ERKLÄRTE NACHT
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte
aaaaaGefühle…
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im
aaaaaelaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen
aaaaasämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse
aaaaaEtwas zuviel.
Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das „Echt Absolut Reelle.“
Jene Zickzacknaht – Vernunft, an Affekte und Mythen gebunden,
Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen.
Rückkehr der Echos zur Quelle, zum Mund, wo die Laute sich runden.
Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
Magisches Gängelband, Ariadnefaden durchs Dunkel der Aporien,
Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil.
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
Vergeßt dieses schamlose Ich und sein Du, herbeigeholt aus der Ferne.
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer
Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren,
Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen.
Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht.
Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
Die Notation fotografisch genauer Wahrnehmungen verschmilzt in den Gedichten Durs Grünbeins mit Abschweifungen über vermeintlich Entferntliegendes zu konzentriertester Reflexion: über die Zeit und die Geschichte, über das Gewordensein des gesellschaftlichen Ganzen von der Antike über die Renaissance bis in die jüngste Vergangenheit, über den eigenen Platz in den Zeitläuften.
Wohin aber sickert denn Zeit,
Nachdem sie die Körper durchlief?
Kein Tropfen im Grundwasser schreit.
Nicht Schweiß hat das Felsloch vertieft.
Die Erkundung der Möglichkeiten des Individuums innerhalb der Grenzen seiner eigenen Lebenszeit und seines Lebensraums Großstadt sind seit langem Themen dieses Autors: „Warum bist Du hier? steht als Frage gleich morgens mit auf.“ In seinen neuen Gedichten, die unter die Kapitelüberschriften „Unzeitgemäße Gedichte“, „Neue Historien“ und „Traktat vom Zeitverbleib“ geordnet sind, führt er diese Themen weiter und entfaltet sie in Langgedichten und Zyklen. Das poetologische Titelgedicht, das auf ein Schönbergsches Orchesterstück anspielt, beschreibt als Movens das Fortschreiten in Oppositionen zwischen magischen und rationalen Definitionen der Poesie und beschließt den Band mit einem vorläufigen Fazit.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung
− Durs Grünbein zieht eine Zwischenbilanz. −
Dies sind Gedichte, die sich an einzelne wenden. Sie sind dem inneren Lesen zugedacht; das Lied, der Spruch, das Auswendiglernen liegen außerhalb ihres Bereichs. Noch für Brecht war die Lage anders, weil der Kommunismus – und darin mag seine Attraktion bestanden haben – ein Volk fingierte, an das der Dichter sich wenden konnte. Grünbein schreibt Kunstgedichte; wer sie liest, sollte sich für die antiken Stoffe den „Kleinen Pauly“ zurechtlegen und für die italienischen Ansichten Jacob Burckhardts „Cicerone“.
Zauberhaft leicht und sicher ist Grünbein in den Rhythmen seiner langen Zeilen. Musikalische und tänzerische Anspielungen geben den poetologischen Rahmen: Im ersten Gedicht – „Was ist das, Frühling“ – erinnert Grünbein an Strawinskys „Sacre du printemps“, im letzten, das der Sammlung den Titel gegeben hat, an Arnold Schönbergs Orchesterstück „Verklärte Nacht“, eine der schönsten Kompositionen der Jahrhundertwende, die ihrerseits auf ein Gedicht von Richard Dehmel geantwortet hatte. Dazwischen findet man die lieblichere oder schärfere Sprach-Musik der Vögel in Umbrien.
Es sind Blicke nicht nur auf die Musik, sondern ebenso auf die Geschichte und die Philosophie, die die Gedichte charakterisieren: Einmal werden diese geradezu als „Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding“ definiert. Aber die offensichtliche Anspielung, wie hier auf Schönberg, ist vor allem, wo sie einem ganzen Band den Titel gibt, eine problematische rhetorische Figur. Wenn sie nicht im bloßen Effekt der Sekunde verpuffen soll, muß sie abgearbeitet werden. Dann legt sie dem Dichter eine Verpflichtung auf – er muß sich nun bei jedem seiner Schritte an der Tradition messen −, andererseits wird sich auch das künstlerische Selbstbewußtsein steigern. Diese widersprüchliche Bewegung, die im Titel Erklärte Nacht angelegt ist, entfaltet sich in den Gedichten.
Zum dichterischen Selbstbewußtsein gehört die Geschichte der poetischen Sozialisation in mehreren Schritten. Einmal ist es die Erkenntnis der Laute und ihrer Bedeutungen, die, wer weiß, vielleicht der Lautfolge des eigenen Namens abgewonnen ist. Das Gurgeln und das unterweltlich-katakombenhafte des Kehlkopfes beschäftigen Grünbein mehr als einmal. Die erste Prüfung der Welt findet im Mund statt:
Nichts, was die Lippen verwarfen, wurde geglaubt.
Flinker als Lidschlag sortierte die Zunge.
Die ersten Worte, erbeutet als Talisman,
Klebten lange am Gaumen, Nougat und Kieselstein.
Zum Mund tritt das Auge. Wenn man von einem Thema dieser Gedichte vereinfachend sprechen will, dann ist es der Ort des Unheimlichen in der Zivilisation – die Bildungswelt Rudolf Borchardts, gesehen von der Kamera Alfred Hitchcocks. Grünbein wurde 1962 in der DDR geboren, „mitten im Kältesten Krieg“, als man sich durch Zielfernrohre ansah. Als Kind, „sehr früh schon, zu früh“ bildet er den anderen Blick aus: „Mit Augen, die hätten jede Mutter erschreckt.“ Der Blick durch Gitter und Türspione, der hier geschildert wird, könnte aus Hitchcocks Ost-West-Spionenfilm Der zerrissene Vorhang stammen. Und schließlich ist es die Schrift, die er in der denkbar schönsten, geschütztesten Weise von seiner Mutter lernt:
Still rührte sie den Teig, und schnitt vom Rand
Schriftzeichen aus, ein eßbares I Ging.
Aber die Zeichen werden nicht nur vom Auge gelesen, der Körper erfährt sie, und so ist die Geschichte dieser dichterischen Berufung auch eine Geschichte der Schrecken und der Schweißausbrüche, die aus der Welt des Märchens stammen, wo es am dunkelsten ist. Drei unheimliche Zeichen begegnen dem Knaben, dreimal wird er angesprochen. Ein Katzenkadaver sagt ihm: „Schuld bist auch du. Der das hier tat, war deinesgleichen.“ Der Verkrüppelte, der in Stalingrad den Verstand verlor, ist der zweite: „Was wißt ihr schon. So bald verdorrt ist euer freches Grün.“ Eine gichtige Alte schließlich erscheint ihm als Märchenhexe: „Ich bin die Leich vor eurer Tür. Ihr werdet an mich denken.“ Im Leben des Erwachsenen enträtseln sich die üblen Orakel im Herzklopfen, im Lärm der Panzerketten, im Gestank von Kantinen.
Durs Grünbein steht im vierzigsten Jahr, einem Alter, das erste Bilanzen und Vergänglichkeitsreflexionen nahelegt. Man findet sie vielfach in diesem Band, auch im antikisierenden dritten Teil, der „Neue Historien“ überschrieben ist. Das erste Gedicht – „Schwacher Trost“ – gilt der Unsterblichkeitslehre des Stoikers Chrysippus, die, wenig attraktiv, auf ein den Philosophen vorbehaltenes Seelenarchiv hinausläuft: „Niemals vergessen zu werden lautet ihr Fluch.“ Besser ist ein Seestern, den die Kinder gefunden haben: „Welcher Trost meinem Auge, dies kleine obszöne Tier.“ Episoden aus dem Leben Senecas schließen sich an, sie dienen Grünbein dazu, Fragen an die stoische Philosophie zu formulieren. Um die vernünftige Einstellung zum Tod war es dieser Schule vor allem gegangen. Hält sie stand? „In Ägypten“ heißt das Gedicht, in dem Seneca gesteht: „Unheimlich ist sie, die Eile der Zeit, blickt man zurück.“ Auch das folgende Gedicht – „Julia Livilla“ – behandelt einen Stoff aus der Lebengeschichte des Philosophen. Julia, die Verbannte, schreibt ihm, dem einstigen Geliebten, und erinnert an die Versäumnisse der Vernunft:
Denn so ist Liebe −
Sie übersteigt, was immer du an Argumenten hast.
Nicht daß ich einsam wär, allein mit meinen Diatriben.
Mir scheint nur, Freund, wir hätten zuviel Zeit verpaßt,
Indem wir das Intime mieden.
Verfremdet-schön ist diese Antike im Blankvers, die direkt aus Wielands Horaz-Übertragungen zu stammen scheint.
Die Gedichte um Seneca und die Lage der Philosophie angesichts des Zynismus des kaiserlichen Rom sind in die Komposition des Ganzen verflochten. Man hört ihr Echo in den „September-Elegien“, die nach den New Yorker Anschlägen verfaßt wurden:
Keiner ist Stoiker hier. Palavernd vor Schwellen und Türen,
Von Terminen und Schulden gejagt, durcheilt man die Stadt.
Wer hat schon Zeit gehabt, etwas wie Seelenruhe zu destillieren
Aus der Gewißheit des Todes und daß alles ein Ende hat?
Manchmal scheint Grünbein sich selbst, angesichts der staunenswerten Geschichte seines Ruhms, stoische Lebensweisheit anzuempfehlen: „Vergiß das Lob, das dir schmeichelt“, heißt es in „Das pessimistische Alter“. Einem der schönsten Gedichte dieses Bandes – „Herrscherin der todgeweihten Stadt“ – gelingt es, die Bildungswelt ganz in Erkenntnis zu verwandeln. „Tyche“ ist Zufall, Geschick, Glück und Unglück, und zugleich die personifizierte, unberechenbare Göttin dieses Bereichs. „Eutychides“ war der Künstler – man kennt ihn nur unter diesem Beinamen −, der die schönste Figur der Göttin schuf. Warum? Dort, wo er lebte, herrschte sie ja buchstäblich, und nur dort, wo einzig Trümmer geblieben sind, konnte sie ihre verbindliche Gestalt gewinnen: „Inmitten der Erdbebenzone lebte ihr Schöpfer.“
Lorenz Jäger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.2002
− Fast eine Ars moriendi: Durs Grünbeins neuer Gedichtband Erklärte Nacht. −
Ob es Grünbein-Leser gibt, die nicht beim ersten Blick auf seine neue Gedichtsammlung den Köder geschluckt und eine Anspielung auf Schönbergs Opus 4, das Sextett Verklärte Nacht, vermutet haben? Das Titelgedicht „Erklärte Nacht“ ist das letzte der Sammlung, ein poetologisches Bekenntnis: „Oder Dichtung, was war das noch?“ Es gibt in zweiundzwanzig Versen eine Fülle von Antworten. Schöne Metaphern heben wieder und wieder den Vorhang zu immer neuen poetischen Welten: Entführung in alte Gefühle, magisches Gängelband, Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
Auf keine seiner eigenen Definitionen wird sich der Dichter hier festlegen, und auch das uralte Misstrauen gegen die Poesie schwingt immer mit: „Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.“ Die letzten beiden Verse wagen ein Fazit: „Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. / Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.“ Das ist eher ein Bekenntnis als eine Behauptung. Das letzte Wort greift den Titel wieder auf, und man darf sicher sein, dass „die menschliche Nacht“ alles umfassen möchte, was hier an Bedrohung und Beunruhigung zu Wort gekommen ist, und dass es nach der Überzeugung des Dichters die Gedichte sind, die diese Nacht erklären können – nicht erleuchten und schon gar nicht verklären.
Aber was hat dann dieses Gedicht und was hat der ganze Band noch mit Schönberg zu tun? Der hatte den Titel jenem schwülstigen Gedicht Richard Dehmels entlehnt, das damals moralisch gewagt und bald danach peinlich klang. Prosaisch ausgedrückt, verspricht darin ein Mann, dessen Geliebte von einem anderen Mann schwanger ist, seine Vaterschaft anzuerkennen. Die pathetische Existenz dieser „zwei Menschen“ in ihrem Gang „durch hohe helle Nacht“ hat auch eine irdische Seite: „Er fasst sie um die starken Hüften.“ Die Anspielung auf Schönberg (oder auf Dehmel) stößt also ins Leere. Grünbeins Text genügt sich selbst. Aber damit nicht genug. Gibt es einen Grünbein-Leser, der „Was bleibt …“ nicht als Anspielung auf Christa Wolf lesen kann? „Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.“ Grünbeins Gedicht ist natürlich nicht liedhaft, und dieses „Singen“ erhebt nur den alten poetischen Autoritätsanspruch des von den Musen inspirierten Sängers der Antike. Seine Muse ist die Sterblichkeit, sagt dieses Gedicht.
Eine Überdetermination, ein irritierender Überschuss an Sinn prägt nicht nur dieses Gedicht, sondern den ganzen Band und ist vielleicht symptomatisch für Durs Grünbeins gegenwärtige poetische Situation. Denn diese Überdetermination prägt auch die Form. Durs Grünbein pflegt eine Versform, die unüberhörbar auf die klassische deutsche Bildungstradition anspielt. Die meisten seiner Verse machen beim ersten Lesen oder Hören den Eindruck von Hexametern. Wer mit der klassischen Hexameterdichtung nicht mehr vertraut ist, der wird sich nach der Funktion dieser Anspielung auf Altes fragen. Wer dagegen von der Tradition noch erfasst worden ist, wird überdies eine Begründung für die zahlreichen Abweichungen zu finden versuchen, die dem geschulten Ohr oft genug als unschöne Fehler auffallen.
