Wolfgang Nehring: Zu Christine Lavants „Nach Lauch und Zwiebel riecht der Wind,…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Christine Lavants Gedicht „Nach Lauch und Zwiebel riecht der Wind,…“ aus dem Gedichtband  Christine Lavant: Die Bettlerschale. −

 

 

 

 

CHRISTINE LAVANT

Nach Lauch und Zwiebel riecht der Wind,
vielleicht half er den Bauern schlachten?
Mein Herz stahl sich das Jesukind
und möchte jetzt wo übernachten.

Der Herrenwind ist ganz bestimmt
kein Freund von solchem Bettelvolke
und jagt ein Herz, das Kinder nimmt,
sofort in Gottes Atemwolke.

Der atmet ein und atmet aus
und spürt das kleinste Ungerechte,
peitscht alle Diebe aus dem Haus,
mein Herz läßt er dem ärgsten Knechte.

Der macht ihm freilich gleich ein Kind,
ein Krüppelchen aus Wut und Galle
und schleppt die beiden, wie sie sind,
als Köder zu der Seelenfalle.

Dort fängt er Pelze, die er braucht,
um unerkannt durchs Volk zu gehen,
mein Herz, das in die Hölle taucht,
trägt’s Krüppelchen und steht auf Zehen.

Nur einmal möchte es Gott dem Herrn
ganz dankbar in die Augen schauen
und sanfter als der Abendstern, −
denn jetzt ist es wie alle Frauen.

  

Zwischen Jesukind und Krüppelchen: Ein Frauenschicksal

Bereits der erste Eindruck dieses Gedichts aus der Bettlerschale weist unverkennbar auf die seelische Mitte, aus der das gesamte lyrische Werk Christine Lavants lebt. Es erscheint als ein ganz persönliches Gebilde, in dem sich die verschiedensten Regungen, Sehnsucht und Verschuldung, Leiden und ein dem Leiden abgetrotztes Glück des redenden Ichs verschlingen. Auch die Sprache ist vielschichtig – am Anfang gibt sie sich umgangssprachlich naiv und geradezu salopp, am Ende poetisierend „schön“; gelegentlich wirkt sie abstrakt, überwiegend aber bildkräftig und konkret. Die Schwierigkeit, welche die Verse dem unmittelbaren Verstehen bieten, liegt aber weniger in der Verschiedenartigkeit der Sprachtöne und der Komplexität der seelischen Vorgänge, als vielmehr in der vielfachen Verschränkung von einander überlagernden Bild- und Wirklichkeitsebenen. Wo der Leser hinter einem Bildkomplex die Realität zu greifen glaubt, erweist sich diese möglicherweise wieder als neuer Bildbereich. Wo er es mit einem Bild zu tun zu haben meint, mag er konkrete Wirklichkeitsbeschreibung vor sich haben. Das Gedicht bedarf offensichtlich einer behutsamen Aufschlüsselung.
Dennoch eignet den Versen auch eine spontane Wirkung, die die eigentliche Voraussetzung jeder näheren Beschäftigung ist. Es sind besonders einzelne Zeilen und Bilder, die unmittelbar ergreifen und das geistige und gefühlsmäßige Interesse schüren – jenes geheimnisvolle „nach Lauch und Zwiebel riecht der Wind“ (Z 1) oder das rührend-frivole „mein Herz stahl sich das Jesukind“ (Z 3), das grauenvoll zärtliche Sprechen von dem „Krüppelchen aus Wut und Galle“ (Z 14) sowie der sanft-resignierende Abschluß „denn jetzt ist es wie alle Frauen“ (Z 24). Ob oder wie diese Bestandteile zur poetischen Einheit geformt sind, muß sich im folgenden erweisen.
Eine erste und einfachste Verknüpfung der verschiedenen Elemente liegt natürlich in der äußeren Gestalt des Gedichts. Das Schaffen eines Gedichttons ist ja seit je vornehmste Funktion von Strophen, Reim und rhythmischen Wiederholungen. Die Form dieses Gedichts erscheint so unkompliziert und durchsichtig wie selten bei der Dichterin. Etwa die Hälfte der Gedichte Christine Lavants sind unstrophisch geschrieben; viele sind ungereimt, andere haben künstliche und wechselnde Reimschemata. Ein häufiges und besonders wirksames Gestaltungsmittel der Autorin ist die Technik, konkurrierende syntaktische, rhythmische und Reim-Strukturen zu gebrauchen, wobei ein Prinzip das andere hinterfragt. Dagegen wirkt die Anlage des vorliegenden Gedichts wie ein Wunder an Regelmäßigkeit. Die Dichtung beschreibt ein Lebensschicksal, einen geradlinigen zeitlichen Ablauf, in dem die sechs vierzeiligen Strophen sich geschehnismäßig kontinuierlich aneinanderreihen. Jede Strophe enthält eine erlebnishafte Begebenheit, besteht aus einem einzigen Satz und ist durch einen abschließenden Punkt deutlich markiert. Nur die erste und die fünfte Strophe enthalten die Andeutung einer inhaltlichen Zäsur. Aber während in der ersten Strophe, die expositionsartig eine äußere und eine innere Situation einführt, die parenthetische Frage mit dem zugehörigen Fragezeichen den Einschnitt zumindest flüchtig kennzeichnet, unterscheidet sich die fünfte äußerlich nicht von den übrigen. Die Dichterin verzichtet auf einen Punkt nach Zeile 18, der den Perspektivenwechsel von dem Pelzfänger zu dem herumgestoßenen Herzen kennzeichnen könnte und bleibt dem straffen Formschema treu.

