Zeitschrift: die horen – Heft 268

Mashup von Juliane Duda zu der zeitschrift „die horen“

die horen

DICHTEN, RICHTEN, ZEICHNEN

Do you like me?
– Yes, and you?
– Yes, yes.
Motto des Gedichts „El niño Stanton“

 

Ein junger Mann reist nach New York. Er reist, weil er auf eine Bahn geschossen worden ist, eine Umlaufbahn, die ihn, als das Wort Überseedampfer noch geläufig war, in einem schönen Bogen über den Atlantik führt. Er ist ein erfolgreicher junger Mann. Ein Gedichtband von ihm hat aufhorchen lassen, ganz Spanien horchte auf, wenn man Ohren hatte, es zu hören. Romancero Gitana: Die Freunde fanden den Band preziös, kitschig oder als die Zurücknahme der Moderne, für die sie bedingungslos eintraten, während eben dies für unerfahrene Leser und Leserinnen ein Gewinn war.
Er stellt sich ein Amerika aus Bildern und Hoffnungen vor. Er könnte zufrieden sein. Aber es gibt auch zurückgelassene Enttäuschungen. Er ist auch enttäuscht von sich selbst, enttäuscht, dass er eine Enttäuschung ist und bleibt – für den Vater, für die väterliche Welt. Er hat keinen Platz darin. Er kehrt Europa den Rücken, und in dieser Rückenansicht ist er verwundbar. Er blickt auf zum Chrysler-Gebäude, misst sein Selbstbild am Hochhaus, und es ist, wie nicht anders zu erwarten, zerschmettert. Orangen, Oliven, Brunnenmärchen. Er hat das Pech oder das Glück, gerade zur Zeit des Börsenkrachs in Amerika anzukommen. Er sieht die Fratze des Kapitalismus, seine zerstörerische Gewalt. Sie wälzt sich über Leichen. „Die beiden ersten Elemente, die dem Reisenden in der großen Stadt auffallen, sind außerordentliche Architektur und rasender Rhythmus. Geometrie und Angst“, schreibt er in seiner Rede Ein Dichter in New York, mit der er eine Lesung seiner zu Lebzeiten meist unveröffentlicht gebliebenen Gedichte von der Reise einleitet. Darin ist er einmal ein „sleepy boy“, ein andermal der Rächer der Schwarzen, dann der empfindsame Dichter, der sich verteidigen muss „gegen diesen gewaltigen Drachen, vor dem ich stehe, der mich mit den dreihundert gähnenden Mäulern seiner dreihundert enttäuschten Köpfe verschlingen kann.“
Eigentlich ist er Student der Columbia University, paukt die neue Sprache, aber auch nicht so sehr. Er hat ja eine Sprache, eine biegsame, fließende Sprache, er ist sprachmächtig, Doch das Lebensgefühl seines unwirtlichen Gastlandes studiert er, und es stößt ihn ab. Er schreibt auch Rechenschaftsberichte an den Vater, den Geldgeber, der ein menschliches kleines Chrysler-Gebäude in Granada ist. Der Vater, so überlieferte es ein Freund, zerriss die Bücher, die er bei seinem Sohn fand. Das ist beschämend für beide. Einerseits ist er in der patriarchalischen Vater-Sohn-Struktur gefangen, andererseits ist er Prophet, Ankläger und zugleich Richter, empört über das Unrecht, das vor seinen Augen an Schwarzen, Armen, Kindern verübt wird. Aber eigentlich hat er Heimweh – nach seiner Sprache, dem Duft, der Erde, den kleinen Häusern, den Hunden, den Pferden. Die Dichtersprache blüht, Oleanderblüten, Orangenblüten. Kindheitserinnerungen überfluten ihn. Äußerlich ist er frei, bedingungslos, besinnungslos frei. Das heißt, er ist seinen Obsessionen, Dämonen ausgeliefert:

Bitte keine Fragen. Ich habe die Dinge gesehen:
Sie suchen ihre Linie, doch sie finden ihre Leere.
Lücken liegen schmerzend in der menschenleeren Luft
Und in meinen Augen Kleiderwesen – ohne Körper!

