Ruine eines ländlichen Hauses, überwuchert von Haselsträuchern
Zu Sankt Rochus kommen die Nüsse zur Reife.
IM KLEINEN TAL RICHTUNG DOLLE
Und du breitest dich aus wie Stille
du breitest dich in die Stille
gibst, bist Stille,
aaaaaDU BIST DAS HAUS
selbst als Idee, als nichtiges
aaaaaAn-sich der Idee
aaaaaDU BIST DER EINSTURZ
aaaaaund die Freiheit eingefallener Dächer
aaaaaund unbeschadetes Bestehen als Zähne
aaaaadie sich in dich einnisten
aaaaaDU BIST DER SCHERZ
Und in das grünste Grün
der hohen Haselnüsse, Stürzende auch sie
Güsse auf sich selbst, von Terrasen,
liebliche Spektren des Leichsterns mit dem sorgsamen
beharrlichen Wunsch nach Wohnrecht,
und verhaltener Beifall weichst du zurück
aaaaaDU BIST DIE STERNWARTE
erleuchtest von oben einen Teilchenhandel
von Sonne und Schatten von Lichtpunkt
zu Nichtpunkt, Rauschen, Zerstäubung
aaaaader mittäglichen Sterne!
aaaaader Myriaden, gebündelt, von Nüssen!
Reigen Nüsse-Regen
aaaaaWuchern Fülle
und ein wahrer zu Sankt Rochus
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSegen!
Andrea Zanzotto und seine Übersetzer Donatella Capaldi, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse erhalten den Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie für das Jahr 1993.
Andrea Zanzottos Lyrik ist von keinem Geringeren als Eugenio Montale begrüßt worden: Seine Dichtung – schrieb Montale – „ist eine höchst gelehrte und ein wahrer Kopfsprung in jenen Vor-Ausdrucksbereich, der dem artikulierten Wort vorausgeht.“
Der Dichter Zanzotto ist Avantgardist und Regionalist. Er stammt aus dem Veneto, und die heimatliche Lokalität, dazu der Dialekt, inspirieren eine Dichtung, die mit sprachlicher Magie und linguistischer Reflexion einen bedeutenden Beitrag zur modernen europäischen Lyrik des 20. Jahrhundert leistet.
Sein Hauptwerk ist eine lyrische Trilogie, bestehend aus Il galateo in bosco, Fosfeni und Idioma (1978–1986).
Die Übersetzer, die zugleich Autoren sind, haben die Initiative ergriffen, diesen großen Dichter Italiens dem deutschsprachigen Publikum endlich zugänglich zu machen. In jahrelanger intensiver Arbeit haben sie Zanzottos hochkomplexe Texte ins Deutsche gebracht. Es ist ihnen gelungen, für die formalen Aspekte, für Klangfarben bis hin zum dialektalen Sprachgestus überzeugende literarische Entsprechungen in der deutschen Sprache zu finden. Das vom Droschl-Verlag, Graz, herausgegebene Buch Lichtbrechung (1987), eine Auswahl aus der Trilogie, veranschaulicht in Aufbau, Zweisprachigkeit und Kommentar modellhaft die diffizilen Probleme sprachlichen Transfers.
Renate Birkenhauer, Michael Braun, Harald Hartung, Joachim Sartorius, Norbert Wehr
Ich fahre damit fort, wie wenn es ein Tick wäre, ein bedingter Reflex, in die Poesie Vertrauen zu haben, auch wenn die Zeiten, gewisse nihilistische Strömungen, Gedanken an eine Zone vollkommener Erschöpfung nahelegen. Es bleibt das Vertrauen, ein allerdings wechselndes, das an psychische Zustände gebunden ist, und es bleibt die Tatsache, daß ich für einen so schönen und großen Anlaß ausgewählt worden bin, dieses Flämmchen an einem Ort reicher kultureller Tradition wie Münster zu verkörpern: Das macht mich besorgt und begeistert mich zugleich und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.
Obwohl es zutrifft, daß meine Dichtung italienische Wurzeln hat (Dante, Petrarca, Leopardi und die Klassiker) und auch kräftige regionale Wurzeln, die mit der Anwesenheit Venedigs im globalen Unbewußten verknüpft sind und mit der venetischen Sprache als konstitutivem Element des Unbewußten, so habe ich immer allem größte Aufmerksamkeit geschenkt, was in Europa für die Dichtung getan wurde. Ich habe jedes Experiment in Betracht gezogen und abgewogen; ich muß hinzufügen, daß ich, neben der für mich sehr vertrauten französischen Tradition, im europäischen Spektrum sehr unter dem Einfluß der deutschen Dichtung gestanden bin – auch wenn ich die Sprache nur leidlich beherrsche −, unter dem Goethes, der Klassiker und vor allem Hölderlins; sie waren für mich eine grundsätzliche Nahrung im Prozeß der Selbstfindung, welche prägend war seit den Jahren meiner Jugend. Diese europäische Ader, eine mit bedeutenden deutschsprachigen Persönlichkeiten verbundene, vor allem mit Hölderlin, ist für mich auch heute noch lebendig, und ich glaube, daß ihr großer Einfluß auch in unserem Jahrhundert spürbar ist, zum Beispiel im Werk von Celan; einem Dichter ohne Land, dessen einzige Heimat in der Sprache war.