Reim, Rhythmus und Satzstruktur ergänzen sich zu einem schlicht-konservativen Gesamteindruck. Die Sätze sind denkbar einfach: meist Hauptsätze, ohne logische Verbindung aneinandergereiht oder durch ein unscheinbares ,und‘ verbunden. Die wenigen kurzen Nebensätze reichen kaum über die Bedeutung eines bescheidenen Attributs hinaus. So wird der große Bestand an innerem Erleben knapp, nüchtern und ,matter of fact‘ dargeboten. – Mit dem Kreuzreim hat die Dichterin das populärste Schema einer vierzeiligen Strophe gewählt. Der vierhebige jambische Rhythmus der Verse fließt mühelos über jeweils zwei Zeilen hinweg, da die erste und die dritte Zeile stets mit männlicher Kadenz enden und ohne Pause in die nächste Zeile übergehen. Der zügig vorwärtsdrängende Satz erfährt nach der zweiten Zeile durch das Nebeneinander der unbetonten Silben im Vers-Ausklang und im nachfolgenden Auftakt einen kleinen Aufenthalt, aber erst am Ende der Strophe, wo die weibliche Kadenz mit der Erfüllung des Reimklangs und dem Ende des Satzes zusammenfällt, ergibt sich eine wirkliche Pause. In den Strophen drei, vier und fünf haben die Anfangszeilen im Auftakt einen Nebenton, der über die Pause hinweg die gedankliche Verbindung zu der jeweils vorausgehenden Strophe andeutet; aber nur in der fünften, wo das streng gliedernde strophische Prinzip, wie wir bereits gesehen haben, inhaltlich weniger evident erscheint, wird dieser Ton so stark, daß die Rückwendung dem Vorwärts streben die Waage hält – eine geringe Unregelmäßigkeit, die den harmonischen Klang des Ganzen kaum beeinträchtigt.
Leichtigkeit und Glätte der Form gehören bei Christine Lavant nicht unbedingt gehaltlich einfachen Gedichten zu. Sie dienen vielmehr oft der Absicht, Fremdartiges durch Vertrautes und unmittelbar Eingehendes näherzubringen. Die geschmeidigste Gestalt unter den lyrischen Gebilden der Dichterin haben oft die geheimnisvollen Zaubergedichte:

Im Lauchbeet hockt die Wurzelfrau,
zählt Zwiebelchen und Zehen.
Was wird mit mir geschehen?
Sie nimmt es so genau.

