten aufs Papier, wurden für acht Wochen unter einen diskreten schottischen Kugelstein gesperrt, dann fast vergessen. Wieder besehen hielten sie eigensinnig Stand, verlangten weniger nach Korrektur als nach Fortsetzung. In dieser Phase eines freien, achtsamen Spielens mit den Wörtern und ihrer lyrischen Verknüpfbarkeit erreichte mich die Diagnose, an ALS erkrankt zu sein. Die Lebensperspektiven, Fristen und Umweltbezüge veränderten sich dramatisch. In der Reihe der Symptome dieser bislang ungeklärten und unheilbaren Krankheit drohten auch der Verlust des Sprechvermögens, der Mimik, Gestik, der Kommunikation. Aus der Bedrängung durch die Einbußen im Körperleben stürzte ich ins Glück des flüchtigen Besitzes meiner Wörter, schrieb an gegen das Verstummen, auch gegen die Verbannung in die Todesnähe, in die Lähmung und die Atemnot.
In den Arbeitszeiten ihrer Entstehung gehörten die Texte zum Alltag, zum Gegenstand des Gesprächs in der Familie und im Freundeskreis. Zum literarischen Betrieb gehören sie ebenso wenig, wie die Existenz und der Ertrag der Rosa canina zur Landwirtschaft. Sie wären nicht umsonst gedruckt, wenn der ein oder andere Leser etwas von dem fände, was Werner Kraft aus Jerusalem an Ludwig Greves Marbacher Gedichten beobachtete: „Man erfährt etwas“.
Dass aus dem ,Geröll‘ ein Büchlein werden konnte, verdanke ich vielen freundlichen Menschen. Ich danke Uwe Pörksen, Ludger Lütkehaus, Frieder Gall, Paul Ege, Birgit und Ansgar Fürst, Walter Mossmann, Christoph Meckel und Wulf Kirsten für Anstoß und Ermutigung. Der SWR Freiburg, das Kulturamt der Stadt Staufen im Breisgau und der Freundeskreis Ehemalige Synagoge Sulzburg förderten die Drucklegung. Die Zusammenarbeit mit Luise Lewicki, Friedrich Pfäfflin und Ulrich Keicher war eine lebhafte Freude. 

Wolfgang Heidenreich, Juni 2006, Nachwort

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