Aus diesen Gründen, die mich so tief berühren, wiederhole ich meinen Dank an die Stadt Münster und an die Jury, die mir den Preis zuerkannt hat.
Andrea Zanzotto
Es ist gut, wenn der, der übersetzen wird, die Sprache nicht versteht. „Ich habe aus dem Italienischen übersetzt, das ich nicht verstehe.“ – Es ist gut, wenn der Übersetzer die Sprache versteht. Und so kann der Nichtverstehende dem Verstehenden immer wieder ins Ohr flüstern: Dein Verstehen ist eine Art und Weise des Vergessens. Zum Beispiel: „Auch du, verständig und italienisch und vielleicht sogar dekoriert mit Sprache, kannst nur übersetzen, um zu erinnern.“ Die Verstehensmenge beiseite geben, im Namen des Erinnerns.
Der wirkliche Übersetzer findet etwas, das ,jener Fremdsprache‘ voraus liegt. Ein: Ich weiß es nicht; ein unvorstellbarer Zusammenhang; er sucht ,jene Fremdsprache‘ zu verlernen, zu vergessen, damit das Erinnern zurückkommen kann. Übersetzen ist dann nicht: übersetzen aus ,jener Fremdsprache‘, sondern übersetzen in eine fremde, fremdere Sprache. Usf.
Der Übersetzer, die Übersetzer werden also wählerisch sein. Nicht alle Literatur, nicht jede Dichtung erfüllt ihren Anspruch. Wer etwa Herrn Enzensbergers Gedichte übersetzt oder Herrn Rühmkorfs oder Herrn Büchnerbiermanns (= die Lage der deutschen Dichtung), der wird gerade ein: achso; ach ja, zu hören bekommen; und: das ist so gut übersetzt / übertragen / nachgedichtet / usf., das klingt ja wie…, und es klingt auch so europäisch (euronal), und es ist so einleuchtend und unkreolisch, vorgestern zuletzt gehört.
Ich habe mir immer gewünscht, daß im Buch nicht etwa stehen darf: Aus dem Italienischen von…; Ins Deutsche übertragen von…; sondern: keine Bezeichnung der Sprache, nur: Übersetzung von…; In einer Übersetzung von…; besser noch: Übersetzung.
Übersetzung; wie wenn da auch stehen könnte: Erinnerung. ,Andrea Zanzotto, Lichtbrechung. Ausgewählte Gedichte. Erinnerung.‘
Es trifft sich, daß dem wählerischen Übersetzer die Dichtung Andrea Zanzottos Antwort gibt. Wie kommt aus dem Staubsturm die Gestalt? Wie kann das Brausen zugelassen werden? Wie kann es in der Sprache, dem Vergessenssystem, erhalten werden? Es gibt also in der Dichtung Andrea Zanzottos die Pfingstlichkeiten, Sprache als die unmögliche Fülle, Sprache als Dotter.
Infra und super Strukturen, und Strukturen,
so weit die Sicht reicht das Tasten die Spuren,
und unsereiner dreht sich dorthin und löscht,
es ist ein Lächeln
das ich erfuhr eines Morgens in der Jugend
gleichgültig ob Mai war oder Schnee.
Das Gedicht, aus dem diese Verse genommen sind, das Gedicht In einer blöden Vampiergeschichte beginnt mit dem Satz (?): ,Wo das von Gaze verhüllte Objektiv / und die und die gestaltlosen Bilder…‘. Eine Unbegrenztheit ist sogleich im Spiel (wie das Superflimmern im Gedicht „Frost“, die Wirklichkeit der unzählbaren Schwestern): wo das Objektiv…, der Nebensatz endet ohne Ende, oder er wird von einer sogleich ausgelösten Fülle überboten / weitergeführt: und die; aber dieses ,und die‘ endet ebenso unendlich – jedes plurale Substantiv könnte dem Artikel angefügt werden. Warum diese Endlosigkeit? Weil die Erinnerung geweckt worden ist und sie sich anders bewegt als die Linie der Sprache. Die Sprache macht Linien, aber die Erinnerung hängt wie Haselnüsse im Strauch.
