6. November

Zur Migräne hat sich mein Kopfweh in dieser Nacht nicht gesteigert, im Lauf der Stunden senkte es sich über Schultern und Brust auf den Bauch herab, verhinderte durch quirliges Rumoren den Schlaf. Bin erst am spätern Morgen aufgewacht – der Novembertag hat sich zu einem Märztag gemausert und muss nun als Märzembertag bestanden werden. – Kaum ein Rezensent, der Peter Sloterdijks ›Zeilen und Tage‹ zu besprechen hat, kann es sich verkneifen, jene beiläufige Traumnotiz herbeizuzitieren, in der von einer »gewisse Überfunktion« die Rede ist, die der Autor an sich selbst feststellt – die Erektion als »das nackte Dass«. Was da in Nacktheit prangt, könnte allerdings auch das »Weil« sein, das »Obwohl« oder ein unaufhörliches »Bis«. Doch nicht dies ist die Frage hier, und es ist auch nicht Grund genug, um den Philosophen einmal wieder bloßzustellen. Die sich aufdrängende Frage bezieht sich vielmehr auf den »Traum«, mithin darauf, weshalb Sloterdijk eine alltägliche, letztlich triviale sexuelle Selbsterfahrung nicht als solche in seinen Notaten festhält, sondern sie als Traumerfahrung ausgibt und sie überdies in eine quasiphilosophische Perspektive rückt. Es ist ja, über diesen Einzelfall hinaus, schon sehr auffällig, dass noch heute in autobiografischen Schriften, auch in Memoiren kaum (oder eben nur verkappt) von gelebter Sexualität die Rede ist. Die unausweichliche Frontalität der ersten Person Einzahl scheint dies weiterhin zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern. Auch in diesen angeblich tabufreien Zeiten ist es … heute wäre es für einen amtierenden Hochschulphilosophen tatsächlich eine riskante Mutprobe, seine gelebte Geschlechtlichkeit in Ichform öffentlich zu machen. Selbst Elias Canetti, erotischer Schwerenöter, hat in seiner dreibändigen Autobiografie solchen Mut nicht aufgebracht, gehemmt durch seine Eitelkeit und den unbedingten Willen, als bedeutender Autor anerkannt zu sein. Das Ich von Canettis autobiografischer Trilogie ist ebenso fiktiv wie der Professor Kien in seinem Roman ›Die Blendung‹ – beide, ob Ich oder Er, sind Keiner. Weitere Beispiele? Es gibt … es gäbe beliebig viele. Auch das eine oder andre Gegenbeispiel wäre zu nennen. – Und Marcel Proust? Der Vielzitierte, Vielgerühmte, wenig Gelesene! Was macht ihn zum Klassiker? Wodurch legitimiert sich seine ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ als Jahrhundertroman? Welchen Sinn kann man … was kann ich aus dem vielbändigen Erzählwerk gewinnen? Diese Fragen stelle ich mir nach wie vor, und nach wie vor bemühe ich mich beim Lesen und Wiederlesen um eine Antwort darauf. Ich lese Proust in der kritischen Werkedition der Bibliothèque de la Pléiade, in russischer und deutscher Übersetzung, auszugsweise im Lesebuch von Luzius Keller, besitze auch einen Band der Erstausgabe, gedruckt auf holzhaltigem, schon stark gebräuntem billigem Papier, in liebloser Druckgestalt fahrig broschiert und – jedes Mal weiß ich wieder nicht, weshalb und wozu ich das lesen soll. Ich halte Proust für einen genialischen Grafomanen und kann dessen Schaumschlägereien – falls überhaupt – nur deshalb goutieren, weil sie im Text die strenge Form kristalliner Architekturen annehmen. Wie Proust in präzis durchkomponierten Sätzen und Absätzen den ausufernden Tratsch seiner Protagonisten und den protzigen Muff der Epoche auf den Punkt bringt, ist durchaus bewundernswert, erbringt aber nicht viel mehr Erkenntnis- und Lustgewinn als seine frühe Novelle von jenem »Gleichgültigen«, in dem er Mentalität und Physiologie der Dekadenz skizzenhaft vorgezeichnet hat. Finde ich. Das Exegetenkartell, das sich seit Jahrzehnten an Proust abarbeitet, sieht dies naturgemäß ganz anders. Für die Proustforschung bleibt ›Die Suche nach der verlorenen Zeit‹ in ihrem gewaltigen Reichtum an Anspielungen, Aneignungen, Reflexionen, direkten und indirekten Zitaten eine Fundgrube, die man noch lange wird explorieren und ausbeuten können. Zum Spurenlesen bietet sich der Roman ebenso weitläufig an wie zum Hineinlesen prekärer Deutungen. Noch das vorletzte Frage- oder Anführungszeichen und selbst Druckfehler können Anlass zu langwierigen Recherchen und irrelevanten Erkenntnissen werden. Was hat es … hat es etwas zu bedeuten, dass Proust im Schlussband der ›Suche‹ von 1927 (den ich grade in der Erstausgabe lese) das damals neu aufkommende Wort »aéroplane« durchweg falsch als aréoplane ausschreibt? Hat der Setzer gepfuscht? Hat Proust unsorgfältig Korrektur gelesen? Ist die Verschreibung ironisch gemeint? Wie auch immer. Wenn ich mir bei Proust etwas notiere, so ist es in der Regel ein nichtssagender Satz, der aber so kunstvoll gebaut ist, dass er eigentlich eine komplexe »Wahrheit« oder zumindest eine interessante Aussage in sich schließen müsste. Die Nichtübereinstimmung von Form und Inhalt bewirkt, dass der Satz als solcher, der Satz als künstlerisches Konstrukt umso deutlicher hervortritt. Selbst die vielgerühmte und oft zitierte Szene mit der Madeleine als duftigem Erinnerungsbukett ist eigentlich doch nur als sprachliches Faktum von Interesse. – Heute Abend kommt ›Topas‹ auf arte-TV.

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