1 HERTZ
(Tina Modotti, La macchina da scrivere di j.A. Mella.
Fotografie 1928.)
Trotzkij hält Siesta, Sekundenbeischlaf von Kunst
und Natur. Im Letternbett, spanische Tastatur.
Die Tilde, der Unendlichkeit ewig bessere Hälfte,
bäumt sich auf, muß wieder erschlaffen.
Verschlußzeit und kleine Formate mißachtend,
wölbt sich die Gegenwart über den Rand
mit einem unvollendeten Satz.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAls sei die Revolution
final in allen flektierenden Sprachen:
Generationenlang deklinieren machte geduldig.
Alles wandelt sich, bleibt sich gleich.
Bis sich einer erbarmt und den Verhältnissen
einen eigenen Modus widmet,
die Litanei von den Gottesgaben
entlarvt als grammatisch degeneriert:
Pflichtenheft einer nie gebauten Maschine.
La vida es sueño und dieser Traum – stumm.
Die einzig erhebliche Schwingung pro Zeitraum,
wie macht man sie hörbar? Dem Nächsten, sich selbst.
Legt man die Hand auf die Rippen,
wie langsam schlägt I Hertz.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAhnt einer schon,
daß die Geschichte kein reiner Sinuston sein wird?
überlagert, phasenverschoben.
In den Kulissen der Calle Abraham Gonzalez
wird man ihn hören, Apotheose aller Geräusche,
kurz, knapp, präzise: den Schuß.
Die Revolution ist kein Gastmahl, kein Deckchensticken,
weshalb sich Ästheten gern als Spione andienen.
Sie hielten sich die Option für Gobelins offen,
und die Finger geschmeidig.
Historische Panoramen, Nadelgeld,
Stich in jungfräuliche Fingerkuppen,
und der farbige Twist, nach Generationen
elegant zur Legende verblassend.
Und niemand muß die Erinnerungen
mit Brillantine eng an die Schädel frisieren,
wie die alten Männer mit den Kälbergebissen
ihrer Verwandten aus Miami.
Sie wurden fett wie in anderen Parks.
Es ist eine Frage der Zeit, der Versorgung
mit Kohlehydraten, der Koordinaten:
Punktiere den Augenblick und er verblutet
nach innen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaBleibt ein Fragment,
das hartnäckig nicht auf ein Ganzes verweist.
Die diakritischen Zeichen der Zeit zu entziffern,
hieße den Blitz zu rekonstruieren, die Hitze,
den weiblichen Blick über die Schulter,
ehe der Andere aufsah und sagte: Chiquecita,
nicht jetzt!
Mit fremden Augen zu sehen –
eine Übung in Irisdiagnostik. Verführerisch,
die Pupille nachzujustieren. Digital,
d.h. niemand krümmt einen Finger.
Daß wir den Moment, stilvoll entwendet,
ins eigene Album kleben, bedeutet nichts,
urheberrechtlich gesehen – fue real.
Anna Real
War nicht Georg Baselitz einmal davon überzeugt, mit einer Bilderserie einen ganz neuen Baselitz in die Welt gesetzt zu haben, einen ganz anders gearteten? Und ein älterer Herr, der diese Bilder eingehend betrachtete, brachte ihn mit der Bemerkung aus der Fassung, das sei ja ganz der typische Baselitz? Fragte sich nicht ein gewisser Paul de Vree, „Warum habe ich über Nacht angefangen, anders zu schreiben?“ Was meinte er in diesem Zusammenhang mit „Ich habe eine dadaistische Krise durchgemacht“? Ist der Krieg denn alles schuld? Ist Selbstverleugnung Poesie? Ein Postdadaismus? Postspätexpressionismus? Ein Zu Spät? Waren schon die Griechen zu spät? Schrieb Paul de Vree nicht die schönsten Liebesgedichte, die je ein flämischer Dichter geschrieben hat? Und hat nicht quer durch die Jahrhunderte das Liebesgedichtschreiben noch jede Krise gemeistert – auch die des Schreibens von Liebesgedichten? Auch die des Liebenden?