Die Erinnerung weiß von einer anderen Konsistenz, anderen Identität. Das ist eine Identität der Angrenzungen. ,Wo das von Gaze verhüllte Objektiv‘, diesem Satzteil folgen lauter Angrenzungen, in solcher Fülle, daß die Sprache still wird, stille Mischung aller Wörter. Es möchte so weiter gehen: und die und die und die. Manche dieser Gedichte könnte man nahezu übersetzen in Und Und Und −
Und die Erzählung „Geheimnisse des Regens“ mischt vier Schauplätze: die regnerische Stadt, durch die der Erzählende geht; das Zimmer, darin Karten gespielt werden; das zum Sonnenuntergang gewendete Zimmer mit den grünen Halbschatten; das Abteil eines in die Berge fahrenden Zuges. Das Erinnern ist ein ,weiches Denken‘, plasmatisch; darin sind eine regnerische Stadt und das Innere eines Eisenbahnabteils nahe beisammen, verlieren ihre Individualität, ihre Spaltung, zugunsten von Verlernung. Auflösung der Festigkeit, Regen. Es regnet in der Erzählung; man mag auch sagen: es herrscht Erinnerung.
Brüche in den Gedichten. Sind es wirklich Brüche? Oder Öffnungen für eine andere Strömung, jenseits des Idioms kommende und fließende Sprache? (Sprache als Erinnerung an Sprache?) Zum Beispiel gibt es die Strömung der Dämmerung und der Nacht. Im Gedicht „Sitze und Stätten“ stehen die umherverstreuten Vitalben, Waldreben, Gesträuch aller Art. Das zunächst in den vereinzelten Sträuchern (oder Stätten) gedämpfte Zwielicht kommt dann – ,Flug‘ – am Abend vergrößerter, allgemeiner Bewegung und legt sich über alle Dinge in der Landschaft und erzeugt eine dunkle (a-dingliche) andere Konsistenz; (Gestalt aus Stellen); am Ende des Gedichts schließlich der neue Strauch, die eine dunkle größere Vitalbe, die Nachtrebe (Schlaf, Grauzone, Ungestalt).
Oder der Nußstrauch, der zu St. Rochus reif werdende, hält an Ästen ausgestreckt einen ,Teilchenhandel‘ – wieder eine besondere Art von ,Regen‘ (oder ,Reigen‘), Nüsse gebettet in einem grünen Kreis.
Wie halten die Gedichte zusammen, festigen sich? Ist es jetzt richtig? Weißt du etwas? Vielleicht ein Staubsturm hält sie zusammen, und im Winter Schneegestöber (ZΩNNYMIXΩHNYMI). Zuletzt eine Bewegung des Zusichkommens, durch die Vergessenheit hindurch, eine plötzliche Fassung, am Ende des Gedichts „Im kleinen Tal Richtung Dolle“ ein ,Segen‘, am Ende des langen Gedichts „Nix Olympica“ eine ,Heimat‘, Wirbel-Heimat, Heimat als Fülle von Heimaten. So ist die Leseerfahrung bei diesen Gedichten immer neu die Unsicherheit und die Gefaßtheit, reiche Unsicherheit und einfache Gewißheit.
aaaaaDamals wußte ich wie nie sonst zuvor und sah
daß dort meine Heimat zwischen den vielen, als Überschneidung, geschah
und nahm es nicht hin, daß diese Heimat dieses Idion
mich vergessen und vergessen hatte
und daß ich in Frage gestellt und abgelehnt wurde,
zu essen bekam und hungrig war
…………………………………………….
So lang wie jener Abend-jetzt-Sturm
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasolus ad solam
,Mio comporre compitare/mein Zusammensetzen Buchstabensetzen‘. – Draußen läuft vor dem Fenster vorbei ein Kind und ruft herein: „Ich kann schon das E-B-C-D!“ – Buchstabenwerk, Strauchwerk, (und ein Strömen in den leichten Ästen) (und Vögel): / so daß ich an Gitter aus leichtem Gezweig und Vögeln / und reinem // totem Holz der Zäune / den Kopf lehne als hielte ich Rast‘.
Hier also, in den Schriften von Andrea Zanzotto, ist der Weg der Dichtung wieder eröffnet: Umkehrung der Sprache in Erinnerung.