Großstadtlyrik schreibt er nicht. Alle Klischees der Zivilisationskritik liegen ihm fern. Die Stadtlandschaft ist ein Ballungsraum von Traurigkeit (Trauer?), Menschenmassen stehen allegorisch für Tote, die Nennung von markanten Punkten führt nicht zu wiedererkennbaren Abbildern. Die Brooklyn Bridge verbindet die Welt der Lebenden mit der der Toten. Aber wo ist die Seite der einen, wo die der anderen? Coney Island ist ein Meer mit Zeitungspapier, Dosen, einer fetten Frau, Brüsten von Prostituierten und dazwischen:

Ich, ein Dichter ohne Arme, verirrt
In der Menge, die sich erbricht.

Ich sah diesen jungen Mann am 15. Mai 2013 in New York, als ich bei leuchtend blauem, wolkenzerfetzten Wetter, atlantischem Wind – ich hatte auf einer Dachterrasse gefrühstückt, der Wind spülte Wellen von Milch an den Tassenrand – in das Portal der Public Library schlüpfte. Aber das ist nicht das richtige Wort. Man tritt aufrechten Hauptes in die wuchtige Neorenaissance, steigt mit gestrafften Schultern die breiten Treppenstufen hoch, die riesige Halle des oberen Foyers macht befangen. Hier ist der Tempel der Bücher, demütig und erhaben nähere man sich ihm. Eines der Katalogschublädchen mit dem Anfangsbuchstaben des eigenen Namens aufzuziehen, ihn zu finden und die entsprechenden Karten zu zählen im unverhohlenen Triumph, war früher eine Art von Selbstermächtigung, über die nicht gesprochen wurde. Wie der ertappte Dieb schob die neugierige Hand das Kästchen zurück auf die Leiste, und der Tag, wie warm, wie blau auch immer, leuchtete. Der Katalog, seitdem er digitalisiert worden ist: ein Grabmal des nicht unbekannt bleiben wollenden Dichters, jeder Symbolkraft entkleidet, der Zugriff banal.
Ein Plakat hatte mich angezogen, eine Kabinett-Ausstellung über den andalusischen New York-Reisenden in der Public Library, also nur ein rascher Blick in den atemberaubenden, ehrwürdigen Lesesaal, und dann ins Kleinteilige, Zarte: Es sind vorwiegend Erstausgaben, Manuskripte, ein Pass. Ich sah den jungen Mann, aufgebrochen aus den Mutterhöhlen, aus den dunklen, der Hitze trotzenden Häusern der Frauen, dem Fluchtpunkt vor der väterlichen Gewalt, die ihn geschlagen hatte aus dem Haus hinein in die Kunst. Er liebte einen Torero, den ein Stier auf die Hörner genommen hat. Aus der Schwärze in die gleißende Helligkeit, Geheimnisse, die offensichtlich sind, in der Hitze der Gefühle, Leidenschaft, Übertretung, Überschneidung mit der öffentlichen Moral. Die Reise nach New York darf als eine Flucht nach vorn angesehen werden. Er dichtete, und zu meiner Überraschung zeichnete er – und was für Zeichnungen: Federstriche wie Nadelstiche in die Arroganz der großen Stadt. Er zeichnete hohe Türme in biegsamer Verzerrung, hohle Fenster, Punkte in einem erloschenen All, daneben spiralige Linien, bei denen er die Feder nicht absetzt, manchmal zittert der Faden ein wenig, kleine Verzögerungen in der Perfektion. Er zeichnet abgeschlagene Hände, als wären es Handschuhe, aus ihnen rinnen fester und kraftvoller gezeichnete, längliche Zungen, Tropfen. Unter der rechten Hand ein fein gestricheltes Netz, das in kühnem Schwung in einer Doppelacht die beiden Hände umfängt, verbindet. Eine gedrehte Säule teilt sich, der eine Teil wächst aus einer Hand, sie ist zierlich und trägt schwer an dem Gewicht, der rechte Teil des Säulenschafts endet in einem Henkel wie bei einem Kerzenleuchter. Durch die Öffnung zieht sich ein labyrinthischer Faden, der in vielen eleganten Windungen auf ein kleines Haus zuläuft, hier endet er in einer Quaste. Unten am Schaft hält oder beschwert ihn eine winzige Figur. Es könnte ein Menschlein sein, das auf dem Podium steht und die Arme hilfesuchend reckt. Es könnte ein Insekt sein. Können Zeichnungen Ideologie sein, Ideologie transportieren? Nicht, wenn sie so zart und verwundbar sind, in jedem Strich erschütterbar. Die Feder, der Stift, die ihn führende Hand darf die Contenance nicht verlieren, während der Text ausufert, sich verströmt, überbordet.
