FREMDER TOD
Entwurzelt
Und verwachsen mit fremdem Tod
Werfe ich mich ab
Nacht
Für Nacht
Von mir
Offenes Grab
Meine dünne Haut
Kälte böser Blicke
Dringt ungehindert
Ein und aus
Rückwärtsgewandt
Breche ich auf
In den kommenden Tag
Man kann sich seine Freunde nicht aussuchen. Freundschaften sind schicksalhaft, selten, und deshalb kostbar. Die sechziger Jahre, als ich Adel Suleiman Karasholi kennenlernte, waren Jahre der Hoffnung. Ich erinnere mich: Mit unseren zukünftigen Frauen besichtigten wir damals in einem Rohbau unsere vermeintlich künftigen Wohnungen. Wir bekamen diese Wohnungen nicht, doch wir waren nicht traurig. Adel war inmitten der staubgrauen Straßen Leipzigs eine Erscheinung aus dem Morgenland. Seine Fröhlichkeit schien ungebrochen. Unsere Ansprüche waren gering. Wir glaubten, im Bündnis mit dem zu stehen, was wir unsere Zukunft nannten. Aber das Bild dieser Zukunft war eindimensional. Wir wagten nicht, hinter dieses Bild zu sehen. Unser gemeinsamer Lehrer, der Lyriker und Essayist Georg Maurer, der Kant mit Marx zu versöhnen suchte, ermutigte uns, einen Blick hinter das allgemeine Zukunftsbild zu werfen. Wir sahen nun auch die düsteren Hintergründe der Menschheitsgeschichte. Doch wir glaubten, dies sei die Vergangenheit. Krankheit und Tod schienen uns in ebensoweiter Ferne wie die beginnende Umwertung aller scheinbaren Werte. Noch glaubten wir mit Brecht, die Welt sei endlos veränderbar. Sein Satz, daß das, was der Krieg übriggelassen hatte, noch vom Frieden zerstört werden könnte, schien uns lediglich auf die finstere Welt des Kapitalismus projizierbar. Die zerstörten Städte unserer Kindheit, hießen sie nun Dresden oder Damaskus, würden bald wieder schöner denn je aufgebaut worden sein…
Wir lauschten dem Poetismus der Klage, den uns Adel Karasholi mit seinem ersten in deutscher Sprache erschienenen Gedichtband Wie Seide aus Damaskus schenkte. Seine Verse – noch in Arabisch verfaßt und von seinen deutschen Freunden übertragen – berührten uns, wie eben Verse eines Freundes berühren. Diese Gedichte sangen von Liebe, Heimatlosigkeit und Fremde. Karasholis Klage war authentisch, so, wie in den Gedichten Lorcas, Nerudas und Hikmets, denen sie verpflichtet war. Ahnten wir, daß uns diese Klage eines Tages einholen und überholen würde?
Wer wie Adel Karasholi in zwei Ländern und damit in zwei Sprachen lebt, trägt eine doppelte Last. Doch er trug sie mit Würde und nicht ohne Gelassenheit. Wie mag ihm nun zumute sein, der einst mit uns, seinen Brüdern, den Turm zu Babel abreißen wollte? Was ist geschehen? Wir fragen uns ernüchtert, was aus der deutschen Revolution geworden, die wir doch so enthusiastisch begrüßten. Die Heldenstadt Leipzig entpuppte sich als das, was sie von jeher war: bewohnt vornehmlich von jener Spezies des Homo oeconomicus, von dem Adel Karasholi schon 1976 zu berichten wußte:
Zuweilen spukt ein Krämergeist
In diesem besseren Land
Zerfrißt von Fall zu Fall
Das blühende Grün
Mit Mühe gepflanzt
Im Menschen.
Katzenjammer? Nein. Denn Gedichte, und seien sie noch so abgrund traurig, werden auf Hoffnung oder gar nicht geschrieben! Die Biographien der Dichter stehen zwischen den Versen ihrer Gedichte. Zuweilen sind die Seiten ihrer Bücher auch Palimpseste: neue Verse über alte geschrieben. Das Vergangene scheint ausgelöscht. Aber mit der Zeit treten die alten Buchstaben hinter den neuen Texten hervor. Die Texte, die sich überlagern, durchdringen sich und werden auf andere Art wieder lesbar. Die Arbeit des Historikers in uns beginnt. Nachlaß zu Lebzeiten nannte Robert Musil eines seiner Bücher.
Wir, die wir unser fünfzigstes Lebensjahr schon hinter uns haben, beginnen nun selbst, unsere Biographien zu entziffern. Was nicht in unseren Gedichten steht, was zwischen Liebe, Leben und Tod angesiedelt ist, droht, sich zur Legende zu verflüchtigen.