Grünbeins Hexameter kann nämlich mit Auftakt beginnen, er kann sieben und acht oder auch nur fünf Füße, er kann einen zweisilbigen Fuß als vorletzten haben. Der stärkste Eingriff in die zitierte Verstradition ist allerdings der Reim, denn diese Verse reimen fast durchgehend! Auch hierin ist der Dichter aber nicht ganz streng und duldet oder sucht kleine Unreinheiten, z.B. in der zweiten Reimsilbe (Gefühle / Stühlen) oder in den Konsonanten (Ding / singt). An der Ernsthaftigkeit der Reime wie der Verse ist aber bei Grünbein durchaus nicht zu zweifeln. Ihre Form provoziert, wie die Anspielung auf Schönberg, einen Überschuss. Sie ruft die deutsche Klassik und mit ihr die antike Tradition auf den Plan – zu welchem Zweck?
War ich nicht eben erst jung?
Eine vorläufige Antwort drängt sich auf, aber nur für das dritte Kapitel der Sammlung. Es ist mit „Neue Historien“ überschrieben und behandelt antike Stoffe, vor allem eine Reihe von Rollengedichten aus der fiktiven Feder Senecas. Die antikisierende Verssprache kann hier noch am leichtesten als Kulisse verstanden werden. Goethe hat den Zusammenstoß von Antike und Moderne dramatisch am Vers und am Reim in Szene gesetzt. Die Vereinigung von Faust und Helena findet poetisch statt: indem sie reimen lernt. Kann Durs Grünbein im Jahre 2002 seinen Seneca das Reimen lehren, ohne diese übermächtige Tradition heraufzurufen?
Solche Formen der Tradition, die nie ganz akzeptiert und auch nie ganz erfüllt werden, gestatten dem Dichter zwar, sich auszudrücken, doch gleichzeitig verbirgt er sich auch dahinter. Wenn bei Durs Grünbein das Wort „ich“ vorkommt, dann ist es in den allermeisten Fällen ein Rollen-Ich: „War ich nicht eben erst jung?“ fragt Seneca in seinem Brief an Lucilius, „viel ist es nicht, was mir bleibt“, klagt Diodorus Siculus in „Das pessimistische Alter“. Der Dichter hat diese Figuren gewählt, weil sie in ihrer Verkleidung seine eigene Sorge spiegeln, er scheut die traditionelle Rolle des am Autor klebenden lyrischen Ich.
Obwohl unverkennbar eine biographische Erfahrung im Mittelpunkt des Reisebildes „Hinter Assisi“ steht, ist das Subjekt dieser Erfahrung getilgt und durch das unpersönliche „man“ ersetzt: „Was man hier vorfand, hatte man sonst in Museen gesucht“. Berlin, Umbrien, Venedig, das Kosovo, Manhattan nach dem 11. September, Arkadien: alle diese poetischen Orte erblicken wir durch die Augen von jemandem, der sein Ich löscht und nur gelten lassen will, was sich auch von einem „Man“ aussagen lässt.
Das gilt erstaunlicherweise auch für die „Drei unzeitgemäßen Gedichte“ mit ganz persönlichen Erinnerungen des Autors an die DDR. Gleich im ersten Vers des „Abschieds vom Fünften Zeitalter“ tritt das Ich in die dritte Person zurück: „Der hier spricht, stand früh auf seinerzeit.“ Aber die Wirklichkeit von damals geht auch in der Erinnerung jener verloren, die sie wirklich erlebt haben. Um sie festzuhalten, greift der Dichter fast verzweifelt jene Motive auf, die längst Klischee geworden sind: „Braunkohle hieß, was man morgens schon roch.“
Das vierte Kapitel ist ein „Traktat vom Zeitverbleib“. Vielleicht darf man es zentral nennen. Kein anderes Motiv bringt die biographische Realität des Autors deutlicher ins Spiel: „Ein Mann sitzt da und wird vierzig“, heißt es gleich im ersten der zweiundzwanzig Gedichte dieses Zyklus. Der Satz kehrt leitmotivisch wieder, aber nie sagt dieser Mann „ich“. Wenn er sich anspricht, meint er auch nur wieder jedermann: „Zeigt sich, dass alles da draußen / Auch ohne dich läuft, irgendwie.“
Der Zyklus ist kunstvoll komponiert. Siebenmal folgen einem Gedicht aus drei Strophen mit fünf reimenden Langversen jeweils zwei Gedichte mit fünf Strophen in kurzen gereimten Vierzeilern. Sehr oft ist der Schluss eines Gedichts wie in der provenzalischen Tradition mit dem Beginn des nächsten semantisch verknüpft. Das letzte ist wieder ein Langzeilengedicht und schließt ganz barock: „So eilt sie dahin und entgleitet dir, deine einzige kostbare Zeit.“ Ein solcher Vers findet beinahe zwangsläufig den Ton und die Motive des Memento mori: „Der Mensch? – Ein Kadaver in spe.“
Aber ist das die „menschliche Nacht“? Und können die Gedichte sie erklären? „Das Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn!“ hört man Gryphius aus dem Off. Vielleicht hat der Dichter hier eine andere jener Traditionen gefunden, die etwas anderes, noch nicht Erkanntes andeuten und zugleich verhüllen? Sein leitmotivischer Satz kehrt in einem der Rollengedichte wieder, einem Brief an den englischen Arzt des 17. Jahrhunderts Sir Thomas Browne, „an Euch, als Arzt im Totenreich“. In der Rolle des Briefschreibers wagt sich das biographische Ich noch einmal hervor: „Bald bin ich vierzig, Sir. Woher, wohin?“ Das sind rhetorische Fragen, die sich nur in Ironie auflösen lassen: „Von all dem Sir, ich weiß, erreicht Euch keine Zeile.“
Was erreicht uns, die Leser, von all dem? Je besser man es versteht, desto dicker scheint die Mauer aus Glasbausteinen zu werden, die uns davon trennt. Nur an einer Stelle gibt es in dieser Glasmauer ein Loch, das vierte und letzte Gedicht des kleinen Zyklus „Mehrere Schweißausbrüche“: „Und immer geht die Katze mit mir mit, der blutige Kadaver, / Den ich als Kind sah, an den Eichenstamm genagelt.“ Auch hier war die Versuchung stark, das eigene Getroffensein einem „man“ aufzubürden, aber sie wird überwunden. „Die Fratze Kindheit“ wird anschaubar, und ihr gelingt es, ein Stück menschliche Nacht zu erklären.
Hans-Herbert Räkel, Süddeutsche Zeitung, 10.6.2002
In seinem literarischen Tagebuch Das erste Jahr setzt sich Durs Grünbein an einer Stelle kritisch mit den schriftstellernden Kollegen aus dem Prosafach auseinander. Die Schreibenden seiner „Generation“, meint Grünbein, verlören sich auf der Jagd nach Authentizität in der Oberfläche des Alltags, sie besäßen kein Gespür mehr für das hinter den Phänomenen lauernde Allgemeine: „Der ungeheure Boom junger deutscher Prosaliteratur hat weniger mit einem Mangel an Lebenserfahrung zu tun als mit dem Unvermögen, sich in der Menschheit wiederzuerkennen.“ Text: Mit dem unreflektierten Eintauchen in die schillernden Dingwelten der Schaufenster und Werbespots geht für Grünbein fehlendes Bewusstsein historischer Tiefe einher: „Dass die Welt, die sie beschreiben, nur durch hauchdünne Membranen von Ovids Metamorphosenkosmos getrennt ist, entgeht ihrem Neugeborenenblick.“ Nicht allein die Prosa, auch das zeitgenössische Gedicht, davon ist Grünbein überzeugt, könne sich dem Panoptikum der Dinge nur schwer entziehen und verfalle dem „verfluchte(n) Kolumnen-Stil“ der Zeitungen und Kataloge. Es sei denn, der Dichter verfügt über eine Perspektive jenseits der Säuglingsoptik, besitzt also die assoziative Kraft und die poetischen Mittel, um die lackierte Oberfläche aufzubrechen.
Der Vers ist ein Taucher
Durs Grünbein hat von seinem ersten Gedichtband Grauzone morgens an versucht, genaue Wahrnehmung mit Reflexion zu verknüpfen. Er macht Ernst mit einem Denken in Bildern und Vergleichen, indem er alle Anschauungs- und Wissensbereiche für sein höchst formbewusstes Schreiben nutzt. Das titelgebende Gedicht seines neuen Lyrikbandes Erklärte Nacht spricht davon:
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
So entstehen polyphone, ins Allgemeine wie in die historische Tiefe ausgreifende lyrische Konstellationen:
Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer
Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren,
Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen.
War es in den Gedichtbänden Schädelbasislektion und Falten und Fallen vor allem die naturwissenschaftliche Diktion der Nerven und Knochen, die den Gedichten ihre Tiefenschicht verlieh, so hat sich seit dem Band Nach den Satiren eine Art geschichtsphilosophischer Betrachtungsweise in den Vordergrund geschoben, die unsere Gegenwart mit der Dekadenz des späten Rom kurzzuschließen trachtet. Auch in Erklärte Nacht ist dieses Motiv in vielen Texten spürbar. Daneben tritt aber eine Tendenz zum rein Philosophisch-Erklärenden hervor – und eben jenes „Erklären“, in das Grünbein die Anlehnung an Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ umschreibt, bekommt vielen der neuen Gedichte nicht gut.
Suche nach überzeitlicher Warte
Es scheint, als bemühe sich Grünbein zunehmend um das Paradox eines objektiven Blickwinkels, als suche er, dem das Wörtchen „Ich“ schon immer verdächtig war, nach dem sprachlichen Äquivalent einer überzeitlichen Warte. Statt auf ein wie gebrochen auch immer daherkommendes lyrisches Ich oder die in früheren Versen gern benutzte Ich-Du-Konstellation stützt er viele seiner Gedichte nun auf anschauungsarme Begriffe, vor allem auf das pseudoobjektive Pronomen „man“.
Freilich gibt es immer noch sehr genaue Formulierungen und sinnlich aufgeladene, intensiv nachwirkende Bilder zu entdecken. Die erste der fünf Abteilungen dieses Bandes etwa zeigt den Dichter als Reisenden, der den Seifenschaum auf den Bordsteinen von Florenz registriert oder die unscheinbaren Kleinigkeiten in einer umbrischen Landschaft:
Es fing mit dem Kies an, der anders klang hier. Weit vorm Schritt
Weckte das Rascheln die Eidechse auf, ein schlankes S auf der Flucht.
Ein weiblicher Schriftzug, der über Steinchen und Grashalme glitt.
Auch hat Grünbein seine formalen Fertigkeiten noch verfeinert. Wie er den langen Vers meistert, über Seiten hinweg immer wieder Spannungs- und Schwebezustände erzeugen kann, wie er mit den Metren jongliert, wie er – wenngleich nicht immer motiviert – verschiedene Reimschemata kombiniert, das ist durchaus beeindruckend.
Doch schon die Gedichte über Venedig, die den erwähnten florentinischen Skizzen nachfolgen, verlieren ihre Lebendigkeit und die Möglichkeit des Gleichgewichts an verallgemeinernde Formulierungen wie „Überwältigt, zieht man den Kopf ein“ oder „wie sonst definiert man Kultur“. Sie antworten auf die kritisierten Venedig-Topoi nur mit anderen bekannten Ansichten und einfachen Kalauern: „Enttäuscht buchstabiert man Venedig, und es klingt wie ,Erledigt‘.“ Und ein Stück mit dem Titel „Arabia Felix“, entstanden nach einer Reise in den Jemen, entpuppt sich als Sammelsurium von arabischen Märchenmotiven, Spott und Ressentiments:
Sunnit, Schiit, Wahhabit, auf seine Art beherzigt jeder hier den Koran,
Seine schmeichelnden Suren. Im Säugling schon reckt sich der Muezzin,
Der am Mittag die Gläubigen aussaugt durch Lautsprechertrichter.
Männer in Kleidern, mit Krummdolch, tief verschleierte Frauen.
Selbst die „Neue(n) Historien“, eine Fortsetzung jener ins spätantike Rom führenden Rollengedichte aus Nach den Satiren, wollen oft nicht über das Allgemeine versifizierter Geschichte hinauskommen. Am wenigsten von dieser Diktion beeinflusst sind vielleicht die „Drei unzeitgemäße(n) Gedichte“ über die DDR, in denen Grünbein noch einmal in die Rolle des zwischen allen Stühlen stehenden Grenzhundes aus Schädelbasislektion schlüpft, diesmal als „Jungwolf mit Mähne“. Auch die Schlussabteilung enthält nicht nur Verse über das Schreiben und die Sprache, sondern unter dem bezeichnenden Titel „In einer anderen Tonart“ verblüffend leicht gefügte Kindheitserinnerungen. Allerdings finden sich diese disparaten Erinnerungsbilder zuletzt wieder verflacht im Begriff, hier der „Fratze Kindheit“.
Der Dichter Durs Grünbein, der sich einmal als „poeta empiricus“ bezeichnet hat, lässt sich nur noch selten auf die unmittelbare Anschauung ein. Die genaue Einzelbeobachtung und die nervösen, vielstimmigen, bewusst sperrigen Bilder, für die seine Lyrik einmal zu Recht hoch gelobt wurde, hat er zu Gunsten des Bekannten, zum Bildungsgut Verfestigten und begrifflich Überladenen aufgegeben. Ob da der Neugeborenenblick nicht mehr sehen lässt?