Weist die Motivgleichheit der Anfangszeilen unseres Gedichtes darauf hin, daß diese aus einem verwandten Geist geboren sind?
„Nach Lauch und Zwiebel riecht der Wind“ – dieser Satz liest sich zunächst als reine atmosphärische Beschreibung. Christine Lavant lebte auf dem Dorf und machte gern abendliche oder nächtliche Spaziergänge. Der Geruch von Lauch und Zwiebel mag ein unmittelbar realistisches Element solcher Umgänge sein. Die folgende Reflexion „vielleicht half er den Bauern schlachten?“ widerspricht dem nicht. Sie gibt, wenn man sie in nüchterne Prosa übersetzt, eine plausible Erklärung, woher der starke Geruch kommt: die Gewürze spielen eine Rolle beim Schlachtfest. Die Dichterin kennt sich offensichtlich in der bäuerlichen Welt aus und beruft in der Exposition ihres Gedichts die ihr vertraute Szenerie.
Diese harmlose Erklärung erschöpft aber die Exposition nicht. Die Personifizierung des Windes als Schlacht-Knecht oder Schlacht-Gehilfe der Bauern, die ein surrealistisches Element in die scheinbar alltägliche Situation bringt, atmet etwas Brutales und möglicherweise Bedrohliches – besonders für ein schwaches, von Schuldgefühlen verunsichertes Ich. Auch sind Lauch und Zwiebel nicht irgendwelche gleichgültigen Gewächse. Ihre Bitterkeit und Schärfe beißen in die Augen und rufen Tränen hervor. Christine Lavant, deren Werke voll von folkloristischen Motiven sind, war sich gewiß auch der Bedeutung der Zwiebelpflanzen als magischer Schutzmittel in der Volkskunde und Volksmedizin bewußt. In einem ihrer stark verfremdeten Gedichte aus der Sammlung Spindel im Mond kämpfen Zwiebel und Lauch zusammen mit dem Schimmer des Mondes gegen den ätzenden Rauch einer brennenden Schutthalde, um das Dorf vor der Zerstörung zu bewahren. Etwas wie Zaubermacht haftet ihnen wohl an. In unserem Gedicht jedoch verbünden sie sich mit dem Wind, dem das heimatlose Ich ausgesetzt ist. Wir wissen aus biographischen Zeugnissen der Dichterin, wie sehr diese wegen ihres leidenden Gesundheitszustandes den Wind gefürchtet hat und wie oft sie sich deswegen tagelang nicht aus ihrer engen Wohnung gewagt hat. Die Wehrlosigkeit des Ichs gegenüber dem Wind macht diesen auch hier zum Herrn über die Herumgetriebene. Als „Herrenwind“ wird er am Beginn der zweiten Strophe das Geschick der Bettlerin bestimmen. Die ,realistische‘ Beschreibung des Anfangs hat eine hintergründige symbolische Bedeutung angenommen.
In der dritten Zeile kommt zum ersten Mal das Ich in den Blick, von dem hier schon mehrfach die Rede war. Es erscheint jedoch nicht als komplette Person, sondern nur als „mein Herz“. Das sprechende Ich schaut dem erlebenden Ich, dem Herzen, aus einer gewissen Distanz zu. Bedeutet das nun eine perspektivische Verengung der Persönlichkeit? Christine Lavant hat die Neigung, in ihren Gedichten zwischen den einzelnen sinnlichen, seelischen und geistigen Funktionen des Ichs zu unterscheiden. Herz und Wille, Sinne und Hirn, Mut und Angst – ja, selbst verschiedene Körperteile werden einander entgegengesetzt, um die innere Zerrissenheit und Verstörtheit der Person zu bezeugen. Das Herz ist die höchste Instanz in dem seelischen Haushalt des Ichs und wird in ungezählten Bildern immer wieder neu beschworen. In dem vorliegenden Gedicht geschieht aber das Gegenteil von dem, was sonst üblich ist: Das Herz wird nicht mit den anderen sinnlichen und seelischen Regungen konfrontiert, sondern es versammelt als ,pars pro toto‘ die ganze Persönlichkeit in sich. Als Organ der Sehnsucht und der Liebe leitet es das Tun des weiblichen Ichs und kann deshalb für dieses selbst stehen. Mit der Schlußzeile des Gedichts, in der die Dichterin Herz und Frauenschicksal identifiziert, wird dieser Zusammenhang ausdrücklich bestätigt.
