Christoph Meckel: Nachtessen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Meckel: Nachtessen

Meckel/Meckel-Nachtessen

WIELANGE BRAUCHBAR

Meer der Heiterkeit, Meer der Stille
Meer des Vergessens
und die Versenkungen ohne Namen auf der Rückseite
jedweden Gestirns!
Wielange brauchbar auf dem Zeitplan der Erde,
aaaaakompromißlos
zwischen Ledernacken und Toten
nicht länger einbezogen von der Schöpfung
angewiesen auf Faustrecht, auf Schrei und Messer.

Und ein Menschsein zu leben, wielange im Blutmeer lebendig.

Es dreht sich ein Gestirn voll tauber Knochen
und sucht seinen Absturz.

 

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An den Band Wenn es angeht schließt Nachessen an

und setzt ihn fort. Eine neue, entscheidende Nuance bieten die Liebesgedichte, in denen Metaphorik, gestützt und gerechtfertigt durch ironisierende Effekte, mit Nennungen von Alltagsrealien verschmilzt.

Literarisches Colloquium Berlin, Klappentext, 1975

 

Lieber Christoph,

heute (ein Dienstag, die Maikäfer fressen die Eiche kahl, und der See steigt weiter, Überfluss, wo man hinschaut und die Schrecken fort hält: die rechte Mischung für einen Glückwunsch)…
Heute kam aus einem Antiquariat eines Deiner Bücher, 1969 gedruckt. Vor ein paar Tagen hatte ich Dir erzählt – am Telefon, zwischen Deiner und meiner Stadt liegen ja Höllental, Himmelreich und andere Aufschwünge –, dass meine erste Begegnung mit Deiner Kunst von starkfarbigen Bildern ausging, Ende der Sechzigerjahre.
Ein Freundespaar hatte ein Buch von Dir zerlegt und mit den Einzelblättern die Flächen einer Schrankwand in ihrer Honeymoon-Wohnung zur Meckel-Galerie gemacht, sie führte zu Regalen, in denen Deine Bücher wohl zwischen Mann und Mörike standen.
Du hast nur kurz überlegt und sagtest:

Das waren die „Bilder aus Phantasus’ Bauchladen“.

Wie Du ja mit Deinem staunenswerten Erinnerungsvermögen auch, wenn man Dich nach Unica Zürn oder Robert Wolfgang Schnell oder Celan oder Tabucchi fragt, sogleich Räume in Berlin oder Paris oder bei Siena heraufbeschwören kannst, mitsamt ihren Irrlichtern, Schatten, Zigarettenpackungen. All die Geschichten, die Du lieber im mündlichen Erzählen hältst.
Ich weiß nicht mehr, ob die Freunde in ihrer Meckel-Galerie nicht auch die rotgedruckte Seite aus jenem „Amüsierpapiere oder Bilder aus Phantasus’ Bauchladen“ aufgehängt hatten, mit Deiner Gebrauchsanweisung für das Buch. Jedenfalls haben sie die subversive Heiterkeit des Satzes verstanden:

Wandschmuck für die Hotelzimmer Ahasvers und Dandelions zum Überkleben von Verbotsschildern und amtlichen Formularen.

In jedem folgenden Jahrzehnt hat mich Deine vielfältig sich entwickelnde Phantasie und immer wieder überraschende Weltaneignung dann anders gepackt, in Deinen Gedichten, den Erzählungen, den Nachprüfungen im Geschiebe und Geröll der Erinnerung.
Es war damals noch nicht denkbar, dass man auf einem viereckigen Leuchtrahmen, dem digitalen Schoßtier, Gedichte von Dir würde abholen können, auf „lyrikline“ sogar mit Deiner Stimme. Ich habe, ein Anfangdreißiger, noch von Hand abgeschrieben: „Tarnkappe“, „Ode an mächtige Mannschaften“ und „Gehn wir“. Von Deinen Gedichten ging vieles aus, eine Kräftigung in der unsteten Spur, illusionslose Zuversicht, die Verachtung der Beutemacher. Die Gedichte sind mir geblieben, in einer Sternenmappe, die mit Auden und Bachmann beginnt und mit Simic und Trakl noch nicht endet. Auch wenn ich heute, inzwischen doppelt so alt, auch andere Gedichte bei Dir abholen würde.
Soll ich noch aufrufen, wie mich Deine Erzählung „Licht“ traf? –, anderswo im Land wurde damals im Werkzeugkasten der „Beziehungsproblematik“ gekramt, du aber hattest aus dem Verlust einen Prüfstein aller poetischen Welterfahrung geschnitten, die schwarze Energie aus zufälligen Worten, das Ende einer Welt, Veränderung aller Wahrnehmung.
Und wie ich dann wieder und wieder Deine Freundschaftstexte über Dichter las: Mir gefiel, wie Du über den Tod hinaus eine Verbindung halten wolltest mit einer ausgewählten Schar von Gesellen, mit der Du Worte, Schweigen und Gegensätze auf jener Horizontlinie geteilt hattest, die Dir von Mandelstam zugekommen war: Alles Quatsch und Sherry-Brandy, Engel mein.
Aber alle Bewunderung für Deine soliden Techniken und zauberischen Machenschaften hat mich nicht gehindert, nach den ersten anderthalb Jahrzehnten Meckel-Lektüre in aller Öffentlichkeit einen Satz aus „Der wahre Muftoni“ zu klauen:

Ein Buch ohne Klappentext war für ihn undenkbar-bestürzend, entsetzlich ein Unding, – er musste es lesen.