− Zwei neue Gedichtbände von Durs Grünbein und Kurt Drawert. −
Die Genieästhetiken des Sturm und Drang und der Frühromantik konnten den Jugendwahn so nachhaltig in die literarischen Debatten zumal in Deutschland implantieren, dass über Reife und Gewicht eines lyrischen Werkes gemeinhin und günstigenfalls erst dann gesprochen wird, wenn die Zeit der Altersehrungen und Reprisen gekommen scheint. Nachdem die Hölderlinie der Lebenshälfte überschritten ist, sind wohl für den Dichter, die Dichterin Zwischenbilanzen zu ziehen und Feinjustierungen vorzunehmen, den sekundärmythengestützten Hunger auf jeweils neue poetische Medienlieblinge können sie kaum mehr erfüllen. Manchmal allerdings gibt die Literaturgeschichte dann doch dem Stimmendruck nach, und so lässt sich mit einiger Gewissheit sagen, dass seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre insbesondere Autorinnen und Autoren, die heute zwischen fünfunddreißig und fünfzig sind, das Gewicht der deutschsprachigen Gegenwartslyrik entschieden mitbestimmt haben. Und dabei sind die beiden neuen Gedichtbände von Kurt Drawert und Durs Grünbein schwerlich zu unterschlagen.
Sie laden zur parallelen Lektüre ein. Die bietet sich nicht zuletzt deshalb an, weil beide Autoren in Dresden aufwuchsen, bis 1989 in der DDR – Grünbein in Ostberlin, Drawert in Leipzig – verblieben, dann aber über Wohnortwechsel und Reisen sahen, dass sie Land, sprich: neues poetisches Terrain gewinnen konnten. Wiewohl sie poetologische Grundaufmerksamkeiten, Sehweisen und Stil in den achtziger Jahren entwickelten, haben sie sich in den Neunzigern auf eine Weise in die literarische Öffentlichkeit eingeschrieben, die Respekt abverlangt, nicht zuletzt wegen des in ihren Essays zutage tretenden ästhetisch-philosophischen und politischen Reflexionsvermögens. Die tiefenscharf verarbeiteten Erfahrungen des Systemwechsels boten den Vorteil eines stereoskopischen Blicks auf die westlichen Gesellschaften. Dieser Blick bündelt das Erbe der europäischen Aufklärung noch einmal zu einem bedrängenden Fragen nach Möglichkeiten humanen Verhaltens in einer von Entwürfen leergeräumten Welt. Und beide beharren auf einem Trotzdem des Gedichts: Das titelgebende Schlussgedicht „Erklärte Nacht“ hebt bei Grünbein mit dem Understatement an:
Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle.
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
Kurt Drawert hat das Gedicht in einem durchaus emphatischen Sinne essayistisch als „Generator“ und Kommunikat zugleich beschrieben, er betont die dialogische und existenzielle Dimension des Poetischen: Das Gedicht qualifiziere sich „durch einen permanenten Überschuß an Energie, und sein Sinn kann demnach auch nicht der Stoff sein, den es aufgenommen und ausgebreitet und verarbeitet hat; sein Sinn kann nur jener Überschuß sein, den es zu produzieren imstande ist.“
(…)
Während Kurt Drawert konsequent den gegenwärtigen Augenblick der scheinbaren Selbstverständlichkeit entreißt und in wenigen Strichen, oft nur andeutungsweise, auch als geschichtlichen Moment sichtbar macht, braucht geschichtliche Vergewisserung bei Grünbein die Plastizität angenommener Rekonstruktion von Geschehnissen, von Atmosphären, Aromen. Dass die Stimmen in den Gedichten Grünbeins als Plural-Konstrukte am Schnittpunkt von disparater Wahrnehmung, unterschiedlichster Kulturräume und Zeiten konstituiert werden, erleichtert das abrupte Hin- und Herschalten zwischen Nahaufnahme und Totale, Gegenwart und Geschichte.
Woran will man sich halten, wenn selbst Landschaften wandern?
In den Fingern nichts als die taube Nuß, den Pokal des Vereins
Ödipaler Verlierer.
Wie schon in den vorausgegangenen Gedichtbänden wird die immense Stofffülle durch elegante Versgestaltung gebändigt und durch einen sarkastischen Tonfall als versucht widerständige Haltung gegenüber einer als heillos diagnostizierten Katastrophenmoderne grundiert. Die freilich kein Entrinnen kennt, schon gar nicht im Bedenken der als desaströs empfundenen Bedingungen des Aufwachsens im verrottenden Staat DDR („Abschied vom fünften Zeitalter“). Selbst wenn Grünbein „In einer anderen Tonart“ frühe Kindheitserinnerungen in geschmeidig gereimte Zweizeiler heraufführt, wird die zunehmende Objekteinklammerung über veränderte Benennung des grammatischen Subjekts evident: Im ersten und zweiten Teil spricht ein Ich, dann wird „das Kind“ rückprojiziert, um schließlich zum „man“ fortzuschreiten. Nun ist der Dichter vierzig geworden, und in dem in 22 Stücken ausgreifenden Traktat vom Zeitverbleib lese ich:
Ein Mann sitzt da und wird vierzig
Was heißt das schon – weit gebracht?
man kommt zur Welt, man verirrt sich.
Und eines Tags wird es Nacht.
Das „bennt“ nicht nur gewaltig, sondern der sentenzengesättigte Grünbein-Sound zeitigt auch deutliche Déjà-vu-Effekte. Wenn in vielen Gedichten wieder und wieder die Verlorenheit des vereinzelten Einzelnen vor dem Fatum Geschichte und dem Fatum Biologie beschworen wird, misstraue ich denn doch der Behauptung, dass die hierzulande grassierenden Monadenlehren universell gelten:
unterwegs auf geheimen Pfaden
leben sie – jeder in seiner Welt.
Sechs Milliarden Monaden,
Die ein Ich bei Bewußtsein hält.
In Urwäldern, Wüsten und Städten,
Sie sammeln sich überall,
Unter Steinen wie Asseln, in Betten.
Was sie antreibt? Èlan vital.
Das Einschreiben gewesener und erwarteter Natur- und Geschichts-Gräuel in gegenwärtige Alltagserkundigungen (Wie ein Sandkorn zermahlen von Hammurabis steinernen Tafeln.) beleuchtet die wenigen Wappnungen um so schärfer, deren sich das Ich versichern kann, wie etwa in den nach dem 11. September geschriebenen „September-Elegien“:
Auch die Wolke mit Trauerrand hat sich mittags verpißt.
Wie viele in Hinterzimmern, haust jeder in Hintergedanken.
Mit dem Kontostand hadernd, dem Wetterwechsel, dem Schnupfen.
Wie gut, daß es Mythen gibt, Lexikonworte wie Moira, Ananke.
Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen.
Das ist nicht nur das kunstvoll gewirkte schützende Kettenhemd, sondern auch – und hier gibt es Akzentverschiebungen zu den vorausgegangenen Gedichtbänden – die „Kette aus Glücksmomenten bis hin zu den Mädchenbädern am Nil“, die vielleicht neue Offenheiten ankündigt. Grünbein beruft sich in einem bemerkenswerten Gespräch mit dem Literaturkritiker Helmut Böttiger auf Ossip Mandelstam, wenn er „das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes“ gegen die monologisch-kristalline Kälte Benns aufwertet. „Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.“
Ich habe nicht oft in den letzten Jahren so weltöffnende Gedichtbände lesen können wie die von Drawert und Grünbein. Aus der Flut neubiedermeierlicher Harmlosigkeiten ragen sie sowieso hervor.
Erklärte Nacht lautet der Titel des jüngsten Gedichtbandes von Durs Grünbein; ein anderer hätte besser gepasst: „Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt“. Denn darum geht es Grünbein, der als frisch Vierzigjähriger nun überall den Sensenmann sieht: Die Kürze des Lebens und die Eitelkeit der Welt zu bedichten: vanitas vanitatum, sueño de la vida, teatrum mundi. Ein altes Thema, gewiss. Man kann einem Dichter wohl kaum vorwerfen, dass er keine neuen Themen findet, eigentlich kann man einem Dichter so recht gar nichts vorwerfen. Außer vielleicht Nachlässigkeit, bzw. Unterlassung.
Im letzten Herbst erschien Durs Grünbeins Tagebuch Das erste Jahr. Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass aufgrund des Erfolges, die dieses Buch hatte, schnell eine weitere Veröffentlichung nachgeschoben werden sollte. Selbst Durs Grünbein dürfte sich noch nicht wie Erich Fried verkaufen. Und schließlich ist das Erscheinen seines letzten Gedichtbandes Nach den Satiren bereits drei Jahre her, in einer solchen Zeit können sich schon mal 150 Seiten Gedichte ansammeln. Aber müssen sie deswegen gleich veröffentlicht werden? Sollte man nicht zumindest genauer auswählen, statt unendliche Variationen des immergleichen Themas zu bringen, die dazu noch sprachlich wie formal ermüden? Muss sich denn alles reimen , auch wenn bei Langversen die Reimwörter kaum nachklingen? Kann man nicht zumindest gar zu platte Reime umgehen?
Wer sich an lediglich solidem Handwerk erfreut (Grünbein könnte ja mehr!), dem sagen vielleicht auch solche vorgeblich an der Welt leidenden Gedanken zu, die doch letztendlich auf nichts anderes aus sind, als die Pointe:
Von Distanz erschöpft, schrumpft das Herz
Zum Fäustling im Schnee. Es tut weh.
Zeitlebens streckt man sich, himmelwärts.
Der Mensch? – Ein Kadaver in spe.
Oder Plattitüden eines beschränkten Pessimismus: „Selbst der Pilot auf dem Flug nach Hiroshima hörte gern Bach.“ Oder billige Spiele mit bildungsbürgerlichen Zitaten: „Doch der Mensch – ,To be or not to be.‘ – / glich einem Wolf, der traumlos in Ruinen schlief.“
Was Grünbein in seinem neuen Band zusammengebraut hat, lässt sich am besten mit Hannelore Schlaffer als ein Mix aus „Pathos, Banalität und Bildungshochmut“ bezeichnen. Allein das Kapitel „Neue Satiren“, das die „Satiren“ aus dem letzten Band fortführt, sticht heraus. Denn hier zwingt sich Grünbein zu einer wahrhaft klassischen Strenge, hier konzentriert er sich ganz auf das Wesentliche, hier trübt keine Geistreichelei den Blick auf die Welt wie sie war, wie sie ist und wie sie trotz allem zu poetischer Erfahrung werden kann:
Eines ist sicher: bevor wir vernichten im Streit
Das letzte der Glieder, reißen wir jeden,
Der uns zu nahe kommt mit hinab in den Strudel.
In unsern Gräbern werden die Völker sich tummeln.
Männer mögen’s darin schwer. Männer haben Träume. Männer borgen sich einen, zur Not. Männer bebildern wortschwallig ihr Innerstes im Äußeren ab.
Durs Grünbein ist einer von ihnen. Der gepriesene (Büchner-Preis 1995), sprachgewandte Lyriker stößt ins Wortreich der poetischen Verklärungsliteratur vor. Wie man liest: Erklärte Nacht. Zwar schönbe(o)rgte er sich etwas aus dem Musikschatz des Zwölftöners („Verklärte Nacht“), sonst ist er aber hauptsächlich im italienischen Ambiente vertieft. Schweift auch ab, ins arabische, ins heute, in die brutale, vor nichts (mehr) haltmachende Wirklichkeit. „September-Elegien“ tastet zaghaft (Wie soll man sich dem auch lyrisch nähern?) zu den Ereignissen des 11. September 2001. Es ist die Sprachlosigkeit angesichts dieses Ereignisses, die Grünbein in Worte fasst, ohne die Augen zu verschließen. Da muss einer wie er sogar das Wort Krieg in die Zeilen hinein lassen: „In den Straßen der Garküchendunst riecht nach frischem Krieg.“
Venedig, die Toskana, Assisi. Im Land der blühenden Zitronen fühlten sich deutsche Gedichtmänner meistens heimisch, so weit fort vom Heimischen. Will man das heute noch lesen? Ist Sprache, besonders die deutsche, dann gedichtkompatibel, wenn sie in der Ferne rastet und aus der Ferne zurückfedert? „Es gibt kein etruskisches Jammern“ heißt es an einer Stelle. Etrurien ist doch so weit weg, was will ein moderner Mensch, dazu noch ein Dichter, denn da? Die Antwort: „Jetzt heißt das Grußwort Okay.“ Alten Marmor besingen, das erwartet man nicht unbedingt von einem Lyriker des Jahrgangs 1962. Das geht auf den Nerv, im Laufe der Lektüre, das ist alles schon so oft gesagt worden, das reicht jetzt. Die dazwischen geschobenen Brocken aus der Jetztzeit federn den altmodischen Sprachduktus nur sporadisch ab. Das mag alles sehr erhaben, kunst- und kulturvoll sein. Aber das ist alles zu sehr rückwärtsgewandt formuliert. Obwohl selbstredend die gute Absicht bestand, das, was mit uns passiert, erklärbar zu machen. Nach Grünbein versteht es wahrscheinlich niemand besser.
Es empfiehlt sich daher, den einundneunziger Grünbein zu lesen: Schädelbasislektion. Da sezierte er ohne italienischen Beigeschmack.