Es ist wahr: Ich finde nicht, was ich suche. In diesen Gedichten meines Freundes blätternd, vermisse ich, woran ich mich zu erinnern glaubte: jene Seide aus Damaskus, die seinem ersten in deutscher Sprache erschienenen Gedichtband seinen Titel lieh. Doch auch die Hoffnung, ich selbst könnte mich und unsere gemeinsame Vergangenheit in jenen Reizwörtern wiederfinden, die mir ein von ferne leuchtendes Damaskus wie eine Fata Morgana vorgaukeln, erfüllt sich nicht.
In dem grauen Leipziger Viertel, in dem der Dichter seit Jahren wohnt, gibt es keine mondbeschienenen Minarette, kein Ruf des Muezzins fordert zum Gebet. Und nicht die Eule der Minerva beginnt hier in der Abenddämmerung ihren Flug, sondern die in den Halbruinen hausenden Fledermäuse umschwirren die neuen Leuchtreklamen in den geisterhaft menschenleeren Straßen. In Camus Tagebüchern lese ich unter dem Stichwort „Handeln und Schreiben“:
Auf der Flucht vor ihrem schlechten Gewissen finden die Besiegten die wahre Schuld und haften dafür, ohne das gewollt zu haben. Eines Tages werden die Sieger ihrerseits besiegt und haften, ohne das gewollt zu haben. Die Geschichte ist ein anhaltendes, von Unschuldigen begangenes Verbrechen.
Nein, Exotik ist nicht angesagt. Die geschichtliche Dialektik, wie sie Camus beschreibt, sucht in den Gedichten Adel Karasholis nach einer Sprache, welche die biographischen Erfahrungen transzendent werden läßt.
Das Exil – Freiheit, Ungleichheit, Brüderlichkeit – hält keine Sprache bereit, in der zu sagen ist, was zu sagen wäre. Der Exilant schafft sich seine eigene Sprache, eine Sprache des Nominalismus, eine Sprache der Hoffnung auf Kommunikation, die seiner Situation entspricht. Es kann und darf nicht jene sein, von der Herwarth Walden gesagt hat:
Die Sichtbarkeit jeder Kunst ist die Form. Form ist die äußere Gestaltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens. Ein Kunstwerk gestalten heißt ein Gesicht sichtbar zu machen. Nicht aber, über das Gesicht zu verständigen.
Tatsächlich läßt sich der Weg, den Adel Karasholi zurückgelegt hat, seitdem er in deutscher Sprache zu schreiben begann, als ein Versuch darstellen, von der Form zum Ausdruck zu gelangen. Und ich füge hinzu, was Thomas Mann über Adelbert von Chamisso bemerkt hat:
Ein Deutscher sein, das hieß beinahe ein Dichter sein. Aber noch mehr: ein Dichter sein, das hieß beinahe schon ein Deutscher zu sein. Dies mag uns helfen, das Erstaunliche zu erklären, daß das poetische Talent eines Ausländers im Erdreich der deutschen Sprache so glücklich Wurzeln zu schlagen vermochte.
Man muß Thomas Mann nicht widersprechen, wenn man der besonderen Sprachsituation Karasholis gerecht werden will. Er selbst beruft sich auf andere Erfahrungen, die er im Umgang mit seinen beiden Sprachen und beiden Ländern gemacht hat:
Bin ich nun wirklich noch ein Syrer? Bin ich schon ein Sachse? Oder vielleicht doch ein Syro-Sachse! Ich weiß es nicht: Nur im Weder-Noch, nur im Sowohl-Als-Auch kann ich sein. Um hier leben zu können, mußte ich Leipzig zu einem Damaskus machen. Um in Damaskus leben zu können, müßte ich es zu einem Leipzig machen. Selbstbetrug in beiden Fällen vielleicht, und Verklärung, aber anders ist keine Existenz mehr möglich.
Die Schwierigkeit, zwischen dem Gedachten und Gesagten, dem Gesehenen und dem Bildhaften im deutschen Gedicht eine Überstimmung herzustellen, wollen die Gedichte Adel Karasholis trotzdem nicht verschweigen. In umfangreichen, diskursiven Gedichten, in denen er seine Beziehungen zu Dichtern wie Maurer, Enzensberger oder Volker Braun zu bestimmen versuchte, schuf er sich einen Raum, in dem er mit der deutschen Sprache als syrischer Poet agieren konnte. Ein noch vornehmlich lineares Geschichts- und Gegenwartsbild, verbunden mit einer Sprache, die zunächst noch mehr benannte als gestaltete, bezeugte seine Schwierigkeit, „daheim in der Fremde“ zu sein.
Adel Karasholi schreibt seit nunmehr über dreißig Jahren Gedichte in deutscher Sprache. Doch diese Tatsache sagt so gut wie nichts über die Konflikte, jenseits von Brotberuf und Familienalltag der inneren Bestimmung zu folgen, sich als Lyriker im Kreis seiner deutschen Freunde Gehör zu verschaffen.