Das Herz, bzw. die Person, für die es steht, erscheint nun in einer höchst problematischen Situation – als Diebin, die das Jesukind gestohlen hat. Durch einen verbotenen, unmoralischen, ja, frevelhaften Akt hat das Ich das Gericht auf sich gezogen und sein Schicksal selbst verschuldet. Der Lavant-Kenner wird sich sogleich an die häufig berufene Selbstaussage erinnern, welche die Autorin einmal, als man sie um eine Interpretation der eigenen Dichtung bat, ihren Versen mitgegeben hat: „Dieses Gedicht ist, wie fast alle anderen meiner Gedichte, der Versuch eine – für mich notwendige – Selbstanklage verschlüsselt auszusagen.“ Welches Schuldgefühl quält die Dichterin? Und wie ist es mit der Schuld des diebischen Herzens bestellt? Gibt es Erklärungen, Rechtfertigungen und mildernde Umstände?
Der Diebstahl des Jesukindes hat offensichtlich eine doppelte Dimension. Auf der kreatürlich-elementaren Ebene handelt es sich schlicht um die Entführung eines Kindes, das Verbrechen des Kindesraubs. Das Herz, das sich nach Mutterschaft sehnt, greift zur Selbsthilfe. Diese Bildebene lebt aus intimen biographischen Tiefen der Dichterin. Christine Lavant hat darunter gelitten, daß sie nicht sein konnte „wie alle Frauen“ (Z 24). Sie bewunderte ihre Mutter, die neun Kinder geboren und sich für die vielköpfige Familie in harter Arbeit aufgeopfert hatte, und sie empfand die eigene Kunst dagegen als peinlich und schamlos, eine Verschuldung gegen das wirkliche Leben: „Wäre ich gesund und hätte 6 Kinder, um für sie arbeiten zu können: das ist Leben! Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar.“ Der elementare Wunsch nach dem eigenen Kind bestimmt die Bildvorstellungen durch den Ablauf des ganzen Gedichts. Zwar wird in der vierten Strophe für das Jesukind, welches das Herz sich gestohlen hatte, das „Krüppelchen aus Wut und Galle“ substituiert, aber die Empfindungen des Ichs gegenüber dem Kind nehmen durch diesen Ersatz keinen Schaden.
Andererseits ist das gestohlene Jesukind natürlich Jesus Christus in seiner religiösen Funktion als Heiland der Menschheit. Das Herz, die Mitte des Gefühls, verlangt ganz unmittelbar danach, dem göttlichen Erlöser in Liebe anzugehören. Ist das ein Verbrechen? Wie oft beklagt sich das Ich in Christine Lavants Gedichten über die Erbarmungslosigkeit Gottes, über die Ferne Jesu Christi, der sich um die leidende Menschheit nicht kümmert! Kaum verhüllt, rechtet die Dichterin selbst bittend, klagend, fordernd, anklagend mit dem Gott, den sie einst fraglos verehrt hatte. In unorthodoxen „Lästergebeten“ brechen die widersprüchlichsten Gefühle hervor und bauen sich tiefe Schuldgefühle auf. Aber aus aller Verzweiflung, aus aller Empörung findet Christine Lavant stets den Weg zurück zur Hoffnung auf die göttliche Liebe und zur Erwartung eines ,menschlichen‘ Gottes. In der naiven Vorstellung