Erklärte Nacht die Sprache auf leichte, fast lockere, aber virtuose Weise. Sie erscheint weniger komplex als in seiner früheren Lyrik, manchmal nahezu narrativ. Bei manchen Gedichten, vor allem in dem Zyklus „Vom Zeitverbleib“ meint man Benn zu lesen, viele andere Gedichte sind in einem Duktus verfaßt, den man als ‚antikem Vermaß sich annähernd‘ bezeichnen könnte und erinnern an Hexameter und Distichen. Im Hinblick auf das sprachliche Material ist allerdings nichts von Klassizismus zu spüren, die sprachliche Realität der Gegenwart wird bis hin zu grobianischen Derbheiten wahrgenommen. So wird Erich Honecker mit dem epitethon ornans „Arschgesicht“ versehen. Wie schon früher verschmilzt der Autor sehr genaue, fast fotographische Wahrnehmungen mit Reflexionen über Geschichte – hier nimmt die Antike einen erstaunlich breiten Raum ein −, über die Großstadt, über Reiseeindrücke, vor allem in Italien.
Auch der Aufbau des Bandes nähert sich älteren Traditionen: die, zum Teil langen, Gedichte, werden uns, abgesehen vom ersten und letzten Kapitel, in Zyklen präsentiert – wie bei Stefan George oder Rainer Maria Rilke. Aber auch im ersten, nicht zyklischen Abschnitt, dominiert ein Thema: Italien.
Wir lesen hier Gedichte mit Titeln wie „Vier Erinnerungen an Umbrien“, „Café Michelangelo“, „Venezianischer Dreisprung“ und „La città ideale“. Diese Italiengedichte spielen kunstvoll mir der Tradition der deutschen Italienreisen- und beschreibungen, allerdings mit dem an den Weltmetropolen geschulten Blick des inzwischen vielgereisten Autors. Die Ankunft in Venedig von der Lagune aus, freilich mit dem Bootstaxi, erinnert an Platens Sonett:
Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke,
als aus der Flut Palladios Tempel stiegen.
Der Blick auf die Stadt ist dann aber zeitgemäß: Die Möwen auf den Pfählen im Wasser werden mit Hitchcocks Film Vögel assoziiert, und ob Venedig wirklich existiert oder nur als „Legende aus einem Buch“ vorhanden ist, bleibt im ersten der Lagunen-Stadt gewidmeten Gedicht offen. Im dritten Gedicht fragt sich aber „… der Flaneur auf der Accademia – Brücke: / Ein Mäander, gesäumt von Palästen – wie sonst definiert man Kultur?“ Doch dann muß er vor den Touristen in eine Kirche fliehen, wie überhaupt die Kritik am Massentourismus immer wieder aufscheint. Bei der Betrachtung des David von Michelangelo in Florenz verläßt in die Erinnerung an seine Vergangenheit in der DDR nicht:
Der Held, der das Tier mit den Stasi-Augen besiegte, den Riesen ?
Merkur oder David, ganz gleich, auf ihn läuft die Geschichte hinaus,
Solange Aufrechtgehen schwerer fällt als Kriechen oder Marschieren.
Im fast drei Seiten langen Gedicht „Città Ideale“ wird die Kultur der italienischen Renaissance, man muß schon sagen, besungen und der Gegensatz zwischen der heutigen Massenkultur und der damaligen „idealen“ Situation evoziert, und hier wird ein Hauch von konservativer Kulturkritik spürbar:
Gesprengt die Enge. Aus dem Fluchtpunkt tretend,
…
Fand sich der Einzelne im Zentrum wieder,
Zum erstenmal seit Rom und seinem Niedergang.
Die Entstehung des freien Bürgers in Städten wie Pienza, Mantua, Urbino konfrontiert Grünbein nicht nur dem Moloch Babylon, sondern auch mit den modernen Metropolen, „wo halbe Kinder sich für einen Trip verkaufen“ und fragt sich, warum es so kommen mußte:
Weil wir zu viele wurden, zu denselben Zentren
Wie Frösche drängend, um denselben braunen Teich?
Von den anderen Gedichten des ersten Abschnitts sei hier nur der, Hans Magnus Enzensberger gewidmete, aus sieben Gedichten bestehende kleine Zyklus „Nach dem letzten der hiesigen Kriege“ erwähnt. Hier sieht der Autor völlig illusionslos auf das Fortbestehen des Krieges in der Gegenwart:
In voller Montur die entlassenen Schlächter, ziehn reulos ab
Den Killerblick hinter Sonnenbrillen versteckt, ins zivile Leben.
Und im Gedächtnis bleibt auch die Zeile: „Todmüde Flüchtlinge, Söldner vom Genickschußdienst matt.“
Wenn der erste Zyklus, auf Nietzsche verweisend, den Titel „Unzeitgemäße Gedichte“ trägt, soll das wohl heißen, daß der Inhalt dieser Gedicht nicht so gerne vernommen wird, denn es geht hier um die frühere DDR.
Man findet in dem ersten, dreiseitigen Gedicht „Abschied vom Fünften Zeitalter“ eine gleichsam phänomenologische Beschreibung des Lebensgefühls im realen Sozialismus: „Hier wo die Parkanlagen Parteitagen glichen“ oder „Der größte Unsinn hieß Fakt“, aber auch, in die Weltliteratur ausgreifende Verwünschungen:
Was Dante im kühnsten Alptraum nicht ahnen konnte – hier, gut beheizt,
Lag der jüngste der Höllenkreise, ein zerwühltes Gelände.
Der aber nicht mehr besteht, denn: „Und am Ende blieb nichts als Dreck.“ Von diesen drei Gedichten ist das zweite, „Nostalgischer Krebs“ Ingo Schulze gewidmet, mit dem der Autor einst die Dresdner Kreuzschule besuchte.
Im letzten dieser Gedichte mit dem Titel „Obszöne Brötchen“ wird Honecker nachgerufen „In jedem Brötchen fand sich das Arschgesicht, dies obszöne Grinsen / der regierenden Nummer Eins, die den Staat nur als Zuchthaus kannte.“
Der Zyklus „Neuen Historien“ in Kapitel III verlegt den Schauplatz paradoxerweise in der Antike, und auch deren literarische Formen – z.B. der Brief an einen Freund – werden nachgeahmt. Unklar bleibt allerdings die Funktion dieses antiken Zwischenspiels. Wie einst Stefan George schlüpft der Autor in antike Gewänder, aber mit welcher Absicht ? Ist die Antike Paradigma oder gar Gegenbild? Bietet sie Raum für Gedankenspiele? Oder wird sie evoziert als kulturelle Station in der Geschichte, die uns heute noch betrifft? – Im Gedicht „In Ägypten“ erinnert sich ein alter Philosoph an seine Studienzeit in Alexandria und reflektiert über die Flüchtigkeit der Zeit. In einem anderen wird der Philosoph Seneca als Heuchler demaskiert (ein schon in der Antike geläufiger Topos): „Wie durch Finger, ungerührt, sah er / An brennenden Christenkreuzen vorbei.“ In „Ankunft in Athen – Paulus ante portas“ wird das heraufziehende Christentum mit der Metropole des antiken Geistes konfrontiert.
Allerdings liest man auch eine „Phantasie über die öffentlichen Latrinen“,
in der sich vielleicht, um mit Sloterdijk zu sprechen, eine kynische Sehnsucht nach einem anderen, direkteren Verhältnis zum Körper (und seinen Funktionen) ausdrückt. Im letzten Gedicht dieses Zyklus erinnert der Autor, mit Lukian, dem Spötter, an die Vergeblichkeit des menschlichen Lebens, sieht die Menschen als Blasen „wie Schaum unterm Wasserfall aufgeworfen“.
Sein 40er Geburtstag animiert den Autor zu einem „Traktat vom Zeitverbleib.“ In den verschiedenen Gedichten dieses Zyklus taucht immer wieder die Zeile auf: „Ein Mann sitzt da und wird vierzig“. Dieser Geburtstag führt zu Reflexionen über das Vergehen der Zeit, zur der Frage, wo die vergangene Zeit bleibt und der Antwort:
Nicht im Eis, das in Tränen zerrinnt,
In den Knochen steckt sie, in Steinen.
Die aufschwemmt, entwässert, verdünnt,
Zeit ist der Anlaß zum Weinen.
Zugleich aber werden Alltagserfahrungen in der Sauna, im Kino, im Krankenhaus, im Zug beschrieben und hier glaubt man den Benn’schen Ton zu hören, wie im Gedicht vom Saunagang:
Undenkbar, daß einer hier schweigt
Wie Asketen einst, Eremiten.
Kein Satz der sich zweifelnd verzweigt.
Um Zylinder geht’s, Schlagbohrer, Titten.
Dem Gröbsten winkt, dröhnend Applaus
das Schlußwort nimmt sich der Dreiste.
Dann schlurft man pfeifend hinaus.
Weißt du jetzt alles? das meiste.
Im letzten Abschnitt erinnert sich der Autor in fünf Gedichten an seine früheste Kindheit, aber auch an die Schule: „… Die Tasche voll Silberlinge / fiel das Aufrechtgehen schwer, mancher ging früh in Rente.“, und an die Rekrutenzeit in der Volksarmee, um dann zu allgemeinen Themen überzugehen. „Vom Gehen über Leichen“, „Vom Terror“,
„Von der Nachgiebigkeit“.
Das vorletzte Gedicht: „Persona non grata“ beginnt mit den Versen: „Also dann – kein Trauerrand mehr am Ende der Zeilen, / Nicht mehr punktiert von Sarkasmen die Sätze.“ Wie die Leichtigkeit der Sprache in diesem Gedichtband zeigen diese Zeilen ein gewisses Einverständnis mit den Zeitläufen und eine Zurücknahme überhöhter dichterischer Sehensweisen:
Warum willst du nicht sehen, wie sie nicht sind, die Dinge?
Das heißt, ohne Schatten, unbehelligt von Prophetie.
Im letzten – poetologischen – Gedicht „Erklärte Nacht“, das dem Band auch den Titel gibt und auf ein Orchesterstück Schönbergs anspielt, wird dann der Poesie die Funktion der Sinnstiftung in der „Erklärten Nacht“ zugewiesen. Nachdem die verschiedenen Theorien der Lyrik virtuos vorgeführt werden, heißt es am Schluß resümierend:
Was bleibt sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
In diesem neuen Gedichtband Durs Grünbeins sucht der Autor Selbstvergewisserung durch Erinnern an Kindheit und Jugend, aber auch durch das Durchschreiten historischer und kultureller Räume. Er diagnostiziert seine Gegenwart, illusionslos, aber nicht so pessimistisch wie früher. Im Gegenteil: Man meint, wie gesagt, mehr Einverständnis zu erkennen als in der früheren Lyrik, ein nüchternes Wahrnehmen der Welt, wie sie nun einmal ist. Das letzte Gedicht weist allerdings der Lyrik die Funktion zu, aus der „Erklärten Nacht“ hinauszuführen.
− Der derzeit tauglichste Anwärter auf das Amt des deutschen Nationaldichters: Durs Grünbein. −
Durs Grünbein schrieb in dem 1996 erschienenen Essay „Mein babylonisches Hirn“, das Gedicht sei ein „Vexierbild physiologischen Ursprungs“, entstehend aus einer Folge von Reizen und Reflexen. Die Reizempfindlichkeiten mögen sich gemildert haben im Lauf der Jahre und die Reflexe weniger sprunghaft geworden sein; doch Arbeitsweise und Wirkungsprinzip sind auch in dem neuesten Gedichtband dieselben geblieben, obgleich die naturwissenschaftlichen Verknüpfungen nun durch solche der historischen und traditionell literarischen Art abgelöst wurden. Der Titel des Bandes gibt es deutlich zu verstehen: Verklärte Nacht, dieses spätromantische Gedicht Dehmels über Vaterschaft und Liebe, von Schönberg vertont, wird bei Grünbein, minimal verrätselt und mit einer kleiner Anspielung versehen, Erklärte Nacht. Da liegt viel Absicht in wenigen Worten.
So wird die Lektüre zur Aufgabe, die Verknüpfungskompetenz verlangt. Wer sie besitzt, wird belohnt mit dem Vexierbild des Vexierbilds, dem Ergebnis der Verknüpfung des eigenen Wissens und Empfindens mit dem des Dichters. Durs Grünbein ist der talentierte und glückliche Erbe einer langen Tradition: Glücklich deshalb, weil er sie weder als Last noch mit Skepsis betrachtet. Auch vor Ehrfurcht geht er nicht in die Knie; denn wie auch immer die Fracht des Wissens transportiert wird, per Galeere oder Flugzeug: Was verfügbar ist an Technik, Tradition und Philosophie ist sein – ohne Scheu, ohne Berührungsangst. Mit solchen Reichtümern lassen sich eingängige und kraftvolle lyrische Formeln ebenso herstellen wie Interpretationen der Weltlage.
Kaum fällt ein Sack Salz um in Theben, steigen die Preise
Für Mehl in Numidien, schon bricht der Volksaufstand aus.
Keiner kennt Skrupel. Ohne zu zögern würde ein jeder
Die eigne Familie opfern auf dem Altar der Göttin Sesterzia.