Ausgestoßen, mit Gewalt abgenabelt, auf eine Umlaufbahn geschickt, die im Ungefähren verglüht, ist auch ein anderer junger Mann. Er ist entschieden jünger, unerfahrener als der Andalusier, wenn er in Amerika ankommt, aber er geht ihm voran mit tapferem Schritt in eine existenzielle Fremdheit. Denn das bedeutet sein Amerika. Sein Autor führt ihn an einer kühlen, skrupulösen Hand; eigentlich will er ihn nicht in die Öffentlichkeit entlassen. Aber da ist er schon in der großen Stadt angekommen, von seinem großmächtigen Onkel in Empfang genommen. Von ihm werden die Regeln gesetzt, denen sich der junge Mann bedingungslos unterwerfen muss. Mit Eifer lernt er die fremde Sprache, während der Erstgenannte mit seinem Unterricht nachlässig verfährt. Der junge Immigrant wird in eine Ereignisspirale, in eine Verwirrung geschrieben, aus der ihn sein Erfinder Franz Kafka nicht herausführt. In den losen Verknüpfungen bleibt das Fragment Geheimnis. Der junge Mann ist Karl Roßmann, „der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte“. Er muss von seinem Autor an die Hand genommen werden, Station für Station erleidet er.
Aber der schlaflose Federico García Lorca: Er ist gepeinigt von der Unruhe der Toten, der Unerlöstheit, die seinen Selbstzweifeln entspricht. In einer Nacht, in der er wieder nicht schlief, stand der Urvater Amerikas neben ihm. Er hatte ein Buch in der Hand, und sein weißer Bart zitterte. Federico García Lorca, so sprach er ihn feierlich an: Was beleidigst du mein wunderbares Land, das Väter geschaffen haben, Pilgerväter, Flüchtlinge aus deinem Kontinent, freiheitsdurstige, wagemutige Leute, während bei euch erwachsene Männer mit krummem Rücken ein schweres katholisches Kreuz schultern und in einer düsteren Prozession freiwillig herumtragen? Männer, die ohne es wissen zu wollen, von Arabern abstammen, hochmütigen Hengsten, zickigen Stuten? Was sprichst du vom amerikanischen Babel, wenn in deinem Land Gomorrha liegt? Tieropfer werden gebracht, Stiere, öffentlich zum Vergnügen einer Menge gequält, abgeschlachtet. Was hast du zu flennen, armer Dichtersohn? Der Titan Walt Whitman sprach natürlich nicht in meinem langatmigen, schweifenden Deutsch mit den ellenlangen Wörtern, wie Eisenbahnwaggons aneinandergekoppelt, sondern in knappen, amerikanischen Einsilbern; wie Schläge prasselten sie nieder. Aber wenn man sie aushielt, ihre Wucht, ihre Treffsicherheit, oh, wie viel Schönheit, Aufmerksamkeit für jeden Gegenstand, auch für die Haut des jungen, gedemütigten Mannes war in ihnen. Yes, sagte Lorca, yes. Einer längeren Antwort war seine Sprachkenntnis noch nicht gewachsen. Er habe doch die eigene Sprache mitgebracht, die ihm passte wie ein litzenbesetzter Bolero. Aber tritt man so einem alten Dichter gegenüber? Besser bloß und nackt und demütig. Du solltest meine Sprache nicht verunehren. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Whitman sprach nicht nur von Amerika, er war Amerika, die Schläge mündeten in einen melodischen Singsang, aus dem das Wort democracy hervorstach.