Führt jede Anstrengung des Autors, von sich selbst abzuweichen, immer wieder zu dem selben Ergebnis, nur seinen „privaten Code“, seinen „Ideolekt“ auszuüben? Und das auf die Dauer lebenslänglich? Betreibt der Dichter ein lebenslängliches Ablenkungsmanöver? Kommt er nie auf den Punkt? Ist das auf die Dauer nicht ermüdend? Nein?
Das Zusammenspiel welcher Organtätigkeiten macht ein gutes Gedicht? Wie wirkt dieses Zusammenspiel? Welche Abnutzungserscheinungen stellen sich ein im Laufe eines Lebens? Muß die Karosserie überholt werden, werden die Ventile undicht? Warum genügt es nicht, nur ein einziges Gedicht geschrieben zu haben? Wollen wir uns nicht mal hinsetzen, ein ganzes Leben, und so lange ein Gedicht durch den Mund, über die Zunge gehen lassen, bis gar nichts mehr daran auszusetzen ist – es sei denn, das Ganze? Und der Leser kaut ein ganzes Leben darüber – oder nur einen ganz kurzen Moment? Und will es nicht gelingen, dieses eine Gedicht, sind Dichter und Dichterin dann an der Poesie gescheitert oder am Leben?
Wie jung ist das jüngere Gedicht? Wie alt das ältere? Ist im Alten stets das Neue, im Neuen das Alte? Geht also, ins Profane gewendet, Daniel Czepko in Erfüllung?
Ende: Anfang:
aaaaaaa aIm
Anfang: Ende.
Das Ende ist hier: doch wer zurücke kehren kan,
Der trifft den Anbegin im Ende wieder an.
Können wir Ferien machen von der Geschichte der Poesie? Gibt es einen poetischen Generationenvertrag? Machen die Jüngeren das, was die Alten versäumt haben – nach Meinung der Jüngeren? Beherrschen die Älteren „die Szene“ solange, bis die Jüngeren selbst wieder an deren Stelle treten, als Ältere? Oder ist dieser Generationenvertrag bloß ein doppeltes Täuschungsmanöver: Erweisen sich die Älteren als unverhofft frisch(er) und unverbraucht(er), während die Nachhut bereits Vergreisung zeitigt? Welcher Ernst schrieb am 14. Mai 1967 „wir sind jung / und das war schön“? Und welcher Wolfgang versicherte sich 1986: „in meiner sprache sprech ich immer / mit einem der ich heißt“? Und warum tut er dies ausgerechnet in einem Gedicht mit dem Titel „verse um an frühere zu erinnern“? Welche Gertrud wusste plötzlich ganz genau, „Ich bin ich, weil mein Hund mich kennt“? (Und nicht zuletzt welcher Karl verließ Hals über Kopf Berlin Richtung Heimat, in der unstrittigen Annahme, sein Hund Beppi erkenne ihn sonst nicht mehr – und zwar zu Lebzeiten?) Was sagte Catharina Regina von Greiffenberg am 14. Januar 1664? Warum fühlt sich jeder Dichterhund, jede Dichterhündin verkannt, auch stillschweigend? Das hundsgewöhnliche Wort soll an keiner Leine geführt werden als an der Dichterleine? Ist das Wort noch zu retten? Und die Form? Ist das Gedicht in Form? Und der Dichter? Hat er nicht Sehnsucht, auf dem Markt das Allgemeine zu sein? Hatte er das nicht schon immer? Pegasus auf der Koppel als grasendes Weidevieh? Sagte der Händler nicht soeben, „Hier, das Dichterpferd, nichts dran, aber Pferd“? Schindchimäre? Gab es nicht Zeiten, da waren Götter Mangelware? Gibt es nicht Breitengrade, da ist das Dichterwort dichter an Gott? Und der hört es trotzdem nicht? Tempi passati, ein Schnupfen, ein Wind?