Peter Waterhouse
Der Versuch, das komplexe Verhältnis zwischen Wahrnehmung, Begriff und Sprache zu beschreiben, ist eines der Kraftzentren für die Poetik Zanzottos. Das Gedicht „(III) (III)“ aus Il galateo in bosco bietet eine mögliche Auslegung des Problems an: Das Ich nimmt die Gegenstände in ihrem unaufhörlichen Fließen wahr, durch ein Auge „ohne Wiederkehr, zu dem alles wiederkehrt“. Dem Strömen entspricht die Machtlosigkeit der Sprache, die sprachliche Essenz des Objektes zu erfassen. Es gibt einen unausdrückbaren Bruch zwischen dem wahrgenommenen Ding und dem Ding an sich, d.h. das Bezeichnete stimmt mit dem Bezeichnenden nicht überein. Nicht das Bezeichnende allein erzeugt Sinn, sondern seine Kombination in freier, geistiger und emotionaler Assoziation (Gedanken-Verbindung). In diesem Vorgang wird das Bezeichnende geschaffen und geformt. Welche Rolle spielt dabei das poetische Gedächtnis? Welches Verhältnis besteht zwischen Erinnern und Wahrnehmen, einer Wahrnehmung, die Zanzotto metonymisch „Auge“, „Lupe“, „Linse“, „Wissenschaftsbrille“ nennt?
nichts von dem gehört uns, kein Jetzt
keine Zukunft, außer im Riß
in der reinen Neigung
die dein schon versteinertes Auge
erfaßt in ihrem Winkel
und als Härte erzeugt
als Monomanie
des Lebens der Poesie und so fort.
Dem Ich gelingt es nicht mehr, die Erscheinungsweisen der Gegenstände einzuordnen und handzuhaben. Das Auge – die Wahrnehmung – dringt zu der bestehenden Konfliktlage zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein des Dinges vor: im Setzen und im Ent-Setzen (Negation) von Wahrnehmung-Bild-Gedächtnis hat die Sprache, von kleinen Fragmenten des Logos abgesehen, keinen Anhaltspunkt mehr, von dem aus dem Gegenstand ein Begriff zugewiesen werden könnte. Was von einem Gegenstand Sprache ist, ist bloß eine Miniatur des Logos, jenes „in jedem Schnee- und Reifkristall“ ausgezeichneten Logos im Gedicht „Zukunft oder Vorzukunft“ aus Fosfeni. Hier steht der Logos außerhalb jeder begrifflichen Gewißheit, er ist Widerspiegelung in einem Spiegel, der das Objekt nicht preisgibt. In der ewigen Bewegung des Geistes ist er nur ein Witz, ein winziges Partikel des Seins. Im Schema Sein →Logos →Wahrnehmen scheinen die Begriffe in keiner Beziehung zueinander zu stehen. So wie der Blick in „(III) (III)“ „augenlos“ wird, äußert sich der Logos hier sprachlos, als Schweigen; den Worten entsprechen keine Gegenstände mehr. Das Schweigen der Sprache ist auch das Schweigen des Seins, etwa im Gedicht „Nahe liegendes Schweigen“ aus Fosfeni. Wahrnehmbar sind nur „blinde Trübungen“ des Schweigens. Hier geschieht eine Art Synästhesie zwischen Blick und Schweigen, dadurch wird das Schweigen zu einer physisch-visuellen Anwesenheit. Es ist jetzt Ding, Teil der Landschaft. In dem Ding-Werden des Schweigens zeigen sich die Entgegengesetzten – Klangfülle und Klanglosigkeit, die zwei grundlegenden Aspekte im Sprachbildungsprozeß. Für Zanzotto stehen sie am Ursprung, er versucht ihren geheimen oder unmöglichen Zusammenlauf zu erklären, ausgehend vom Idiom als allgemeiner Sprachgrundlage bis hin zum Idiotismus, dem sprachlichen Solipsismus, etwa im Gedicht „Anders entstandene Sprache, ohne Idiom“ aus Idioma. Zanzotto erforscht das Idiom als ein Atom; er spürt in seiner poetisch-existentiellen Untersuchung den kleinsten Teilchen nach, um zu einer Mikro-Sprache zu gelangen. Wo liegen die Wurzeln der Sprache? Im Nicht-Übersetzbaren, im Ohne-Idiom. Die Sprache wird Grenze, sie schwankt zwischen Unausdrückbarem und Sprachbildung. Nur der Dichter kann die Spaltung zwischen dem Ding gewordenen Idiom und dem Ding gewordenen Schweigen überwinden – ihm genügt ein kleines Gedicht:
Was beschäftigen mich die Idiome?
Ein kurzes Gedicht nur
das nichts wissen möchte von Idiomen
und dennoch darin lebt und stirbt – beschäftigt mich
und ein Blatt Papier…
Donatella Capaldi
Peter Waterhouse liest beim Tanz um das goldene Nilpferd am 10.3.2012 im Klagenfurter Ensemble.
Andrea Zanzotto zu seinem 88. Geburtstag.
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