Von all meinen hochfahrenden Gedichten steht mein wahres
aaaaaIch noch unberührt, unausgesprochen,
Weit abseits, meiner spottend mit spöttisch-beglückwünschendem
aaaaaNeigen und Grüßen,
Mit fernher schallendem, ironischen Gelächter über jedes Wort,
aaaaadas ich schrieb.

Von solchem gusseisernen Selbstbewusstsein ist der Angegriffene Lichtjahre entfernt. Aber etwas schreckt ihn auf: die Luftigkeit seiner langzeiligen Verse, darin folgt er ihm, nicht der Ideologie. Lorca schreibt jetzt freie Verse, jenseits der spanischsprachigen Traditionen, die die Erhabenheit streifen, immer wieder brechen oder in den Alexandriner heimholen. Er schreibt von Düsternis und Schrecken mit Blut auf einer spiegelglatten Fläche. Ich versuche, ihn zu trösten, allein mit ihm im Kabinett der Public Library, und zitiere ihm aus einer geologischen Skizze von Goethe aus dem Jahr 1819:

Nordamerikaner, glücklich, keine Basalte zu haben. Keine Ahnen und keinen klassischen Boden.

Aber sein Interesse ist mäßig. Und da taucht wieder der junge Karl Roßmann auf, nicht einmal sechzehn Jahre alt, unendlich einsam im Haus seines vornehmen Onkels und in dieser Bibliothek, aber umzingelt von Menschen, die ihm angeblich wohlwollen, ihn aber vernichten. Der Onkel, der Herr Pollunder, die Oberköchin, der Oberportier, der Oberkellner, die Liftboys, Robinson, Delamarche, die schreckenerregende Brunelda.
Doch jetzt, im Schatten des Übervaters, wagt Lorca, über Homosexualität zu sprechen, zu dichten, über ein mit sich selbst zerfallenes, zensiertes Begehren, „Herzschlag und Grab“. Sein Dichten ist erbittert, das tut keinem Gedicht gut. Abfällig und zornig, bewegt er den Dolch in der eigenen Brust. Er identifiziert sich mit dem Aggressor, der Mehrheitsmeinung, projiziert die Verachtung, die dem Homosexuellen entgegenschlägt, auf sich selbst. Dieses einzigartige Gedicht ist schwul und extrem schwulenfeindlich zugleich. Hier spricht un poète maudit. Es gebietet sich, danach zu schweigen. Oder aufzubrechen, sich einzuschiffen an ein anderes Ufer, das mit seiner Wärme, seiner Leidenschaft ihm brüderlich erscheint. Es ist so etwas wie eine Heimkehr in seinen inneren Bürgerkrieg. Havanna. Karl Roßmann dagegen sucht sein Glück in einer eschatologischen Versprechung, dem Naturtheater von Oklahoma.

Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich!