Der als „real“ erkannte Sozialismus, dem auch Adel Karasholi, wie viele seiner deutschen Freunde kritisch aufzuhelfen suchte, hat sich nun als eine unheilvolle Akte sogenannter „guter Absichten“ mit bösen Taten und unabsehbaren Folgen aufgetan. Die Geschichte als ein auch von Unschuldigen begangenes Verbrechen wird uns noch lange beschäftigen. Sätze und Verse, vor einigen Jahren geschrieben, offenbaren jetzt beim Wiederlesen ihre absurde Dialektik. Die Widersprüche, in denen sich die Lyrik der DDR bewegte, die Unterwerfung unter eine Dogmatik und die gleichzeitige Auflehnung gegen diese, das nicht eingelöste Begehren nach einer von der Ideologie unabhängigen Sprache und die Hoffnung, eine junge, neue Generation habe diese Sprache nun endlich in der Abwendung von der grauen DDR-Realität gefunden, endete mit einer bösen Enttäuschung. Die Flut der Hoffnung, in der wir untergegangen sind, zeitigt weithin Sprachlosigkeit. Die aber ist kein guter Ratgeber im Angesicht der Vergangenheit. Die Gegenwart aber ist vergiftet von Mißtrauen, Unsicherheit und Zukunftsangst. Der Name der kleinen, schmutzigen ostdeutschen Stadt Hoyerswerda ist zum Synonym dessen geworden, was sich hinter den Stirnen nicht nur ihrer Bewohner verbirgt: jener im gegenseitigen Mißtrauen gewachsene Selbsthaß, der sich nun gegenüber dem entlädt, was fremd ist.
Inmitten dieser selbstzerstörerischen Atmosphäre, die zur Geschichte der DDR gehört, und die jetzt, da die Hüllen der Phrasen des Internationalismus gefallen sind, der Gewalt freie Bahn schafft, mag das Gedicht „Fremder Tod“ entstanden sein.
Es liest sich wie die Diagnose einer Krankheit, deren Ursache die Aussicht auf den kommenden Tag ist. Ein rückwärts gewandter Aufbruchsversuch nach einer vermutlich schlaflosen Nacht, entwurzelt und verwachsen mit dem, das „Fremder Tod“ heißt und vermutlich nichts anderes bedeutet, als eine angenommene Existenz in der Fremde. Nichts in diesem Gedicht, das meine Vorstellungskraft überstiege: die Verletzlichkeit des Ichs, Dünnhäutigkeit, der Leib selbst ein offenes Grab… Und doch ist dieses Gedicht auch Dokument einer Selbstüberwindung in einer Situation der durch keine Ideologie mehr zu beschwichtigenden Existenznot. Kein Versuch mehr, Orient und Okzident zu einer poetischen Synthese zu verschmelzen. Die in früheren Gedichten Adel Karasholis verwendeten Versatzstücke sind ausgegrenzt. Das Exil ist nicht mehr in der bildhaften Antinomie zweier Kulturen aufgehoben; es hat sich verinnerlicht.
Brücken schlagen
Von mir
Zu mir.
Noch formelhaft verkündet, hat sich dieser Brückenschlag auch als ein Schlag ins Wasser erwiesen. Denn jetzt, wo keine wie auch immer geartete Selbstbeschwichtigung mehr möglich ist und die Wunden offen zu Tage liegen, hilft auch kein „Noch“ mehr, die Brücke in den kommenden Tag zu bauen. Der Tanz auf dem Seil zwischen Hölle und Hölle führt, wie es heißt, zu der Erkenntnis, nirgends zu Hause zu sein.
Das Exil als Sprachproblem? Verlust als Gewinn? Die Vision einer besseren Welt vermählt sich mit dem Blick auf die Realität. Das Fazit ist ein sich nicht schließender Kreis. Adel Karasholi, der syrische Dichter und Kurde zudem, der sich zuweilen in Leipzig zu Hause weiß, mein Freund, der mir oft aufgeholfen hat, wenn ich die Übersicht verloren hatte, wird, so darf ich vermuten, auch weiterhin davon zu sprechen haben, daß das Vaterland im Vaterland nicht zu finden ist. Denn die Heimatlosigkeit, so scheint mir, ist von allgemeinerer Art und betrifft uns alle, die wir den Glauben verloren haben, es gäbe im Diesseits von Gut und Böse noch einen Ort außerhalb unserer gemeinsamen Sprache, der der unsere wäre.
Heinz Czechowski, Leipzig, Januar 1992, Nachwort
Jens Bisky: Vom Nichts begleitet
Süddeutsche Zeitung, 7.2.2005
Beatrix Langner: Schreiben im eigenen Schatten
Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2005
Hans-Dieter Schütt: Rückwende
Neues Deutschland, 7.2.2005
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