Authentische Literatur müsse »schlecht geschrieben« sein, lerne ich aus einem Essay von Peter Urban-Halle über den aktuellen Triumph autobiografischer Prosa im Gegenzug zu belletristisch begradigten Lebensgeschichten, wie sie weiterhin üblich und beliebt sind. Daraus ist wohl der Schluss zu ziehn, dass schlechtes Schreiben gut geschriebener Literatur grundsätzlich überlegen ist, aber auch – dass die marktgängige und betriebstaugliche Belletristik eben nicht als »authentisch« gelten kann. Das mag ein impliziter Vorwurf an die zur Zeit grassierende Befindlichkeitsprosa sein. Oder ist es eine Provokation der Kunst schlechthin? Eine Verwechslung des Künstlerischen mit dem Künstlichen? Ein Protest gegen das Artifizielle zu Gunsten des Natürlichen? Vielleicht bloß der »Triumph« von handwerklicher Mediokrität? Von Witold Gombrowicz kommt doch – erinnere ich mich korrekt? – der Hinweis, wonach gewollte und praktizierte Authentizität gleichbedeutend sei mit Unredlichkeit, wenn nicht mit Lüge und … und mit Lüge hat Kunst allemal mehr zu schaffen als mit der Wahrheit. – So etwas wie Glück passiert mir nun häufiger als in meinen frühen und mittleren Jahren, hab’s lang erwarten, ersitzen, erleiden müssen, jetzt kommt es bisweilen als schlichter Anflug. Heute nur einfach – »des Herbstes braun und blaue Farben«, dazu Rot und Gold, der reinste Azur des Himmels, stabiles Eigengewicht, völlige Ruhe im schmerzfreien Leib, ungestörter Tiefschlaf mit immer weiter führenden Träumen, die eine und andere Zuwendung von außen, der eine und andere Erfolg nach außen. – Seit dem Kälteeinbruch letzte Woche nehme ich täglich – jeweils dann, wenn’s nicht weitergeht mit dem Schreiben und wenn kein entscheidendes Tennisspiel im Fernsehen übertragen wird – ein heißes Bad. Noch jedes Mal ergreift mich ein unsägliches Behagen, das aber auch jedes Mal die Vorstellung … den Gedanken daran aufkommen lässt, dass gleichzeitig manche … viele Zeitgenossen auf der Intensivstation liegen, unter der Brücke am Quai, im Lotter- oder Hochzeitsbett, in der Folterzelle, auf der Lagerpritsche, auf der Analysecouch, im Flüchtlingszelt, im Computertomografen, im eigenen Blut oder … oder ebenfalls in einer solchen Normbadewanne. Manch einer ist in der Wanne umgebracht worden oder hat sich in der Wanne umgebracht. – Menschliches Wirtschaften als eine Form von Despotismus, Eigeninteresse voran, Ausbeutung im lnteresse von Gewinn legitimiert, Triumph der Quantität, Ratings aller Art als einzig relevante Gradmesser, permanenter Fortschritt beziehungsweise permanent steigende Gewinne als despotische Normalforderung. Beispiel: Der Porschechef, der die Entwicklung von Ökomotoren verschlafen hat und jetzt um Zuwächse und Boni bangt, kann sich vorstellen, vom Staat vierzig Milliarden Euro für die Forschungsfinanzierung der Firma zu fordern, »weil sonst das Unternehmen in Schieflage geriete und die Arbeitsplätze gefährdet wären«. Sämtliche ökonomisch produktiven Gesten sind zur Normalität geworden, eingeschlossen Betrug, Fälschung, Korruption, Ausbeutung, Umweltverschmutzung, Naturzerstörung nach dem Prinzip, alles und noch viel mehr haben zu wollen, sich allein mit Erfolgen, Gewinnen, Zuwächsen zu legitimieren, egal, ob Landschaften, Arbeitsplätze, historische oder ethische Werte vernichtet werden. Was mich an die hochfahrende, nicht