Das Zeichnen beruhigt, die spitze Feder will geführt werden. Die Zeichnung duldet keine Korrekturen wie das Gedicht, das im Fluss bleibt, um- und umgeschrieben wird, hier eine kleine Zeitschrift, dort eine Freundesgabe. Die Zeichnung in ihrer Zartheit ist ungleich schwieriger zu reproduzieren als der Text eines Gedichts. Der Zeichner ist der schweigsame Bruder des sprachgewaltigen Dichters. Auge und Windrosen, die fallende Maske, der Engel, ein Park, Bäume, die weinen, andere, die aufrecht wie Messer stehen. Am Ende des Fadenlabyrinths ein Aufatmen und dann die winzige Signatur: Stünde nicht der Name Federico García Lorca dort, könnte man die Schrift für die von Franz Kafka halten, steile, gestauchte Buchstaben, eng gesetzt, konzentriert, ohne Schnörkel, ohne Zierrat, keine Konzessionen, keine Kompromisse.
Kafka. Lorca. Amerika. Hurra.

Ursula Krechel

[Alle Zitate von Federico García Lorca aus: Dichter in New York. Gedichte. Spanisch und deutsch. Übertragung und Nachwort von Martin von Koppenfels. Frankfurt a. M. 2000.

Walt Whitman zitiert nach: Walt Whitmans Werk in zwei Bänden. Erster Band. Ausgew., übertragen und eingeleitet von Hans Reisiger. Berlin 1922.]

 

 

 

