1. November

Nach dem mehrstündigen Migränekrampf von gestern Abend und der albern vollgeträumten Nacht hab ich heute friedlich verschlafen, bin erst seit neun Uhr wach, sehe beim Hochziehen des Stores einen blassblauen Himmel und mitten drin tief oben den blanken Vollmond – nimmt sich aus wie ein Guckloch in einen geheimen Hinterhimmel mit keinem Gott. Auf dem Weg zur Post stelle ich fest, ich habe mich durch die bläuliche Himmelskälte und den kühlen Silberblick täuschen lassen, tatsächlich – der Tag wird mild, fast frühlingshaft nach dem Schneeeinbruch vom Wochenende. Ich packe die Zeitungen untern Arm und gehe direkt weiter in Richtung Hochwald. Auf der ersten Ruhebank am Sentier Gaston mache ich kurz Lesepause, blättere die News durch, die größtenteils keine Neuigkeiten mehr sind – lauter Wiederholungen aus den gestrigen Onlineberichten. Ich vergleiche die Katastrophenbilder aus New Jersey nach dem Hurrican Sandy mit den Ruinenbildern aus Aleppo nach den jüngsten Luftangriffen der Regierungstruppen – ein einziges Trümmerfeld. – Schon immer … schon als Schuljunge empfand ich die Kehle als eine Art Barrikade zwischen Kopf und Bauch – statt diesen mit jenem zu verbinden, sperrte die Kehle (so empfand ich es:) das kommunikative Hin und Her zwischen Oben und Unten. Diese Sperre hat mich an vielem gehindert, was ich hätte erreichen … was ich hätte sein wollen. Befehlshaber unsrer Raubrittertruppe. Klassensprecher. Der Hauptmann von Köpenick bei der Schüleraufführung vor dem Abitur. Unterrichtsassistent am Deutschen Seminar bei Walter Muschg. Tafelmajor bei Theas Hochzeitsessen. All dies bin ich nicht geworden und konnte ich auch gar nicht sein, weil mir die Kehle immer dann, wenn ich vor andern und für andere reden sollte, die Stimme verschlug. Ich brachte … ich hätte kaum das erste Wort und sicherlich keinen Satz herausgebracht, der Hals war wie zugeschnürt, ich hätte mich verschluckt, ich wäre erstickt. Aber da ich unter solchen Voraussetzungen ohnehin keine Chance hatte, mich in irgendeiner Rolle hervorzutun, blieb es bei einigen wenigen, in jedem Fall peinlichen Auftritten mit Referaten im Geschichtsunterricht oder später im Proseminar für Kunstwissenschaft. Nur zum Teil gelang es mir, meine rhetorische Schwäche – halb Lampenfieber, halb Schluckauf – zu kompensieren durch meine schriftlichen Arbeiten, die meistens positiv bewertet wurden. Im Unterschied zum Sprechen vor Publikum fiel mir das Gespräch im kleinen Kreis – ganz zu schweigen vom Selbstgespräch – verhältnismäßig leicht, jedenfalls beherrschte ich es soweit, dass ich mich nicht gehemmt fühlen musste. Doch einzig im schriftlichen Ausdruck fühlte ich mich frei … fühlte mich überlegen und wurde in meiner Selbsteinschätzung bestätigt dadurch, dass ich als Gymnasiast, später als Student oft mit der Abfassung von Resolutionen, Protestschreiben, Protokollen betraut wurde. Im Namen und Auftrag meiner Schulklasse musste ich einst, als die Mutter unsres Hauptlehrers gestorben war, ein Kondolenzschreiben redigieren, und für den Abiturball sollte ich einen Slogan erfinden und zwei Dutzend Spruchbänder mit satirischen Kalauern besprühen. Mich selbst nahm ich damals auf die Schippe mit dem Spruch: Reden ist Silber, Schweigen ist Ingold. Erst gegen Ende meiner Studienzeit fiel mir auf, dass gerade die rhetorisch begabtesten Kommilitonen in aller Regel auch jene waren, die sich mit dem Schreiben am schwersten taten, und umgekehrt hatten jene, denen das Schreiben leicht fiel, weit mehr Mühe mit dem mündlichen Ausdruck. Von daher verwundert es mich nicht, dass erstrangige Wortkünstler wie Michel Leiris oder Francis Ponge stets einen Horror vor dem freien Sprechen hatten, und dass Leiris, darüber hinaus, den verzweifelten Mut aufbrachte, sich mit einem Messer die Kehle durchzutrennen, beeindruckt mich zutiefst – er nahm sich die Stimme, um aus der Fülle des Schweigens und des Verschwiegenen die Schrift zu gewinnen. Ob also das eine Register – das Reden – dem andern – dem Schreiben – in die Quere kommt? Und warum denn? In meinem Fall war die Redehemmung allerdings eher schambetont als sprachbedingt. Ich verstehe den wirklichen … den tiefer sitzenden Grund bis heute nicht, und noch immer kommt mir der öffentliche Sprechakt – Vortrag, Grabrede, Laudatio, Lesung, Predigt, Regierungserklärung – irgendwie obszön vor. – Dieser Tag … die Trostlosigkeit dieses Tags lässt dem Wollen des Schafs keine Chance. Wozu noch scheren und spinnen und häkeln? Wozu den öden grauen Überwurf vergrößern? Für wen? Aus einem Tag unproduktiver Nachdenklichkeit wird ein Tag – eine Gelegenheit! – der Entrümpelung und des Reinemachens. Ausräumen, wegwerfen, sauber machen. Die Bücherregale entstauben. Glaskeramik polieren. Buntes, Weißes nacheinander in die Waschmaschine. Klo putzen. Ablaufrohre durchspülen. Den Balkon fegen. Gemahnte Rechnungen zusammensuchen. Publikationsmeldungen an Pro Litteris erledigen. PC-, TV-, Telefon-, Radiokabel entwirren. Auf Simsen und Sesseln gestapelte Bücher einordnen. Rezensionsexemplare fürs Brockenhaus eintüten. Luftbefeuchter und Espressomaschine entkalken. Kühlschrank abtauen und auskratzen. Dann für eine Stunde in den Dolderwald. Abends mit Krys. Dôle blanche, Jurakäse, grüne Oliven, gegrillte Auberginen. Wir sehen uns auf DVD zwei langsame Kurzfilme von Samuel Beckett an; es wird spät und ist – jetzt – schon wieder früh.

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