„Titus beklagt sein Herrscheramt“ heißt dieses Gedicht aus der Abteilung „Neue Historien“, in der sich auch für den mehr als nur halbwegs gebildeten Absolventen eines altsprachlichen Gymnasiums viel Neues entdecken lässt. Man könnte so etwas wie Globalisierungskritik aus diesen Versen herauslesen, aber schwerer wiegt die Demonstration der Zeitlosigkeit des Dichtens: Schon immer war es so, wenn ein Weiser nachdachte über Macht und Reichtum – und wenn es darum ging, in formvollendeter Disziplin Verse zu machen, die den Jahrhunderten standhalten.
Aber nicht immer gibt sich der Dichter als Altphilologe: Er ist eben auch Ich-Betrachter („Ein Mann sitzt da und wird vierzig. Er hält sich den Kopf“) und Weltbetrachter, wie in den „September-Elegien“:
Wer hat schon Zeit gehabt, etwas wie Seelenruhe zu destillieren
Aus der Gewissheit des Todes, und dass alles ein Ende hat?
Auch Wolkenkratzer – ihr Bau dauert Jahre, Sekunden ihr Fall.
Anderntags grinst das Kind schon mit ausgeschlagenem Zahn.
Das allgemein vorhandene und ebenso allgemein verdrängte Wissen um die Fragilität der Existenz wird hier als rhetorische Frage nach der Zeit im Konversationston formuliert; die Gegenüberstellung von langsamem Aufbau und jähem Fall ist eine recht vertraute Denk- und Redefigur. Doch dann folgt die – im Kontext der Kommentare zum 11. September fast schon anstößige – Wendung zum grinsenden Kind: Über die Assoziation der Ruine, der Lücke in der Stadtlandschaft mit einem ausgeschlagenen Zahn springt das Gedicht in die Banalität und reflektiert damit überraschend die Flüchtigkeit von Vergänglichkeitserfahrung.
Nichts von dem, was hier zusammengeknüpft ist, wäre tatsächlich neu zu nennen; die Qualität dieser Lyrik besteht vielmehr darin, das Alphabet der Selbstverständlichkeiten in unerwarteter Reihenfolge zu buchstabieren. Damit befindet sich Grünbein sehr im Einklang mit einem Zeitgeschmack, der dem Versuch zur Originalität das retrospektive Spiel mit dem Überkommenen in Mode wie in Lebensgestaltung allemal vorzieht. Man trägt sich zu Beginn des dritten Jahrtausends kulturkonservativ und konventionell. Durs Grünbein, der aus seiner DDR-Sozialisation ein ungebrochenes Verhältnis zum Bildungskanon in die Pluralität und Partikularität einer zersplitterten und ihrer selbst unsicheren Gegenwartskultur gerettet hat, ist damit zur Identifikation geeignet wie niemand sonst unter den heutigen Lyrikern. Bei ihm gibt es keine Piazza ohne Atriden, kein Venedig ohne Krustazeen, Suturen, Soffitten und selbstverständlich kein Florenz ohne Anspielungen auf Dante; gerne auch mal ein Celan-Wort mitten hinein. Die Präsentation des Bildungsguts erfolgt ziemlich offensiv und frei von Skeptizismus.
Preziös wirkt aber dann die altbekannte, die identitätsstiftende Abgrenzung von der fühl- und ahnungslosen Masse: „Man“ (der italienreisende Dichter) „durchkämmt die Menge / Nach einem angewiderten Gesichtausdruck. Dem nickt man zu.“ Es gibt kaum jemanden – jedenfalls niemanden, der Gedichte liest oder Individualreisen unternimmt −, der die Verachtung von Massentourismus und Souvenirkommerz nicht für den selbstverständlichen Inhalt eines mitteleuropäischen Kulturbeutels hielte (ob zu Recht, ist eine andere Frage); die Leserschaft darf sich mit dem Zunicken wohlwollend gemeint fühlen und ihrerseits nicken zur Kandidatur des Dichters für die Aufnahme in den bürgerlichen Bildungskanon. Es ist wie das Einrennen offener Salontüren.
Aber Grünbein wäre nicht der talentierte Denker, der er ist, wenn er das Paradoxon der Klage über die Verblödung der Massen und des gleichzeitigen Wunsches, die Masse möge blöde und weit entfernt bleiben, nicht aufs exakteste reflektierte. Auch deshalb ist er der derzeit tauglichste Anwärter auf das Amt des Nationaldichters: einer, der auf repräsentative Weise das verkörpert, was der gesellschaftlichen Bildungselite als zugleich ausdrucksvolles und wünschenswertes Bild ihrer selbst erscheint und der im Umgang mit den Mächtigen keinen Schaden genommen hat an der Fähigkeit kulturellen Denkens. Weder Günter Grass, Nobelpreis hin oder her, kann solche Identifikationswünsche erfüllen noch Hans Magnus Enzensberger, der für diese Rolle entschieden zu kosmopolitisch und zu skeptisch ist.
Postmodernes Biedermeier?
Anhand von Enzensbergers aufklärerischen Frühgedichten („etwas, das keine farbe hat, etwas / das nach nichts riecht, etwas zähes / trieft aus den verstärkerämtern…“) lernten wir, Schulkinder der siebziger Jahre, die Kunst der Interpretation und der Gesellschaftskritik in einem; mit Grünbein im Lesebuch wären die Formen der Kunst in den Zeiten der Restauration zu studieren.
Wenn er seine Leser mit der klaren Schönheit musikalischer Langverse hegt und mit der Diskretion der Reime bezaubert, die weder unter der höchst getürmten Ladung Bildungsgut noch unter einem kühnen Paar wie „Spaghetti al dente“ und „verschlenderte“ zusammenbrechen, könnte sogar der Verdacht aufkommen, dass Grünbeins Lyrik einer Art postmodernem Biedermeier zuzuordnen sei. Aber dem entgegen stehen die gekonnten Banalismen, jähe Stürze aus dem hohen Ton in die Lücken, die Grünbein immer wieder absichtsvoll in seine rastlos geknüpften Netze reißt.
Dieses Beharren auf der Nachbarschaft von Banalität und Erhabenheit macht den größten Reiz dieses Gedichtbands aus, das Überraschende daran, das, was ihn vor purer Bildungshuberei bewahrt. Ein Kernsatz aus den „September-Elegien“, so tröstlich wie schlicht, illustriert es: „Sprache hilft uns, die verborgene Wunde sanft zu betupfen.“
Dieser Satz könnte auch in Grünbeins Tagebuch stehen. Obwohl die akademisch ausgerichtete Literaturkritik jedem mit dem gezücktem Lineal der Werkimmanenz auf die Finger klopft, der Werk und Person des Autors interpretierend verknüpft, liegt es im Fall der beiden so kurz nacheinander veröffentlichten Bände – Tagebuch und Gedichte −, äußerst nahe, parallel zu lesen; schon um die Initialreize aufzuspüren, die Ursachen, die Bedingungen, die vom babylonischen Hirn zum Vexierbild geknüpft wurden.
Literatur befördert eben auch die Neugier nach ihrer Entstehung und nach jenem unbekannten Wesen, das da gedacht und wahrgenommen, formuliert und gefeilt hat, das mit seinen Texten möglicherweise verstanden, zumindest aber von den richtigen Leuten nicht verstanden werden wollte. Was nun Durs Grünbein angeht, so hat er uns letzten Herbst mit höchst privaten Mitteilungen aus dem Leben eines dichtenden Zeitgenossen und jungen Vaters bedacht, in dem sehr vieles von dem zu finden ist, was Eltern von jeher gerührt hat: das erste Lächeln des Kindes, sein Schlaf, seine Verletzlichkeit. Die Überraschung über die Stärke der Gefühle, die es auslöst.
Doch: „Von Zeit zu Zeit wandern die Gedanken zurück nach Pompeji.“ Sie wandern tatsächlich überallhin, des Dichters Gedanken: zu „Paulus, dem umtriebigsten der Apostel“, wie es sentenziös heißt, von Frühling zu Strawinsky, von der Geburt zum antiken Schlachtenepos.
Von Lichtenberg stammt die ebenso boshafte wie zutreffende Bemerkung: „Er las immer Agamemnon statt ,angenommen’, so sehr hatte er seinen Homer gelesen.“ Und wenn der Dichter sich zwischendurch die bange Frage stellt: „Wie kommt es, dass es so wenige gibt, die uns bereichern, begeistern? Sofort die Angst: bewege ich mich in den falschen Kreisen?“ und anschließend fürwahr lyrisch aufseufzt: „In manchen Nächten legt sich die Einsamkeit wie ein Leichentuch um uns“, dann weiß man nicht recht, ob es sich um einen Majestätsplural oder eine rhetorische Figur handelt, die den Leser – wieder einmal – dem dichterischen Fühlen eingemeinden soll. Zur koketten Klage über Einladungen, Termine und den Verlust des „Inkognito“ fällt einem am ehesten ein Zitat aus der Popmusik ein: „O it is lonesome on the top.“
Aber Grünbein wäre eben nicht Grünbein, wenn er sich nicht auch hier selbst durchschaute und über das Genre Tagebuch notierte: „Das meiste läuft, auch bei sorgfältigster Vermeidung des Partikelchens ich, auf eine Fallstudie in Narzißmus heraus.
Das Buch enthält rundherum so ziemlich die besten Gedichte die es zur Zeit in Deutscher Sprache gibt. Sehr empfehlenswert. Durs Grünbein hat es zu einer wahren Könnerschaft in Punkto Poesie gebracht. Seine Gedichte sind rund, sind ganz sind voll da. Er macht selbst vor gewagtesten Formulierungen, modernsten Worten im landläufigen Sinne keinen Halt. Auch spiegelt eine leichte Ironie in seine Texte hinein, die das Lesen leicht macht. Ohne an Qualität oder Ernsthaftigkeit zu verlieren, ist in seiner Poesie vor allem der Respekt erkennbar, den er seinen Lesern entgegenbringt.
Ich kann nur sagen, Hut ab vor der Bereitschaft von Durs Grünbein alles zu geben, um am Ende selber wieder mit vollen Händen da zu stehen.
Kennt man eines, kennt man alle – möchte man gelegentlich über Grünbeins Gedichte sagen.
Mein drittes Buch von ihm in zwei Jahren und meine Begeisterung, von Grauzone morgens entfacht, hat arg nachgelassen.
Schreiben kann er, keine Frage aber: Vieles zu Glatte, Abgehobene, Konstruierte kommt in diesem Band vor. Am besten gefiel mir noch „Traktat vom Zeitverbleib“.
Manche Bücher mag man wegen einzelner Sätze, dieses würde ich (als drittes von Grünbein) nicht wieder kaufen.
Wer das Werk Durs Grünbeins seit Beginn verfolgt, dem ist klar, daß wir es hier wohl mit einem der größten lebenden deutschen Dichter zu tun haben. Ich würde sein Talent ohne Zögern dem eines Hans Magnus Enzensberger oder Robert Gernhardt gleichstellen – um nur lebende deutschsprachige Dichter zu erwähnen. Auf jeden Fall aber haben wir es aber mit einem Lyriker zu tun, dessen Werke sich weitab von experimentellem Wort-Geschreddere oder selbstverliebt-solipsistischer Blümeleien so mancher Lyriker bewegen. Weshalb? Grünbeins Lyrik stellt wieder in den Mittelpunkt, was höchste Dichtung seit den Zeiten Homers ausmacht: das Erleben des Subjekts, ohne die Form zu vernachlässigen. Der Dichter spricht in erster Linie zwar für sich, doch hinter der subjektiven Ebene erkennt sich jeder Mensch, dessen Seele nicht vertrocknet ist.
Grünbein stellt die Frage nach dem Tod, nach der Bedeutung unserer Existenzen, nach dem Platz der Gegenwart in der Geschichte. Ist es nicht so, daß wir DIE Gedichte als besonders gelungen einstufen, die unser eigenes Empfinden wiedergeben, es womöglich durch ihre Kunstfertigkeit überhöhen? Die Gedichte, in denen Dichter und Leser in konstruktiver Resonanz schwingen? Schlechte Gedichte hingegen sind diejenigen, bei denen man dem Autor auf anstrengenden und windungsreichen Pfaden folgen muß, um schließlich nur das eine zu finden: einen schwierigen Charakter, dem gefolgt zu sein uns nicht weiterbringt.
Durs Grünbein ist mittlerweile 40. Der Markt für hohe Kunst ist klein, sehr klein, leider. Ihm ist mittlerweile alle Anerkennung zuteil geworden, die seit Menschengedenken den ernsthaft Schaffenden zuteil wird: stets zu wenig.
So nimmt es nicht Wunder, daß in der letzten Zeit bei Grünbein eine Tendenz zur Monumentalisierung, zur angestrebten Apotheose in den Klassikerhimmel festzustellen ist. Das will Grünbein durch auch von anderen (schlechteren) Autoren in Anspruch genommene Mittel erreichen: den Rekurs auf klassische Sujets und Topoi, die Reise nach Umbrien, die venezianische Skizze, Seneca und Horaz und Archilochos. Der überfahrene Frosch, die besinnungslos gegen die Fensterscheibe anfliegende Stubenfliege – Sinnbilder der conditio humana – geraten dabei ins Hintertreffen. Das schmerzt uns ein wenig.
Unnötig zu sagen, daß Grünbein diesen Hang zur Marmorifizierung nicht nötig hat. Wer solche Verse schreibt wie im „Nachbilder“-Zyklus, dessen Platz in der europäischen Literaturgeschichte ist schon gesichert. Wir können nicht entscheiden, ob Erklärte Nacht das Zeugnis eines inspirativ-genuinen Entwicklungsschritts des in die Jahre kommenden Autors ist oder das Ergebnis eines auf Travertin pochenden Wollens, das nicht immer auf den leisen Ruf der Muse hört. Eines jedoch ist klar: Erklärte Nacht ist trotz allem besser als das meiste, was man unter „Lyrik“ in den Buchhandlungen findet.