von dem gestohlenen Jesukind verliert sich das Bewußtsein der Verfehlung gegenüber Gott beinahe vor dem Bedürfnis nach dem ursprünglichen, unverdorbenen Zusammenhang mit dem Erlöser: Kann man eigentlich das Jesukind stehlen? Ist es nicht das gute Recht eines jeden Herzens, sich das Jesukind zu nehmen? Vielleicht ist das Ich doch nur eine Bettlerin, die ganz treuherzig-einfach „jetzt wo übernachten“ (Z 4) möchte, und die Vorstellungen von dem Diebstahl sind allzu sehr aus der Perspektive eines strengen Moral-Richters gedacht. Das Wort ,stehlen‘ wird nur einmal gebraucht (Z 3). Bei der nächsten Erwähnung ist viel weniger kraß von dem „Herz, das Kinder nimmt“ (Z 7) die Rede. Und wie weit man das Ich wirklich mit den „Dieben“ (Z 11) gleichsetzen muß, die aus dem Haus des Herrn gepeitscht werden, bleibt offen. – Die Situation soll nicht verharmlost, der Diebstahl nicht weginterpretiert werden. Das sprechende Ich fühlt sich jedenfalls keineswegs frei von Schuld, aber es ist nicht unbedingt ausgemacht, daß der Spruch eines wohlwollenden Gerichts nicht zugunsten des Herzens ausfallen könnte.
Doch ein wohlwollendes Gericht gibt es nicht. Das Ich, das für die Nacht Schutz und Geborgenheit sucht, muß sich zwei Instanzen stellen, um zu erfahren, daß es verworfen ist, daß ihm kein Quartier unter den Gerechten zusteht. Der Wind aus der ersten Strophe hat sich zum „Herrenwind“ aufgeschwungen, dem Macht gegeben ist über das Herz. In seinem neuen Titel vereinigt sich die Gewalt, die er übt, mit der Beziehung auf Gott, den Herrn, den er als Vorbote vertritt. Gott selbst, der im Bild der gewaltigen „Atemwolke“ (Z 8) beschworen wird, ist umgekehrt nur die Steigerung dieses Vertreters ins Absolute. Beide begegnen dem Ich mißtrauisch und mitleidlos. Der erste jagt es weiter zu dem Oberrichter, der zweite peitscht es aus dem Haus.
Christine Lavant hat Gott als erbarmungslos streng erfahren, als ungerührt durch Bitten und Gebete. Sein Porträt in diesem Gedicht ist geradezu das eines aufgeblasenen Popanz. „Der atmet ein und atmet aus und spürt das kleinste Ungerechte“ (Z 9-10). Inhaltlich bedeutet das vielleicht nur: Ein Atemzug genügt ihm, um über die Person und das Geschick eines Menschen zu entscheiden. Aber durch den Sprachklang, den Parallelismus der Sätze – „der atmet ein und atmet aus“ – und die Wiederholung der Wörter, wird Gott zum mechanistischen Prinzip verwandelt. Kein Wunder auch, daß an dieser Stelle vorübergehend die konkrete Bildlichkeit zugunsten des abstrakten Wortes „das kleinste Ungerechte“ abdankt. Gottes Gerechtigkeit ist ein kaltes, abstraken Erkennen und Tun, vor dem das fühlende, leidende Herz nicht bestehen kann.
Mit der Vertreibung des Herzens aus dem Hause Gottes und der Überlieferung an den ärgsten der Knechte ist der Wendepunkt des Gedichts erreicht. Gott distanziert sich von der Protagonistin und kümmert sich nicht mehr um sie. Seine Welt und die Nähe des Jesukindes bleiben ihr fortan verschlossen. Aber wer ist der „ärgste Knecht“, dem sie nun angehören soll? Das „Krüppelchen aus Wut und Galle“, das sie von ihm trägt, läßt auf den Zorn als möglichen Vater schließen. Daß die Verstoßene in die Arme des Zornes fällt, wäre ja ganz plausibel. Aber die folgenden Bilder weisen auf einen noch unheimlicheren Haus- und