11. Oktober

Das Seminar findet unter freiem Himmel in einem kleinen Amphitheater statt. Die Spielfläche ist mit lockerem Kies belegt und von toten Bäumen gesäumt. Teilnehmer sind zumeist junge Leute. Zu ihnen gehöre ich, und wie sie alle habe ich einen Auftritt vorbereitet. Nur fürchte ich, den andern nicht gewachsen zu sein, das heißt – von den andern nicht verstanden zu werden. Als Seminarleiter ist nach dem überraschenden Freitod von Jorge Federspiel Reb de Rida eingesprungen. Da … dort geht er unter weißer Mähne mit seinem Lieblingsschüler und mit fahrigen Gesten im Kiesbett auf und ab. Das Knirschen unter den Schritten der beiden kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für das angekündigte Seminar weiterhin kein Thema gibt und auch keinerlei gute Gründe. Niemand von uns weiß, worauf er sich einzustellen und vorzubereiten hat, alle vermuten … alle befürchten, es könnte dem Reb um Alles oder Nichts gehen. Ich bin angespannt, fühle mich wie vor einer Prüfung, deren Ergebnis mein restliches Leben bestimmen wird. Die Ränge des Amphitheaters setzen sich fort in einer vielfach verschachtelten Architektur, die unterschiedliche Stilformen in sich vereint und endlos in die Höhe zu streben scheint. Im Babelturm sind die Aufnahme- und Sendestudios untergebracht, Dutzende, Hunderte, nummeriert ab 731 bis unendlich. Am Mikrofon begrüßt mich Paul Feyerabend. Hinter der schalldichten Verglasung sehe ich Krys, sie hantiert in der Küche, deckt schon den Tisch, gelegentlich winkt sie zu mir herüber. Feyerabend löchert mich mit Fragen, die er – alle – gleich selbst beantwortet. Mir bleibt nur, mein Gastgeschenk unters Mikrofon zu legen, es ist eine schmale, etwas zerschlissene russische Broschüre aus den 1920er Jahren, ›Erdreich und Bauerntum‹ (Semlja i krestjanstwo), eine Doublette aus der Bibliothek Lieb. Ich übergebe Paul das Büchlein in Erinnerung an ein gemeinsames Seminar über Anarchismus, wissend, dass er Russisch nicht liest. Da alle Fragen gestellt sind, gehen wir weiter in Richtung Hafen, um dort eine mögliche … eine möglichst umfassende und definitive Antwort zu finden. Von dort aus … vom Hafen aus werden übrigens die Seminarteilnehmer ihre Heimreise antreten. Ich selbst müsste mich um zwei Uhr früh nach Genua einschiffen, habe allerdings – erst in diesem Augenblick bemerke ich’s – mein Ticket im Hotel vergessen. Die Zeit wird knapp. Krys schlägt vor, wir sollten … ich sollte halt in Gottes Namen einen späteren Kurs zu nehmen. Was für mich nun aber heißt, ich muss mein Ticket, meine Reiseversicherung entsprechend ändern lassen. Aber wo? Wir betreten ein Lokal am Quai, Krys scheint hier schon öfter zugange gewesen zu sein, sie kennt die Wirtin, die Wirtin kennt Feyerabend, und so reicht sie mir anstandslos das Telefonbuch. Es ist ein völlig zerschlissenes, bereits auseinanderfallendes Exemplar, doch ich habe keine Ahnung, wonach ich darin suchen soll, weiß weder den Namen des Reisebüros noch den des Schiffs oder der Versicherungsgesellschaft. Ich lege das Telefonbuch in die Arme der Wirtin zurück, und über eine Rettungsleiter steigen wir durch den Notausgang auf den Quai. Krys geht voran, sie trägt schimmernde Seidenstrümpfe, wiegt sich schön in den Hüften und ist plötzlich im besten Alter. Draußen im Tageslicht sieht sie dann wieder so aus, wie ich sie normalerweise vor Augen habe. Wir schlendern nun unbeschwert, allmählich den Schritt beschleunigend, hinüber zu den langgestreckten Baracken, wo angeblich die Schiffstickets verkauft werden, stellen uns in der Warteschlange an, die sich in unzähligen Serpentinen durch den Kasernenhof windet. Da … hier werden wir – Krys’ Lächeln lässt keinen Zweifel daran – warten und weiterwarten bis zum Gehtnichtmehr. Hinter meinem Rücken kichert Feyerabend, er wird noch viel, viel länger anstehn dürfen und … aber wie souverän er mit seinem Krebs umgeht! – Vor einer Woche gab es hier noch dreißig Grad nachträglicher Sommerhitze, heute steht das Thermometer bei einem Grad und die Wetterprognose lautet auf Schnee. Schwarzer Tag: Ich seh kaum noch aus den Augen vor Müdigkeit – trotz zehnstündigem Nachtschlaf muss ich schon gegen Mittag zurück ins Bett. Beim erneuten Aufwachen, anderthalb Stunden danach, erfahre ich auf Espace 2 vom Literaturnobelpreis an Herta Müller, höre später auf DRS 2 erste öffentliche Stellungnahmen: Ärgernis bei Günter Grass, Philip Roth, Peter Handke. Marcel Reich-Ranicki, noch immer als »Literaturpapst« gefragt, hat zu Müller nicht viel zu sagen, empfiehlt aber, rasch über sie hinwegredend, mit pathetischer Dringlichkeit: »Unbedingt Thomas Mann, niemals ist Thomas Mann kein Gewinn, unbedingt lesen Sie Lotte in Weimar!