Zu diesem Band

García Lorca, Federico del Sagrado Corazón de Jesús, Friedrich vom Heiligen Herzen Jesu, geboren 1898, gestorben 1936. Einer der grössten spanischen Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts, berühmt geworden weit über seine Heimat hinaus: Ihm widmet sich der vorliegende Band der horen, der einladen möchte zu einer neuen Lektüre des Werks. Eine „runde Zahl“ ist es nicht, die zu dieser kleinen Anthologie geführt hat, auf einen äusserlichen Anlass ist die Beschäftigung mit Lorca nicht angewiesen, zu keinem Zeitpunkt. Zwar tauchen seine Dramen inzwischen nicht mehr so oft auf den Spielplänen der deutschsprachigen Bühnen auf wie noch vor Jahrzehnten, aber verschwunden sind sie nicht – Bluthochzeit, Yerma, Bernarda Albas Haus, um nur drei seiner berühmten dramatischen Werke zu erwähnen, kann man immer wieder sehen. Und immer gegenwärtig sind auch Lorcas Gedichte und Gedichtsammlungen, das beweist das Interesse an den neuen Übersetzungen von Martin von Koppenfels und José F.A. Oliver, die in jüngster Zeit erschienen sind.
Nicht von ungefähr sind Lorcas Gedichte und Theaterstücke auch anregend für Autorinnen und Autoren, das zeigen die folgenden Seiten. Gebeten wurde um Gedichte, Essays, Szenen, um Übersetzungen, Kommentare, Überschreibungen und Fortschreibungen, um Texte mithin, die auf spielerische Weise an Lorcas Texte anknüpfen, auf sie reagieren, sie weiterspinnen, sie neu beleuchten. Zusammengekommen ist eine Vielfalt von literarischen und essayistischen Texten, die ein lebendiges Gespräch führen mit Lorcas Werk.
Auffallend ist, wie viele Autorinnen und Autoren als Lesende und Schreibende schon früh mit dem Werk von Lorca in Berührung gekommen sind. Nicht selten erinnert die erneute Begegnung darum an die eigenen Anfänge, und diese Begegnung findet in veränderter Beleuchtung statt. Andere wiederum greifen in ihren Texten vor allem Lorcas spürbare Lust an Entgrenzung auf und lassen sich anregen von den unterschiedlichsten Bildern und Motiven. Die hier versammelten Texte führen quer durch eine Fülle von poetischen Verfahrensweisen, Stimmungen und Temperaturen.
Mit Jack Spicer (1925–1965) und Jerome Rothenberg (geb. 1931) sind zwei herausragende amerikanische Lyriker in dieser Ausgabe vertreten, die sich auf ungewöhnliche, sehr intensive Weise mit Lorca beschäftigt haben. Spicer treibt in After Lorca (1957) sein Spiel mit dem spanischen Dichter sehr weit: Er stellt Lorca-Übersetzungen neben eigene Gedichte, die im Lorca-Tonfall geschrieben sind – und lässt offen, was von wem stammt. Dazwischen fügt er Briefe ein, in denen er mit Lorca Fragen der Lyrik diskutiert. Und schliesslich stellt er dem Band eine Einführung voran, in welcher Lorca – über zwanzig Jahre nach seinem Tod – amüsiert bekennt, er habe „Mr Spicer“ einige Gedichte zugeschickt, die er nach seinem Tod geschrieben habe. Was Mister Spicer noch nicht wissen konnte: Lorca pflegte Manuskripte an Freunde zu verschenken, und so sind bis in jüngere Jahre Manuskripte aufgetaucht, die im Wortlaut ein wenig abweichen von dem, was als „der“ Text gilt. Etliche Texte von Lorca, heisst das, sind ungesichert, nicht immer ist zweifelsfrei auszumachen, was die „letztgültige“ Version ist, die Lorca hinterlassen hat. Das braucht für die Beschäftigung mit seinem Werk kein Nachteil zu sein, im Gegenteil. Die Unruhe, die sein Leben schon geprägt hat, die unglaubliche Offenheit, die Neugier, die sein Schreiben markiert, zeigt sich auch darin, dass er bis heute nicht endgültig festzulegen ist.
Lorca hat auf Spanisch geschrieben, wir aber lesen sein Werk meistens auf Deutsch. Die Frage, wie das Werk von Federico García Lorca ins Deutsche übertragen werden soll, hat über Jahre Auseinandersetzungen ausgelöst, sie spielt auch in diesem Band eine Rolle. Im deutschsprachigen Raum waren es jahrzehntelang die Übersetzungen von Heinrich Enrique Beck, dem jüdischen Autor, der 1933 Deutschland verlassen musste, 1936 auf Seiten der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte und nach erneuter Flucht als Emigrant in der Schweiz unterkam. Seine Version von Lorcas Texten war lange Zeit die einzige, die im deutschen Sprachraum gelesen und gespielt werden durfte.
Zwar hatten die Beckschen Lorca-Übertragungen durchaus ihre Verdienste, inzwischen sind sie aber zu grossen Teilen veraltet; sie gelten als verschmockt, teils auch als sehr ungenau. Die Theaterstücke und viele Gedichte und Gedichtzyklen liegen mittlerweile in neuen Übertragungen vor, und damit ist in den letzten Jahren ein „neuer“ Lorca sichtbar geworden. Dieser Band präsentiert einige weitere Neuübersetzungen von Gedichten – jede Übersetzung setzt einen eigenen Akzent, eröffnet eine weitere Lesart und legt damit etwas anderes frei am spanischen Original. Im Lichte der unterschiedlichen Varianten wird die etwas schlichte Frage, was denn nun „richtig“ und was „falsch“ sei, bald einmal müssig, auch davon kann man sich hier überzeugen.
(…)

Martin Zingg, Vorwort

 

GARCIA LORCA

Dem Sohn der Taube
Enkel der Nachtigall
und der Olive

Dreißig andere mit ihm
das Dorf Viznar im Rücken
nur noch ein paar Schritte
als sein Schatten ins Leere fiel

Verloschen sein Feuer
das mit der Taube flog
mit der Nachtigall sang
mit der Olive glänzte

Ach, nicht mit seiner Gitarre
unter dem Sande
zwischen den Orangen
und den guten Minzen

Reinhard Bernhof

 

Fakten und Vermutungen zu die horen + 50 Jahre

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Der Übersetzer Tobias Scheffel im Gespräch mit Martin Zingg und Marco Kunz Mittwoch am 28.11.2018 in der Universitätsbibliothek Basel.

 

Fakten und Vermutungen zu Lorca + Erinnerungen


Federico García Lorca – Porträt, Teil 1/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 2/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 3/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 4/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 5/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 6/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 7/7.

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