Bettgenossen. Es mischen sich da Vorstellungen von Fallenstellerei und Seelenfang. Als „Knecht“ mag der unangenehme Geselle, mit dem das Ich nun liiert ist, ja ein Pelzfänger sein; wenn er Mutter und Kind als „Köder zu der Seelenfalle“ (Z 16) schleppt, so wird aber sein eigentliches Gewerbe deutlich: Es ist der Satan selbst, der Macht über das Ich gewonnen hat. Wer sonst ginge „Unerkannt durchs Volk“ (Z 18) und suchte seine Opfer? Der Superlativ in der Verbindung „dem ärgsten Knechte“ (Z 12) war also ganz wörtlich zu verstehen. Gott hat sich von dem Ich abgewendet und es dem Bösen überlassen. Deshalb taucht das Herz auch „in die Hölle“ (Z 19), während es sein Krüppelchen an sich preßt.
Aber die Verbindung mit dem Bösen ist kein reines Unglück. Hatte das Herz nicht einst aus Einsamkeit und aus dem Bedürfnis nach Liebe das Jesukind gestohlen? Von dem Satan empfängt die Kinderlose ein Kind. Und mag dieses auch ein bedenkliches „Krüppelchen“ sein, so deutet doch das Diminutiv in seiner Wiederholung (Z 14, 20) auf die Zärtlichkeit, die das Ich dem Kind entgegenbringen kann und entgegenbringt. Das Gedicht ist von einer traurigen Ironie durchdrungen. Nicht im göttlichen Bereich, sondern in Verbindung mit dem Bösen erfüllt sich für die Bettlerin das Erlebnis der Mutterschaft, das Frauenschicksal, nach dem sich die Gedemütigte gesehnt hatte. Aus der Verstoßung durch Gott wächst ein Segen, den der erbarmungslose Richter sicher nicht vorausgesehen hatte. Nicht durch die Gnade Gottes, sondern durch die Härte oder trotz der Härte Gottes entfaltet sich ein ebenso unerwartetes wie makabres Glück.
Und hier ergibt sich eine zweite ironische Dimension. Das verstoßene Ich gedenkt in Anhänglichkeit an den, der sie aus dem Haus gepeitscht hat. Es ist demütig bereit, Gott dafür zu danken, daß sich seine Strafe in Heil verwandelt hat. Wie die „verzauberte Zehe“, die in einem späteren Gedicht noch weitertanzt, nachdem „der Herr mit der Peitsche“ längst fortgegangen ist, – wie die Dichterin mit böser Ironie sagt, „damit seinem Zorn nichts geschehe“ – so hält das Ich hier an der Beziehung zu dem Gott fest, der sich von ihm abgewandt hat. Wie das Ich, das sich wieder in einem anderen Gedicht „auf den Spitzen meiner Zehen“ vergeblich nach dem transzendenten Glanz der Sterne streckt, so reckt sich auch das Herz in unserem Gedicht auf den Zehen von der Hölle, der es verbunden ist, zur Höhe, um Gott „ganz dankbar in die Augen“ (Z 22) zu schauen. Die Sprache wandelt sich hier geradezu ins Poetisch-Sentimentale. Das Ich mit seinem Krüppelchen aus Wut und Galle, mißbraucht als Köder des teuflischen Seelenfängers, ortlos zwischen Himmel und Hölle, fühlt Gott gegenüber „sanfter als der Abendstern“ (Z 23). Die Frage, ob diese Worte nur die rührende Unschuld des Herzens anzeigen sollen oder, bewußt durchlässig, ein angestrengtes Harmonisierungsstreben bezeugen, das letztlich nicht ganz authentisch erscheint, muß wohl unentschieden bleiben. Christine Lavant ist sich dieses Gegensatzes zwischen der Kraßheit ihrer Klagen und Anklagen einerseits und der Neigung, am harmonischen Kindheitsglauben festzuhalten, durchaus bewußt. In einem Gedicht, in dem das mißhandelte Ich die gleiche kaum glaubliche Reaktion zeigt wie hier, wird dieser Widerspruch voll ins Bewußtsein gehoben:

Ich hör mein Herz die Gnade Gottes loben,
das dringt wie Bellen mir durch Mark und Bein.

Wir haben uns nun durch das ganze Gedicht bewegt und versucht, die Bilder und sprachlichen Zeichen auf ihre Bedeutung und ihre wechselseitigen Beziehungen zu befragen. Wir haben den Kontrast zwischen dem göttlichen und dem satanischen Bereich als Raum menschlichen Schicksals erörtert und haben die Verflechtung der religiösen und der elementaren kreatürlichen Bedürfnisse analysiert. Eine weitere mögliche Dimension des Gedichts verdient wenigstens einer kurzen Erwähnung: die poetologische. Christine Lavant reflektiert in ihren Versen selten über die eigene Kunst, und auch unser Gedicht verlangt nicht notwendig nach einer poetologischen Interpretation. Es erschließt sich durchaus befriedigend aus seinen menschlichen und religiösen Motivzusammenhängen, die, wie wir gesehen haben, zudem tief im Biographischen verwurzelt sind. Dennoch ist es verführerisch, den Motivkomplex des Kindes in der zweiten Hälfte des Gedichts zugleich als bildliche Aussage über die eigene Poesie zu lesen, die Mutterschaft des Ichs mit geistiger Mutterschaft zu identifizieren. Es gibt in den drei Gedichtsammlungen, die Christine Lavants Ruhm ausmachen, zwar kein einziges Zeugnis dafür, daß das Wort Kind als Gedankenkind und Bild für das Gedicht aufzufassen wäre. Aber dieser Symbolkomplex gehört zum poetischen Allgemeingut und leuchtet auch ohne Parallelstellen ein.
Gewinnt nicht die Vision von dem Kind, das „aus Wut und Galle“ zu bestehen scheint, an präziser Aussagekraft, wenn man das bildliche Reden auf das Dichten der Autorin bezieht? Das Ich des Gedichts nährt sich durchweg aus dem eigensten Lebensstoff Christine Lavants – warum nicht auch in dieser Hinsicht? Wie das zum Bösen verstoßene Herz mit einer aus Wut und Galle gebildeten Leibesfrucht niederkommt, so läßt die an Gott verzweifelte Dichterin ihren Zorn und ihre Frustration in Gedichten aus, vor denen ihr selbst als dämonischen Produkten bisweilen graut. – Auch die Fiktion der Mutter und ihres Geborenen als „Köder“ bei der „Seelenfalle“ (Z 16) ist plausibler, wenn hinter dem Kind das Gedicht aufleuchtet. Die Dichtung kann wohl eher als Werkzeug der Verführung mißbraucht werden als der arme Krüppel. Am bezeichnendsten aber ist das Bild des „Krüppelchens“ selbst. Es erscheint geradezu als eine leicht variierte Wiederholung jener bereits zitierten selbstkritischen Aussage der Dichterin: „Kunst wie meine, ist nur verstümmeltes Leben.“ Die Zärtlichkeit gegenüber dem Krüppelchen spiegelte dann das Bekenntnis zur eigenen Dichtung – trotz aller Reserven. Letztlich ist die Dichtung, die es der Autorin ermöglicht, Leid und Verzweiflung auszusprechen und in Kunst zu verwandeln, eben doch ein Segen.
In der Schlußzeile vereinigen sich, wenn dieser Aspekt nun bestehen soll, die menschliche und die poetologische Schicht des Gedichts: das Dichten erscheint als Erfüllung von Christine Lavants Frauenschicksal.

Wolfgang Nehring, aus: Grete Lübbe-Grothues (Hrsg.): Über Christine Lavant, Otto Müller Verlag Salzburg, 1984

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