Der Satz steht – mit Quellenangabe – seit gut 30 Jahren im Deckel eines Sachbuchs mit dem schönen Titel Kinder auf dem Weg zur Schrift. Gut möglich, dass Dein Zauberspruch den Erfolg dieses Longsellers angeschoben hat.
Dass ich die von Dir übernommene Aversion gegen Klappentexte als Verleger irgendwann aufgeben musste, hat mit einem Markt zu tun, auf dem wir uns dann glücklicherweise doch noch begegnet sind. Das war nicht zu ahnen. Als im frühen Jahrtausend ein Brief in Deiner Handschrift (Poststempel: Rémuzat) den Abdruck eines Gedichts („Schlaflos“) regelte, kam er nicht in den Projektordner sondern in die Autographensammlung. So ahnungslos war ich.
Den Rest, vier Erinnerungsbücher von Dir bei Libelle, haben wir gemeinsam erlebt: seit jenem Januartag 2008, als ich mit Elisabeth zu Dir nach Bollschweil fuhr und wir nach Stunden unter Honig- und Thymianduft von Gilas Kräutertee auf den genius loci jenes Dorfs zu sprechen kamen, in dem Du es, das war bereits deutlich, nicht lang aushalten wolltest. Aber wo Du Jahrzehnte zuvor doch die Kaschnitz besucht hattest, mehr als ein mal. Was Du darüber erzählt hast, an jenem grauen Nachmittag, der Blick ging über Deine Hebelausgabe in den vorgestellten schwarzen Wald, ließ meinen Wunsch laut werden: ob Du über diese Begegnungen nicht etwas schreiben wolltest. Die magische Stunde passte zum Ort, und der rasche Entschluss gehört zu Dir. Acht Wochen später kam Dein Text, ein Typoskript, Schreibmaschine, beim Abtippen ins Laptop lernte ich das Gewebe Deiner kraftvollen Sprache noch ganz anders kennen. Vielleicht der schönste Buchtitel überhaupt: Wohl denen die gelebt.
Die „Amüsierpapiere“: Beim Blatt, das nach „Tuten und Blasen“ kommt, versteh ich den Titel „Blatt zum Dandelionstag (12. Juni)“ erst heute so recht, Du hast es schon damals wohlweislich nicht auf ein Jahr datiert.
Ich wünsche uns beiden, dass wir beim nächsten undatierbaren runden Geburtstag uns gemeinsam Erlebtes zu erzählen haben und immer noch nachschauen, an welche richtige Stelle der Welt uns die Poesie bis dahin gebracht hat.

Feuerwerk!

Dein Ekkehard

Ekkehard Faude

 

 

CHRISTOPH MECKEL

Rotkäppchen im Bernstein

Das hätte niemand gedacht
nicht der kühnste Prophet
dass die Maid sich unwillig
und doof in den Grauen begab
Wie in ein Fellvergnügen
die Naivität, die es dafür braucht
Nur weil lang sonst nichts geschieht
oder nichts zu geschehen hat

Peter Wawerzinek

 

Klassiker der Gegenwartslyrik: Christoph Meckel – Am 29.10.2012 sprach er in der literaturWERKstatt berlin mit Christian Lehnert über sein Werk.

Robert Schindel: Nicht lange genug gestorben; Laudatio auf Christoph Meckel zum Schillerring 2005.

Zu Besuch bei Christoph Meckel

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Thomas Rietzschel: Das Schneetier
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.6.1995

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hartmut Buchholz: Die Magie der Entstehung eines Gedichts
Badische Zeitung, 12.6.2015

Michael Braun: Meister der Melancholie
Der Tagesspiegel, 12.6.2015

Michael Braun: Schutzengel der Poesie
Park, Heft 68, 12.6.2015

Wulf Segebrecht: Christoph Meckels bildkünstlerisches und literarisches Werk
literaturkritik.de, Juli 2015

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Johanna Dombois: Nachgeholtes Zwiegespräch nach beider Tod
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.2025

 

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Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Blauer Meckel“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Christoph Meckel

 

Christoph Meckel berichtet über sich und seine Arbeit, gibt Einblick in seine „Kopfwerkstatt“ und erklärt seine Poetologie.

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