Deutsche Dichter fuhren und fahren gerne in den Süden. Da ist Umbrien zu nennen und Florenz ist nicht fern und Rom und Venedig locken.
Gespannt ist der Bogen in diesem vorliegenden Werk ganz besonders. Ganz besonders gespannt aber liest man die Werke, die Kleinodien, die lorbeerverdächtigen Verse, die sich hier auftun.
Sei uns, so möchte man laut und erfreut ausrufen, willkommen, der Du uns shakespearehaft hinführst in Deine Jugend, mitnimmst auf Deine Reise in das Abenteuer Leben.!
Bis hin zu Reineke Fuchs nach Sanaa spannt sich der Bogen und es nimmt kein Ende mit immer schöner werdenden Bildern, so daß man meint, es dürfe niemals aufhören. Ja, sei Du uns Pyramusthisbe, meinetwegen auch Bruderherz und Kleistliebhaber. Die Dantekrone winkt! Lorbeer oder Efeu, egal, ob er kommt der Preis, dieses genügt, gibt Zeugnis von Größe und Mut, von Wahrheit und Leben. Die 5 Sterne reichen nicht aus, um zu loben.
Alexander Müller: Gespräche über die Zeit
literaturkritik.de, Mai 2002
Roman Bucheli: Der melancholische Flaneur
Neue Zürcher Zeitung, 27.7.2002
Nathalie Mispagel: Kein Halt, keine Historie, keine Hoffnung
literaturkritik, August 2015
Hans-Dieter Fronz: Arkadien für alle
Badische Zeitung, 16. 7. 2002
Hannelore Schlaffer: Zwei Augen bei guter Sicht
Frankfurter Rundschau, 20. 3. 2002
Michael Opitz: Die Schönheit in der Verwirrung
neues deutschland, 27./28. 7. 2002
Helmut Böttiger: Metaphern sind flache Kieselsteine
Tages-Anzeiger, Zürich, 31. 7. 2002
Rainer Hartmann: Die verbleibende Zeit
Kölner Stadt-Anzeiger, 10./11. 8. 2002
Thomas Wild: Bewusstseinssplitter eines anderen Lebens
Berliner Zeitung, 19. 8. 2002
– Durs Grünbeins Beziehung zur Kultur der Antike. –
1. Neue Historien
Seid gewarnt, so tief fällt, wer sich zu hoch hinaufschraubt!
Denn der Hochmut, geht seine Saat auf, bringt höchste Erträge
An reiner Verblendung, die man bald erntet in Tränen.
Aischylos
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
Durs Grünbein
Die beiden Zitate machen das Denken und Dichten Grünbeins deutlich: einmal das Erkunden der alten Meister unserer Kultur und zum zweiten das Dichten als Abrufen von Bewußtseinsinhalten aus dem Gedächtnis, ein Ariadnefaden aus der „menschlichen Nacht“. Das erste Zitat entstammt der Aischylos-Tragödie Die Perser, übertragen von Durs Grünbein. Es ist die Stimme von Dareios’ Geist, der nach der Niederlage der Perser in ihrem Eroberungsfeldzug gegen die Griechen aus seinem Grab aufsteigt, um Antwort zu geben auf die Niederlage seines hochmütigen Sohnes Xerxes. Die Sprache Grünbeins vermeidet einen modernen Jargon, und trotzdem wird deutlich, wie nah ihm (und uns) die Tragödie des Aischylos ist, welche Jahrtausende dauernde Bedeutung das Denken der Griechen auch für unsere Zeit besitzt. Die Perser sind ein historisches Drama über eine von den Göttern nicht beeinflußte Geschichte, in der es „sich allein um die fehlbaren, allzu menschlichen Menschen“ dreht, die ohne einen schützenden Götterhimmel in Leben und Tod geworfen wurden. Der Hochmut eines omnipotenten Herrschers wird mit der verzweifelten Frage von Atossa, Mutter des Xerxes und Hüterin des Palastes in Susa, blitzartig ins Licht unserer Gegenwart gerückt: „Wo, um Himmels willen, liegt dieses Athen?“ Wechseln wir Himmelsrichtung und Zeit, könnte die Frage einer amerikanischen Mutter unserer Tage auch so heißen: „Wo, um Himmels willen, liegt dieses Saigon?“ Grünbein hat in seiner kulturellen Archäologie die große Bedeutung der Antike zum Leben erweckt, zugleich aber auch die immer gleichbleibenden Schwächen des sterblichen Menschen aufgedeckt. „Die Lektüre der Griechen, der Römer“, so Grünbein, „hilft uns, den physischen Menschen wiederzuentdecken, dieses sterbliche Wesen, das die Vergänglichkeit des Menschen mit der Seelenruhe des Stoikers annahm.“ Gerade diesen Gedanken halte ich für das Verständnis Grünbeinschen Denkens und Dichtens für wesentlich, sein Spiel als „Totenführer“ zu den Historien der Antike, wobei seine Ironie die Historien zu einem für sich und den Leser ganz eigenen Erleben macht. Kraft seines Verstandes vermag der Mensch die Kontingenz seiner Natur und die Endlichkeit des eigenen Daseins zu reflektieren. Gerade diese spirituelle Kraft zeichnet die Texte Grünbeins aus, in denen es nie um eine allgemein gültige Wahrheit, nie um allgemein gültige Erfahrungen geht. Das eigene Denken und Erleben steht im Mittelpunkt, hier die anthropologischen Strukturen von Menschen, von Kaisern, Dichtern, Legionären, Armen und Reichen.
Grünbein ist kein Historiker, seine Sprache ist die Poesie, mit der er die antiken Historien zu uns in die Gegenwart trägt. So ist es Geist unserer Zeit, wenn wir in Grünbeins Gedicht „In Ägypten“, einem fiktiven Brief Senecas an seinen Freund Lucilius, lesen:
[…] Wozu sich in Verse vertiefen? Die Zeit reicht nicht aus,
Um sämtliche Lyrik zu lesen, die Werke der Philosophen.
Und doch, kann man mehr tun, wenn Krieg das Gewöhnliche ist,
Wenn Zwietracht herrscht, Haarspalterei als Gelehrsamkeit gilt?
Problemchen, wohin man sieht, Trugschluß und Illusion.
Das ist nicht nur die Meinung eines Stoikers, der die Sophisten als Haarspalter ansieht und die Grausamkeit der Herrschenden mit Trauer begleitet, sondern zugleich der Brief des Dichters an den unbekannten Leser. Wenn man von der Bedeutung der griechischen und römischen Philosophie und Kunst auf die Entwicklung unseres Denkens, und von der Herkunft unserer Sprache aus dem griechisch-römischen Raum weiß, ist es ein intellektueller als auch ästhetischer Genuß, die inneren Zustände in der Annäherung an die Antike als Mitteilung an den Leser wahrzunehmen. Schon ein einzelnes Wort kann den Blick in unsere Vergangenheit eröffnen, wie es der Dichter mit seiner poetischen Sprache zeigt:
Da sagt jemand Krater, und schon stürzt du hinab.
Ein Wort aus dem Griechischen, Bruchstück, es meint
Einen Krug, in dem mischten sie Wasser und Wein.
Den vulkanischen Abgrund, Empedokles Grab.
Hier wird durch ein griechisch fundiertes Wort Vergangenheit gegenwärtig. Wie hier, entfalten sich in den Neuen Historien im geheimnisvollen Gespräch der dichterischen Stimme mit dem kulturellen Gedächtnis historische Spiegelungen. Bewußt meidet Grünbein die „subtile Zensur der Evangelien“, und bewundernd wird die seelenruhige Annahme der Vergänglichkeit unserer antiken Ahnen beschworen. Die von Grünbein in die Gegenwart transponierten antiken Geschichten sind Ausfluß einer als Engramm gespeicherten Beziehung zur abendländischen Vergangenheit, so auch zum Geist Athens und Roms. In dem Titelgedicht des Bandes Erklärte Nacht spricht Grünbein von der Suche in der Vergangenheit: dort wird „nach den Schätzen am Meeresgrund“ gefahndet, nach den Geistern vor ihm. Dieser Meeresgrund liegt nicht in einem Innen, sondern „draußen im Hirn“. Der Vers verweist also in einer naturwissenschaftlichen Spur auf die neuronalen Vorgänge im Hirn. Dort sind auch die Schätze der toten Meister zu finden. So wird in dem Metapherngestöber der Verse nicht nur der orphische Gesang hörbar, sondern auch der philosophische Grund als Leuchtspur erkennbar. Die Frage, was Gedichte denn seien („Oder Dichtung, was war das noch?“), wird in einem Vers beantwortet: „Dem einen Gebet ohne Gott, dem anderen das ,Echt absolut Reelle‘“. In Grünbein sind offensichtlich beide in lebhafter Bewegung: Apollon, der Gott der Denkkraft und Dionysos, der Führer ins Dickicht der Triebe. Der Dichter, so meine ich, offenbart seine Welt, seine poetischen Erlebnisse mit der Historie. Die Gedichte sind anthropologische Studien.
Die künstlerische Arbeit am Vers ist grundsätzlich individuell motiviert. Die christliche Religion spricht in der Genesis vom Menschen als dem aus einem Erdenkloß geschaffenen Wesen, dem Gott den lebendigen Odem in die Nase einblies. (Mose I, Kap. 2, Vers 7) In Abwandlung hiervon spricht Grünbein, der den Gott nicht erkennt, von der Dichtung als einem „Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil“. Dieses nihil, diese Leerstelle mag das sein, „was die Lateiner diesen deus absconditus genannt haben, der zwar da ist, aber sich nicht zeigt“. Vielleicht kann man sagen, es sei ein Zeit-Raum, der mit unserem lebendigen Geist gefüllt werden muß. In den Versen Erklärte Nacht wird an einer Stelle das schwierige Verhältnis zwischen Dichtung und Denken gedacht als „Die Kälte der Selbstbegrenzung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen“. In seiner Preisrede anläßlich der Verleihung des Nietzsche Preises im August 2004 hat Grünbein eindrücklich verwiesen auf die „verworrene Chronik“ der Beziehung zwischen Dichtung und Philosophie. Er erkennt in der Sprache der Griechen und Römer die Sichtbarmachung aller Elementarkräfte in ihren nichttrivialen Wortverbindungen. Die Philosophie, so Grünbein, habe das Wort der Sprache in „eigenmächtiger Regie“ umbesetzt und verdrängt „durch abstrakte Begriffe“. Und doch: der Philosoph Volker Gerhardt, ein Nietzsche-Fachmann, bringt es in seiner Gratulation zur Preisverleihung auf den Punkt. Grünbeins „Dichtung […] scheut […] die Kontamination mit der Vernunft keineswegs“. Grünbein spricht von „Liebesverrat“ an der Poesie durch die Philosophie, die so tut, als besitze sie den „Wahrheitsvorteil“. Aber Grünbein ist Realist genug, wenn er mit Befriedigung feststellt:
Durch die Ursünde der Entzweiung sind sie bis heute aneinandergekettet geblieben – zu ihrem beiderseitigen Glück.
Die Poesie und Essayistik Grünbeins zeugt von diesem Glück. Schon sehr früh (1989) hat Grünbein auf den philosophischen Grund seiner Dichtung verwiesen:
Dem Denken dort zuzuhören, wo es gerade, und immer wieder, sich neu formiert, gehört zu den verdammten Hausaufgaben des Dichters, der sich nicht mit den Raffinessen seines orphisch-dädalischen Handwerks begnügt. Wissen will ich, […] wie die Dinge in Fluss kommen und wie wir drinhängen in Sprache, in Zeit und Raum.
Diese Gedanken zeigen einen Dichter, der als den Kriegsschauplatz seiner geistigen Arbeit sein Gehirn benennt, „erhellt von den Suchscheinwerfern der Meister“.
Meister: das sind die toten Dichter und Philosophen der abendländischen Tradition, ganz besonders aber die der Griechen und Römer. Es zeigt sehr eindeutig die Erkenntnis dieses Autors, daß es ein kulturelles Gedächtnis gibt, das in der Dichtung entborgen wird, sie mitträgt. Das Heilsdenken des Christentums, seine „Sirenenklänge eines ewigen Lebens, haben seit Jahrhunderten abgelenkt von den klassischen Texten. […] Von antiker Dichtung zu sprechen heißt, wie Nietzsche gezeigt hat, vom Verdrängten zu sprechen“. Das heißt auch, den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Zu bedenken ist, daß die antiken Mythen und Götter in der geistigen Welt des Abendlandes bewahrt wurden, auch wenn der römische Kaiser Theodosius I. das Christentum zur Staatsreligion erklärt und die Verehrung heidnischer Götter verboten hatte. Viel hat die europäische Literatur der karolingischen Renaissance zu verdanken, mit der die klassischen weltlichen Texte einen großen Stellenwert in der Bildung erhielten. Hier sei erinnert an die homerschen Epen und Dantes Göttliche Komödie. Gerade die Dichtung der modernen Literatur, ihre artistische Sprache, hat für Grünbein ihren intellektuellen Grund in der Antike „Anders gesagt, die antike Literatur steht insgesamt für das Nichttriviale, das Nichtbanale sprachlicher Reflexion“.