Was genau ist das poetische Organ? Und wo ist sein Ort? Gibt es eine Sprache, die nicht altert? Was ist das zeitlose Gedicht? Genügt es nicht, sich mit einem Gegenüber einfach nur zu unterhalten? Was hätte der Jüngere dem Älteren zu sagen? Und umgekehrt? Unterhält es sich nicht von alleine?
Ein einziges Gedicht also, und man bedenkt es ein Leben lang? Reicht ein Leben aus, sich über ein Gedicht zu unterhalten?
Michael Lentz, Nachwort
„Gibt es einen poetischen Generationenvertrag?“ Gute Frage. Und weiter: „Machen die Jüngeren das, was die Alten versäumt haben – nach Meinung der Jüngeren? Beherrschen die Älteren ,die Szene‘ – so lange, bis die Jüngeren selbst wieder an deren Stelle treten, als Ältere? Oder ist dieser Generationenvertrag bloß ein doppeltes Täuschungsmanöver: Erweisen sich die Älteren als unverhofft frisch(er) und unverbraucht(er), während die Nachhut bereits Vergreisung zeitigt?“ Diese Fragen aus Michael Lentz’ fragendem Nachwort sind allein nach der Lektüre dieses und anderer Jahrbücher nicht wirklich zu beantworten.
Schon bei der Frage, was wir denn zur „Szene“ rechnen, scheiden sich schnell die Geister. Sind das nun, anno 2004, vor allem die Lautpoeten, mit Oskar Pastior als Elder Statesman oder Eminem, oder die Heerscharen der Slam-Poeten (vergleiche dazu auch Bastian Böttcher auf S. 159ff.), oder die in lektorierten Lyrikbänden gedruckten Dichter (inklusive oder exklusive der Eigendruck-im-Selbstverlag-Autoren?), oder die insgesamt etwa tausend Dichter und Dichterinnen, die seit 1979 im Jahrbuch der Lyrik gedruckt wurden, oder alle, die’s in die Schullesebücher geschafft oder zu Gesammelten Werken gebracht haben? Ist die ästhetische Innovation entscheidend oder, bescheidener gefragt, die Beherrschung dessen, was man gemeinhin „das poetische Handwerk“ nennt, und die Kenntnis der poetischen Tradition von Petrarca über Goethe bis Inger Christensen? Wer heute Sonaten für Violine solo komponiert, kennt doch jedenfalls die Musiken von BWV 1001–1006 bis op. 27 von Eugène Ysaÿe. Ventile jedenfalls sind, um in Lentz’ Bild zu bleiben, Präzisionsinstrumente, und wenn sie undicht sind, hilft nur zehntelmillimetergenaues Schleifen.
Wahr ist, daß jede Generation immer wieder ihren je eigenen Ausdruck findet, finden muß; wenn eine heute Dreißigjährige Liebesgedichte schreibt wie Ingeborg Bachmann als Dreißigjährige (1956), dann lebt sie, höflich gesagt, in einer anderen Zeit als der gegenwärtigen. Und andersherum: Wer Rühmkorfs jüngste Gedichte liest, begreift sofort, daß uns da heftig unsere Gegenwart um die Ohren flattert, und Rapperzeilen treten gegen Versatzstücke aus Klopstock-Oden an und erwirtschaften einen beträchtlichen poetischen Mehrwert. Wenn es um die berüchtigte Qualität geht, so wäre zu folgern, spielt das Alter, die Generation keine entscheidende Rolle. Obwohl: Hört das geübte Ohr nicht, ob da ein junger Gitarrist auf einer alten Gibson „Les Paul“ spielt oder ein alter auf der neuesten Fender „Telecaster“? Drückt sich Zeitgenossenschaft nicht auch im Sound aus, und ist der – bei vergleichbarer handwerklichen Meisterschaft – nicht doch auch generationsabhängig? Wie klingt ein junger Jandl-infizierter Sprachhäcksler heute, wo dreht der die Schraube wie weiter, und in welche Richtung? Um nochmals auf Michael Lentz’ Fragen zurückzukommen: Wie traditionsbewußt sind die jüngeren Autoren, und wie innovativ die älteren? Und umgekehrt?