sehr viel anders geartete Ethik der Planwirtschaft sowjetischer Machart erinnert, an die damals zur Normalität und zum Zwang gewordene Übererfüllung der Fünfjahrespläne … an die gewerkschaftlich und polizeilich durchgesetzte Erfüllung mancher Fünfjahrespläne in vier Jahren. Den längst obsolet gewordenen Fortschrittsoptimismus einerseits, den Horror der Stagnation anderseits zu überwinden – das müsste das Ziel sein. Und dazu würde auch die Disziplinierung des globalen Bevölkerungswachstums gehören. Allein durch ihre stetig wachsende Quantität trägt die gesamte Menschheit zur Auspowerung der Erde bei und der Einzelmensch tendiert mehr und mehr zu einer wölfischen Moral, die nur noch aufs Überleben, nicht mehr aufs Leben ausgerichtet ist. Genozide, Terrorismus, Kleinkriege, Hungersnöte, Umwelt- und Naturkatastrophen scheinen diese Entwicklung zu bestätigen. Der Mensch müsste wieder zu einer raren Gattung werden, müsste seine Massenhaftigkeit und die damit verbundene Entwertung des Einzelnen transzendieren – durch einen entschiedenen Rückschritt. Durch die globale Dekonstruktion heutiger Normalitäten. – Noch so ein rosig umsäumtes Morgengrauen! In dieser Kombination – der Morgen und das Grauen! – verliert die Rosafarbe ihren Kitschcharakter, gewinnt etwas Erhabenes, kündet – so früh am Tag – vom Ende des Heils … vom Anfang der Katastrophe. Bei Marcel Proust löste die »rosige Morgenröte«, in der er jedes Mal ein »neues Rot« zu erkennen glaubte, eine »geheimnisvolle Erwartung« aus und ließ ihn darüber hinaus einen »Gesang aus sieben Tönen« vernehmen, »die Luft zerreißend mit der Heftigkeit seiner roten Tönung«, so etwas wie einen »mystischen Hahnenschrei«. Das ist stark gesagt, und ich muss eingestehen, dass ich das heutige und hiesige Rosa am Rand des asphaltgrau übermalten Himmels ganz ähnlich wahrnehme. – Gestern mit Krys im Kino, ›Elegy‹, nach dem jüngsten Erfolgsroman von Philip Roth, mit Kingsley und Cruz in der Regie von Coixet; gut gemacht, gut gespielt, der eigentliche Schauplatz der Handlung wird in die Gesichter verlegt, die hier gleichsam zur Bühne der verlogenen Gefühle werden; das Ganze ergibt sich aus einer Folge von Groß- beziehungsweise Nahaufnahmen, die Tragikomödie spielt sich an den Schläfen, unter den Augen, in den Mundwinkeln der attraktiven Antihelden ab. Menschen wie du und ich, wenn auch völlig anders geartet … anders geoutet. – Von Michael Roes ›Die Laute‹ gelesen. Schöner zweideutiger Titel für einen großen Roman mit ungewöhnlichem Setting. Die hauptsächlichen Schauplätze der Handlung sind Jemen und Polen, die Protagonisten, zwei Männer in ambivalenter erotischer Wechselbeziehung, können sich nur in Gebärden unterhalten – das ist für eine Story von über fünfhundert Druckseiten Umfang eine riskante Vorgabe. Der Autor bewältigt das Risiko thematisch, wird ihm aber sprachlich nicht gerecht; er nivelliert, rechtfertigt, beschönigt und bietet somit das Unerhörte als fade Normalität dar. Für eine derart weitreichende und komplexe Thematik reicht der beschwichtigende, auf Korrektheit angelegte Redefluss des Erzählers nicht aus. Wo Polyphonie gefragt wäre, wird nur ein dumpfer Basso continuo vernehmbar. – Ab morgen soll’s rauer werden, stürmischer Wind aus dem Südwesten, trockene Kälte, kaum Sonne.
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