In vielen Gedichten der Bände Nach den Satiren (1999) und Erklärte Nacht (2002) spürt die Dichtung in der Geschichte des Geistes der Griechen und Römer nach Fischgründen für das eigene Weltbild. Er wirft mit seiner Imaginationskraft das Sprachnetz in den Flüssen der Vergangenheit aus und findet dort Geschichten, die durch ihn zu Neuen Historien werden. Mit dem Hinweis auf den griechischen Satiriker Lukianos wird in dem Gedicht „Metapher“ die kurze Zeit eines Lebens aufgerufen: „Gemeint sind die Blasen, alle die Menschenleben“, die alle, irgendwann, zerplatzen. Der Begriff der Blasen ist für mich von eindringlicher Prägnanz. Er erinnert an den Philosophen Peter Sloterdijk, der in seiner Arbeit Sphären I. Blasen mit dem Begriff Blasen als Metapher das fragile menschliche Dasein überdenkt, daß Neuzeitmenschen zu lernen hatten, „wie man sich anstellt, als Kern ohne Schale zu existieren“. Denn das „Immunsystem Himmel“, so Sloterdijk, sei nach der Wende zur kopernikanischen Welt „mit einemmal nicht mehr zu gebrauchen.“ In Grünbeins Gedicht „Metapher“ wird mit seinem Sarkasmus, seiner schwarzen Gnosis das Zerplatzen der Blasen intoniert, unsere fragile, endliche Existenz, deren Reste, so „Zum Beispiel die Gräber der Helden von Troja“ beschämend seien. Lukianos hatte zu seiner Zeit den religiösen Wahn mancher Philosophen angeprangert. Das unglückliche Menschengeschlecht, so formulierte damals Lukianos und heute Grünbein, verschleudert sein endliches Leben mit Haß und Neid und Machtkampf, oder wie Lukian es mit der Stimme des Charon ausdrückt: „Mit was für albernen Dingen dieses unglückliche Erdenvolk sein bißchen Leben verschleudert: Könige, goldene Ziegel, Hekatomben, Schlachten – nur von Charon ist die Rede nicht!“ Wieder ist der Totenführer Grünbein am Werk. Der Mensch, so vernehme ich Grünbein in seinen Grabungen, sollte seine Vergänglichkeit und seine Vergangenheit nicht vergessen, ihr gewärtig sein, denn „Aufgebläht sind sie, zeitlebens Beschwerte / Von Schwerkraft, all diese Nichtse.“ Es ist Charon, der den Götterboten erinnert: „Ninive, Babylon, Ilios, Mykene: zeig mir die Städte, / Ruft er dem Hermes zu. Alle verschwunden, / Beschämend die Reste, erwidert der Göttergefährte.“ Wie nah sind uns diese Gedanken bei zwei mörderischen Weltkriegen im 20. Jahrhundert, vieler Kleinkriege auch noch im 21. Jahrhundert, der Hybris mancher gesellschaftlicher Eliten in unserer Welt und der aggressiven Vitalität der heute uns beherrschenden Globalisierung.
Ob unserer Seele ein ewiges Leben beschert sei, beantwortet Grünbein mit dem Gedicht über den Stoiker Chrysippus, „Schwacher Trost“. „Chrysippos sagt, nur die Seelen der Weisen / Schwirren noch bis zum großen Weltbrand umher.“ Sie bleiben aufbewahrt bis zum Weltende. Ist es die Angst vor dem Unerlöstsein, die ihn umtreibt? „… Wer also nichts tut / Als Philosophieren den ganzen Tag, läuft Gefahr, / daß er niemals vergeht. […] Bei jeder Dämmerung, geht ihr Gedanke mit, / Unerlöst, nie mehr von ihnen zu lösen.“ Die Ruhe der stoischen Philosophie besitzt eine große Anziehungskraft für Grünbein, eine Flucht aus der urbanen Welt ihren viel zuvielen Stimmen. Vielleicht hofft Grünbein im Stillen, seine Seele, oder was immer an Geist in seinen Arbeiten lebt, wird aufbewahrt bleiben im Denken der Nachwelt, so wie Horaz es in seiner XXX Ode des Dritten Buches beschreibt: „Exegi monumentum aere perennius“. Münzen werden wohl nicht mit seinem Bild geprägt, Literaturpreise liegen in Schubladen, Bücher verstauben in den Regalen der Lyrikfreunde oder werden per Internet verramscht. Vielleicht werden manche Verszeilen noch in hundert Jahren deklamiert? Aber in allem steckt „die verborgene Zeit, die doch allem ein Ende macht“. Über die Zeit heißt es an anderer Stelle des Bandes Erklärte Nacht: „Bist du nicht hier, um diskret / Furchen zu ziehn ins Vergessen?“ Ich meine ja. Denn Sprache und Denken der Antike wird auch durch ihn vom Vergessen befreit.
2. Kaiser-Bilder
Ich aber zieh mich zurück, trauernd. Das Schlachten widert mich an.
Durs Grünbein
In den Gedichten über die römischen Kaiser seit Augustus wird das Feld menschlicher Schwächen, nicht gesteuert von göttlicher Macht, sondern von den Affekten und Trieben, in teils sarkastisch-grausamen Momentaufnahmen gemalt. Das Interesse des Autors liegt im Aufspüren der anthropologischen Strukturen, die den Gedichten ihren Stempel aufdrücken Da wird in dem Gedicht „Testament“ der greise KAISER AUGUSTUS als „Erfinder des Weltfriedens“ beschworen:
Zu bedenken gab er, der Erfinder des Weltfriedens, dem Neuen
Tiberius, es lohne sich nicht, aufs Spiel zu setzen das große Rom
Für den Streit um Provinzen. […]
Unter KAISER TIBERIUS wurde die Politik des Augustus fortgesetzt, doch im Kreise der machthungrigen Senatoren hätte man es lieber gesehen, wenn ihr Kaiser Krieg geführt hätte. Sie beugten sich aber demütig vor ihrem Herrn. Grünbein hat diese Atmosphäre des nicht-erklärten Krieges zwischen den Mächtigen einer Gesellschaft besonders in den letzten Versen eingefangen, den von Affekten getriebenen Eifer der Machtelite der Senatoren und Generäle und die Reaktion des absoluten Herrschers. Ein Bild der Welt des Menschen, gestern, heute und morgen?
Demütig winden sie sich vor dem Cäsar. Der hört sie stumm an.
Jeden merkt er sich, der ihm schmeichelt, jeden der schweigt.
Dann sind alle geschätzt. Ausgelöscht die Familien der einen, beschenkt die der andern:
Tod den Speichelleckern und den Legionen ein wenig mehr Sold.
Ach, dieser Goldglanz der Ähren am Mittag, wenn das Weltreich
Vor Wohlstand platzt: es herrscht Krieg mitten im friedlichen Rom.
Tiberius führte in seinen letzten Lebensjahren auf Capri ein ausschweifendes Leben. Seine Günstlinge regierten in Rom. Mit seiner poetischen Sprachkraft hat Grünbein die Wunde menschlicher Triebe aufgedeckt im Leben des „Misanthrop auf Capri“: eine brutale anthropologische Studie, die manchen Leser veranlassen könnte, sie auf den Index zu setzen, ein mit heißen Farben gemaltes Bild der lasterhaften Welt des römischen Kaiserreiches.
Nicht wahr, sie machen Euch Angst, meine Finger,
So lang und so knochig, zehn krumme verdorrte Äste.
Was wird erzählt? Ich könnte mit links einen Apfel durchbohren?
Nicht nur das, liebe Freunde. Auch ein glotzendes Auge.
[…]
Was wie ein Streicheln aussieht, eine zärtliche Geste,
Ist mein gefährlichster Schlag. Nicht wahr, das brennt,
Und macht blutige Striemen. Hab ich den Feind erst markiert,
Bin ich ganz sicher, es findet sich einer, der ihn beseitigt für mich.
Ich aber zieh mich zurück, trauernd. Das Schlachten widert mich an.
Dem grausamen KAISER NERO, einem der Scheusale der römischen Geschichte, hat Grünbein in seiner historischen Ausgrabung die Verse „Philhelene“ gewidmet. Erzogen von dem Dichter und Philosophen Seneca war Nero den Künsten zugetan, dem Gesang und Lyraspiel und der Dichtkunst. Grünbein scheint diese Seite des Kaisers ebenso wichtig zu sein wie die Grausamkeit gegenüber Politikern und Christen. In seinen Versen berichtet er mit seiner Fabulierkunst über Neros Teilnahme an den olympischen Spielen in Athen und seine Rückkehr nach Rom.
Ach, Griechenland, du kennst mich,
Wenn mich auch sonst niemand kennt, dachte Nero.
Schwer beladen sein Tross mit Geschenken und Preisen,
Kehrt vom Sängerwettstreit und echten Tragödien,
Von den olympischen Spielen heim nach Rom.
Doch was heißt heim? Ist er nicht unerwünscht dort
In der Stadt auf den sieben Hügeln am schmutzigen Fluß?
Was soll er im öden Rom, wo ihn keiner versteht,
In diesem Räubernest? Lauter Banausen,
Die nichts vom Fünfkampf wissen, von attischen Strophen,
Geschweige denn vom Augenaufschlag der Hyazinthe.
Diese Beziehungen zu der griechischen Kultur zeigen Nero als Herrscher, der die kulturellen Errungenschaften höher bewertete als den reinen Eroberungswillen, der die römischen Kaiser im allgemeinen auszeichnete. Grünbein hat mit diesen Versen auf sehr eigenwillige Weise in die Historie eingegriffen, wenn er das kulturelle Gedächtnis an diesen Herrscher verändert, und so zumindest der Zwiespältigkeit in seinem dichtenden Erinnern Raum gibt. Die letzte Strophe beschreibt sehr ironisch die Befreiung Hellas’ vom Diktat Roms.
Für frei erklärt hat er die ganze Provinz, Hellas das alte,
Die geliebte Heimat von Perseus, Herakles und Achill.
Wie einen Sklaven hat er sie freigelassen in Demut,
Dankbar den Lehrern. Sie werden staunen,
Vulgär, voller Neid, seine Römer. Er hat sie enterbt.
Über das sogenannte 4-Kaiser-Jahr, in dem vier ehrgeizige Generäle nacheinander zu Kaisern ausgerufen wurden, erinnert Grünbein an KAISER OTHO, in dessen kurzer Regierungszeit ein Sklave, dem toten Kaiser Nero zum Verwechseln ähnlich, als falscher Nero sein grausames Unwesen trieb. Er wurde vom herrschenden Kaiser umgebracht, seine Leiche fand man im Tiber. Grünbein hat diese historische Posse mit deftiger Sprache in dem Gedicht „Eine Leiche im Tiber“ verewigt. Der Dichter tritt als Bürger Roms auf, der genußvoll berichtet:
Die Fischlein, die wir ihm aus der Nase zogen… igitt.
[…] Publius hatte, der Färber, ihn herausgefischt aus dem Tiber
An der Ämilischen Brücke. Zur Reuse geworden
waren die schlammgrünen, glitschigen Pfeiler dem Mann.
[…] Nero leibhaftig schritt da wie ein Pfauenmännchen einher.
[…] Die Wasserleiche: dem Nero glich nurmehr ihr fetter Bauch.
Über den verrückten KAISER COMMODUS berichtet der Autor in einem Gedicht als römischer Bürger über eine blutige Veranstaltung im Amphitheater. Der Kaiser spielte in überheblichem Wahn seinem Volk das letzte Mal den großen Gladiator vor:
Einen abgeschnittenen Straußenkopf schwenkte
Der Kaiser im Amphitheater, dazu das Opfermesser.
Er scheint den Kopf als Drohung gegen die Senatoren hochzuhalten, damit sie wohl Angst um ihre eigenen Köpfe fühlten. Grünbein spart nicht mit bösartigen Sätzen in seinem Wortgestöber:
Nichts Gutes verheißt sein Blick, das gehässige Lachen.
Triumphierend die blutigen Hände wischte er
Am Schenkel sich ab, der nackt war und zottig behaart
Wie der des Gladiators. […]
Das Besondere an dieser Studie ist das Eingeständnis des das Theater beschreibenden Bürgers, daß er nur widerwillig an dem Zirkus teilnahm. Er mußte „Ein Beruhigungsmittel“ (so der Titel des Gedichts!) zu sich nehmen, mit dem er das Mitansehen der Grausamkeiten, diese ungenannte Mitschuld verkraften konnte.
Ich weiß nicht, was schlimmer war, der Anblick
Des Kaisers im Staub oder das Zittern der Senatoren,
Den Nacken eingezogen wie Schüler auf ihrer Bank.
Ein Lorbeerblatt hat mich gerettet, ein einzelnes Blatt,
Aus dem Kranz gezupft, meinem Haarschmuck.
Verbissen herumzukaun auf dem bitteren Hartlaub,
Das beruhigte die Nerven, hielt die Gefühle im Zaum.
Wie beim Lesen der Verse in meinem Gehirn die eigene Vergangenheit des tausendjährigen Reiches auflebt und das Siegheil der schreienden Menschenmassen drückend hörbar wird, gehört zum Besonderen dieser Strophen. Als einer, der das Naziregime miterlebt hat, fühle ich mich jedenfalls ertappt.