« – Mein Gewinn ist in diesen Tagen Goethes ›Faust‹, den ich Vers für Vers durchnehme, Teil eins, Teil zwei, dazu die Paralipomena: Angestrengter Wurf im Ganzen, bemühtes Handwerk im Einzelnen, mit manchen trivialen Formalismen (Metrum, Reime usf.). Das Großartige finde ich eher am Rand, im Beiläufigen, in den Entwürfen, auch in verworfenen Passagen – hier sind die Gedankenblitze noch wirksam, die wenig später zu fixen Ideen gefrieren. In den Entwürfen und Notaten lese ich: »Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüsste.« Denn: »Nur durch Aneignung fremder Schätze entsteht ein Großes.« Und Sentenzen wie diese: »Verstellung, sagt man, sei ein großes Laster, | Doch von Verstellung leben wir.« – »Ich verwünsche alles, was dem Publikum irgend an mir gefällt.« – »Sieh mich entschlossen, sieh mich eilen: | Das Ende such ich, keine Braut!« – »Von dem, was sie verstehn, | Wolln sie nichts weiter wissen.« – »Und wenn man es bei Licht besieht, | Gnügt euch am Ende schon die Dauer.« – Hier scheint Goethe auch das ›Abendlied‹ anzustimmen, das später Matthias Claudius zu einem der stärksten Gedichte deutscher Sprache ausschreiben wird: »Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe | Des späten Monds mit feuchter Glut heran …« – Peter Sloterdijk gibt Einsicht in seine ›Zeilen und Tage‹, Notizen aus vier Jahren, insgesamt sechshundertneununddreißig Seiten, angeblich nebenher und ohne Publikationsabsicht niedergeschrieben, dann streng ausgewählt aus einem umfangreichen Konvolut, von dem nun also das Quintessentielle in einem stattlichen Band nachzulesen ist. Vor allem handelt es sich um Marginalien – durchweg brillant formuliert, bald kritisch, bald ironisch kommentierend – zum aktuellen Wissenschafts-, Kunst- und Literaturbetrieb, zum Tagesfeuilleton, zu Neuerscheinungen, zu laufenden Lektüren im Zusammenhang mit eignen Büchern, Vorlesungen, Vorträgen; auch gibt es Notate zu tagespolitischen Fragen, zu öffentlichen und privaten Gesprächen, zu Begegnungen mit Honoratioren und Kulturverwesern aller Art und jeglicher Disziplin – von Peter W. bis hin zu Königin Beatrix, von Ulla Berkéwicz bis zu Hubert Burda. Gut einhundert Hefte hat Peter Sloterdijk in diesen Jahren von Hand ausgeschrieben – regelmäßig, zu Haus, auf Reisen, im Hotel, jeweils früh morgens, bevor er seiner übervollen Agenda zu genügen hatte, insgesamt vermutlich ein paar tausend Seiten. Man kann nur staunen, dass und wie es dem Autor gelingt, in Engführung mit seinen gleichzeitig abgefassten großen Erzählungen über Anthropotechnologien, Denken im Scheintod, Steuerpflicht und Steuergerechtigkeit, Freiheit ohne Stress, seinen Gelegenheitstexten, Gutachten und Vorworten, seinen gleichzeitig abgehaltenen Seminaren und Workshops, seinen Fest- und Kongressreden, seinen TV-Auftritten sowie – das kommt naturgemäß, mithin notwendigerweise noch dazu – mit den ausgedehnten Lektüren, die für all diese Aktivitäten unerlässlich sind. Was in und aus den ›Zeilen und Tagen‹ zu lesen ist, kann man größtenteils aus Sloterdijks frühern Büchern und sonstigen Schriften kennen – es sind Vornotizen oder Kommentare zu seinen Makrotexten, einiges wird ergänzt, relativiert, selten einmal selbstkritisch überdacht. Für Sloterdijks Fangemeinde ergibt sich daraus ein buntes Bündel von Abstracts, die manches zum Verständnis seines umfangreichen Werks beitragen, es aber auch, in nuce, zu guten Teilen ersetzen können. Der Rest ist Buchhaltung. Ausgiebig informiert mich der Autor – sozusagen – über die quantitativen Qualitäten seines Tuns, über Anzahl und Dauer seiner Auftritte, über die Größe der Räume (Konferenz- und Konzertsäle, Kongresshallen, auch Kirchen) und die An- [bricht ab]

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