Diese Fragen tauchten bei der Auswahl der Gedichte für dieses Jahrbuch hinterhältig hartnäckig und immer wieder neu auf, und also haben wir zum erstenmal im Jahrbuch der Lyrik die einzelnen Kapitel nicht thematisch oder poetischen Verfahren folgend zusammengestellt, sondern nach den Jahrgängen ihrer Autoren: Die (beiden) in den achtziger Jahren Geborenen sind/haben ein Kapitel für sich, ebenso die Jahrgänge aus den Siebzigern, den Sechzigern, usf. Da erweist sich dann bei genauer Lektüre, wie aufschlußreich – oder eben: gegenstandslos – die Generationenfrage ist (vgl. dazu auch die von Björn Kuhligk und Jan Wagner herausgegebene Anthologie Lyrik von JETZT. 74 Stimmen. Mit einem Vorwort von Gerhard Falkner, Köln: DuMont 2003, die ausschließlich Autoren abdruckt, die 1965 und später geboren sind). Wodurch, aufgrund welcher Blickwinkel, poetischen Verfahren, Tonlagen wird eine Lyrikergeneration als solche sichtbar? Welche Nachbarschaften entstehen da innerhalb eines Jahrzehnts? Gibt es einen auffälligen Kleinen Gemeinsamen Nenner, der bei der Vorgängergeneration so nicht zu finden ist? Und wie wäre der exakt zu definieren und im Gedicht präzise nachzuweisen? Hat eine Lyrikergeneration vielleicht nur am Rande mit dem individuellen Alter des einzelnen Autors zu tun? Gibt es poetologisch eine Huchel-Generation? Oder ist das nur eine kleine Gruppe, und andere aus Huchels Generation spielen doch eine vollkommen andere Musik? (Doktoranden der Poetologie, an die Arbeit!)
Und nun die gute Nachricht, das nächste Jahrbuch der Lyrik: Einsendeschluß für unveröffentlichte (oder in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlichte) Gedichte ist der 31. August 2004. Wie immer bitten wir darum, den Gedichten auf einem gesonderten Blatt die biobibliographischen Angaben beizulegen mit Geburtsjahr, Wohnort, ggf. den letzten beiden lieferbaren Gedichtbänden mit Erscheinungsort, Verlag und Erscheinungsjahr (siehe die Angaben in „Autoren, Gedichtbände“ am Ende dieses Jahrbuchs). Je präziser die Daten, desto weniger Recherchearbeit hat Constanze Hub im Verlag; ihr sei an dieser Stelle ebenso gedankt wie meinem Mitherausgeber Michael Lentz für die Gastfreundschaft und den äußerst präzisen Blick auf das einzelne Gedicht.
Christoph Buchwald, Nachwort
wollen vor allem den jüngeren Lyrikern, den „Enkeln von Enzensberger, Rühmkorf, Aichinger, Endler und Gernhardt“, Gehör verschaffen, aber immer auch anklingen lassen, wer die Lyrikriesen sind, auf deren Schultern sie stehen. In diesem „gemischten Chor“ aus drei Dichtergenerationen – die Kapitel folgen diesmal den Jahrzehnten der Autorenjahrgänge – wird immer wieder aufs neue sichtbar, daß jede Generation ihre ganz eigene Sprache suchen muß, um aus der eigenen Erfahrung heraus auf Gegenwart, Zeit und Epoche angemessen reagieren zu können. Was tatsächlich „angemessen“ ist, das entscheidet letztlich die Zeit.
Verlag C.H. Beck, Klappentext, 2004
Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa
Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr
Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009
Michael Lentz – Performance wie es früher war beim PROPOSTA-Festival Barcelona im November 2002.
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