Der Einbruch der christlichen Apostel in die griechische Welt wird von Grünbein in „Ankunft in Athen“ diskutiert. Der Einbruch ist sehr bewußt thematisiert durch den Untertitel „Paulus ante portas“, so als wäre Paulus eine Gefahr, als er seine Rede auf dem Areopag hielt. Nach der Überlieferung in der Apostelgeschichte 17 war Paulus entsetzt über die Vielgötterei der Griechen und daß sie nicht beteten. Grünbein beleuchtet in sarkastischen Versen, die sicherlich nicht jedem behagen, die geistige Struktur der Griechen, wie sie der gläubige Nachfolger Christi erkennt:
Wißt Ihr, daß uns Schlimmes bevorsteht. Kein Mensch hier, der betet.
Sie könnten noch so arm sein, verzweifelt, als Pestkranke siechend,
Und würden doch dem Sophisten lieber lauschen als Euch oder mir.
Streitsüchtig sind sie, Besserwisser, in schöne Körper verliebt.
Ein Adonis macht sie heiß, eine Phryne. Und der Pflanze, dem Tier
Widmen sie Preislieder, Oden. So verwirrt ist ihr Trieb,
Daß sie den Hintern der Knaben für das Himmelstor halten.
Hier, wo die Frau mit dem Kriegshelm regiert, wo Haarespalten
Als höchster Zeitvertreib gilt, ist Sterblichkeit das Geschrei
Eines tragischen Dichters, ein Rhythmus aus Silben wie ai, ai, ai…
Mit diesem Schwall von blasphemischen Anwürfen, teils galle-bitter, wird das Verändernde des christlichen Einflusses auf die antike Welt verdeutlicht, auch das nicht nur für die Griechen Fragwürdige eines Mensch gewordenen Gottes:
Und ich bin die Dreizehn, der Zweifel. Hat er ihn wirklich gesehen,
Werden sie fragen. Hört doch, er predigt, er fordert zuviel…
3. Seneca und Grünbein
Dagegen ist das Leben derer sehr kurz und sorgenvoll,
die das Vergangene vergessen, die Gegenwart
verträumen und vor der Zukunft Angst haben…
Seneca
Seneca hatte die Zeichen seiner Zeit, den moralischen Verfall des römischen Jahrhunderts, mit kritischen Schriften begleitet. In den 124 Briefen an seinen Freund Lucilius wird seine sittliche Grundanschauung im Wandel der Tage zum Ausdruck gebracht, eine Ethik, die uns heute genauso angeht wie die Römer vor 2.000 Jahren. Wie aktuell, wie menschlich – das macht Seneca für uns so interessant – ist sein Denken, wenn der 14. Brief überschrieben ist:
Trage Sorge für den Körper, aber vor allem für den Geist, um ihn vor den verderblichen Einflüssen des politischen Treibens zu bewahren.
Eine Bemerkung im Brief 43 scheint mir sehr modern:
Ich wage eine Äußerung, die bezeichnend ist für den jetzigen Sittenzustand: du wirst nicht leicht einen finden, der bei geöffneter Tür leben könnte.
Auf den Sittenverfall (unserer Gegenwart?) verweist Grünbein, verkleidet unter der Toga eines römischen Bürgers, mit seinem Gedicht „Timagenes verunglimpft Rom“, dem Geschichtsschreiber aus Alexandria.
[…]
Da musste ein Fremder kommen, aus Alexandria,
Um uns Römern den Abgrund zu zeigen.
Dort unten liegt sie. Die faule Wurzel, begraben,
Der wir entsprossen sind, heillos verfeindet
Einer dem Andern und also verloren.
Daß Remus vom Bruder ermordet, Romulus,
Und seine Leiche zerstückelt wurde aus Machtgier,
Soll unser Schicksal sein. Düster die Zukunft,
Erscheint ihm als Folge der blutigen Gründung.
Zugrunde gehn werden wir an uns selbst,
Behauptet, voll Bosheit, der Ausländer kalt.
Augurium maximum – die Sehnsucht des Rhetors.
Soll das Historie sein oder Freiheit der Dichtung?
Was weiß der schon von dem dunklen Blutstrom,
Der sich in unseren Körpern trifft und verzweigt?
Die letzten drei zitierten Verse lassen erkennen, wie der Dichter das Heft in die Hand nimmt, um die Weissagung des Timagenes als mögliche dichterische Freiheit zu deklarieren und auf den „dunklen Blutstrom“ zu verweisen (die Arbeit des Nervengestrüpps im einzelnen Gehirn), der die Menschen ins Verhängnis führen kann. Es muß erwähnt werden, daß Grünbein sich schon lange mit den Schriften Senecas beschäftigt hat. Das Ergebnis sind nicht nur einige Gedichte, sondern besonders seine deutsche Fassung der Tragödie Thyestes, die grausige Geschichte des Bruderzwistes zwischen Atreus und Thyestes aus dem Atridengeschlecht; dazu ein Postskriptum mit seinen Gedanken über Seneca. Grünbein verweist in einem Gespräch mit Thomas Irmer auf das Faktum, daß im Thyestes „zum ersten Mal Mythologie radikal in Anthropologie umgemünzt wird. Aus der Götter- und Heldenfabel wird die Lehre von den Affekten und Temperamenten des Menschen. […] Zorn, Jähzorn und Rachgelüste sind elementare Antriebsmittel der Politik.“ Die Anthropologie war es, die unter anderem das Interesse für die Antike in Grünbein weckte.
Auch für Grünbein war Seneca eine janusköpfige Gestalt. Über die Zeit und die Kürze des Lebens finden wir ein Gedicht Grünbeins als Brief des Seneca an Lucilius unter dem Titel „In Ägypten“, das ich gerne als den 125. Brief Senecas benennen möchte. Seneca erinnert sich:
Kaum ist ein Menschenalter vergangen, da steht mir,
Was so lange zurückliegt, in neuer Frische vor Augen.
Erinnern, Lucilius, beginnt mit dem eben-erst-jetzt.
[…]
Gegenwart täuscht uns. Ein Taschenspieler, der Augenblick,
Entwendet uns, was er uns schenkte: sein eben-erst-jetzt.
Sehr kunstvoll wird hier mit dem Bild von Täuschung und Diebstahl die Erkenntnis der Hirnforschung sichtbar, daß Gegenwart ja nur etwa 3 Sekunden dauert. Erinnern ist große Gebot! Und das Gedicht endet mit dem Zweifel, ob er wirklich gelebt habe oder nur die Zeit verstrichen sei.
Eben erst hast du mich aufgeweckt. Dein Ruf über die Jahre,
Er hat mich zurückgebracht an den Anfang. Wie war ich selig,
Damals als kränklicher Schatten im Palast meines Onkels,
Ein Nichtstuer, hustend. Den ganzen Tag hab ich Oden gelesen.
Jetzt zwingt mich Scham in die Knie. Der eigenen Schläue
Mißtrauend, frag ich dich, bester Freund: Hab ich gelebt?
Was soll ich tun? Kaum ist ein Menschenalter vergangen.
Wichtig für das Verstehen von Poesie ist, „daß der Vers ein Suchlicht ist in Psyches Schacht. / Und auch dies: wer dichtet ist allein. Diese Singularität wird deutlich in dem für mich schönsten Gedicht der Historien-Reihe „Julia Livilla“. Wer war diese Frau? Und warum wird sie Gegenstand eines Gedichts? Julia Livilla war eine der drei Schwestern des Kaisers Caligua. Unter Kaiser Claudius wurde ihr, wahrscheinlich auf Betreiben der Ehefrau des Kaisers, ehebrecherisches Verhalten durch eine Liebschaft mit Seneca vorgeworfen. Beide wurden verbannt, Seneca nach Korsika. Julia Livilla wurde ein Jahr später umgebracht. Die Frau des späteren Kaisers Claudius, Schwester der Julia Livilla, erreichte die Begnadigung Senecas und machte ihn zum Erzieher ihres Sohnes, des späteren Kaisers Nero. Grünbein erfindet einen Brief (Nr. 126?), den Seneca aus der Verbannung an Lucilius schreibt:
Mein lieber, einzig treuer Freund, es ist soweit. Ich bin
Wie du vor Jahren schon befürchtet hast, verbannt.
Was ich so schön an diesen Versen finde, ist der Bericht über Senecas vermeintliche Liebesgeschichte mit Julia Livilla.
Du hattest recht mit deiner Warnung. Eine Frau,
So schön, so ungewöhnlich, muß Verderben bringen.
Doch wenn die Grazie deinen Weg kreuzt, himmelblau
Dich Klugheit streift mit manikürten Schwingen,
Bist du bereit zu manchem Risiko. Denn so ist Liebe –
Sie übersteigt, was immer du an Argumenten hast.
[…]
Nennst du das Ehebruch: wir beide taten, was wir mußten.
Hier spricht nicht Seneca, meine ich, hier wird die antike Story von der Liebe zwischen Seneca und Julia Livilla zu einer mit Zartheit, Farbigkeit und verzauberndem Klang erfüllten Liebesgeschichte der Gegenwart. Grünbein hat sich in die Toga des Seneca gehüllt und von dieser Geschichte dem unbekannten Leser geschrieben, so auch mir.
Die Zwiespältigkeit der Person Seneca wird bedichtet in den Versen „Sand oder Kalk“. Die Worte beziehen sich auf einen Ausspruch Caligulas, der, eifersüchtig auf die Redekunst Senecas, gesagt haben soll, der Schriftsteller Seneca „verfasse bare Prunkreden“ und sein Stil sei wie „Sand ohne Kalk“.
Helles Köpfchen du, strebsamer Schüler,
Wie erklärst du dir, dass in Neros Regierung
Roms zweitreichster Mann, Seneca,
So gern die Armut pries inmitten des Luxus?
Was bleibt von der Tugend und all den Gütern,
Die den Charakter des Weisen bilden –
Von der Milde, der Seelenruhe, der Muße,
Wenn selber im Zwielicht lebt, der sie lehrt?
[…]
Fauler Zauber die Maske des Philosophen,
Sein Lob der Genügsamkeit nichts als Theater.
Was besagt schon sein Satz „Gott ist nackt“
Über die Blöße des Konsuls unter der Toga?
Im eigenen Auge der Balken verdeckt ihm
Pflugholz und Joch und Galeerenbank.
Wie durch Finger, ungerührt, sah er
An brennenden Christenkreuzen vorbei.
Hier geht Grünbein sehr hart mit Seneca ins Gericht. Ich möchte die erste Frage mit Seneca beantworten, der in seinem Dialog VII. „Vom glücklichen Leben“ an seinen Bruder Gallio schreibt „bei mir gilt der Reichtum bis zu einem gewissen Grade, bei dir gilt er alles; kurz, ich bin Herr des Reichtums, du sein Sklave“. Natürlich ist die Antwort nicht befriedigend, aber immerhin. Weitere Antworten möchte ich mir versagen. Grünbein hat den eigenwilligen Lebensweg vielfältig ins Wort gesetzt. Das schmähliche Ende dieses großen Geistes, seine Gedanken im Todeskampf des ihm von seinem Zögling und Mörder Nero auferlegten Selbstmordes werden durch einige Verse gegenwärtig: „Seneca oder die zweite Geburt“. Darin finden wir Gedanken über „… die Bestie, / das Menschentier, das seinesgleichen aufhebt und erniedrigt / Mit Jähzorn, Eitelkeit und grenzenloser Macht“. Und dann eine Nachricht an seinen Zögling und Mörder Nero:
Sag deinem dicken Herrn, es ist vorbei. Sag ihm, aus Scham
Von einer Welt, in der er zittern mag vor Angst und Lust,
Hab ich mich fortgemacht. Wohin? Er wird es wissen,
Falls er mir zugehört hat einst. […]
Die düstere Atmosphäre der römischen Kaiserzeit mit Machtkämpfen, Bruderkrieg, Brudermord, mit der Lust am Perversen, Lust am Sterben und auch an der großen Tat, ist mit der Nacktheit von menschlichem Zorn, Machthunger und Sexualität des Erinnerns wert: das sind auch wir. In dieser Welt bleibt Seneca ein Ehrenmann mit manchen Fehlern, aber mit großer dichterischer und philosophischer Kraft. Seine pragmatische Philosophie zeugt von seiner Ausnahmeerscheinung. Die Zwiespältigkeit dieses großen Denkers der Antike hat Grünbein noch einmal hinterfragt in seinem Gedicht „An Seneca. Postskriptum“. Der Kreis schließt sich: von der Antike bis zur Hirnforschung unserer Tage und dem heftig diskutierten Zweifel am freien Willen des Menschen. Es zeigt die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit von Geschichte, die – genau wie heute – von den menschlichen Schwächen mitbestimmt und uns im Wort überliefert wird.
Sein eigner Herr, Freund sapiens, wie wird man das,
Zerzaust von tausend Interessen, jeder gegen jeden?
Das Menschenherz, hast du es je gesehn, den Klumpen,
Den blutig zuckenden? – Ein bodenloses Faß.
Es sind die Nerven selbst, die sich da subkutan befehden.
Ein schöner Traum, das Denken, wo die Adern pumpen.
Verzeih, mir Toter, den mokanten Ton.
Mit Grünbeins Arbeiten zur Antike wird durch die kunstvolle poetische Sprache ein besonderes Licht geworfen auf die Verwandlung von erinnerter Geschichte in gegenwärtiges Erleben.
Hans G. Huch, Akzente, Heft 1, Februar 2006
Durs Grünbein–Sternstunde Philosophie vom 14.6.2009.
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